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Heike Maria Fritsch

Blindes Blut

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © vadim yerofeyev – Fotolia.com

und © Brigitte Bohnhorst – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4476-0

Transportliste

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Erster Teil (Großmutter)

Elisabeth, Karfreitag 1945

Hundskalt war es wieder geworden und die Häftlingsschreibstube nachts nicht geheizt. Elisabeth rieb sich die Hände und spannte Papier und Durchschlag ein weiteres Mal in die Maschine. Schon auf zwei Bögen hatte sie sich vertippt, das durfte jetzt nicht wieder passieren. Sie kam ohnehin in Erklärungsnotstand, wenn man sie hier fand. Als Ärztin des Reichsgesundheitsamtes stand sie zwar unter niemandes Befehl, aber nachts in der Schreibstube würde auch sie Fragen beantworten müssen. Außerdem war die SS nervös, denn die Engländer standen schon bei Osnabrück, keine 200 Kilometer vor Bergen-Belsen. In den letzten Wochen waren immer wieder englische Luftaufklärungsflugzeuge über das Lager geflogen. Inzwischen herrschte hier völliges Chaos. Es gab Blocks und neuerdings auch Zelte, in denen waren Menschen wie Sardinen in der Dose eingepfercht, dicht an dicht, zum Teil auf dem nackten Boden, so geschwächt, dass sie ihre Notdurft unter sich verrichteten. Wenn sie morgens hier das Lager betrat, schlug ihr der Geruch eines Affenhauses entgegen. Ein paar Stunden später, so wie jetzt, hatte sie sich daran gewöhnt. Aber nachts, zurück in ihrem Zimmer, musste sie die Nase spülen, sonst verfolgte sie der Gestank. Sie träumte ohnehin immer wieder davon, über die Lagerstraße zu fahren, auf den Ausgang zu, ohne ihn je zu erreichen. Festzustecken.

Nur einige Häftlinge versuchten, noch so etwas wie Ordnung herzustellen, lüfteten, säuberten die Baracken, entlausten die Kleidung, isolierten die Kranken. Besonders Kinder wurden so weit als möglich von Häftlingen versorgt, die in der Küche oder im Krankenrevier arbeiteten, so wie Xavier. Der Häftlingsarzt war stolz darauf, dass dieser Rest Menschlichkeit gelang. Es hielt ihn am Leben. Deshalb konnte sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagen.

Um wieder warm zu werden, stand sie noch mal auf und prüfte, ob die Decke am Fenster so befestigt war, dass kein Lichtschein hindurchdrang. Dann rückte sie den Stuhl wieder an die Schreibmaschine. Ihr letzter Versuch lag noch da, getarnt von Listen mit Blutgruppenbestimmungen. Sie legte das Blatt neben die schwere Triumph und fing zu tippen an:

Liste 1, Transportliste des abgehenden Transportes vom 30. März 1945

Und jetzt musste sie sich konzentrieren.

Wenn sie Glück hatte, würde morgen nur die Liste geprüft und kaum ein Blick auf die Kinder hinten im Pritschenwagen geworfen. Deshalb sollte die Aufstellung einwandfrei sein. Sie tippte langsam und bedächtig Namen für Namen ihren handschriftlichen Entwurf ab. Es war nicht leicht gewesen, sich die Namen auszudenken. Bei falschen Namen neigte wohl jeder zu Stereotypen. Aber die Namen mussten falsch sein, denn mit ihren Geburtsnamen wären die Kinder nachzuverfolgen. Die Kennkarten mit dem Blutgruppenstempel waren schließlich noch hier. Sie war schon bei Jonathan angelangt, da verdrehte sie die Buchstaben. Jonta stand da. Mist. Mit letzter Willenskraft kämpfte sie den Impuls nieder, auf die Maschine einzuschlagen und das Blatt herauszureißen. In ihrem Rockbund steckten schon zu viele Versuche.

Sie legte ihre Hände bewusst in den Schoß, atmete tief durch und wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Sie konnte nicht die ganze Nacht hier verbringen, das wurde immer gefährlicher und außerdem brauchte sie wenigstens ein bisschen Schlaf. Der Tag morgen würde anstrengend genug. Also stand da jetzt Jonta. War das wirklich so schlimm? Sie tippte den Geburtsort Amsterdam dahinter. Die Holländer hatten oft seltsame Namen. Das würde schon gehen. Es war wichtiger, fertig zu werden. Ihre Liste konnte so perfekt sein, wie sie wollte. Es war trotzdem Wahnsinn, was sie vorhatte.

Die Liste in einem Aktendeckel unter die Jacke gesteckt, ging sie gegen Mitternacht über die Lagerstraße zurück zu der Baracke mit ihren Schützlingen. Zum Glück fror es heute Nacht ein bisschen, da versank man hier wenigstens nicht mehr bei jedem Schritt. Fäkalien bedeckten fast überall den Boden. Seit sie im Oktober zum ersten Mal im Lager gewesen war, war aus Bergen-Belsen eine stinkende Suhle geworden. Je weiter die Front nach Westen rückte, desto mehr Transporte kamen aus anderen Lagern, desto mehr Menschen wurden hier zusammengepfercht. Inzwischen standen für über 20.000 Häftlinge so viele Toiletten und Waschräume zur Verfügung wie ein Jahr zuvor für 2.000. Und das ganze Lager war an Ruhr, Typhus und Fleckfieber erkrankt.

Sie bog in das Wäldchen ein, das den Beginn des großen Frauenlagers markierte. Zwischen jungen Kiefern schimmerte das Mondlicht auf nackten Leichen am Wegesrand. So wie woanders gefällte Baumstämme aufgeschichtet waren, stapelten sich hier neuerdings die Toten. Die Gefangenen kamen kaum mit dem Ausheben von Massengräbern hinterher und das Verbrennen war eingestellt worden, nachdem sich die Offiziere der nahe gelegenen Wehrmachtskaserne über die Geruchsbelästigung beschwert hatten. Seit Januar war dieser neue Teil des Lagers, früher Kriegsgefangenenlager und Lazarett und noch heute durch Stacheldraht und Sichtmatten vom Stammlager getrennt, für Frauen und Kinder geöffnet worden. Die 36 Baracken waren inzwischen zwar auch längst überfüllt, aber immerhin waren Bettgestelle vorhanden. Außerdem wuchs hier noch Heidekraut zwischen den Bäumen, das man sich statt des verlausten Strohs als Unterlage ins Bett legen konnte. Solche Dinge machten schon Komfort aus.

