Cover
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Für Mike W.,
der mich lehrte, die Welt durch eine andere Brille zu betrachten
DANKE
Ich möchte allen Mädchen und Frauen, die an der Entstehung des Buches beteiligt waren, ihren Partnern und Eltern herzlich danken. Ihr Vertrauen ehrt mich und ich hoffe, ihm gerecht geworden zu sein.
Impressum
Titel der englischen Originalausgabe:
Aspergirls. Empowering Females with Asperger Syndrome
© Rudy Simone 2010
Foreword Copyright © Liane Holliday Willey 2010.
This translation of Aspergirls is published by arrangement with Jessica Kingsley Publishers Ltd.
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich:
ISBN 978-3-407-85946-4
Wichtiger Hinweis
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von der Autorin erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch von der Verfasserin übernommen werden. Die Haftung der Autorin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Wenn Sie sich unsicher sind, sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Therapeuten.
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www.beltz.de
1. Auflage 2012
© 2012 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: Büro Hamburg
Umschlagabbildung: istockphoto/Anouchka
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22475-0

Inhalt

Vorwort
Einführung
1  Vorstellungsvermögen, autodidaktisches Lesen, Inselbegabungen und ungewöhnliche Interessen
2  Warum intelligente Mädchen manchmal die Schule hassen
3  Sensorische Überlastung
4  Autostimulation, und was wir tun, wenn wir glücklich sind
5  Von Scham- und internalisierten Schuldgefühlen
6  Geschlechterrollen und Identität
7  Pubertät und Mutismus
8  Anziehungskraft, Dating, Sex und Beziehungen
9  Freundschaften und Sozialkontakte
10  Ausbildung
11  Beruf und Karriere
12  Ehe und Lebensgemeinschaft
13  Kinder
14  Ritual und Routine, logisches Denken, Sprache wörtlich nehmen, Unverblümtheit, Empathie und Missverständnisse
15 Diagnose, Fehldiagnose und medikamentöse Behandlung
16 Depressive Zusammenbrüche, posttraumatische Belastungsstörung und Medikamente
17  Wutausbrüche
18  Brücken hinter sich abbrechen
19  Magenprobleme und Autismus
20  Älter werden
21  Asperger-Syndrom: Behinderung oder besondere Gabe? Und noch ein paar Tipps von Aspergirl zu Aspergirl
Zusätzliche Informationen
und Ratschläge für Eltern
22  Geben Sie Ihrem Aspergirl fünf Geheimwaffen mit auf den Weg: Glaube, Akzeptanz, Liebe, Zuneigung und Unterstützung
23  Gedanken und Tipps von Eltern
Anhang
Liste der Merkmale bei Mädchen und Frauen mit Asperger-Syndrom
Zusammenfassung der wichtigsten Unterschiede zwischen Frauen und Männern mit Asperger
Literatur
Websites und Kontakte

Vorwort

Bei mir wurde das Asperger-Syndrom (AS) erst diagnostiziert, als man es bei meiner Tochter feststellte. Das war vor ungefähr fünfzehn Jahren. Damals wussten nur wenige Leute aus meinem Bekanntenkreis etwas über die sogenannten tief greifenden Entwicklungsstörungen, geschweige denn über Asperger. Das hat sich zum Glück geändert. Heute ist vermutlich jedem, der sich auch nur entfernt für menschliches Verhalten oder aktuelle Entwicklungen in der Psychologie interessiert, der Name des österreichischen Kinderarztes und Heilpädagogen Hans Asperger geläufig, nach dem das Syndrom benannt wurde. Er entdeckte bei seinen Patienten »autistische Züge«: Sie hatten Probleme mit der nonverbalen Kommunikation und der sozialen Interaktion mit Gleichaltrigen, ein intensives, wenngleich begrenztes Repertoire an Interessen (trotz eines oft überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten), ein stark ausgeprägtes Sprachvermögen und ein verblüffendes Gedächtnis für Details und Fakten. Inzwischen ist das Asperger-Syndrom zu einem Lieblingsthema der Medien geworden, das überall die Runde macht, vom roten Teppich bei der Oscar-Verleihung in Hollywood bis zu den Diskussionen über das Für und Wider sonderpädagogischer Einrichtungen in den kleinsten Schulbezirken Amerikas. Wenn Sie den Begriff googeln, wissen Sie, was ich meine. Obwohl es für uns Asperger-Betroffene bewegend ist, dass sich die Aufmerksamkeit auf uns richtet, liegt bei vielen noch heute keine offizielle Diagnose vor; vor allem, wenn uns das Y-Chromosom fehlt. Frauen aller Altersstufen, vom Säugling bis zur Greisin, bleiben vom Radarschirm einer umfassenden Diagnose nach wie vor unentdeckt und landen schließlich in Welten, in die sie nicht gehören. Neurosen, Schizophrenie, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten, Angststörungen, soziale Phobien – so lauten die gängigen Diagnosen bei Frauen, die ein bestimmtes Alter überschritten haben und sich schwertun, ihre Umwelt, die Gesellschaft, Beziehungsrituale und dergleichen zu entschlüsseln. Es ist nicht so, dass diese Befunde völlig aus der Luft gegriffen wären. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist auch eine Mischung all dieser Komorbiditätsfaktoren, d.h. der Begleiterkrankungen, die zur Grunderkrankung hinzukommen, im genetischen Code von Mädchen und Frauen verankert. Das Problem ist nur, dass viele Psychotherapeuten und Ärzte offenbar unfähig sind, den Wald vor lauter Bäumen zu erkennen. Warum, so fragen sich viele von uns, ist das Asperger-Syndrom nach wie vor »Männersache«? Warum halten Forscher hartnäckig an der Aussage fest, dass Männer drei- bis viermal häufiger von Asperger betroffen sind als Frauen? Obwohl Toppsychologinnen und -psychologen in diesem Bereich wie Tony Attwood, Judith Gould und Lorna Wing einen neuen Bezugsrahmen schaffen, der zum Umdenken anregen soll, indem sie statt der lapidaren Annahme: »Bei Mädchen und Frauen kommt Asperger so gut wie gar nicht vor«, die Frage stellen: »Wie erkennen wir Asperger bei Mädchen und Frauen?« Einer der Gründe liegt meines Erachtens klar auf der Hand. Viele Mädchen und Frauen mit AS zögern, ihren Verdacht, sie könnten zu den »Aspies« gehören, laut zu äußern, weil diese Diagnose, auch wenn viele es gerne leugnen würden, noch heute jede Menge Klischeevorstellungen und Vorurteile mit sich bringt. Mit anderen Worten: Es ist ausnehmend schwierig, öffentlich zu bekennen, dass wir mit der Anpassung an die Gesellschaft die Quadratur des Kreises anstreben.
