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Mit 38 Farb- und 61 Schwarz-Weiß-Abbildungen

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen aktualisierten und erweiterten Taschenbuchausgabe

1. Auflage Juli 2014

ISBN 978-3-492-96476-0

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Erstausgabe BLV Verlagsgesellschaft mbH, München 1998, 2001

Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Covermotiv und Innenabbildungen: Archiv Reinhold Messner

Bildredaktion: Ute Heek, München

Textredaktion: Wolfgang Gartmann, München

Litho: Lorenz & Zeller, Innning am Ammersee

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

VORWORT

In den vergangenen Jahrzehnten ist der Bergtourismus rasch über die Alpen hinaus bis in die Achttausenderregion im Himalaja gewachsen. Vor allem dank der Vorbereitungsarbeit der Sherpas und durch die Satellitenkommunikation sind heute auch die höchsten Berge der Welt einer breiten Bergsteigerschaft zugänglich. Auf dem Mount Everest werden jährlich an zwei Seiten Pisten – mit Fixseilketten, Lagern, Sauerstoffdepots – gebaut, die es Hundertschaften ermöglichen, mit erfahrenen Organisatoren und Führern bis zum Gipfel zu steigen. Diese Form des Bergtourismus – mit markierten Wegen, abgesicherten Routen, Hütten – kennen wir in den Alpen seit mehr als einem Jahrhundert. Waren es doch die alpinen Vereine, die die Alpen mit immer mehr Absicherungen vielen Bergbegeisterten erst zugänglich gemacht haben.

Im Himalaja sind es vor allem Reiseunternehmen und viele lokale Bergführer, die inzwischen Massenaufstiege auf präparierten Routen ermöglichen. In naher Zukunft werden alle 14 Achttausender, die noch vor einem halben Jahrhundert nur einer kleinen Elite von Spitzenbergsteigern zugänglich waren, für zahlungskräftige Touristen, die auch Ausdauer und die nötige Leidensfähigkeit mitbringen, erreichbar sein. Straffe Organisation und tüchtige lokale Führer – Sherpas, Hunzas, Baltí – machen es möglich. Allerdings mit oft hohen Risiken. Weil die Pistenbauer lange in den Gefahrenzonen verweilen müssen, um Leitern und Brücken zu installieren, gehen sie ein ungleich höheres Risiko ein, als die Klienten, die später zügig und unter Aufsicht über die abgesicherte Piste geführt werden. Im April 2014 sind im Khumbu-Eisfall am Mount Everest 16 Sherpas unter einer Eislawine gestorben. Eine tragische Folge dieser Art von Tourismus am höchsten Berg der Welt.

Die Tatsache, dass der Alpinismus einerseits mehr und mehr Sport und andererseits Tourismus wird, bedeutet aber nicht, dass das traditionelle Bergsteigen untergehen muss. Im Gegenteil, es bleibt für eine kleine Schar von Abenteurern Anreiz, sich abseits der Pistenalpinisten neue Zugänge zu den höchsten Bergen der Welt zu suchen. Die selbstständigen Bergsteiger sind in allen Perioden des Alpinismus immer wieder dorthin gegangen, wo die vielen anderen nicht sind. Vor allem, weil es schwieriger und gefährlicher ist, ins Unbekannte aufzusteigen als einer Piste bis zum Gipfel zu folgen.

Auf den großen Bergen haben auch heute noch alle Platz: die Sportler als Skyrunner, die Touristen auf präparierten Aufstiegswegen, die Extrembergsteiger auf der Suche nach ihrem ganz subjektiven Abenteuer. Es gibt weder einen guten noch einen schlechten Alpinismus, es gibt höchstens eine falsche Selbsteinschätzung oder ein krankes Selbstverständnis, wenn Tun und Beschreibung desselben auseinanderklaffen. In diesem Zusammenhang stellt sich nun die Frage, ob der Tod von Dutzenden Einheimischen zu verantworten ist, die die Voraussetzungen für Pistenaufstiege schaffen, damit Hunderte unselbstständige Bergsteiger bis zum »Gipfel der Eitelkeit« kommen.

Ich meinerseits habe nach der Eroberungsphase (1950 bis 1964) neue Wege an diesen Achttausendergipfeln gefunden – Überschreitungen, neue Routen, Alleingänge, zuletzt die Doppelüberschreitung –, die mich sukzessive wachsen ließen, vor allem an Erfahrungen, die ich von den Enden der Welt zurückgebracht habe. Mein Weg war abseits der Gänsemärsche und mein Stil, der leider nur selten kopiert wird, die Reduktion: Zur Nachahmung nicht empfohlen.

Reinhold Messner, April 2014

GIPFEL DER SELBSTERFAHRUNG

Das Bergsteigen – vor allem jenes an den höchsten Bergen der Welt – ist mit den Maßstäben des Sports allein weder meßbar noch beschreibbar. Meereshöhen in Meter, Schwierigkeitsgrade und Aufstiegszeiten sagen mit zunehmender Größe der Berge immer weniger aus. In der Gipfelwand am K 2 oder Nuptse bedeutet angewehter Schnee nicht nur eine erhöhte Gefahr, sondern auch eine Steigerung der Schwierigkeit. Oft ist es eine flache Mulde, die den Höhenbergsteiger unter dem Gipfel stoppt, und keine senkrechte Felsstufe.

All jene, die diesen Zweig der Alpinistik als Schneetreterei abtun, verraten damit, daß sie nichts davon verstehen. Auch jene, die mit allen erdenklichen Tricks – Schnellbergsteiger ohne Zeitmesser am Einstieg, »Alleingeher« mitten im Gänsemarsch. »Besteigungen im Alpenstil«, die die Infrastruktur großer kommerzieller Unternehmen nutzen – ins Guinness-Buch der Rekorde wollen, sind nur Falschmünzer. Das Erlebnis am oberen Ende der Welt wächst mit der Anstrengung, der Schwierigkeit, der Gefahr, dem Ausgesetztsein und vor allem mit dem Auf-sich-selbst-gestellt-Sein. Beschreiben läßt sich die entsprechende Erfahrung, malen, wie der Franzose Jean-Georges Inca in seinen Bildern zeigt, und im Unterbewußtsein speichern.

Nicht die Gipfelerfolge sind in meine Erinnerung eingebrannt geblieben, sondern der Berg, der nach der Nanga-Parbat-Tragödie auseinanderbricht; der Druck des Sturms am Manaslu; der erhabene Hidden Peak beim ersten Anblick; der Blick durch das Nebelreißen vom höchsten Berg der Welt; die Apathie nach 48 Stunden Schneesturm am Südsattel oder die Toten am Wegrand.