Mit Xaviers Hilfe hatte sie es geschafft, ihre 30 Kinder gemeinsam in einer kleinen Baracke unterzubringen. Der SS gegenüber hatte sie angegeben, für medizinische Versuche wäre das unabdingbar. Nur in einer weitgehend keimfreien Umgebung könne sie die Korrelation eines negativen Rhesusfaktors mit der Empfindlichkeit für Tuberkulosebakterien und Streptokokken überprüfen. So ein Blech, als gäbe es hier noch irgendwo eine keimfreie Umgebung. Trotzdem nützte die Abgeschiedenheit und relative Ruhe dem Gesundheitszustand ihrer Schützlinge, ihrer kostbaren Rhesus-Versuchsgruppe. Inzwischen waren ihr die Kinder fast wichtiger als Xavier. Dabei hatte sie sich nur wegen Xavier hierhin abordnen lassen. Doktor Vahl hatte nach langem Zögern zugestimmt. Tausende von Menschen aller Nationalitäten bedeuteten auch typisierbares Blut aus aller Herren Länder. Wann bekam man schon noch einmal so viele Daten. Ihr Forschungsfeld waren nun mal die Blutgruppen und deren Bedeutung als Rassemerkmal.

Ein frischer Lufthauch wehte aus der Heide nebenan. Das Frauenlager markierte den nördlichen Rand des Lagers Bergen-Belsen. Seine Holzgebäude unter den Fichten erinnerten auf den ersten Blick an ein schwedisches Sommerlager. Sie war bei der Kinderbaracke angelangt, trat sich die Füße ab, öffnete die Eingangstür und tastete sich im Stockdunklen langsam zur nächsten Tür. Vorsichtig, um niemanden zu wecken oder zu erschrecken, drückte sie die Klinke herunter und schob das Türblatt auf. Der Raum dahinter war so groß wie ein Klassenzimmer, beleuchtet vom Mondlicht. Rechts standen die Etagenbetten der Kinder, links standen ein Tisch und ein paar Stühle.

Schwester Luzia schlief sitzend an die Wand gelehnt. Als Elisabeth sich einen Stuhl zurechtrückte, schreckte sie auf.

»Ach, Sie sind es.«

»Schlafen alle?«

»Ja, nur Pipo ist sehr unruhig, ich hoffe, er brütet nichts aus.«

»Morgen um sechs sind aber alle so weit reisefertig?«

»Muss das wirklich sein?«

Elisabeth nickte nachdrücklich. »Die Briten rücken an und wir wissen nicht, was der SS als Nächstes einfällt. In dem Chaos werden sie unberechenbar. Die Kinder müssen hier weg.«

»Ja, aber die Kinder ohne SS-Begleitung aus dem Lager zu bringen …«

»Mit dem Schreiben des Reichgesundheitsamtes wird es gehen. Die SS hat ihre eigenen Probleme. Angeblich beginnen einige bereits, sich Zivilkleidung und Rucksäcke zu besorgen, um sich abzusetzen. Das wird schon gut gehen.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr.« Luzia war immer noch nicht überzeugt, das wusste Elisabeth, und sie würde es auch nie sein. Zu Recht, denn was sie vorhatte, war höchst ungewöhnlich. Als Ärztin, nur legitimiert durch eine Order des Reichsgesundheitsamtes, in der sie angewiesen wurde, die Kontrollgruppe nach Neuengamme zu überstellen, durfte ihr normalerweise kein Transport anvertraut werden. Sie konnte nur darauf hoffen, dass die Transportliste mit unbekanntem Ziel die Kontrollposten von weiteren Fragen abhalten würde. Keine Angabe eines Zieles galt als Fahrt in die Unendlichkeit, meinte die anonyme Vernichtung außerhalb des Lagers. Da fragte oft nicht einmal die SS. Das Schreiben des Reichsgesundheitsamtes half der SS-Leitung außerdem, sich intern abzusichern. Man lernte sehr viel, wenn man sich als neutrale Person zwischen SS-Lagerleitung und Häftlingsfunktionären bewegen konnte. Elisabeth war ziemlich sicher, verstanden zu haben, wie die Lagerleitung durch ihre Bürokratie Verantwortung und Schuld delegierte, und dieses System würde sie jetzt ausnutzen.

Mit den Armen auf dem Tisch schlief sie ein und hatte das Gefühl, kaum eine Sekunde später aufzuwachen. Das trog, denn die Kindergruppe wartete schon am Lastwagen. Sie mussten sich alle mucksmäuschenstill angezogen haben, um sie nicht zu wecken. Diszipliniert stiegen die Kinder auf die Ladefläche des Lastwagens. Die größeren Mädchen halfen den kleineren Kindern, die großen Jungs warfen das Gepäck hinauf. Sie sah mehr als ein ängstliches Gesicht. Mit Transporten hatten alle bisher keine guten Erfahrungen gemacht. Schwester Luzia verabschiedete sich mit einem Winken, klappte die Luke zu, zog die Plane zurecht und knöpfte sie mit kleinen Stiften in die Ösen am Rahmen.

Elisabeth setzte sich in das Fahrerhaus und glühte den Dieselmotor vor. In der erzwungenen Wartezeit drehte sie den Rückspiegel zu sich und prüfte ihr Aussehen, strich die losen Strähnen in den Knoten und kniff sich in die Wangen, um ihnen ein bisschen Farbe zu geben. Bei den SS-Leuten machten ihr blondes Haar und die blauen Augen immer etwas her. Nur ihr etwas zu breit geratener Mund wirkte ein bisschen semitisch. Aber die Männer mochten ihr Lächeln. Das half.

Sie startete und fuhr auf den rumpligen Wegen zum ersten Tor in Richtung Neutralenlager, die ersten Wachen kamen in Sicht. Eine Hand vom Steuer, winken! Die Hand zitterte nicht. Sie durfte passieren. Es war fast noch dunkel. Rechts lag still der Appellplatz. Noch vor Wochen hatten hier zum Skelett abgemagerte Gestalten in vor Dreck starrender Zivilkleidung vor Kälte gezittert. Vor Kurzem aber hatten auch die morgendlichen Appelle aufgehört. In den Baracken links hausten die spanischen Juden, von denen Xavier einige kannte, in Baracke 310 die türkischen Juden, 309 war das Krankenrevier und in Baracke 308 waren angeblich ein französischer Conseiller mit seiner Frau untergebracht, ebenso ein ungarischer Baron mit seiner Schwester. Latrine und Waschraum des Neutralenlagers kamen am nördlichen Lagerrand in Sicht, wobei der Waschraum eine Holzrinne mit darüberliegendem Wasserrohr war. Elisabeth bog ab zur Lagerstraße. Sie kuppelte aus und ließ hinter dem Entlausungsgebäude den Lastwagen nur noch rollen. Sie wollte die Kinder nicht durch abruptes Abbremsen erschrecken. Ihr Weinen hätte nur unnötige Aufmerksamkeit auf die Fracht gerichtet.