Ich finde es jedes Mal bewundernswert, wenn eine Frau, die im Autismus-Spektrum verortet ist, offen über ihre Erfahrungen berichtet. Ich bin ihr zutiefst dankbar. Ich nehme mit Erleichterung zur Kenntnis, dass sich jeden Tag mehr Mädchen und Frauen mit Asperger in Webforen, kleine Diskussionsgruppen und soziale Netzwerke einklinken, um sich darüber auszutauschen, wie man am besten durch die klippenreichen Gewässer der neurotypischen, d.h. als neurologisch »normal« geltenden, Weltkarte navigiert. Eine vereinzelte Stimme hier oder da wird leicht überhört, doch die kollektive Stimme von Mädchen und Frauen, die willens und fähig sind, ihr Wissen mit anderen zu teilen – das nenne ich Frauenpower! Ein lauter Chor, den man nicht ignorieren kann und wird. Rudy Simones Buch Aspergirls: Die Welt der Mädchen und Frauen mit Asperger übernimmt in diesem Chor eine führende Rolle und wird als Katalysator dienen, der die Vordenker unserer Zeit zu der Erkenntnis anspornt, dass es sehr wohl eine beträchtliche Anzahl von Mädchen und Frauen mit Asperger gibt.
Rudy Simones Buch enthält zum einen Erinnerungen und Interviews mit Betroffenen und zum anderen praktische Hinweise, die als Leitfaden dienen. Der flüssige Schreibstil gewährleistet eine ebenso mitreißende wie entspannte, zwanglose und stets informative Lektüre für alle, die Einblick in ein Leben außerhalb des gesellschaftlichen »Normbereichs« gewinnen möchten. In Verbindung mit der frischen und messerscharfen Sichtweise der Autorin, die genau zum Ausdruck bringt, wie sich das Leben für viele Mädchen und Frauen aus dem Spektrum gestaltet, wird daraus ein wahres Meisterwerk. Meisterwerke sind nicht nur fesselnd für den Geist, sondern auch Balsam für die Seele, vor allem für Menschen, die hoffen, damit ihr Wissen um eine Welt zu erweitern, die neu, anders und bewundernswert ist.
Ich konnte mich mit allen Aussagen in diesem Buch identifizieren. Eine Seite nach der anderen brachte mich meinen eigenen Gefühlen näher, während ich Sätze unterstrich und Passagen kennzeichnete, die ich mit anderen teilen wollte. Besonders tief berührt haben mich die persönlichen Charakterskizzen, die Simone präsentiert. Asperger-Autisten aus dem Spektrum weisen oft darauf hin, dass sie die Experten auf diesem Gebiet schätzen und zutiefst respektieren, dass aber niemand einen Weg besser beschreiben kann als diejenigen, die ihn gehen. Die Mädchen und Frauen, die in diesem Buch ihre persönlichen Erfahrungen geschildert haben, gehen diesen Weg, und nicht nur das: Sie geben ein Wissen aus erster Hand weiter, das für die Gemeinschaft von unschätzbarem Wert ist. Simone hat es hervorragend verstanden, die Worte der anderen Betroffenen mit ihren eigenen Gedanken zu verquicken und das Ganze mit praktischen Tipps abzurunden, die dazu beitragen sollen, das Leben zu bereichern und zu genießen.
Rudy Simone hat in ihrem Buch einen neuen Begriff für Mädchen und Frauen mit Asperger geprägt: »Aspergirls«. Meine Tochter fand, dass er an die »Supergirls« aus dem Science-Fiction-Genre erinnert. Gegen den Vergleich habe ich nichts einzuwenden und Rudy Simone vermutlich auch nicht. Wahrscheinlich wird es nach der Lektüre des Buches niemanden geben, die oder der nicht zu der Schlussfolgerung gelangt, dass Mädchen und Frauen, die den Fehdehandschuh des Asperger-Syndroms aufgenommen und sich in diesem Kampf auch nur einigermaßen erfolgreich behauptet haben, »super« und heldenhaft sind. Doch wie alle heroischen Gestalten sind auch Mädchen und Frauen mit Asperger anfällig für einen Kryptonit-Befall − das fiktive Mineral aus den Superman-Geschichten, das auf Schwachstellen hinweist. Simone nimmt diese Schwächen eine nach der anderen aufs Korn. Mobbing, mangelndes Selbstwertgefühl, Panikattacken, Zusammenbrüche, sexuelle Beziehungen, Schuldgefühle … die Liste ließe sich endlos fortsetzen, ist aber stets mit Informationen versehen, die die jeweilige Situation mit zahllosen hilfreichen Vorschlägen und positiven Vorstellungsbildern abfedern. Sie sollen den Wunsch der Betroffenen befeuern, sich wieder aufzuraffen, um den Weg hoch erhobenen Hauptes und mit beflügeltem Geist fortzusetzen, ihrem Ziel entgegen.
Neue Bücher sind immer aufregend, doch nur wenigen ist es vergönnt, sich auf lange Sicht zu behaupten. Diesem Buch wird es gelingen.
Liane Holliday Willey,
Autorin mehrerer Bücher zum Thema Asperger und Autismus

Einführung

Frauen mit Störungen aus dem Autismus-Spektrum stellen eine Subkultur innerhalb einer Subkultur dar. Wir haben viele der gleichen Eigenarten, Herausforderungen, Gewohnheiten, Charaktermerkmale und Perspektiven wie unsere männlichen Entsprechungen, doch mit einem zusätzlichen geschlechtsspezifischen Aspekt. Das Asperger-Syndrom (AS) wird bei Mädchen und Frauen anders wahrgenommen und bleibt daher oft unerkannt, auch wenn es sich kaum anders manifestiert.