Tod und Leben, Mut und Angst, Höhe und Tiefe sind da oben eins, Hälften eines unteilbaren Ganzen – und nur in der Schwebe zwischen Fremdheit und Vertrautheit steigen wir auf den Gipfel der Selbsterfahrung.

Mit dem Tourismus, der Reisen bis zum Gipfel des Mount Everest anbietet – Organisation, Sauerstoff-Depot am Wegrand, Animation inklusive –, kam auch der Sport zum Höhenbergsteigen. Als ob eine Besteigung, die viel Geld kostet, einen noch höheren Wert hätte, wenn sie schneller, bei Nacht oder von einem Invaliden ausgeführt würde. Dabei ist es ganz einfach so, daß der Wert einer Bergbesteigung nur abhängt von den Werten, die wir den Bergen lassen. Großes Bergsteigen beginnt immer und überall dort, wo Tourismus und Sport nicht hinkommen.

NICHT DER GIPFEL UND NICHT DER WEG – DER UMWEG IST DAS ZIEL

15 Jahre lang habe ich versucht, die Grenzen des Möglichen im Achttausender-Bergsteigen weiter hinauszuschieben. Zuerst habe ich schwierige Wege erstbegangen; im althergebrachten Expeditionsstil natürlich. Dann habe ich gelernt, mehr und mehr auf Partner und technische Hilfsmittel zu verzichten. Am Ende ließ ich mir kühne Umwege einfallen, um das zu erleben, was man früher »Abenteuer« nannte. Mir ging es dabei nicht um eine Eroberung draußen, sondern um eine Erfahrung in mir drinnen, um die Grenze meiner Fähigkeiten, um mein Begrenztsein. Ich ging wiederholt »bis ans Ende der Welt«, um das Ende meiner Kraft, Angst, Leidensfähigkeit zu erfahren. Abenteuer als Selbstzweck, als ein Zugang zu mir selbst.

Die Tatsache, daß ich alle 14 Achttausender bestiegen habe, ist für die Alpingeschichte zweitrangig. Vielleicht bleibt sie eine Randnotiz wie seinerzeit, 1911, die Besteigung aller Viertausender in den Alpen durch den Vorarlberger Dr. Karl Blodig. Mit der Entwicklung des Bergsteigens hat beides wenig zu tun. Wie viele Kletterer sind inzwischen auf allen Gipfeln über der magischen 4000-Meter-Marke in den Alpen gestanden?

1987 hat der Pole Jerzy Kukuczka seinen 14. Achttausender bestiegen. Leider ist er 1989 an der Lhotse-Südwand abgestürzt. 1995 hat es der Schweizer Erhard Loretan geschafft: Nach einer Reihe außergewöhnlicher Unternehmungen – Annapurna-Überschreitung, Nonstop-Monsun-Everest-Besteigung, Cho-Oyu-Südwestwand – ist ihm mit dem Kangchendzönga sein letzter Achttausender gelungen. Daß der Franzose Benoît Chamoux in Loretans Spur auf seinen 14. Achttausender wollte, ist nicht die Schuld des asketischen Schweizers, der ein Leben lang seinen Weg gegangen war. Chamoux kam nicht bis zum Gipfel und nicht mehr zurück.

Das tragische Ende dieses Schnellkletterers, der seine Rekorde mit Vorliebe auf präparierten Normalwegen aufstellte, ist die Folge einer Entwicklung, die den Berg zum Symbol einer menschlichen Hybris macht, die Risiko-Vermarkter werbewirksam »no limits« nennen – eine gefährliche Ideologie. Nicht der Berg nämlich ist gefährlich, sondern menschliches Verhalten, das die Erhabenheit der Gebirge ignoriert und grenzenlose menschliche Fähigkeiten suggeriert.

Das Höhenbergsteigen ist nicht tot, es ist weiterhin herausfordernd, aber nur in der Ausgesetztheit abseits der Modeberge und nicht mit immer neuen sogenannten Rekorden. Innerhalb von 20 Jahren dürften 20 Alpinisten alle 14 höchsten Gipfel der Erde »abgehakt« haben. Im Jahre 2100 werden es Hunderte sein.

Das Himalaja-Bergsteigen ist aber auch nicht abgeschlossen mit diesem »Rekord«. Dieser ist nur vordergründig interessant. »14 mal 8000 Meter« ist nicht viel mehr als ein Schlagwort. So wie sich das Himalaja-Bergsteigen in den letzten 20 Jahren weiterentwickeln ließ, hin zu immer schwierigeren Wegen mit immer weniger Steighilfen und Fremdarbeit, wird es auch morgen noch weiterentwickelt werden – von einer jungen Bergsteiger-Elite.

Soweit diese Art des Bergsteigens ein Abenteuer an der äußersten Grenze des jeweils Machbaren bleiben soll, müssen die Akteure neue Problemstellungen, neue Umwege zum Ziel finden. 1924, als George H. Leigh Mallory zum Mount Everest aufbrach, »weil er da ist«, war der Gipfel das Ziel. Für Chris Bonington und seine Crew, die 1975 die steile Südwestwand durchstiegen, war der Weg das Ziel. Jetzt, da der Berg ohne Maske, über die schwierigsten Routen, allein, in der Monsunzeit und auch im Winter bestiegen worden ist, zählt der Umweg zum Gipfel. Oder der Rekord. Nicht jeder aber, der sich etwas »Neues« einfallen läßt oder der schneller als alle vor ihm zum Gipfel »stürmt«, ist ein Neuerer.

Wanda Rutkiewicz, die erfolgreichste Höhenbergsteigerin meiner Generation, konnte zwar mehr Achttausender besteigen als viele ihrer männlichen Kollegen – Pionierarbeit aber leistete sie dabei nur für die Frauenbewegung. Am Berg folgte sie der ausgetretenen Spur und jenen Durchhalteparolen, die Macho-Bergsteiger seit Beginn des »Höhenwahns« als ihr Credo verkünden. Dabei ging sie endgültig zuweit.

Ihr Tod am Kangchendzönga hat mich deshalb so tief getroffen, weil sie, wie 1995 die Engländerin Alison Hargreaves am K 2, unserer ausgetretenen Helden-Spur in die Katastrophe folgte.

Immer noch herrscht Verwirrung im Höhenbergsteigen. Die allermeisten Bergsteiger schließen sich heute großangelegten Commercial-Expeditionen an, die mit allen Mitteln zum Gipfel kommen wollen. Nicht »by fair means« – »by any means« ist ihre Devise. Auch die vielen Kleinexpeditionen, die sich im Basislager von K 2 oder Nanga Parbat zu einer Großexpedition zusammenschließen, sind in ihrer Vorgehensweise vom Alpenstil weiter entfernt, als es die nationalen Expeditionen in den fünfziger Jahren waren, die, am Berg auf sich selbst gestellt, jene Pionierarbeit leisteten, von der wir heute noch zehren.