An der Schranke kurbelte sie das Fenster herunter und reichte die Papiere dem diensthabenden Wachposten. Glücklicherweise kannte sie ihn. Vonderheide hieß er. Er studierte das Schreiben des Reichsgesundheitsamtes.

»Sie fahren nach Neuengamme?«

»Ja.« Er blätterte weiter.

Sie beherrschte sich, irgendetwas erklären zu wollen, Erklärungen würden nur Fragen nach sich ziehen. Entweder gab er sich mit den Papieren zufrieden oder die Fahrt war hier zu Ende.

Miriam, 9. März 2006

Der Schlüssel fasste schon wieder nicht, weil Boris seinen von innen hatte stecken lassen. Miriam klingelte Sturm. Sie hörte Schritte, trat trotzdem gegen die Tür. Boris öffnete mit verschlafenem Gesicht. »Spinnst …« Er kam nicht weiter. Miriam, fast zwei Kopf kleiner als er, stieß mit aller Kraft gegen seinen Brustkorb.

»Schöne Grüße.« Noch ein Schubs.

Boris wich irritiert zurück.

»Du sollst den Kommissar, diesen Otten, anrufen.« Nächster Schubs. »Wegen … unserer Mutter!« Ihre Fäuste bearbeiteten seinen Brustkorb. Boris nahm sie in die Arme, provozierte damit aber nur die nächste Wutattacke. »Seit wann weißt du, dass unsere Mutter tot ist? Unbekannte Tote. Ich glaub, ich spinne.« Erschöpft lehnte sie sich an die Wand und ließ sich auf den Fußboden rutschen.

Boris setzte sich neben sie und schwieg. Draußen hörte sie Kinder laut rufen. Von oben sickerte Musik durch die Decke. Alice hörte Morrissey.

Boris räusperte sich. »Ich weiß es auch noch nicht lange. Vor einer Woche rief Sven Otten an und meinte, sie hätten den Hinweis darauf bekommen, dass eine in den 70er Jahren aufgefundene Leiche mit unserer verschwundenen Mutter identisch sein könnte. Da sich bei den Asservaten noch Blutflecken auf der Kleidung und Haare mit intakten Wurzeln befanden, bestand die Möglichkeit, die DNS zu extrahieren, und er bat mich, für einen DNS-Vergleich vorbeizukommen.«

»Und warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen. Erst recht nicht, weil du wegen des Unfalls vor unserem Haus schon so durcheinander warst.«

Eine Woche zuvor hatte Miriam abends gerade das Rollo herunterziehen wollen, als sie wegen eines laut röhrenden Automotors noch mal auf die Straße schaute. Bevor sie überhaupt realisiert hatte, was sie da sah, hatte der PKW einen Mann auf der Fahrbahn gerammt und ihn hoch in die Luft geschleudert. Er war gegen die Windschutzscheibe geprallt und auf dem Grünstreifen neben dem Bürgersteig gelandet. Die Geräusche bekam Miriam bis heute nicht aus dem Kopf, genauso wenig wie das Bild des Mannes, der wie tot dagelegen hatte. Noch mit dem Handy am Ohr und mit der Leitstelle der Feuerwehr sprechend, war sie auf die Straße gelaufen, um zu helfen. Dort hatte sie aber nicht gewagt, den Verletzten, der nur mühsam atmete, zu bewegen. Nachher beschädigte sie ein ohnehin angeknackstes Genick noch irreparabel. So war sie nur in die Hocke gegangen und hatte immer wieder geflüstert: »Hilfe kommt gleich.«

Zu diesem Unfall war sie heute Morgen noch mal befragt worden. Aber sie hatte nichts weiter zur Identifizierung des Fahrzeugs beitragen können als unmittelbar am Unfallort. Schon fast aus dem Gebäude, hatte sie auf der Treppe Kommissar Otten getroffen, der mit einem Kollegen an ihr vorbeieilte und wohl in der Annahme, sie wisse Bescheid, ihr zurief, ihr Bruder möge sich wegen des DNS-Abgleichs mal melden. Auf ihre Nachfrage »DNS-Abgleich?« hatte er sich kurz umgedreht und erklärt, die unbekannte Tote sei tatsächlich ihre Mutter. Dann hatte der Kollege ihn gerufen.

Sie wusste kaum noch, wie sie nach Hause gekommen war.

Abermals packte sie die Wut. Sie sprang auf und sah auf ihren Bruder herunter. »Warum behandelst du mich immer noch wie ein Kind?«

»Ach, Miriam.« Boris streckte ihr eine Hand entgegen und ließ sich von ihr hochhieven. Er zog seinen Bademantel zusammen und ging in die Küche.

Miriam folgte ihm. Ihr Herz schlug so heftig, dass ihr ganz schwindelig wurde. Sie fröstelte trotzdem. »Und da gibt es noch mehr, was du mir nicht erzählst.«

»Miriam, ich weiß nicht…«

»Was weißt du nicht?«, fragte sie spitz. »Du weißt wohl nicht, ob mein zartes Seelchen noch mehr Informationen verträgt?«

Boris hielt eine große Tasse unter den Wasserhahn. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mann! Ich erzähl dir ja alles, was du wissen willst. Lass mich aber doch bitte erst mal Luft holen.«

Miriam setzte sich mit verschränkten Armen an den Küchentisch und wartete auf seine Erklärungen; starrte aus dem Fenster. Was für ein bizarres Gespräch. Was für eine bizarre Situation. Sie verstand zwar, worüber sie gerade sprachen, realisierte aber erst jetzt, was das bedeutete. Ihre Mutter war schon lange tot. So wie sich beim Kaleidoskop plötzlich durch Drehen ein anderes Bild ergibt, ordneten sich ihre Erinnerungen zu einem neuen Muster. Ihre Hände und Füße wurden plötzlich wieder warm. »Sie ist vielleicht gar nicht freiwillig gegangen, Boris. Sie hat uns geliebt, sie wollte zurückkommen.«

»Kann sein.«

Die Härchen an ihren Armen stellten sich auf: »Woran ist sie gestorben?«

»Möchtest du auch einen Kaffee …?«

»Boris!«

»… mit aufgeschäumter Milch?«

»Verdammt, Boris, ich will jetzt keinen verfickten Kaffee. Ich will wissen, wie sie gestorben ist.«

Boris’ slawische Gesichtszüge versteinerten. »Es war nicht mehr exakt festzustellen, woran, nicht mal, wann genau sie gestorben ist. Es war nur klar, dass sie nicht erst seit gestern dort lag und dass sie wohl durch mehrere Stichwunden zu Tode gekommen sein muss.«