Die Worte anderer Betroffener wie Liane Holliday Willey, Donna Williams oder Mary Newport zu lesen ist für mich unglaublich spannend, weil ich endlich Frauen gefunden habe, in denen ich mich wiedererkennen kann. Das gelang mir früher nie; ich war außerstande, mich mit meinen Klassenkameradinnen oder Gleichaltrigen zu identifizieren, ganz zu schweigen von dem Frauenbild, das in den Medien präsentiert und als Ideal angepriesen wurde. Ich habe aber auch keinen Bezug zu dem Bild, das die Medien von autistischen Kindern zeichnen, die offenbar mit wesentlich größeren Herausforderungen konfrontiert sind, als ich es je war. Das ist die Krux beim Asperger-Syndrom – unsere Herausforderungen sind überaus real, aber für andere nicht immer sofort sichtbar. Und deshalb stößt unser Verhalten auf Unverständnis.
Manchmal heißt es, dass jeder Mensch mit Asperger über irgendeine Hoch- oder Inselbegabung verfügt. Sofern das auch auf mich zutrifft, scheint sie darin zu bestehen, dass ich problemlos die Muster und den roten Faden erkenne, die sich durch verschiedene Konzepte ziehen, sie gleichsam miteinander verbinden. Obwohl Leser außerhalb des Spektrums die Wahl der Themen zunächst ein wenig willkürlich finden könnten, werden mich Mädchen und Frauen mit Asperger auf Anhieb verstehen. Diese Themen sind für die meisten von uns, wenn nicht sogar für alle Betroffenen, von Belang.
Zu den Nebenwirkungen des Asperger-Syndroms, die offensichtlicher zutage treten und häufiger diskutiert werden, gehören Depressionen, sensorische Probleme, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und bei der Pflege sozialer Beziehungen. Doch es gibt noch andere Faktoren, die prägend für meine Lebenserfahrungen und meinen Charakter waren, und ich wollte herausfinden, ob andere Aspergirls, also andere Mädchen und Frauen mit Asperger, eine ähnliche Sichtweise hatten. Ich wollte von ihnen wissen:
Solche Themen haben mein Leben in einer Weise beeinflusst, die andere Beobachter weder ergründen noch dokumentieren, aber sie sind meines Erachtens für Mädchen und Frauen mit Asperger von zentraler Bedeutung. Männer aus dem Autismus-Spektrum mögen viele Merkmale mit uns gemein haben, aber diese werden anders wahrgenommen und manifestieren sich auf andere Art. Sie sind beispielweise dafür bekannt, dass sie sich gerne salopp kleiden und in Secondhandläden stöbern, weil sie eine Vorliebe für Dinge haben, die ausrangiert wurden. Bei Frauen äußern sich die gleichen Merkmale oft darin, dass sie sich wie Teenager anziehen, wenig oder gar kein Make-up benutzen und eine Frisur bevorzugen, die kaum Aufwand erfordert. Während die meisten Asperger-Betroffenen bestimmte androgyne Merkmale in sich vereinigen, treten diese bei Asperger-Männern als Sanftmut in Erscheinung; Aspergirls haben den Hang, nach Unabhängigkeit zu streben und ihr Machtwerkzeug zu wetzen.
Dieses Buch ist notwendig sowohl wegen der subtilen geschlechtsspezifischen Unterschiede innerhalb des Autismus-Spektrums als auch wegen der Unterschiede zwischen Mädchen und Frauen mit Asperger und jenen ohne, die man auch als NT oder Menschen mit neurotypischem Verhalten bezeichnet. Wir mögen ähnliche Ziele haben, doch die Nichtautistinnen bringen sich aufgrund ihres Potenzials stärker in einen breiter aufgefächerten sozialen Regelkreis ein. Mädchen und Frauen mit Asperger widmen ihrem Innenleben und ihren Zielsetzungen mehr Zeit, sei es erzwungenermaßen oder durch Ausgrenzung, bisweilen auch aus einer bewussten Entscheidung heraus. Die Wahrscheinlichkeit, unsere Ziele zu erreichen, ist deshalb aber nicht größer, denn uns fehlt die soziale Kompetenz, gewöhnlich eine Grundvoraussetzung, um die Erfolgsleiter im Berufsfeld unserer Wahl zu erklimmen.
Bei den Aspergirls stehen zielgerichtetes Handeln und Vernunft im Mittelpunkt, die in einer lärmenden, chaotischen, verwirrenden Welt mit ihren zahlreichen Stolpersteinen oft fehlen. Deshalb erschaffen wir unsere eigene Welt, in der wir unser eigenes Ding machen, führen ein abgeschiedenes Leben und bringen uns im Umgang mit anderen nie so voll ein, wie wir vielleicht könnten oder möchten. Dieses Eremitendasein und die intensive Konzentration auf Arbeit oder Hobbys, auf die wir viel Zeit verwenden, birgt jedoch die Gefahr, dass wir zynisch werden oder uns vor der Schönheit des Lebens verschließen − und vor der Gesellschaft anderer Menschen. Ich bin überzeugt, dass Asperger-Mädchen und -Frauen eine Subkultur darstellen; und ich bin auch davon überzeugt, dass wir von einem kulturellen Austausch profitieren können: Wir können lernen, uns ein wenig mehr auf andere einzulassen, um unser Potenzial im Leben voll auszuschöpfen. Im Gegenzug sollte der nicht im Spektrum verortete Teil der Bevölkerung erkennen, dass Aspergirls viel zu bieten haben, dass ihre Tiefe und Talente Anerkennung verdienen und ihre Eigentümlichkeiten und Eigenarten toleriert, wenn nicht sogar von ganzem Herzen akzeptiert werden sollten.
Derzeit wird fast jedes hundertste Kind dem Autismus-Spektrum zugerechnet. Wie viele Erwachsene es sind, werden wir vermutlich nie erfahren, doch mit Sicherheit ist die Anzahl größer als bisher angenommen, denn das Asperger-Syndrom wurde früher einfach nicht ausreichend verstanden, um als eigenständige Störung erkannt zu werden. Männer scheinen viermal so oft davon betroffen zu sein, obwohl Experten wie der klinische Psychologe Tony Attwood das Zahlenverhältnis dieser offiziellen Statistik infrage stellen. Ich bin überzeugt, dass es genauso viele Asperger-Mädchen und -Frauen wie Asperger-Männer gibt und wir nur schwerer auszumachen sind. Nicht jeder Autist wird bereits in der Kindheit diagnostiziert. Doch bei vielen Frauen wäre Asperger nie erkannt worden, wenn man nicht bei ihren Kindern Spektrumsstörungen festgestellt hätte. Erst dann richten die Ärzte ihren Blick vielleicht auf die Eltern, um die genetische Ursache zu finden.