Erhard Loretan ist die Ausnahme, wenn er mit dem Bergführer Norbert Joos die Annapurna I mit ihren drei Gipfelzacken überschreitet oder mit Jean Troillet mitten im Monsun durch die Nordwand auf den Mount Everest steigt – in 48 Stunden, Auf- und Abstieg inbegriffen.

Diese Art von »Rekord« findet meine ganze Hochachtung. Nicht aber die Schnellbesteigung à la Eric Escoffier, der auf einer vom Basislager bis zum Gipfel ausgetretenen Spur, über eine von anderen versorgte Lagerkette in einem Tag bis zum Gipfel des Hidden Peak rennt. Wenn die Vorausspurer nicht mehr können, geht auch er zurück – wie im Herbst 1986 am Mount Everest, den er in seinem parasitären Stil in neuer Rekordzeit besteigen wollte.

Es kann sein, daß Sponsoren, die an Werbeslogans mehr interessiert sind als an authentischen Abenteuern, auf derartige Rekorde setzen. Nicht ihnen aber dürfen wir glauben, wenn es im Grenzfeld von Sport und Abenteuer um Authentizität geht. Nicht »Menschen ohne Grenzen« sind die Pioniere, sondern Menschen, die in die grenzenlose Ungewißheit aufbrechen. Die schnellste Besteigung des K 2 über eine präparierte Route sagt mir weniger als das langsame Scheitern an einem langen, unbekannten Weg.

Die Schnelligkeit hat mich beim Bergsteigen nie so beeindruckt wie der Stil und die Problemstellung. Beides zusammen nur führt zu jenem Schritt, den die junge Bergsteigergeneration über das bisher Erreichte hinaus tun kann und muß, wenn sie ihre Fähigkeiten beweisen will.

HERAUSFORDERUNGEN AM OBEREN ENDE DER WELT

Undurchstiegene Wände gibt es noch genug. Nicht nur an den Achttausendern – K 2-Westwand, Kangchendzönga-Mittelgipfel-Ostwand, mehrere Routen in der Lhotse-Südwand, Makalu-Westwand, Dhaulagiri-Südwand, Manaslu-Westwand –, es gibt sie vor allem an Sechs- und Siebentausendern. Es kommt auf den Stil an, in dem diese »Probleme« gelöst werden. Die Art und Weise, wie V. Kurtyka und R. Schauer die Westwand des Gasherbrum IV durchstiegen haben, könnte Vorbild sein für all jene, die sich dem Große-Wände-Abenteuer verschrieben haben.

Ob ich nicht auch selbst daran schuld bin, daß sich heute 1000 und mehr Expeditionen im Jahr am Fuße der Achttausender treffen? Sicher, der Boom im Höhenbergsteigen ist auch eine Folge meiner Aktivität. Es ist aber nicht meine Schuld, wenn die Regierungen in Pakistan und Nepal so viele Expeditionsgenehmigungen vergeben, daß es schwierig geworden ist, Erstbegehungen selbständig zu beginnen und zu Ende zu führen, oder wenn Bergsteiger meinen Verzichtsalpinismus nicht verstehen wollen. Es liegt an uns, neue Problemstellungen zu erfinden. Innovativ ist nur, wer Phantasie hat und dorthin geht, wo die vielen anderen nicht sind.

Wir – meine Bergsteigergeneration – sind im Alpenstil und ohne Maske, ohne Lagerkette und ohne Fremdhilfe bis ans obere Ende der Welt geklettert, allein bis zum Gipfel des Mount Everest. Wir haben die höchsten Berge der Welt über neue Routen bestiegen, über steile Wände, über die längsten Grate. Wir haben die Achttausender überschritten, wir haben sie zu allen Jahreszeiten erklettert. Wir haben zwei davon hintereinander, im Paar, überschritten, ohne zwischendurch ins Basislager abzusteigen, nachdem der »Hattrick« – drei Achttausender in einer Saison – wiederholbar geworden war. Alles, was einmal durchgestanden ist, kann wiederholt werden. Wiederholen ist leichter als vormachen. In jeder Sparte des Lebens.

Nachdem sich der Alpinismus generell in drei Spielarten aufgesplittert hat – Sportklettern, klassisches Bergsteigen, Expeditions- bzw. Höhenalpinismus –, zerfällt nun auch das Höhenbergsteigen eindeutig in zwei verschiedene Disziplinen: in Commercial- und Pionierreisen.

Warum nicht? Das Höhenbergsteigen wird nun mehr und mehr als Reisemöglichkeit verstanden und nicht mehr als Spiel an der Grenze der Möglichkeiten. Organisiert vom Reiseunternehmer, geführt vom Tourenleiter, unterstützt von einheimischen Hochträgern läßt man sich zum Gipfel führen. Man bucht den Mount Everest, wie man eine Reise nach Mallorca bucht: Vollpension. Führung und Versicherung inbegriffen.

Nein, ich will den organisierten Achttausender-Tourismus nicht abwerten, ich will ihn nur relativieren. Es ist auch mit Führer und Spur anstrengend, den Shisha Pangma zu besteigen. Nur das Abenteuer bleibt dabei auf der Strecke. Das »organisierte Abenteuer« ist zwar ein Widerspruch in sich, aber eine Möglichkeit. In jeder Hinsicht. Es ist vorerst ebensogut vermarktbar, wie es früher die Pioniertaten waren. Und es verspricht Erfolg. Sicheren Erfolg. Vielleicht 80 Prozent der Achttausender-Besteiger der letzten Jahre haben ihren Erfolg im Rahmen einer Commercial-Expedition erreicht. Das spricht mehr für die Veranstalter als für die ehrgeizigen Akteure. Auch für den Zeitgeist.

Der konditionsstarke Höhenbergsteiger Marcel Ruedi aus Winterthur hat zehn Achttausender in dieser Art bestiegen. Er selbst wäre gar nicht auf die Idee gekommen, seine »Abenteuer« zu vermarkten, wie er auch nicht auf die Idee kam, neue Wege zu gehen. Die Industrie hat ihm Verträge angeboten. Angeregt durch die lokale Presse, ließ er sich in jenen »Wettlauf« hineintreiben, den er trotz Nachsteigerei nicht hätte gewinnen können und der ihn am 24. September 1986 am Makalu das Leben kosten sollte. Offensichtlich hat er dem Druck der Öffentlichkeit nicht standgehalten. Ich beklage ihn als Opfer, nicht als Versager. Das wahre Abenteuer schließt das Scheitern mit ein, die Commercial-Expedition soll es ausschließen. Warum kaufen sich Berufsabenteurer in eine Eiselin-Expedition zum Mount Everest ein? Weil das der sicherste Weg zum Gipfel ist und bleibt. Auch weil Geldgeber und Publikum daheim noch nicht unterscheiden können zwischen Abenteuer und Gruppenreise. Ein abenteuerlüsternes Fernsehpublikum nimmt seinem abenteuerlustigen Stellvertreter alles ab. Auch wenn dieser nur ausgezogen ist, eine Marktlücke zu füllen.