»Ermordet.« Miriams Zwerchfell begann so zu zittern, dass sie ihre Hand daraufpressen musste. »Wann wolltest du mir das eigentlich sagen?«

»Sobald das Ergebnis da gewesen wäre. Also im Prinzip heute, wie wir beide inzwischen wissen. Ich hab’ einen Grund gebraucht, dir alles zu erzählen – und wollte wohl dem Schock über den Mord an unserer Mutter wenigstens so etwas wie Genugtuung über eine neu aufgerollte Ermittlung folgen lassen. Die Fahndung nach dem Täter kann ja jetzt erst richtig beginnen. Da gibt es wohl noch andere verwertbare Spuren auf ihrer Kleidung.«

Das Gesicht des Unfallopfers sah ihr entgegen. »Wer kennt diesen Mann?«, fragte die Überschrift. Auf Alices Tischdecke lag die Zeitung von heute, haarscharf neben der Butter. Miriam hatte sich bei der Freundin ein Stockwerk drüber zum Frühstück eingeladen. Boris musste in sein Musiklokal, ins GANG, um Getränkelieferungen anzunehmen, und sie wollte mit ihrer Erschütterung nicht allein sein. Alice stellte gerade Kimmie, ihrer Ältesten, das Frühstücksgeschirr hin und versuchte, der achtjährigen Gioia das Handy ihrer großen Schwester abzuschwatzen. Kim maulte, der Akku sei dauernd leer, weil die Kurze immer damit zugange sei. Der Wasserkessel pfiff dazu.

Miriam setzte sich dazu, begrüßte die Mädchen und überlegte kurz, ob sie Alice von ihrer Mutter erzählen sollte. Beim Blick auf die Mädchen hielt sie sich aber zurück. So richtig bekam sie auch noch nicht auf die Reihe, was sie da eben gehört hatte. Bei der Arbeit hatte sie sich ohnehin freigenommen. Alice hatte inzwischen das heiße Wasser auf das Kaffeepulver gegossen, die Schwebstoffe in der Glaskanne heruntergedrückt, gab Miriam eine Tasse und schenkte ihr und sich ein. Miriam nahm den gläsernen Zuckerstreuer und ließ die weißen Kristalle in ihren Kaffee rieseln.

»Und was ist mit mir?«, fragte Kimmie.

»Verzeihung, Sweety.«

Alice füllte Kimmies Becher, setzte sich und nahm die Zeitung zur Hand.

»Das ist der Unfall vor deinem Fenster, oder?«

Sie gab Miriam den zusammengefalteten Lokalteil. Miriam betrachtete prüfend das Gesicht. Ein vielleicht 30-jähriger Mann mit dunklen Haaren, geschlossenen Augen, schrecklich verschwollen. Außer einem Schädel-Hirn-Trauma hatte er erstaunlicherweise nur leichte Verletzungen davongetragen, hieß es. »Die Polizei hat bei ihm keinerlei Hinweise auf seine Identität gefunden. Keinen Perso, keinen Führerschein, keine Brieftasche. Und er taucht auch in keiner Vermisstendatei auf.«

»Mama, kann ich mit Kimmie fernsehen?«, quengelte Gioia.

»Ja, haut ab, aber weckt Papa nicht. Er ist gestern erst spät aus dem Theater gekommen.«

Die Mädchen verließen die Küche und einigten sich im Flur auf Gioias Lieblingssendung.

Alice nahm ein Croissant aus der Brötchentüte und riss es entzwei. »Irgendwann wird es so etwas nicht mehr geben. Dann sind wir direkt ab Geburt mit unserem persönlichen DNS-Muster gespeichert. Und einen Knopfdruck später weiß die Polizei, wer so ein Unbekannter ist.«

»Wieso ist das denn heute noch nicht so?«

»Oh, Miriam, bitte, lies doch mal ab und zu die Zeitung. Es gibt doch schon massiven Widerstand dagegen, dass DNS-Muster von Straftätern gespeichert werden. So etwas registrieren dürfen wir in der Bundesrepublik nur, wenn die Schwere der Straftat das rechtfertigt und außerdem Wiederholungsgefahr besteht.« Sie tunkte die Croissanthälfte in ihren Kaffee. Alice hatte lange als Journalistin gearbeitet, bevor sie vorletztes Jahr eine halbe Stelle beim Kulturamt angenommen hatte, und wenig Verständnis für Schöngeister, die höchstens das Feuilleton aufschlugen. Das wusste Miriam.

»Meine Mutter ist gerade mithilfe von Boris’ DNS identifiziert worden.«

Alice erstarrte in ihrer Bewegung. Die inzwischen vollgesogene Seite des Croissants löste sich und fiel mit einem Plumps in den Kaffee.

»Du hast ein paar echt unappetitliche Angewohnheiten, Alice«, grinste Miriam.

»Ich weiß, man muss mich eben trotzdem mögen«, lächelte Alice zurück. »Aber jetzt, bitte, was heißt das, deine Mutter ist identifiziert worden? Und das erzählst du mir so nebenbei?«

»Ich habe das selbst gerade erst erfahren.« Sie berichtete, was Boris ihr mitgeteilt hatte, von dem Hinweis, Boris’ DNS-Probe, ihrer Begegnung mit Otten. »Eine nicht-identifizierte Tote aus den 70er-Jahren, und auf deren Identität es erst heute einen Hinweis gab, ist mithilfe von Boris’ DNS jetzt als die Leiche unserer Mutter bestätigt worden. Wahrscheinlich stehe ich immer noch unter Schock.« Alice beugte sich vor und ergriff Miriams Handgelenk, die grünen Mandelaugen dunkel vor Mitgefühl. Das brachte irgendetwas in ihrem Inneren in Bewegung. Miriam schluckte mühsam, blinzelte und wischte ein paar Tränen weg, während Alice ihr ein Glas Orangensaft eingoss.

»Hier, trink erst mal.«

Miriam trank das Glas fast leer, überraschend durstig. Derweil stand Alice auf, spülte ihre croissantkontaminierte Tasse sauber, setzte sich wieder an den Tisch, tat sich drei gehäufte Teelöffel Zucker in ihre Tasse, gab Kondensmilch darauf und schüttete wieder Kaffee dazu. »Komisch, ich weiß eigentlich gar nichts über deine Mutter. Nur, dass ihr im Heim aufgewachsen seid. Ich dachte immer, sie ist gestorben und dann seid ihr erst ins Heim gekommen?« Alice machte Anstalten, auch Miriams Kaffeetasse wieder aufzufüllen.