Es gibt zwei anerkannte Gründe für einen Anstieg der Zahlen:
1.  Die stetige Weiterentwicklung der diagnostischen Methoden
2.  Die nachweisliche Zunahme der Spektrumsstörungen
Ich möchte einen dritten hinzufügen:
3.  Das stressreiche Leben in unserer modernen Welt in Verbindung mit dem hohen Stellenwert, den man der sozialen Kompetenz eines Menschen beimisst, hat dazu beigetragen, dass wir unsere Andersartigkeit stärker empfinden. Deshalb sind wir bemüht, nach Antworten zu suchen – mithilfe von Internet und Büchern –, die häufiger zu einer Diagnose führen.
Im Teenageralter herauszufinden, dass wir Asperger-Autistinnen sind, ist eine tief greifende Erkenntnis, doch wenn wir erst mit vierzig oder fünfzig die Gewissheit erhalten, müssen wir auf unser ganzes bisheriges Leben zurückblicken und sämtliche Erfahrungen in einen neuen Bezugsrahmen stellen; es gilt, jede einzelne Begebenheit, jede Situation von einer neuen Warte zu betrachten. Es ist, als würde man plötzlich eine Brille bekommen, nachdem man ein Leben lang kurzsichtig war. Je länger die Diagnose auf sich warten lässt, desto mühsamer wird die Rückschau, so viel ist sicher. Und in einigen Fällen sind auch die Schäden größer, die auf mentaler, psychischer und Beziehungsebene entstanden sind und behoben werden müssen.
Wenn wir als Erwachsene gleich welcher Altersgruppe herausfinden, dass wir Asperger haben, durchlaufen wir folgende Phasen:
Was geschieht nach der Diagnose? Wie gelangen wir zu dem Punkt, an dem wir mit Asperger eine positive Entwicklung in die Wege leiten können? Die von mir befragten Mädchen und Frauen bezogen ihre Stärke und ihre Informationen überwiegend aus der Asperger-Gemeinschaft, insbesondere aus Internetforen, wo jedoch die Männer mehrheitlich vertreten sind. In den Frauenforen scheint es wesentlich mehr Fragen als Antworten zu geben. Asperger-Mädchen und -Frauen haben ihre eigenen spezifischen Fragen und Attribute, aber nur wenige Informationsquellen, an die sie sich wenden können.
Mit diesem Buch sind drei Hoffnungen verknüpft. Erstens möchte ich anderen betroffenen Mädchen und Frauen helfen, sich bestätigt und, wenn schon nicht gesellschaftlich anerkannt, so doch weniger stigmatisiert zu fühlen. Schon jetzt zeichnet sich ein Wandel ab: Wir beginnen, Stolz zu empfinden, dass wir so sind, wie wir sind. Ich bin nicht die Erste, die sagt: »AS ist eine Gabe.«
Zweitens möchte ich den Aspergirls bei der Bekämpfung ihrer Depression helfen; ich weiß aus eigener leidvoller Erfahrung, dass sie unser größter Feind ist. Ein Feind, der unsere leidenschaftlichen Interessen beflügelt, aber gleichzeitig unsere Bemühungen untergräbt. Er ist deshalb so schwer zu besiegen, weil er unsichtbar und lautlos ist – er schleicht sich auf leisen Sohlen an, trifft uns wie der Blitz aus heiterem Himmel und stiehlt uns Zeit und Energie.
Und drittens hoffe ich dazu beitragen zu können, den Experten die Augen für Asperger-Anzeichen bei Mädchen und Frauen zu öffnen. Um möglichst früh, vorzugsweise noch im Vorfeld, das langjährige, qualvolle und unproduktive Muster der Fehldiagnosen zu durchbrechen. Mit diesen Fehldiagnosen werden viel Zeit und Energie auf beiden Seiten verschwendet, was zu einem Vertrauensmangel gegenüber dem Berufsstand der Ärzte geführt hat, vor allem gegenüber Allgemeinmedizinern und allen, die in irgendeiner Form mit der psychischen Gesundheit befasst sind.
Psychosoziale Berater oder Psychotherapeuten, Psychologen, Ärzte und Pädagogen bemühen sich nach besten Kräften, das Asperger-Syndrom zu verstehen, und bieten brauchbare Therapien und Hilfen für die Praxis an. Sie müssen indes einen noch größeren Rückstand aufholen, wenn es um weibliche Betroffene geht. Wenn Sie zu den Aspergirls gehören, sind Sie eine Autorität auf diesem Gebiet. Für dieses Buch habe ich viele Mädchen und Frauen aus dem Spektrum und ein paar einfühlsame Mütter konsultiert. Bei den Interviews kamen überwiegend »hochfunktionale« Frauen, d.h. Frauen, deren Intelligenz nicht beeinträchtigt ist, aus der Altersgruppe der Zwanzig- bis Fünfzigjährigen und ein Teenager zu Wort. In diesem Buch werden Situationen und Aspekte des Asperger-Syndroms angesprochen, mit denen wir uns täglich konfrontiert sehen, und verschiedene Kompensationsstrategien aufgezeigt. Ich hoffe, dass wir voneinander lernen und uns dadurch gegenseitig das Leben erleichtern können.

1
Vorstellungsvermögen, autodidaktisches Lesen, Inselbegabungen und
ungewöhnliche Interessen

Es ist bekannt, dass Menschen mit Asperger-Syndrom geradezu versessen sind auf Informationen, aber warum? Informationen geben unseren Gedanken Halt, verleihen uns eine Identität und lassen sich von uns kontrollieren. Wir müssen sie weder herbeizaubern noch zum Mittagessen einladen oder beeindrucken. Sie gehören uns, wir können mit ihnen machen, was wir wollen.
Wir haben einen unstillbaren Wissensdurst. Wir haben keine Lust, bis zur Einschulung darauf zu warten, dass uns die Wörter auf der Heftseite ihre Bedeutung enthüllen. Wir haben ebenso wenig Lust, bis zur ersten Unterrichtsstunde darauf zu warten, dem magischen Instrument, das in der Ecke steht, Musik zu entlocken. Und oft müssen wir das auch nicht.