Grundsätzlich habe ich nichts gegen die vielen Gipfelerfolge. Mich stört dabei nur die ungenaue Berichterstattung. Wer in der Tat glaubt, einen der Gasherbrums im »Alpenstil« bestiegen zu haben, wenn gleichzeitig an Ort und Stelle ein Dutzend weiterer Gruppen operiert, belügt sich nur selbst. Wer aber weiß, wie gespielt wird, und im gegebenen Fall trotzdem vom »Alpenstil« faselt, belügt auch andere. Wer ein »Grenzabenteuer« am Berg live ins TV-Programm bringt, mag ein guter Schauspieler sein, ein Abenteuerdarsteller, nicht aber ein Vorläufer in der Auseinandersetzung Mensch und Wildnis. Das wahre Abenteuer ist nicht inszenierbar, vielleicht läßt es sich mit ein paar Bildern dokumentieren, das andere ist mehr oder weniger Show.

Wer will nun als Schiedsrichter die Show vom großen Alpinismus trennen? Es gibt kein allgemeingültiges Reglement beim Höhenbergsteigen. Es gibt nur Beschränkungen, die sich der eine oder andere auferlegt. Und eine gemeinsame Sprache. Im Alpenstil heißt, ein Aufstieg ohne Vorgaben, ohne fremde Helfer, ohne Vorarbeit. Ein Alleingang beginnt am Fuße des Berges, dort, wo die Talträger nicht weitergehen können oder nach den lokalen Bestimmungen nicht dürfen. Ohne Maske steigt nur, wer auf den Flaschensauerstoff verzichtet, allerorts, auch beim Rasten und Schlafen.

Wer das alles kontrolliert? Niemand. Und das ist es ja, was exakte Angaben so wichtig macht. Um die Achttausender-Chronik der letzten fünf Jahre schreiben zu können, habe ich hundert und mehr Berichte gelesen. Wenn ich dabei herausfinde, daß einer ausgerechnet am selben Tag wie Franzosen und Spanier »im Alpenstil« auf dem Gasherbrum II war, korrigiere ich diese Notiz für meine Historie. Wenn einer verkündet, den Nanga Parbat im »Superalpinstil« bestiegen zu haben, nachdem er die Lager- und Seilkette an der Diamir-Flanke anderen Bergsteigern abgekauft hat, nenne ich seinen Stil »superparasitär«. Mit diesen Feststellungen will ich niemanden diskreditieren, nur darauf hinweisen, daß Begriffe dehnbar sind und auch vorsätzlich falsch benutzt werden können.

1975 stiegen Peter Habeler und ich über die Nordwestflanke auf den Gasherbrum I: eine neue Route, keine Vorarbeit, keine Vorgaben, Aus dem Gasherbrum-Tal bis zum Gipfel und zurück. Völlig auf uns selbst gestellt. Bis dahin waren alle Achttausender nach dem Aufbau mehrerer Hochlager bestiegen worden. Die Lagerkette und die Fixseile machen den Expeditionsstil aus, weniger die Hochträger und die schweren Sauerstoffgeräte. Letztere machten den Expeditionsstil notwendig.

Mein erster Schritt hin zum Alleingang auf den höchsten Berg der Welt war der Alpenstil. Der zweite Schritt war der Everest-Aufstieg ohne Maske. Die dritte Stufe war ein kleiner Achttausender im Alleingang. »Der letzte Schritt« war nur nach diesen dreien denkbar.

Es war eine logische Zielsetzung, allein bis ans Ende der Welt zu gehen. Vor allem, weil diese runde Welt nur ein sichtbares Ende hat: ein Ende nach oben.

Mein Everest-Alleingang markiert viel mehr als das »14 mal 8000 Meter« eine Wende im Höhenbergsteigen.

Haben wir uns noch relativ leichte Wege gesucht, um allein und damit notgedrungen mit wenigen Hilfsmitteln ans Ende der Welt zu stoßen, gilt es jetzt, über die schwierigsten Wege dorthin zu kommen. Es sind nach der Südwestwand am Mount Everest auch so abwegige Umwege denkbar wie der Aufstieg über den Lhotse Shar zum Lhotse-Hauptgipfel mit dem anschließenden Abstieg zum Südsattel und dann erst weiter zum Gipfel. Oder der spiralenförmige Aufstieg über den Westsattel (6000 m), Nordsattel (7000 m), Südsattel (8000 m) zum Gipfel.

Unser Bergsteigen war kein Eroberungsbergsteigen wie das von Hillary, Buhl und Bonatti. Es war die Suche nach neuen Grenzwerten. Auf den ersten Blick unlogisch, aber voller Ungewißheit, wie das Bergsteigen der Pioniere. Das große Bergsteigen von morgen wird noch verrückter, weil widersinniger sein.

Wer aber mit dieser Art des Bergsteigens Wissenschaft betreiben und damit mehr verbinden will als die »Eroberung des Nutzlosen«, soll in die Unterdruckkammer gehen oder im Satelliten um die Erde kreisen. Wem es nicht genug »Glück« bringt, als eine Art Sisyphos immer und immer wieder von ganz unten anzufangen, soll mir nicht von der »Bergleidenschaft« faseln. Und wer nicht zu unterscheiden gelernt hat zwischen Abenteuer und Show, kann auch ins Kino gehen statt auf den Mount Everest.

Eine Faustregel bleibt: Je schwieriger es wird, ein Abenteuer zu dokumentieren, um so mehr ist es wert. Solange man inszenieren, filmen, spielen kann, ist die Ungewißheit gering. Ein Grenzabenteuer beginnt dort, wo die Show aufhört. Großen Dokumentationen, großen Shows gegenüber war ich immer schon skeptisch. Auch den meinen. Wenn es ums Überleben geht, vergessen wir den Fotoapparat und alles, was nachher kommt. Das Jetzt entscheidet nicht mehr über Erfolg und Mißerfolg, es entscheidet über Leben und Tod.

Nur auf immer größeren Umwegen sind diese zeitbedingten Grenzwerte zu finden, die der allgemeine Erfahrungsschatz und das bisher Erreichte diktieren. Die Jugend will machen, was denkbar ist – und in sportlicher Hinsicht habe ich dagegen nichts einzuwenden. Vor allem dann nicht, wenn sie ohne Technik und ohne Drogen neue Horizonte sucht. Immer dann aber, wenn Menschen mit der Ausrede, der Menschheit zu dienen, diese Erde ausbeuten, ruinieren und damit unbewohnbar machen, wehre ich mich dagegen.