»Nee, sie ist nur verschwunden!«

Die Kaffeekanne in Alices Hand verharrte einen Moment über Miriams Tasse. »Wie, einfach spurlos verschwunden? Hat euer Vater sie geprügelt?« Alice besann sich auf die Kanne in ihrer Hand. »Willst du eigentlich auch noch was?«

Miriam nickte abwesend.

»Keine Ahnung, ich erinnere mich an keinen Vater. Boris sagt, wir seien vor ihm geflüchtet, bevor wir hierher kamen.«

»Und andere Verwandte? Tanten, Onkel, Großeltern?«

»Nichts, nur eine ganz verschwommene Vorstellung, dass da noch mal andere Personen waren.«

»Das ist merkwürdig. Ich habe das schon immer eigenartig gefunden, dass in euren Erzählungen nie irgendeine Familie auftaucht. Aber ich habe gedacht, ihr habt mit ihr gebrochen, weil sie sich nie um euch gekümmert hat.«

»Ich habe Boris’ und meine Geschichte nie an die große Glocke gehängt, weil sie echt zu krass war.«

»Es wussten aber trotzdem alle, dass ihr Waisen seid«, entgegnete Alice. »Darum wundert sich auch niemand, dass ihr immer noch zusammen wohnt.«

»Ja, aber keiner kannte die Details. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich und Boris Papier einweichen und essen. Ich habe das lange für ein Kinderspiel gehalten. Erst später hat Boris mir erzählt, dass wir damals fast verhungert wären und er mit solcher Ersatznahrung verzweifelt versucht hatte, uns beide am Leben zu halten, bevor uns nach Tagen jemand zu Hilfe kam. Unsere Mutter hatte abends die Tür abgeschlossen, war weggegangen und nie mehr wiedergekommen.«

»Puh.«

»Ich erinnere mich nicht mal richtig an Mama. Eigentlich nur daran, dass sie mir fehlte.« Die Bilder aus dem Heim: lange Flure, hohe Türen, Christdorn auf den Fensterbänken. Eine Schwester, die sie an die Hand nimmt. Schwester Maria hatte immer peinlich berührt geschwiegen, wenn sie nach ihrer Mama fragte.

»Und Boris, der muss damals doch schon verhältnismäßig groß gewesen sein?«

»Boris und ich reden nicht darüber. Er hat mir gerade erst erzählt, dass wir, bevor wir hierherzogen, in einer Art Dorf gelebt haben und unser Vater ebenfalls verschwunden ist.«

»Das heißt, da war vermutlich eine ganze Menge, vor dem er seine kleine Schwester beschützen wollte.«

Miriam wollte nicht weiter darauf eingehen und faltete die Zeitung auseinander. Unter dem Falz war ein weiteres Identifikationsmerkmal des Toten abgebildet: ein Kreis mit zwei verschlungenen Buchstaben. »Guck mal, was ist das?« Miriam deutete auf die Abbildung. »Sieht aus wie Sütterlin. Aber was soll das heißen: nf, af oder was?« Alice zuckte mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?«

Miriam vertiefte sich in das Bild des ungewöhnlichen Tattoos. Es löste eine unangenehme Assoziation aus, zu flüchtig, als dass sie der Spur hätte folgen können.

»Wieso behandelt dieser Otten dich überhaupt so bevorzugt?« Miriam lehnte an der Kellertür, während Boris das Zapfschwert in ein großes Fass schob. Dabei musste man sehr vorsichtig sein, sonst schoss eine Fontäne Bier heraus, bevor der Verschluss wieder verschraubt war. Miriam war doch noch zu Boris ins GANG gefahren. Alice hatte recht. Da waren noch ein paar Fragen offen.

»Persönliches Interesse? Schon Ende der 80er-Jahre hat der Kommissar, der diesen Mordfall bearbeitete, versucht, aus den Spuren an der Jacke DNS zu analysieren. Deshalb war wohl auch alles so professionell konserviert. Damals brauchte man aber noch größere Proben. Der Kommissar war der Vater von Jens Otten. Und der kennt wiederum mich. Er hat ja Alices Fall damals bearbeitet und ist ab und zu im GANG.« Boris schraubte das Ventil fest. »Was hat er dir denn eigentlich gesagt?«

»Nichts, du solltest ihn doch anrufen. Das habe ich dir heute Morgen schon gesagt.«

Sofort holte Boris sein Handy aus der Tasche und ging damit nach oben. Miriam folgte ihm in den Schankraum. Er hatte sich offenbar schon verbinden lassen, lächelte Miriam zu und hob belustigt die Augenbrauen: »Nee, davon hat sie mir noch nichts erzählt. Ihr habt also einen eurer Anwärter auf sie losgelassen …« Kumpelhaftes Lachen. Boris hielt das Telefon etwas von seinem Mund weg. »Jens sagt, der junge Mann sei immer noch ganz durcheinander.« Miriam drehte die Augen zur Decke. Nett, dass die Jungs Spaß auf ihre Kosten hatten. Unvermittelt wurde Boris ernst: »Ja und, hat ‘s was gebracht?« Aufmerksam hörte er zu und setzte sich. Sein Gesicht nahm einen verdatterten Ausdruck an. Er schüttelte den Kopf, als er auflegte.

»Und?«

»Sie haben meine DNS auswerten können und es ist tatsächlich unsere Mutter. Sie haben auch die anderen Blutspuren analysiert, haben aber keine DNS gefunden, die auf einen Täter hinweist.«

»Das heißt?«

»Das heißt, der Täter ist noch nie mit seiner DNS aktenkundig geworden. Aber das ist nicht alles.«

Miriams Herz flatterte wie ein Fremdkörper in ihrer Brust. »Was denn noch?«

»Otten hat ja Mutters DNS mit meiner DNS verglichen, um ihre Identität nachzuweisen, und wie erwartet hatten wir 50 Prozent Übereinstimmung. Dann hat er ihre DNS aber noch mal mit der BKA-Datenbank Vermisste / Unbekannte Tote abgeglichen. Sozusagen als Gegenprobe, um sicherzugehen, dass nicht irgendwo jemand mit dieser genetischen Struktur vermisst gemeldet wurde. Außerdem hat die Polizeidirektion im Moment wohl einen Modellversuch laufen, bei dem auch Verwandtschaftsindikatoren abgeglichen werden. Dabei gab es noch einen Treffer.«

»Wie?«

»Wir sollen diese Info aber erst einmal für uns behalten, dieser offensichtliche Zusammenhang der zwei Straftaten wird als Täterwissen eingestuft.«

»Was denn nun?«

»Der Mann, der vor unserer Haustür angefahren wurde, hat mit unserer Mutter ebenfalls eine 50-prozentige genetische Übereinstimmung – und nicht nur mit ihr, sondern auch mit mir.«