Widders
Ich habe mithilfe der Sing Along with Mitch Miller-Aufnahmen lesen gelernt. Eines Tages nahm ich Der Kater mit Hut von Dr. Seuss in die Hand und konnte die Wörter entziffern, sie ergaben plötzlich einen Sinn.
Mein eigener Leselernprozess war logisch und erfolgte blitzschnell. Ich erinnere mich, dass ich meine Mutter bat, mir das Alphabet zu zeigen, und da das »A« beispielsweise für Apfel und das »H« für Haus stand, prägte ich mir den Klang der Buchstaben ein. Als sie am Ende des Alphabets angekommen war, holte ich mir ein Buch und legte los. Die meisten meiner Interviewpartnerinnen mit Asperger hatten sich das Lesen selber beigebracht, und viele konnten auf ähnliche Erfahrungen in Bereichen wie Mathematik, Musik und Design verweisen.
Andi
Ich verfüge über eine Inselbegabung, ein ausgeprägtes räumlich-schematisches Vorstellungsvermögen. Mein Gehirn funktioniert wie ein CAD-Programm (ein Programm für rechnerunterstütztes Konstruieren). Ich kann aus dem Nichts, ohne die geringsten Vorkenntnisse, elektronische Geräte und Maschinen zusammenbauen.
Diese Sonderbegabungen flachen mit zunehmendem Alter ab. Die Fähigkeit, lange vor ihren Altersgenossen lesen zu lernen und Texte verstandesmäßig zu erfassen (Hyperlexie), verleiht manchen jungen Mädchen mit Asperger den Gestus intellektueller Reife, was zu der Fehlannahme führt, wir besäßen darüber hinaus auch die entsprechende emotionale Reife. Der Autismus bleibt verborgen, weil die Defizite hinter dieser Fassade unentdeckt bleiben.
Nicht alle Aspergirls sind sprachorientiert, und einige von uns leiden sogar unter Lernstörungen wie der Lese-Rechtschreib-Schwäche. Doch gleich, ob verbal oder visuell, mit oder ohne Lernschwierigkeiten, einen großen Teil unseres Wissens prägen wir uns zeitlebens in eigener Regie ein, auch während des Studiums. Wir sind darauf erpicht, uns alles beizubringen, was uns interessiert, nicht nur weil wir ungeduldig sind, sondern weil wir unsere eigenen Methoden haben, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Wir »kapieren« oft nicht, was uns andere eintrichtern wollen, vor allem mündliche Anweisungen, denn wir verinnerlichen Informationen auf unsere eigene Weise.
Sam
Ich habe mir meine Fähigkeiten und Fertigkeiten fast alle selber beigebracht. In der Schule hatte ich zwar eine rasche Auffassungsgabe, aber schlechte Noten wegen meiner Legasthenie, deshalb wurde ich als hoffnungsloser Fall abgeschrieben. Ich habe im Selbststudium Statistik, Chemie, Nähen, Sticken und Schweißen gelernt.
Einige Leute wie der Autor Bill Stillman (2009) glauben, dass autistische Kinder eine besondere »Verbindung zu Gott« haben – dass ihre Schwächen durch eine ausgeprägte spirituelle Wahrnehmungsfähigkeit ausgeglichen werden, die ihnen Zugang zu Wissen und zur Ausschöpfung ihrer Talente bietet. Experten erklären, dass viele Menschen mit AS einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten besitzen, doch manchmal mangelt es uns an praktischer Intelligenz. In jungen Jahren bezeichnet man uns vielleicht noch als »kleinen Professor« (im englischen Sprachraum wird Asperger auch Little Professor Syndrome genannt, Anm. d. Übers.), doch mit zunehmendem Alter gleichen wir eher einem »zerstreuten Professor«. Inzwischen wurde nachgewiesen, dass Kinder mit Asperger über ein höheres Maß an fluider Intelligenz als ihre nicht autistischen Entsprechungen verfügen (Hayashi et al. 2008). Fluide Intelligenz ist die Fähigkeit, Muster oder Gesetzmäßigkeiten im Chaos zu erkennen, logische Rückschlüsse zu ziehen und die Beziehungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Sachverhalten zu erfassen. Uns fehlt möglicherweise eine ausgeprägte kristalline Intelligenz (die Fähigkeit, erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten praktisch zu nutzen), was erklären könnte, warum wir manchmal einfach »wissen«, wie man etwas macht, beispielsweise komplexe Mathematikaufgaben löst oder elektronische Vorrichtungen baut, bevor man es uns beigebracht hat.
Dame Kev
Ich kann so ziemlich alles reparieren oder kopieren, technische Geräte und Kleidung eingeschlossen, ich muss mir die Dinge nur anschauen.
Das heißt nicht, dass wir ausnahmslos Intelligenzbestien sind; wenn ihr zu den Aspergirls gehört, die weder »Spezialinteressen« noch eine Hoch- oder Inselbegabung haben, seid ihr nicht die einzigen.
Polly
Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn Leute, die für Aspies die Werbetrommel rühren, mit dem »Nehmt uns so, wie wir sind«-Argument daherkommen und uns das Ammenmärchen auftischen wollen, alle Asperger-Betroffenen wären superintelligente mathematische und naturwissenschaftliche Genies, so eine Art Herrenrasse. Als Aspie, die keine dieser Eigenschaften besitzt, fühle ich mich dadurch in doppeltem Sinn als Versagerin – ich schaffe es weder normal noch eine typisches Aspergirl zu sein.
Für die zögerlichen Lernfortschritte derjenigen, die zu dieser Kategorie gehören, kann es verschiedene Gründe geben – von Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken, vom Abschalten unter Druck oder in Gegenwart anderer Personen bis hin zu Dyslexie (auch Legasthenie genannt), Dyspraxie (die Unfähigkeit, Bewegung und Handlung in Einklang zu bringen) und selektivem Mutismus (das Verstummen oder die Beeinträchtigung der sprachlichen Kommunikation in bestimmten Situationen, Anm. d. Übers.). Solche Faktoren können eine Rolle spielen und dazu führen, dass die Intelligenz der Mädchen verkannt wird.