So »krank«, »verrückt« oder »unsinnig« es Laien auch erscheinen mag, mit selbstgewählter Beschränkung an Hilfen und Sicherheiten in die Wildnis zu gehen – wir werden es trotzdem tun. Bis jeder auf seinen Umwegen, das Ende der Welt zu erreichen, ans Ende seiner Möglichkeiten stößt.

EINE NEUE EPOCHE HAT BEGONNEN

Die Achttausender der Erde standen lange Zeit im Mittelpunkt eines weltweiten Interesses. Sie wurden erkundet, belagert, angegriffen – immer wieder angegriffen.

1895 hatte Albert Frederic Mummery am Nanga Parbat einen ersten Versuch gewagt. 1950 standen Maurice Herzog und Louis Lachenal auf dem Gipfel der Annapurna, dem ersten bestiegenen Achttausendergipfel. Dazwischen liegen viele Expeditionen, deren Männer die Voraussetzungen für die späteren Erfolge geschaffen haben.

Innerhalb von 15 Jahren wurden alle 14 Achttausender bestiegen – der Run auf den »dritten Pol« war beendet. Für uns junge Bergsteiger aber waren die Eisriesen in Hochasien 1970 immer noch Traum und Ziel. Wir suchten an ihren Flanken neue Probleme und träumten davon, sie zu lösen. Während man vor 30 und 40 Jahren auf dem leichtesten Weg zum Gipfel ging, die sogenannten Normalrouten eröffnete, machten wir es uns zur Aufgabe, die größten und schwierigsten Wände zu klettern.

Die Geschichte des Alpenbergsteigens wiederholte sich im Himalaja. Wie in den dreißiger Jahren die großen Wände der Alpen erobert worden sind, so belagerte nun die junge Klettergeneration die unberührten Riesenflanken der Achttausender.

Im Sommer 1970 gelang einem Team von englischen und amerikanischen Bergsteigern die Überwindung der 3000 Meter hohen Annapurna-Südwand. Wenige Wochen später durchstiegen mein Bruder Günther und ich die Rupal-Flanke am Nanga Parbat. Im Sommer 1971 erkletterte eine französische Mannschaft den 3200 Meter hohen und äußerst schwierigen Makalu-Westpfeiler. 1972 brachen wir in einer kleinen Tiroler Mannschaft zum »Problem« Manaslu-Südwand auf.

Meine Erfahrungen stützten sich damals vor allem auf die tragische Rupal-Wand-Expedition, bei der mein Bruder und ich zwar den Gipfel erreicht hatten, Günther jedoch ums Leben gekommen war. Ich wußte, wie eine klassische Achttausender-Expedition organisiert und durchgeführt wurde. Auch ahnte ich, daß es ohne Fixseile, Hochlager und Hochträger gefährlicher sein würde, eine schwierige Wand an einem Achttausender zu besteigen, als mit all diesen Hilfen. Ich hatte noch nicht den Mut, mich in die Risiken einer Miniexpedition zu stürzen. Am Manaslu sollte vor allem alles gutgehen.

1 Sturm am Manaslu

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Der Gipfelaufbau des Manaslu. Seine Südflanke ist mit 4000 Meter Höhe eine der größten und schwierigsten Wände der Welt.

EINE KLASSISCHE HIMALAJA-EXPEDITION

Den Aufstieg zum Gipfel des Manaslu begannen wir am 23. April 1972 im Lager 3. Franz Jäger und ich wollten in zwei Tagen bis zum höchsten Punkt gelangen und dann schnell wieder in die unteren Lager zurückkehren. Trotz Sherpa-Hilfe aber schafften wir an diesem Tag nur etwa die Hälfte der Eisrampe, die zum Gipfelplateau leitet. Die Sherpas gingen ins Lager zurück. Franz und ich richteten uns notdürftig im Zelt ein. Trotzdem schliefen wir gut, und Franz stellte am andern Morgen begeistert fest, daß er in blendender Verfassung war.

Am 24. April klappte alles planmäßig. Als die Sherpas kamen, hatten wir das Zelt zusammengelegt und die Rucksäcke gepackt. Nur den Kocher hatten wir draußen behalten, um den Trägern Tee zu bereiten. Kurz nach Mittag stiegen wir aus der Südwand auf das Gipfelplateau aus. Die letzten Seillängen wiesen blankes Eis auf, und weil der Hang dort sehr steil war, mußten wir den Sherpas helfen.

Knapp unterhalb des Gratrückens, noch in der Südseite, errichteten wir Lager 4. Mit einem 8-mm-Seil verankerten wir das Zelt auf dem Boden. 10 Meter weiter oben verlief die Wasserscheide zwischen Nord und Süd. Wir hatten damit den idealen Ausgangspunkt für einen Gipfelvorstoß erreicht.

Rechtzeitig legten wir uns hin, ich kochte den ganzen Abend hindurch. Draußen wehte ein kräftiger Wind. Über Funk sprachen wir nochmals in allen Einzelheiten den Gipfelplan durch: Würden wir uns um 6 Uhr früh nicht melden, so hieße das, wir wären bereits unterwegs. Dann würden sofort zwei Leute von unten aufsteigen, um uns Rückendeckung zu geben.

Unser Arzt, Dr. Oswald (Bulle) Ölz, empfahl uns noch, über dem dampfenden Teekessel zu inhalieren. Das Wetter versprach gut zu bleiben. Franz und ich aßen, soviel wir konnten. Wir tranken Tee und Ovomaltine, legten dann die Rucksäcke unter die Beine, um besser auszuruhen. Ich schlief bis zum Morgengrauen.

Am frühen Morgen, als alle anderen vermutlich noch schliefen, erhob ich mich leise und setzte den Kocher in Betrieb. Im Schlafsack zog ich die zweiten Innenschuhe an. Dann kochte ich Tee. Während der Nacht hatte es sehr viel Schnee ins Zeltinnere getrieben, der jetzt festgepreßt zwischen den Schlafsäcken lag. Ich warf einige Schollen in den Topf und suchte am Kopfende des Zeltes zwischen Kleidern und Schnee nach Brot und Marmelade.

Franz steckte bis zur Nase im Schlafsack. Er hatte den kraushaarigen Kopf auf seinen Rucksack gelegt und schlief noch. Ich weckte ihn. Nach alter Gewohnheit zog er den Reißverschluß am Zelteingang auf, der Wind aber warf ihm eine Handvoll Eiskörner ins Gesicht, so daß er das Zelt schnell wieder schloß.