Miriam schnappte nach Luft. »Wie geht das denn?«

»Er ist ein Verwandter ersten Grades, sowohl von Mutter als auch von mir. Otten sagt, das heißt, er ist unser Bruder.«

Elisabeth, Karfreitag 1945

Die Morgendämmerung ging langsam in milchiges Tageslicht über. Wie Scherenschnitte huschten die Bäume der Allee an ihr vorbei, dahinter sah sie winterbraune Heidelandschaft. Hoffentlich zog es dahinten nicht so stark. Sie machte sich Sorgen um Pipo. Normalerweise lebhaft und lustig, war der Kleine nur ein kümmerlicher Schatten seiner selbst. Aber es half nichts. Sie musste ihm die Strapaze zumuten. Alles war besser, als im Lager zu bleiben. Dort konnte sie niemanden mehr schützen. Die SS wusste, dass bald alles vorbei war, und den Intelligenteren war klar, dass sie sich binnen kurzer Zeit würden verantworten müssen. Das führte zu einer Reihe hektischer Aktivitäten mit dem Ziel, Spuren zu verwischen. Was angesichts von Leichenbergen nicht so einfach war. Der tschechische Baukapo hatte vor Kurzem erzählt, dass eine große, halb unter der Erde befindliche Baracke gebaut werden solle, eine Gaskammer. Der Bauplan sei schon fertig, die Bauleute hätten ihre Aufträge. Für sie war das der endgültige Anstoß gewesen, die Flucht zu organisieren. Darüber nachgedacht hatte sie schon lange, denn wenn die Kinder nach Kriegsende bei ihr bleiben sollten, musste es einen Grund dafür geben. Der einfachste war, dass sie ohnehin schon bei ihr waren, Waisen, ohne auffindbare Verwandte. Außerdem würde ihr Mut, die Kinder aus dem Lager zu bringen, für sich sprechen. Wäre sie hingegen als Ärztin des Reichsgesundheitsamtes bei Kriegsende noch innerhalb des Lagers, würde sie wohl kaum ungeschoren davonkommen. Auch deshalb hatte sie mit Hilfe von Xavier und seinen Lagerkontakten die Flucht geplant. Gestern war ihr Bruder als Lieferant der SS mit einem vollgetankten Lastwagen ins Lager gekommen und mit einem anderen Lieferanten wieder gefahren. Die Politischen hatten den Hanomag in einer leeren Garage am Rande des Geländes versteckt, damit sie ihn heute Morgen holen konnte. Wie treffend sie doch die SS eingeschätzt hatte, indem sie darauf setzte, dass der Totenkopforden zum Ende des Krieges eine Gruppe elternloser Kinder ziehen lassen würde, wenn eine andere Behörde die Verantwortung dafür übernahm.

Sie passierten kleine Orte mit Fachwerkhäusern. Alles blitzsauber und aufgeräumt. Zwischen Nadelbäumen sah sie den Anfang einer Militärstraße, die typischen Betonplatten. Plötzlich zitternd, hatte sie Mühe, den Wagen weiterzufahren. Sie nahm den Fuß vom Gas und brach in Tränen aus. Für eine kurze Schrecksekunde meinte sie, wieder in Belsen zu sein. Unentrinnbar im Kreis gefahren. Sie schalt sich eine dumme Gans. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorbei war, drohten ihre Nerven zu versagen. Den letzten Teil dieser Flucht würde sie doch wohl auch noch schaffen. Kaum zu glauben, dass sie wirklich die Kinder dort herausgeholt hatte. Es war fast zu leicht gewesen.

An der Abzweigung zu einem Feldweg hielt sie den Wagen an und sah nach den Kindern. Die meisten lagen auf dem Boden ausgestreckt und schliefen, den Kopf auf ihren Bündeln, dicht aneinandergedrängt. Diese Kinder konnten inzwischen schlafen, wo immer man sie hinlegte. Komfort brauchten sie nicht – nur ein bisschen Sicherheit. Friedhelm und Gretel saßen an der Ladeluke und hielten Wache. Neun und zwölf waren die beiden, aber so verantwortungsbewusst wie mancher Erwachsene nicht. Jetzt, wo der Wagen stand, hoben sich auch ein paar andere Köpfe.

»Sind wir da?«, fragte der vierjährige Phil.

»Nein, noch lange nicht. Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Pipo geht es schlecht«, deutete Greta auf das Bündel Kind, das sich frierend auf ihrem Schoß zusammengekrümmt hatte. Elisabeth fühlte die Stirn des Dreijährigen und holte schnell ihren Tornister aus dem Fahrerhaus. Darin waren einige kostbare Aspirin und eine Kanne mit Tee. Sie goss die dampfende Flüssigkeit in den Becher, bröselte die Tablette hinein und reichte ihn Greta, die das Getränk dem kleinen Jungen an die Lippen hielt. Seine Augen glänzten hochfiebrig. »Langsam schlucken, Pip«, mahnte Greta.

»Ik kan niet«, fiepte es aus der Decke, die um den kleinen Kerl gewickelt war.

»Trink einfach, dann wird es besser«, versprach Elisabeth.

Pipo, gewohnt, fraglos zu gehorchen, trank den Inhalt des Bechers in kleinen Schlucken und ließ sich erschöpft wieder in die Arme Gretas sinken.

Elisabeth machte Friedhelm und Michael, die ukrainischen Zwillinge, auf eine Tasche in der Ecke des Wagens aufmerksam. Sie waren hier die Ältesten und hatten so etwas wie Autorität. »Darin ist Brot. Ich lass euch den Tee hier, falls noch jemand etwas trinken will. Wenn es wichtig ist, dass ich anhalte, muss einer von euch an das Fahrerhaus klopfen.« Friedhelm und Michael nickten. »Gut, ich fahr dann jetzt weiter. Wenn alles gut geht, sind wir spätestens heute Abend in Göttingen.«

Sorgfältig nestelte Elisabeth die Plane wieder zu. Besorgt schwang sie sich zurück hinter das Lenkrad. Den Wagen hatte sie im Leerlauf weiterdieseln lassen, damit sie keine Zeit verlor. Sie wollte so bald wie möglich in Göttingen ankommen. Ihr Vorgesetzter und Mentor, Doktor Vahl, hatte dort am Hygiene-Institut eine Anstellung gefunden. Sie wusste, dass er mit seiner Familie auf einem Gutshof in der Nähe von Göttingen untergekommen war und dass dort noch weitere Flüchtlinge aus dem Osten lebten. Das ließ sie hoffen, dort ebenfalls ein Plätzchen für ihre Kinder zu finden und sie unter den anderen Flüchtlingen tarnen zu können. Auf jeden Fall waren sie dort sicherer, denn sie fuhr quasi parallel zur Front. Was wusste sie, wann hier die ersten Militärfahrzeuge auftauchen würden.