Widders
Ich lebte in meiner eigenen kleinen anheimelnden Seifenblase. Ich ignorierte das meiste von dem, was um mich herum geschah. Ich war außerstande, laut vorzulesen (selektiver Mutismus), sodass die Lehrer davon ausgingen, ich könne überhaupt nicht lesen. Sie verlangten, dass ich Bücher für Erstklässler las, aber die waren echt langweilig, deshalb hatte ich keine andere Wahl, als Bücher für die höheren Klassen in den Unterricht und in den Lesesaal der Bibliothek zu schmuggeln. Ich hätte Ärger bekommen, wenn ich mit einem meiner verbotenen Bücher erwischt worden wäre.
Ann Marie
Ich habe keine sonderpädagogische Einrichtung besucht, aber alle nahmen an, ich sei geistig zurückgeblieben. Ich musste immer beweisen, was in mir steckt, und war ganz oft unsichtbar.
Informationen anders zu verarbeiten als alle anderen ist in der akademischen Welt kein Problem, weil jeder gewöhnlich seine eigene Lernmethode finden kann, doch in sozialen Situationen wirkt sich dieser Hang anders aus – wir können anderen nur selten unsere Regeln und Prioritäten aufzwingen. In einer alltäglichen Unterhaltung lassen sich unsere Gesprächspartner nicht auf gleiche Weise erforschen wie Informationen aus Büchern. In jungen Jahren ist es bei uns gang und gäbe, anderen zu viele Fragen zu stellen, sodass sie sich unwohl in ihrer Haut fühlen. Wenn wir den Ton angeben könnten, wären wir vermutlich weniger anstrengend, doch das gelingt uns selten, und deshalb verschließen wir uns. Das macht sich am deutlichsten im Teenageralter bemerkbar, wenn die Konformität ein Höchstmaß an Bedeutung erhält (auf dieses Thema gehe ich im neunten Kapitel näher ein).
Es wird oft behauptet, Menschen mit Asperger hätten wenig Fantasie und würden sich schon in der Kindheit nur selten für Spiele interessieren, bei denen Vorstellungsvermögen gefragt ist. Das ist in meinen Augen ein Trugschluss und eine Hürde beim Identifizieren von Asperger-Kindern, die eine überaus lebhafte Fantasie besitzen. Dass wir Buntstifte nach Farben oder unsere Spielsachen alphabetisch ordnen, heißt nicht, dass wir sie nicht benutzen wollen. Die Geschichten, die ich mir ausmalte, fand ich wesentlich interessanter als die Spiele, die ich mit meinen Puppen inszenierte – diesen starren, wenig überzeugenden Plastikgeschöpfen.
Bei meinen Interviewpartnerinnen, bei denen Asperger diagnostiziert wurde, waren Kreativität und Vorstellungsvermögen in unterschiedlichem Maß vorhanden, von »null« bis »extrem ausgeprägt«. Alles scheint damit zu beginnen, dass wir Menschen nachahmen, die wir bewundern, und einige bleiben auf dieser Stufe stehen: Sie verstehen es hervorragend, durch Imitation zu lernen.
Heather
Ich präge mir ein Musikstück von Anfang bis Ende ein, sobald ich es ein- oder zweimal gehört habe. Ich begann mit fünf, Geige zu spielen, und spielte jahrelang ausschließlich nach Gehör. Wenn mein Lehrer mir das Stück vorspielte, das ich lernen sollte, konnte ich es auf Anhieb nachspielen und musste nur noch die Technik verfeinern.
Bramble
Gib mir einen Bleistift in die Hand und ich verwandle mich in ein menschliches Kopiergerät.
Andere haben eigene Kompositionen geschaffen:
Kyllie
Als ich 14 war, wurden meine Orchesterwerke von Musikern in ganz Europa gespielt.
Camilla Connolly (australische Künstlerin, 2009 mit dem Waverley Art Prize ausgezeichnet)
Meine Fähigkeiten als Malerin habe ich mir ganz alleine beigebracht. Alles, was ich gelernt habe, habe ich mir durch persönliche Recherchen, Studien in Eigenregie und Fachlektüre angeeignet. Das ist das ganze Geheimnis.
Ein weiterer Grund dafür, dass der Autismus leicht übersehen wird, ist die Tatsache, dass unsere obsessiven Neigungen unter den Sammelbegriff »normale« Mädcheninteressen fallen, wie Bücher, Musik, Malerei und Tiere. Sie nehmen nur durch die Unersättlichkeit, mit der wir ihnen nachgehen, und die Leidenschaft, die sie in uns wecken, eine extreme Form an. Obwohl es Jahre dauerte, bis ich meine ersten eigenen Geschichten, Songs und Essays schrieb, verschlang ich Bücher, als hinge mein Leben davon ab. Ich täuschte sogar Krankheiten vor, damit ich zu Hause bleiben und lesen konnte. Ich nahm morgens Snacks mit in mein Zimmer, weil ich wusste, ich würde keine Pause machen wollen, um zu essen. Ich hätte mir sogar den Gang auf die Toilette verkniffen, wenn es möglich gewesen wäre, nur um nicht mit dem Lesen aufzuhören.
Warum lesen wir (oder spielen, zeichnen usw.) mit solcher Gier? Wir haben das Bedürfnis, unseren Kopf mit Wissen vollzustopfen wie andere ihren Bauch mit Nahrung. Informationen ersetzen die Verwirrung, die viele von uns in sozialen Interaktionen mit anderen erleben. Sie bieten uns einen Bereich, auf den wir uns ungehindert konzentrieren können, losgelöst von den zahllosen äußeren Reizen, die in der häuslichen Sphäre, in Schulen, Geschäften usw. auf uns einstürmen. Beim Spielen oder Lesen oder Zeichnen haben wir die alleinige Kontrolle darüber, wie viele Sinneseindrücke wir an uns heranlassen wollen, im Gegensatz zum Umgang mit Menschen, die unvorhersehbar und unkontrollierbar sind. (Selbst diejenigen von uns, die in ihrer eigenen Seifenblase leben, selten lesen oder einen Blick in die Außenwelt werfen, können eine reiche Innenwelt besitzen und keinerlei Bedürfnis nach Sozialkontakten haben.)