»Es wird schon aufhören«, sagte er. »Das Wetter ist sonst gut. Nur der Wind muß sich legen.«

Die Zeltwände flatterten, in regelmäßigen Abständen flog feiner Schneestaub durch die dreieckige Öffnung am Giebel, die wir am Abend vorher nicht genügend verhängt hatten.

»Bei diesem Wind können wir nicht gehen«, sagte ich.

»Es wird schon aufhören«, wiederholte Franz, »wir können uns inzwischen fertig machen.«

Wir schlüpften aus dem Schlafsack und zogen unsere Sachen an, die wir am Abend zuvor für den Gipfelgang zurechtgelegt hatten: einen Anorak, einen Überanzug aus beschichtetem Perlongewebe, die schweren Überschuhe, die Gamaschen.

Franz hatte die Daunenjacke anbehalten; seine Wollmütze hatte weiße Flecken, sie war voll Schnee und ein wenig zu weit. Da der Tag kalt zu werden versprach, setzte er noch eine Sturmhaube auf, die ihm das Aussehen eines Polarforschers verlieh. Den Biwaksack band er sich um Rücken und Bauch, nicht außen, sondern unter dem Anorak, damit ihn der Wind nicht wegreißen konnte. Die Reservehandschuhe stopfte er in die großen Schenkeltaschen der langen Lodenhose, die jetzt voller Kleinigkeiten waren wie Filme, Sonnencreme und Brillen.

Wir tranken das lauwarme Wasser, das nach Wolle und Tee schmeckte, versuchten zu essen, aber keiner hatte Hunger. Ich holte meine dünnen Wollhandschuhe aus dem Innenfach meines Rucksacks, zog sie an und öffnete den Zelteingang. Diese Spezialhandschuhe hatte mir die Großmutter gestrickt; ich hatte sie darum gebeten, weil man für große Höhen nichts Besseres mitnehmen kann.

Draußen war es schon Tag. Der Wind hatte aufgehört, über das Plateau zu jagen. Schon kündigte sich hinterm Gipfel des Peak 29 die Sonne an.

Nacheinander krochen wir ins Freie. Franz schloß den Reißverschluß, während ich mir das 15 Meter lange Seil auf den Rücken band. Wir wollten es mitnehmen für unerwartet schwierige Kletterstellen am Gipfelgrat. Wir trugen jetzt beide die Daunenhandschuhe über den anderen. Als wir uns so vermummt und tapsig gegenüberstanden, mußten wir lachen.

Nach den langen Stunden im Zelt flößten uns die ersten Bewegungen, so unbeholfen sie auch sein mochten, Auftrieb, Selbstsicherheit, ja das Gefühl von Kraft ein.

Wir beeilten uns, fortzukommen, damit wir nicht im letzten Augenblick noch aufgehalten würden. Wir legten das Zelt nieder, banden es mit Seilen fest auf den Boden, so daß es der Wind nicht fortreißen konnte, nahmen die Pickel auf und marschierten los.

Auf dem schwach ausgeprägten Grat zwischen Nord- und Südflanke blieben wir stehen. Franz holte tief Atem, es war windstill, die Luft kalt und rein. Er blickte um sich – keine Wolke am Himmel, die Welt lag unter uns. Es war der richtige Tag für den Gipfel. Franz zeigte hinüber zum Himal Chuli, zum Peak 29. Die noch unsichtbare aufgehende Sonne überzog den Himmel mit hellen Streifen.

Vor uns dehnte sich ein riesiges Schneeplateau aus, nach Osten hin leicht ansteigend; buckelige Windgangeln bedeckten die weite Fläche. Nur rechts von uns, unter den Felstürmen des Südwestgrats, versperrte ein sanfter Hügel die Aussicht. Noch dieser Rücken, und wir würden den Gipfel sehen, noch ein paar Stunden – und wir würden oben sein. Ja, vielleicht war wirklich hinter diesem Hügel der Gipfel!

Wir gingen jeweils 50 oder 100 Meter, vorbei an den zarten Spitzenrändern der Windgangeln, dann blieben wir wieder stehen, um zu verschnaufen. Der Sturm hatte den Schnee festgeblasen, so daß unsere Schuhsohlen kaum eindrangen. Nur in Mulden und im Schatten der Windgangeln lag lockerer Pulverschnee. Hinter uns wies, noch klar erkennbar, die schmale dunkle Spur den Weg zum Zelt. Sie schien auf der welligen Fläche zu schwimmen.

Die Verhältnisse waren ideal. Das Wetter hatte so lange gehalten, daß der Wind alle Rücken blankfegen konnte. Dem Gipfelangriff stand nichts mehr im Wege. Diese Chance mußten wir nutzen.

Am Grat, weit rechts über uns, hingen leuchtende kleine Schneefahnen. Von gipfelnaher Freude erfüllt, wie sie Bergsteiger im Himalaja besonders empfinden, ging Franz hinter mir her. In den Rastpausen lächelte er mir oft strahlend zu, als wollte er sagen: Bald sind wir am Ziel! Seine Blicke eilten weit voraus, die vielen Schneeverwehungen entlang. Die Hügel und Hänge vor uns zählend, sagte er einmal: »Dahinter muß der Gipfel liegen!«

Immer wieder blickte er voraus. Hinter den kahlen Schneeflächen würden sich die Gipfeltürme erheben. Seit mehr als einer Stunde schon gingen wir – Schritt für Schritt, Pause für Pause – auf den Hügel zu, hinter dem sie auftauchen mußten. An den Rändern der Schneeverwehungen hingen jetzt scharfgezeichnete Schatten. Aus den Tälern stieg Dunst, der sich mit dem Weiß der Vorberge mischte. Warm war es noch nicht. Aber im Schmetterlingstal mußte es bereits unangenehm heiß sein.

Hinter jedem Rücken vermuteten wir den Gipfel, aber jedesmal lagen neue Schneehänge und Rücken vor uns. Da keine klettertechnischen Schwierigkeiten zu überwinden waren und spaltenfreies Gelände vorherrschte, gingen wir seilfrei. Im Norden, über den Bergen Tibets, lag wolkenloser Himmel. Langsam wurden wir ungeduldig: Noch immer kein Gipfelaufbau!

Wir hätten auf jedem erreichten Rücken verzweifeln können. Franz verwarf plötzlich seine anfänglichen Pläne und entschloß sich aufzugeben, sofort ins Ausgangslager zurückzukehren und dort im Zelt auf mich zu warten.

»Reinhold«, sagte er leise und blieb stehen, um Atem zu schöpfen. Ich wandte mich zu ihm um und sah den Verzicht in seinen Augen.