Die Straße wurde zu Kopfsteinpflaster. Sie passierte das Ortseingangsschild von Celle. Hier sah es fast noch aus wie vor dem Krieg. Bürgerhäuser mit reich verziertem Fachwerk säumten die Straße. Ein kleiner blonder Junge in kurzen Hosen mit dicken Wollstrümpfen darunter lief an der Hand seiner Mutter. Er sah neugierig hoch, als der Lastwagen angerumpelt kam, und blieb kurz stehen, um zu winken. Seine Mutter zog ihn ungeduldig fort. Elisabeth hoffte, dass sich nicht noch eine Bombe hierhin verirrte, die Fachwerkhäuser würden brennen wie Zunder. Wieder aus dem Ort heraus, beschleunigte sie auf 60 Stundenkilometer. Ab hier führte eine Reichsstraße nach Göttingen und nicht nur eine schmale Landstraße, auf der kaum zwei Fahrzeuge aneinander vorbei passten. Sie schaltete in den dritten Gang, musste aber bald schon wieder den Fuß vom Gas nehmen, weil ein Pferdekarren vor ihr herzockelte.

Vorsichtig überholte sie Pferd und Wagen und schaltete wieder hoch. Ob es wohl mal eine Zeit geben würde, in der solche Fuhrwerke die Fahrt nicht mehr behinderten? Nur auf den Autobahnen waren Fahrzeuge verboten, die nicht mehr als 50 Stundenkilometer schafften. Autobahn war sie erst einmal gefahren, damals auf der Fahrt nach Frankreich. Der gerade eröffnete Abschnitt bei Remscheid hatte leider noch nicht sehr weit geführt. War das eine andere Zeit gewesen! Deutschland im Aufbruch und sie mittendrin. Hatte gerade beim Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik angefangen, stolz darauf, dass dieses renommierte Institut sie wollte. Sie war von Doktor Fischer 1938 auf dem Anthropologenkongress in Kopenhagen angeworben worden. Das erste Jahr unter den ganzen hochrangigen Kollegen hatte sie sich allerdings durchbeißen müssen. Es war für die Männer schwer, eine Frau als Kollegin und nicht nur als wissenschaftliche Hilfskraft zu akzeptieren. Ein bisschen hatte sie sich deshalb in die Rolle der fleißigen Mitarbeiterin geschickt, die all das machte, was den Kollegen zu mühsam erschien oder zu wenig Möglichkeiten bot, gelehrte Abhandlungen zu schreiben. Deshalb hatte sie sich auf Blutgruppenuntersuchungen spezialisiert. Sie hatte schon Erfahrungen damit und besaß die Sorgfalt und Gründlichkeit, die man dabei an den Tag legen musste.

Das alles hatte ihr im Sommer 1940 die Reise nach Frankreich beschert. Denn dort sollten im Internierungslager Gurs Reihenuntersuchungen vorgenommen werden. In der Nähe der französischen Pyrenäen wurden viele Kämpfer aus dem Spanischen Bürgerkrieg gefangen gehalten und das passte in das Forschungsprojekt Die serologischen Rassen beim Menschen. Von den osteuropäischen Stämmen und Völkern hatten Ludwig und Hanna Hirszfeld im Ersten Weltkrieg schon an der mazedonischen Front viele Proben und Daten gewonnen. Dank ihrer Arbeit war deutlich geworden, dass in der nordeuropäischen Bevölkerung die Blutgruppen A und 0 vorherrschten und nach Osten B und AB immer stärker zutage traten. Einen deutlicheren Beleg für Unterschiede der slawischen und arischen Rassen konnte es gar nicht geben. Deshalb stand die Blutgruppenforschung hoch im Kurs. Die südeuropäischen Völker waren auf der Karte der Blutgruppenverteilungen allerdings noch etwas unterrepräsentiert. In Gurs hatte sie die Aufgabe, genügend Material zu sammeln, um fundierte Aussagen über die rassische Zugehörigkeit der Südeuropäer zu ermöglichen.

Nach Südfrankreich war sie von Doktor Schäfer mitgenommen worden, einem Rot-Kreuz-Arzt, der einen funkelnagelneuen NSU fuhr. Sie waren früh am Morgen aufgebrochen und erst spät in der Nacht angekommen. Nur wenige Stunden später stellte sich ihr Leben auf den Kopf.

Sie hatte morgens gerade die Kochsalzlösung aufgezogen, um jedem Reagenzglas die vorgesehenen einen ccm zuzusetzen, als Doktor Schäfer mit zwei Personen, einem Mann und einer Frau, das Zelt betrat. Die Frau trug die weiße Rot-Kreuz-Uniform, der dunkelhaarige Mann Zivilkleidung, Tweedhose, Hemd und einen fadenscheinigen Pullover mit Lederflicken an den Ärmeln. Doktor Schäfer stellte ihn als Doktor Mitxelenah vor, einen baskischen Arzt, der bei den Untersuchungen assistieren würde. Elisabeth war sofort klar, dass es sich um einen Häftling handelte, Doktor Schäfer aber zu höflich war, um es auszusprechen. Gleichgültig, sie brauchte qualifizierte Hände, um die Analysen sorgfältig durchzuführen. Die Blechschachteln für Massentests waren schon aufgeklappt und die Reagenzgläser steckten reihenweise in den dafür vorgesehenen Aussparungen. Die Häftlinge würden gleich in Schlangen anstehen, um Blutproben abzugeben.

Am sinnvollsten war es, wenn der erste Gehilfe den Finger mit Äther abtupfte, ein zweiter mit einer Franck’schen Nadel einstach, der dritte das Blut in das zuvor präparierte Reagenzglas abstreifte und ein vierter ein Stück Watte gab. Der Untersuchte brachte dann das Reagenzglas mit seiner Blutprobe zu ihr und sie notierte dazu Namen, Heimat und dergleichen. Am Ende der Reihe stand schließlich eine zweite Blechschachtel, in die alle Blutproben so sortiert wurden, dass keine Verwechslung möglich war. Nur so kam man nicht durcheinander. Schließlich sollten in einer Stunde ungefähr 100 Personen abgefertigt werden. Nun waren sie zu viert, das ging zur Not auch, dann musste halt einer sowohl stechen als auch Blut gewinnen. Das überließ sie am besten Doktor Schäfer, sonst wäre er gekränkt, weil er sich sicher als Ranghöchster betrachtete. Doktor Mitxelenah konnte desinfizieren, die Schwester die Watte aushändigen.