Informationen füllen eine Lücke, da wir in jungen Jahren keine ausgeprägte Identität zu haben scheinen. Wir verspüren das dringende Bedürfnis, zu lernen und uns kreativ zu betätigen, aber man kann nur dann etwas Eigenes schaffen, wenn man genug über die Dinge weiß, die bereits existieren. In Thinking in Pictures (2006) erklärt die Autorin Temple Grandin, dass sie lernte, Konstruktionszeichnungen anzufertigen, indem sie die Vorlagen eines Fachmanns kopierte. Bald darauf begann sie ohne formale Schulung mit ihren eigenen höchst komplexen Arbeiten.
Obsessive Aktivitäten veranschaulichen unsere unglaubliche Fokussierung, und Lehrer, Ärzte und Pädagogen beginnen zu erkennen, dass es sich dabei um eine positive Eigenschaft handelt, die gefördert statt unterdrückt werden sollte. Wie Temple sagt, gilt es, mit unseren Stärken und nicht an unseren Schwächen zu arbeiten. Das ist der Schlüssel zur Entwicklung unserer beruflichen Zukunft als erfolgreiche Mitarbeiter und Innovatoren. Doch vorher müssen wir uns um praktische Belange kümmern. Wenn wir uns in unserem Element befinden, vergessen wir Zeit und Raum; dann fällt es uns schwer, Pausen einzulegen, auf die Toilette zu gehen, zu essen, zu trinken, an Körperpflege zu denken, an die frische Luft zu gehen oder Sport zu treiben. Das kann sich auch auf unsere Fähigkeit auswirken, eine Stellung zu finden, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen oder anderen wichtigen Aktivitäten nachzugehen. Wird dieses Verhalten ausschließlich durch eine exekutive Dysfunktion ausgelöst, die Unfähigkeit, unsere Handlungen zu steuern? Anders ausgedrückt – wissen wir nicht, wann wir aufhören sollten? Oder verbirgt sich dahinter mehr?
Camilla
Das ist die einzige Situation, in der ich mich mit mir selbst in Einklang fühle. Nichts anderes zählt.
Heather
Wenn ich mich mit Dingen beschäftige, die mich leidenschaftlich interessieren, verliere ich jedes Gefühl dafür, dass es noch andere Menschen auf diesem Planeten gibt oder dass die Zeit vergeht. Das ist so, als würde ich in eine andere Dimension eintauchen.
Ein Unterschied zwischen Mädchen und Jungen mit Asperger scheint zu sein, dass unsere Spezialinteressen einem außenstehenden Beobachter keineswegs ungewöhnlich, sondern eher zweckmäßig vorkommen. Wenn ein Mädchen Bücher verschlingt, ist das für Eltern oder Ärzte weniger bizarr oder absonderlich, als wenn es Flugzeugmotoren faszinierend fände, die zwischen 1940 und 1945 gebaut wurden. Dabei übersieht man jedoch, dass wir hinter der geschlossenen Tür unseres Zimmers dasselbe Buch vielleicht 124-mal lesen, weil wir davon besessen sind. Das Verhalten mancher Aspergirls grenzt in dieser Hinsicht an eine Manie oder Sucht.
Kes
Ich war besessen von Kalksteinhöhlenformationen. Für Cartoons oder Fantasy-Literatur habe ich mich nie interessiert.
Kiley
Ich fand Baseball toll und konnte mir problemlos die Tabellen mit den Ergebnissen merken.
Pokégran
Ich kannte schon vor dem zweiten Lebensjahr die Namen aller Autos, die ich auf der Straße sah.
Ein weiterer Unterschied zwischen Mädchen und Frauen mit Asperger und ihren NT-, also neurotypischen, Entsprechungen besteht darin, dass Letztere diesen intensiven Kindheitsinteressen irgendwann entwachsen und zu den sogenannten altersgerechten Aktivitäten übergehen. Wir bleiben unseren Aktivitäten dagegen ein Leben lang verhaftet. Das muss kein Manko sein. Wäre die Welt nicht ärmer, wenn Mozart nicht von der Musik besessen gewesen wäre? Menschen wie Temple, Einstein oder der kanadische Schauspieler Dan Aykroyd haben mit ihren Asperger-Eigenschaften die Welt verändert. Ich bin überzeugt, dass viele Wissenschaftlerinnen, Romanschriftstellerinnen und dergleichen mit ihrem für AS typischen Fokus und Fleiß einen Beitrag zu Kultur und Fortschritt geleistet haben, auch wenn wir keine gesicherten Aussagen über die Vergangenheit machen können. Die Zukunft steht gleichwohl auf einem ganz anderen Blatt, und wir sind möglicherweise diejenigen, die sie maßgeblich gestalten. Vielleicht bist du die erste Frau, die sich offen zum Autismus bekennt und Leadsängerin einer berühmten Rockband wird, Bestsellerromane schreibt oder sich als Filmregisseurin einen Namen macht. Vielleicht gehören auch einige der Mädchen und Frauen dazu, die in diesem Buch zu Wort kommen.

TIPPS FÜR ASPERGIRLS

Lasst euch nicht durch den Druck Gleichaltriger davon abhalten, genau das zu tun, was euch Spaß macht und was ihr beherrscht. Im Leben geht es nicht darum, bei anderen beliebt zu sein und sich anzupassen, sondern einen eigenen Beitrag zu leisten.
Die exekutive Dysfunktion – die sich unter anderem darin äußert, dass wir nicht wissen, wie und wann wir bestimmte Aktivitäten beginnen und beenden sollten – passt in die Palette der Erfahrungen, die viele von uns gemacht haben. Sobald wir uns in eine Aktivität vertiefen, vergessen wir oft zu essen, uns zu pflegen, zu baden, auszugehen oder uns zu amüsieren; selbst der Weg zur Arbeit oder Schule ist eine unwillkommene Unterbrechung, die uns aus unserem »Element« reißt. Gewöhnt euch also an, bewusst Pausen für Körperpflege, Mahlzeiten und sportliche Betätigung einzulegen. Das kommt eurer mentalen und körperlichen Gesundheit zugute – schließlich gilt es, dafür zu sorgen, dass die Aspie-Maschinerie weiterhin auf Hochtouren läuft. Außerdem stärkt ihr damit euer Selbstbewusstsein im Umgang mit der Außenwelt.