»Ich gehe zurück«, sagte er entschlossen, »heute kommen wir sowieso nicht mehr zum Gipfel.«

»Es kann nicht mehr weit sein«, versuchte ich ihn aufzumuntern.

»Das denken wir schon seit drei Stunden«, antwortete er.

»Bist du müde?« fragte ich.

»Nein, das nicht, aber ich will nicht biwakieren, ich gehe lieber rechtzeitig zurück zum Zelt.« Er beharrte auf seinem Entschluß.

»Ich will auch auf keinen Fall biwakieren. Aber noch haben wir Zeit, viel Zeit bis zur Dämmerung.«

»Geh du allein weiter, du bist schneller, vielleicht kommst wenigstens du hinauf.«

»Und du?«

»Ich gehe zurück, ich warte im Zelt auf dich.«

Es war am späten Vormittag. Wir standen gerade unter den beiden ersten Steilaufschwüngen.

Da zwischen Lager 4 und uns nur Gehgelände war, überhaupt keine Absturzgefahr bestand und das Wetter gut zu bleiben versprach, zweifelte keiner von uns beiden auch nur einen Augenblick daran, daß Franz allein ins Lager zurückkommen würde. Er war in guter körperlicher Verfassung, bestens ausgerüstet und hatte eine Geradeausspur, die leicht abwärts zum Zelt führte.

»Ich gehe noch, soweit ich kann. Wenn ich in den ersten Nachmittagsstunden nicht oben bin, steige ich ab, ich komme schon rechtzeitig zurück«, sagte ich.

»Mach’s gut!«

»Du auch!«

Ich wandte mich dem Hang zu.

»Ich werde für dich Tee kochen«, rief Franz noch, nachdem er einige Meter hinuntergegangen war.

Er ging abwärts, ich aufwärts, eine Zeitlang sahen wir uns noch. Er ging neben der Spur, der er im Aufstieg Tritt für Tritt gefolgt war, und gelangte auf den sanften Rücken mit dem Rastplatz, wo er vor 20 Minuten hoffnungsvoll angekommen war, überzeugt, den Gipfel zu sehen.

Dieser plötzliche Verzicht auf den Gipfel, worauf war er zurückzuführen?

Im Winter, als die Teilnahme von Franz an der Expedition in Frage stand, hatte ihn der Gedanke an einen Achttausendergipfel fast verrückt gemacht. Aber jetzt, trotz der dünnen Luft, hatte er die Kraft zu verzichten. Rechtzeitig abzusteigen bedeutete soviel wie Zeitgewinn, Sicherheit.

Franz querte den Rücken. Er setzte sich hin und schaute herauf zu mir. Er winkte. Ich war stehen geblieben, um zu rasten. Wie klein er jetzt war!

Ich stieg langsam weiter und überlegte, wieviele Stunden für den Rückmarsch wohl notwendig waren: zwei vielleicht, höchstens drei. Ich hätte gern gewußt, wie der Gipfelgrat aussah, ob er im Alleingang möglich war. Aber die Hänge versperrten die Aussicht nach oben, und ich hatte Mühe, einen gleichmäßigen Schritt zu halten.

Plötzlich jedoch lagen Felsen über mir. Ich setzte mich und schaute die Hänge zurück, wollte Franz begeistert zurufen. Ich sah ihn gerade noch, weit weg, ganz klein, dann verschwand er hinter dem Rücken.

Nach vier weiteren Schnaufpausen erreichte ich den Südwestgrat. Ein Felsturm stand vor mir, man konnte sich jedoch gut vorstellen, daß dahinter noch einer war.

An der Gratschneide wehte ein scharfer Wind. Er trieb einzelne Nebelfetzen vor sich her. Ganz feiner Schneestaub klebte an den abschüssigen Platten. Unter einem Überhang bog ich nach links in die Nordseite. Hier war es windstill. Steil fiel die Wand unter mir ab, weiter unten stand ein schroffer Felsturm, das war der Pinnacle. Alle Türme am Grat – es waren sehr viele – lagen schräg und wiesen nach Osten.

Nachdem ich eine Zeitlang zwischen Fels und Schnee geklettert war, betrat ich eine Scharte. Wieder jagte der Wind von Süden her, die Wand dort fiel fast senkrecht ab.

Eine scharfe Firnschneide führte hinauf auf ein Felsriff. Das mußte der Gipfel sein! Ich setzte mich in der Scharte nieder. Von hier aus konnte ich den letzten Teil des Grates gut überblicken. Er war sehr steil, doch an keiner der beiden Flanken ergab sich ein leichterer Anstieg.

Ich kletterte langsam und vorsichtig, rastete öfter als bisher. Jetzt stand ich, noch etwas unsicher, auf der Felskanzel und sah abermals, mäßig ansteigend, einen Grat vor mir. Dieser kurze Gratteil sollte mich nicht abhalten, den höchsten Punkt zu erreichen.

Währenddessen war der Wind stärker geworden, die Luft war eisig, und im Süden hing eine düstere Wolkenbank. Ich hätte nichts dagegen gehabt, eine Weile zu rasten, doch hier am Grat konnte ich nicht sitzen, nicht einmal bequem stehen.

Ich paßte mein Tempo den Schwierigkeiten und der dünnen Luft an, ging also nur mehr zehn Schritte, ohne zu verschnaufen.

Und da sah ich hinter dem Grat einen Felszahn, 5 oder 6 Meter hoch, eine Hälfte dunkel, eine Hälfte hell, wie eine längsgeteilte Pyramide. Der Gipfel – einen so sonderbaren hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen!

Ich kletterte an der Südseite, die Füße auf einer Felsleiste, den Pickel im Firngrat. Vielleicht lag es am nahen Gipfel, daß ich jetzt keine Müdigkeit mehr empfand. Jedenfalls fühlte ich mich sicher und klar bei Verstand.

Da entdeckte ich eine Scharte, die so breit war, daß sie den Grat vom Gipfelturm trennte. Ich mußte, als ich in die Scharte abkletterte, einige Felsbrocken abtreten und doppelt vorsichtig sein.

Die letzten Meter zum Gipfel waren schwierig. Der Fels war kleinsplittrig und steil. Und da sah ich mitten im Gipfelturm einen Haken, einen krummen, rostigen Haken von etwa 15 Zentimeter Länge. Weiter oben steckte ein zweiter, wesentlich fester, auch dieser mit Ring. Einige Stoffreste hingen daran. Ich hielt mich an ihm fest, zwei, drei Schritte noch, dann stand ich oben.

Da sich von Süden her ein Wettersturz ankündigte, blieb ich nur wenige Minuten. Ich baute einen Steinmann, fotografierte, schlug einen der beiden Haken heraus und steckte ihn in die Tasche.