Elisabeth bat, ihr zu helfen, den Tisch entsprechend einzurichten, die Utensilien zu sortieren. Unterdessen würde sie weiter die Gläser mit Natriumchlorid präparieren. Doktor Schäfer wollte übersetzen, aber Doktor Mitxelenah schüttelte lächelnd den Kopf: »Ich verstehe ein bisschen Deutsch.« Schweigend machten sie sich an die Arbeit. Hanna, die Rot-Kreuz-Schwester, holte die Kartons mit Watte, Dr. Schäfer breitete Nadeln in Wachspapier auf einem sterilen Leinentuch vor sich aus. Die gebrauchten wanderten in ein Glas mit reinem Alkohol. Doktor Mitxelenah öffnete die Flasche mit Äther. Als er den Kopf nach vorne beugte, fiel ihm eine Haarsträhne ins Gesicht. Er strich sie nach hinten und sah ihr direkt in die Augen. Verunsichert ließ sie den Inhalt ihrer Pipette prompt neben das Reagenzglas laufen. Der Baske bemerkte das und lächelte sie an. Es war, als hätte sich plötzlich die Luft elektrisch aufgeladen. So unbedingt und unvermittelt, so intensiv hatte sie sich noch nie für einen Menschen interessiert.

Stunden später, als die Reihe der zu Untersuchenden dünner geworden war, bot der Baske an, ihr bei der Bluttypisierung zu helfen. Doktor Schäfer war das recht. Er ging, um sich mit Schwester Hanna der medizinischen Versorgung der Häftlinge zu widmen. Eine Zeit lang tauschten sie nur das Nötigste aus, verständigten sich darüber, was jeder von ihnen zu tun hatte. Doktor Mitxelenah teilte die Proben jedes einzelnen Spenders in zwei Reagenzgläser auf und Elisabeth setzte die Blutkörperchensuspension hinzu. In das erste Röhrchen kam Serum der Gruppe B, das entsprechend Anti-A-Körperchen enthielt und Blut der Gruppe A verklumpen würde, in das zweite Röhrchen träufelte sie Serum der Gruppe A, das Anti-B-Körperchen enthielt und Blut der Gruppe B verklumpen lassen würde. In frühestens einer Stunde wäre aus der Reaktion sehr eindeutig abzulesen, welcher Blutgruppe der Spender angehörte – die Gruppe A wäre durch B verklumpt, die Gruppe B durch A, AB verklumpte überhaupt nicht, 0 verklumpte in beiden Röhrchen. Wenn die letzten Proben präpariert waren, zeigten die ersten eventuell schon eine Reaktion.

Sie arbeiteten harmonisch Hand in Hand, glichen sich sehr schnell im Tempo an. Langsam wurde das Schweigen zwischen ihnen jedoch anstrengend. Elisabeth räusperte sich: »Woher können Sie eigentlich so gut Deutsch?«

»Oh, in Spanien können einige gebildete Menschen Deutsch, um die Jahrhundertwende war es sehr in Mode, Nietzsche zu lesen.«

»Das heißt, Sie kommen aus guter Familie?«

»Nein, das nicht.«

Elisabeth wunderte sich über die schroffe Antwort und arbeitete eingeschnappt weiter.

»Perdone, ich wollte nicht«, der Arzt suchte nach Worten, »nicht unhöflich sein.«

Elisabeth nickte, schwieg aber weiterhin.

Zögernd hob der Mann wieder an: »Ich bin – meine Mutter ist nicht, äh, nicht verheiratet.« Das Geständnis machte ihn sichtlich verlegen.

Elisabeth hatte das Gefühl, sich für seine Offenheit revanchieren zu müssen, und wartete mit einem eigenen Geständnis auf. »Unsere Familienverhältnisse sind auch nicht sehr ordentlich. Mein kleiner Bruder kam zur gleichen Zeit zur Welt wie meine älteste Halbschwester. Ihre Mutter war unser Hausmädchen. Nur weil meine Mutter bei der Geburt meines Bruders starb, konnte mein Vater seine Geliebte heiraten.« Elisabeth staunte über sich selbst. So viel redete sie normalerweise nicht und so schnell hatte sie noch nie jemandem anvertraut, was sie als den größten Verrat in ihrem Leben betrachtete.

»Woran ist Ihre Mutter denn gestorben?«

»Plazentaablösung während der Geburt. Da sie drohte zu verbluten, hat sie eine Bluttransfusion bekommen. Das war ihr Todesurteil. Transfusionsunfälle sind ja immer noch nicht ganz auszuschließen.«

»Deshalb also jetzt Ihr Interesse an Blutgruppen?«

Elisabeth nickte nachdrücklich. »Ja. Ich vermute, dass längst noch nicht alle Faktoren für Unverträglichkeiten entdeckt sind.«

Doktor Mitxelenah sah auf. »Manchmal scheint auch das Blut der Eltern nicht verträglich in der Vererbung. In der Familie meiner Mutter gab es viele Totgeburten. Meine Tante Maite hatte sich schon damit abgefunden, dass sie bis auf das älteste alle anderen Kinder verlieren würde, – da stirbt mein Onkel und sie heiratet wieder und hat drei gesunde Kinder mit dem anderen Mann. Da passte doch ihr Blut nicht mit dem meines Onkels.«

»Haben Sie Kinder?«

Doktor Mitxelenah presste die Lippen aufeinander. Nach einer langen Pause antwortete er. »Meine Frau ist kurz nach unserer Hochzeit von Francos Putschisten eingesperrt worden und im Gefängnis gestorben.«

 

Vor Alfeld hielt sie am Ufer der Leine an und nötigte alle Kinder auszusteigen, um Pipi zu machen. Die kräftigeren unter ihnen liefen nach ihrem Ausflug in die Büsche sofort zum Wasser und fingen an zu spielen. Die schwächeren kamen artig zum Lastwagen zurück und setzten sich auf die Ladefläche.

Jeweils drei leere Flaschen zwischen den gespreizten Fingern einer Hand haltend, ging sie hinunter zum Fluss, um sie auszuspülen und neu zu befüllen. Sie mahnte Frank, Gerd, Rike und Natie, die sich gerade kreischend mit Wasser bespritzten, etwas leiser zu sein. Außerdem gebe es jetzt Essen. Das ließen sich die vier nicht zweimal sagen und rannten sofort auf den Wagen zu. Sorgsam verteilte sie das restliche Brot und ließ die Flaschen kreisen. Eine Kirchturmuhr schlug, als sie den Wagen zurück auf die Straße lenkte. Dr. Vahl in Göttingen wartete in Wahrheit nicht gerade auf sie. Die Papiere des Reichsgesundheitsamtes waren gefälscht gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wie er heute Abend reagieren würde, wenn sie unangemeldet vor der Tür stand, mit 30 Kindern, die es unterzubringen galt.