Macht euch keine Sorgen, wenn ihr keine Hoch- oder Inselbegabung vorweisen könnt; selbst wenn ihr eure Zeit mit passiven Aktivitäten verbringt, lassen sich diese später oft in Fähigkeiten mit einem beachtlichen »Marktwert« einbringen. Wenn ihr beispielsweise leidenschaftlich gerne ins Kino geht, könnte euer Interesse zum Besuch einer Filmakademie und zu einer beruflichen Laufbahn als Cutterin, Kritikerin oder Schauspielerin führen. Versucht aber, ein passives Hobby in ein aktives umzuwandeln. Und geht zumindest zeitweilig auch anderen Interessen nach. Je mehr Lebenserfahrung ihr sammelt, desto größer das Wissen, das ihr in eure Passion einbringt, und desto wohler fühlt ihr euch im Umgang mit den verschiedensten Menschen und Situationen.

TIPPS FÜR ELTERN

Loben und fördern Sie die besonderen Interessen Ihrer Tochter, worin sie auch bestehen mögen, denn in diesem Bereich findet sie Trost, Sicherheit, Zufriedenheit und möglicherweise ihre geniale Begabung. Und wahrscheinlich verbirgt sich darin auch der Schlüssel für ihre künftige berufliche Laufbahn.
Halten Sie ihr nicht vor, dass sie ein Bücherwurm ist oder ihr Verhalten etwas Zwanghaftes hat. Sie möchte es Ihnen recht machen, aber sie kann nur sie selbst sein. Wenn sie versucht, sich zu ändern und das zu spiegeln, was andere in ihr sehen wollen, entspricht das nicht ihrer wahren Identität. Sie ist ein Geschenk des Himmels an Sie, ein ganz besonderer Mensch, dessen Hüter Sie sind. Das mag mitunter schwierig sein, aber es ist auch ein Privileg.
Vielleicht besitzt sie aber auch keine offensichtlichen Talente. Eine meiner Interviewpartnerinnen, eine Professorin, erklärte, sie habe keinerlei Hoch- oder Inselbegabung; doch ihre Fähigkeit, sich so lange in der akademischen Welt zu behaupten, beweist, dass sie über den Fokus und Fleiß verfügt, die in meinen Augen zu den Aspie-Stärken zählen. Wenn sich Ihre Tochter ungestört entwickeln und entfalten kann, wird sich ihr Interessengebiet herauskristallisieren.

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Warum intelligente Mädchen
manchmal die Schule hassen

Obwohl sie spielerisch lernen und einen unstillbaren Wissensdurst haben, gehen nicht alle Aspergirls so gerne in die Schule, wie man vermuten könnte. Für einige ist der Unterricht zu langsam und zu restriktiv, denn wir dürfen oft nicht das lesen, was uns gefällt, oder uns nicht mit Dingen beschäftigen, die in unser Interessengebiet fallen. Soziale Probleme sind ein weiteres Minenfeld, durch das wir uns einen Weg bahnen müssen, und ein Hindernis auf dem Weg zu unserem Wunsch, möglichst schnell möglichst viel zu lernen.
Die meisten Mädchen und Frauen mit Asperger sagten das Gleiche – dass die Schule bis auf wenige Ausnahmen langweilig war und sie gemobbt wurden. Mobbing ist ein Begriff, der in diesem Buch und im Leben vieler Aspergirls häufig auftaucht. Leider scheint er noch heute untrennbar mit der Schulausbildung verbunden zu sein. Mobbingopfer sind diejenigen, die anders sind und als Bedrohung oder als schwach wahrgenommen werden. Auf Asperger-Mädchen passt diese Beschreibung perfekt. Für Kinder und Jugendliche ist Mobbing ein Schock, der die Welt, in der sie sich sicher und geborgen gefühlt haben, in einen wahren Albtraum verwandelt. Für Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum kann das der Beginn einer lebenslangen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sein.
Ich war keine Autistin nach klassischem Muster; ich hatte keine Lernschwächen. Ich war ein glückliches, kapriziöses Kind, das mit seinem schallenden Gelächter die Schulkorridore und Klassenzimmer füllte und akzeptiert, wenn nicht sogar beliebt war. Um mich zu beschäftigen, gab mir die Betreuerin in der Vorschule des Kindergartens die Blätter der anderen Kinder zum Benoten. Es war eine Qual für mich, zuzuhören, wenn sie sich durch ihre Texte kämpften, sodass ich, sobald ich an der Reihe war, so schnell wie möglich las, um die verlorene Zeit wettzumachen – was blitzschnell war. Damit brachte ich die anderen Kinder zum Lachen. Fünf- und Sechsjährige können viel toleranter sein als ältere Kinder. Ich war uncool und gerade deshalb cool.
Später, ungefähr von der zweiten bis zur sechsten Klasse, schrieb ich Theaterstücke und verteilte die Rollen an meine Freundinnen; wir traten damit in der Schule und außerhalb auf. Ich hatte eine gute Singstimme, und als meine Lehrerin das einzige Solo im Weihnachtsspiel an eine Mitschülerin vergab, schrieb ich mein eigenes Solo. Ich hatte viele Freunde … bis zur Adoleszenz.
Urplötzlich galten meine Besonderheiten als uncool, beinahe über Nacht. Meine sozialen Defizite, die vorher lediglich als Abweichungen von der Norm betrachtet wurden, waren mit einem Mal augenfällige Abgründe in meiner Persona. Zuerst wurde ich lediglich ausgegrenzt, verlor eine Freundin nach der anderen, doch dann begann der Psychoterror. Zu diesem Zeitpunkt gab es niemanden mehr, der mir beim Mittagessen in der Schulkantine Gesellschaft leistete, und so pflegte ich mich in dieser Zeit irgendwo zu verkriechen. Mit zwölf machte sich das erste Magengeschwür bemerkbar. Die Wortführerin in dieser Hetzkampagne, eine Mobberin klassischen Zuschnitts, verkündete vollmundig, dass sie mir, komme, was da wolle, eine mörderische Abreibung verpassen würde. Nachdem sie mich rund ein Jahr mit Hinweisen auf künftige physische Schmerzen gequält hatte, machte sie ihre Drohung wahr und schlug mich übel zusammen, um uns herum eine johlende Meute überwiegend älterer Schüler, die sie anfeuerten.