Ich war nicht müde, aber die Wolkenbank im Süden und der starke Wind mahnten zum Abstieg. Ich mußte das Zelt erreichen, bevor die Nacht kam. Eine Handvoll Steinchen nahm ich noch auf, für die Kameraden, die unten auf mich warteten.

In der Scharte drehte ich mich noch einmal um und schaute zurück: Ein Felszacken, einige Nebelschleier, ein Häufchen Steine – das also war der Gipfel. Knapp darunter ein Haken und Fetzen einer ehemaligen Flagge. Ringsum Himmel, im Süden schwere, aufgedunsene Wolken, die an den Gipfeln klebten. Der Wind jagte sie weiter, näher, immer weiter nach Norden, über den Gipfel des Manaslu hinweg.

Der Abstieg verlief anfangs reibungslos und rasch. Ich kletterte über die Aufstiegsroute zurück. Plötzlich und unerwartet kamen Nebel und Schneesturm auf. Der weitere Abstieg wurde zum Wettlauf mit dem Tod. Während ich mich zurückkämpfte, vermutete ich Franz in Sicherheit, im Zelt von Lager 4.

Solange es steil abwärts ging, konnte ich mich ausgezeichnet orientieren. Da war ein Felsturm, dort ein blauschimmernder Eishang, unten mußte ich zwischen einigen Schneetürmen hindurch. Vom Aufstieg her hatte ich jede Einzelheit der Route im Kopf, so daß ich jetzt auch ohne Spur den Weg nicht verfehlte.

Den Windanzug hatte ich mit dem Eispickel zerfetzt, um nicht zu rutschen, wenn ich hinfiele. Bald steigerte sich der Schneesturm zum Orkan, es war unmöglich, mit Brille zu gehen. Mund und Augen vereisten, die Lage schien hoffnungslos.

Das Plateau war jetzt flacher, der Sturm drohte mich auf den Boden zu werfen, die Augen brannten. Ich ging immer noch geradeaus, aber die Schneefläche nahm kein Ende. Wo war das Zelt? Ich ging, aufwärts, abwärts, quer zum Hang; ich ließ mich vom Wind treiben, kam an eine spiegelnde Eisfläche, die in den Morgenstunden noch nicht da war.

027.tif

Die Route über den Felspfeiler, über den die Tiroler Himalaja-Expedition die Manaslu-Südwand angriff; oben das Eislabyrinth.

Überhaupt war jetzt alles verändert, die Schneeverwehungen, die Rücken, nirgends eine rettende Felsinsel. Ich ging gegen den Sturm, rücklings, gebückt, zum Umfallen müde. Teilweise lag der Schnee bereits knietief. Wenn der Sturm von der Seite kam, warf er mich um.

Ich kroch. Ich kroch über das Plateau, nein, kein Plateau, eher ein Kessel. Aus dem Nebel jagten spitze Eiskristalle und Schneestaub daher. Zuweilen trafen sie mein Gesicht und bohrten sich in meine Augen, so daß ich nichts mehr sehen konnte. Ich kroch und fühlte die Schwere des Körpers, die mich zu Boden drückte. Erst dachte ich, es sei der Sturm, der mich nicht hochkommen ließ. Aber es war die Müdigkeit, es waren die Beine, die so schwer geworden waren.

Ich fühlte den müden Körper und schleppte ihn weiter, wie nach schwerer Krankheit. Ich meinte, bei diesem Sturm nie mehr auf die Beine kommen zu können. Aber es konnte nicht mehr weit sein. Die Hauptsache war jetzt, nicht aufzugeben, ich mußte das Zelt finden. Ich atmete tief durch, erholte mich in den Rastpausen relativ schnell. Plötzlich stand ich wieder. Die Beine hoben sich, der Oberkörper blieb immer noch gebückt.

Ich ging mit dem Rücken gegen den Wind. Ohne zu zögern, ohne zu denken. Ich mühte mich vorwärts, geradeaus, nach links, nach rechts, schwankte, tappte mit den Füßen ins Leere, fand wieder festen Boden, stand, verschnaufte … Ich stöhnte auf, begann, in die andere Richtung zu gehen. Das Plateau nahm und nahm kein Ende. Kein Zelt war zu erspähen.

Erst als ich öfter an dieselbe glattgefegte Eisfläche kam, wußte ich, daß ich im Kreis ging. Meine Verzweiflung wuchs. Ich wußte nicht, wo ich war, vermutete mich immer noch in nächster Umgebung des Zeltes, in einem Umkreis von höchstens 500 Meter Durchmesser. Und trotzdem fand ich es nicht. Ich ging seit Stunden, wußte aber nicht, wohin.

Die ganze Zeit über jagte der Orkan Eiskörner vor sich her, warf sie mir ins Gesicht, die Haut brannte. »Weitergehen!« hämmerte es in meinem Kopf. So aussichtslos war es mir im Leben noch nie erschienen. Aber am schlimmsten würde es sein, hier in diesem Kessel liegen zu bleiben, ohne je wieder hinauszugelangen, hier zu sterben …

Plötzlich hörte ich jemand meinen Namen rufen. Ich blieb stehen und lauschte. Nichts mehr. War es eine Sinnestäuschung? Nein, da wieder, ganz deutlich: »Reinhold!«

Ich war so aufgeregt, daß meine Stimme zitterte.

Es war Franzens Stimme, ich erkannte sie genau. Er schien vor dem Zelt nach mir zu rufen.

»Franz«, schrie ich, »ich bin da!« Mir war völlig klar, daß er mit dieser Ortsangabe nichts anfangen konnte.

»Franz!« rief ich nochmals.

Er gab keine Antwort.

»Hallo!«

Wieder blieb es still. Nur der Sturm heulte, und die Stoffetzen, die von meinem Körper hingen, flatterten.

Ich geriet in Panik. Natürlich, hier irgendwo in der Nähe lag das Zelt, ich mußte mich beeilen, beeilen …

Und ich hetzte vorwärts, bog um mannshohe Schneemauern. Die Blicke eilten voraus, aber die Beine kamen nicht nach. Ich war so müde, verzweifelt müde!

Da sah ich einen dunklen Haufen im Schnee. Sofort dachte ich: Da ist es. Ich wollte darauf zurennen, aber die Beine versagten, der Brustkorb drohte zu zerspringen. Erschöpft ließ ich mich in den Schnee fallen.

Ich hatte keine Luft mehr, um rufen zu können. Kraftlos und keuchend lag ich da, das Zelt nicht aus den Augen lassend.

»Franz!« rief ich nach einer Weile. »Fra-anz!«

Und später: »»Hallo!«

Warum antwortete er nicht?

Ich robbte auf das Zelt zu – wenn er nur herauskäme! … Näher … näher … und endlich war ich dort. – Ein spitzer Schneehaufen!