Cover

Madeleine Prahs

Nachbarn

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Madeleine Prahs

Madeleine Prahs, geboren 1980 in Karl-Marx-Stadt, ist dort und am Ammersee aufgewachsen. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte in München und Sankt Petersburg. Während der Arbeit an ›Nachbarn‹ erhielt sie mehrere Auszeichnungen und Förderungen, u.a. Werkstatt-Stipendien des Literarischen Colloquiums Berlin und der Jürgen-Ponto-Stiftung. Sie lebt und arbeitet in Leipzig.

Über das Buch

Als Kind flieht Anne Liebert kurz vor dem Mauerfall in den Westen. Später, zurück in Berlin, schlägt sie sich als Altenpflegerin durch, allein mit ihrer kleinen Tochter Marie. Das Glück, so scheint es, ist nach unbekannt verzogen, und dann spült ihr das Schicksal auch noch den Rentner Karl Fritzsche vor die Füße. Der Misanthrop und Diabetiker sitzt auf seinem Balkon und wartet auf das Ende – bis eines Tages Marie in seinem Wohnzimmer steht, und nichts ist mehr, wie es einmal war.

 

Hans, Hanna und Matthias haben sich während des Studiums kennengelernt – eine Freundschaft, eine Liebe, eine Rivalität. Die deutsche Geschichte treibt ihre Lebenswege auseinander, ein Verrat führt sie wieder zusammen.

 

Vom kleinen Mädchen über den Kunsthistoriker, der aus der Republik flüchtete, bis zum alten, verwitweten Mann – tief taucht der Leser in die Leben von sechs Menschen ein und begleitet sie von 1989 bis 2006 auf dem hindernisreichen und oft überraschenden Parcours durch die eigene Biographie. Ein Roman mit wunderbaren, tragikomischen Geschichten von der Verlorenheit im Leben und der Sehnsucht nach einem anderen.

Impressum

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2014 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Lisa Höfner/dtv unter Verwendung eines Fotos von plainpicture/Frank Herfort

 

E-Book-Herstellung im Verlag (01)

 

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ISBN 978-3-423-42464-6 (epub 2.A.)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14504-6

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de

ISBN (epub) 9783423424646

 

 

 

 

Für Andreas

 

 

 

 

Asche und Diamant

 

Geh nicht weg, sagte sie.

Der blaue Himmel im Kino und die Welt

die nicht mehr ist, wie sie nie war.

 

Thomas Brasch

 

 

 

 

I hate straight singing.

I have to change a tune to my own way of doing it.

That’s all I know.

 

Billie Holiday

1989/1990

Cola · Anna selbdritt · Nachbarschaftliches Verhältnis · Räuber und Gendarm · Letzte Gelegenheit zum Glück · Schmiels Spinnerei · Weiße Wäsche · Abschied · Tick, Trick und Track · Freiheit · Primavera · Sieben Meter überm Asphalt · Das Telefon

Cola

Die geschwungenen Buchstaben hoben sich deutlich von dem roten Untergrund ab. Das kalte Blech leuchtete glatt, und eine sanfte, eigenartige Feuchtigkeit benetzte ihre Finger. Anne ließ die Dose immer wieder von der einen Hand in die andere rollen, fühlte ihre Schwere und Beschaffenheit, ihre Form. Dann schloss sie die Augen und hielt sie einfach fest.

»Ich will auch mal.« Ihr Bruder zog an ihrem Arm, und beinahe wäre es heruntergefallen, das Erste, was sie hier gekauft hatten.

»Hey!« Sie streckte den Arm und hielt die Dose über ihren Kopf. »Das is nichts für Kleene.«

Die Mutter ging dazwischen: »Jeder erst mal nur einen Schluck, hört ihr.«

Sie nickten.

 

Kurz bevor der Zug weggefahren war, war Mutter mit ihr auf das Bahnhofsklo gegangen und hatte ihr einen Schuh ausgezogen. Zwischen das Innenfutter und die Schuhsohle legte sie ein grünlich schimmerndes, sorgsam gefaltetes Stück Papier. Dann zog sie ihr den Schuh wieder an. Während sie hastig den Schnürsenkel zuband, blickte sie immer wieder zur Tür, als ob es gefährlich wäre, sich zu lange in einer öffentlichen Bahnhofstoilette aufzuhalten.

»Weißt du, was das ist?«, fragte die Mutter sie flüsternd und tippte die Sohle des Schuhs an. Anne schüttelte den Kopf. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Ein Bahnhofsklo, kein Gepäck, aber ein Stück grünes Papier im Schuh. Ihre Mutter hatte doch früher nicht solchen Blödsinn gemacht.

»Anne, ich hab dich was gefragt.«

Sie sah auf ihren Schuh, versuchte das Papier durch die Sohle zu fühlen, aber es gelang ihr nicht.

»Ich weiß nicht …« Sie wich dem ernsten Blick der Mutter aus.

»Das sind zwanzig Mark. Westmark, verstehst du?«

Westmark war das Geld der BRD, das hatte sie in der Schule gelernt. Aber schön sei es dort nicht, hatte die Lehrerin erklärt. Und dort wollte die Mutter mit ihnen hin. Für immer.

 

Anne zog an der metallenen Schlaufe der Dose. Es zischte kurz, kalte Luft und ein süßlicher Geruch stiegen aus dem kleinen Loch. Über den Rand schwappte eine braun glänzende Flüssigkeit, in der, so schien es, winzige glitzernde Diamanten schwammen. Ein See bildete sich, und wenn man die Dose leicht nach rechts und dann wieder nach links kippte, rollten die Diamanten in dem kreisrunden Deckel hin und her. Sie führte die Dose vorsichtig an ihren Mund, die Lippen tasteten sich langsam vor, und dann kitzelte das Zeug auf ihrer Zunge, als hätte sie vier Brausebonbons auf einmal in den Mund genommen. Sie schluckte, sah noch die Gänsehaut auf ihrem Arm, und dann, für einen Moment, war es ihr, als habe die Welt kurz aufgehört zu atmen. Keiner sagte etwas. Als sie die Augen wieder geöffnet hatte, leuchtete die Dose in ihrer Hand immer noch rot. Sie blickte kurz auf ihre Schuhe, dann lächelte sie und gab ihrem Bruder die neue Limo.

Sie hatte beschlossen, nicht mehr traurig zu sein. Die BRD schmeckte gut.

Anna selbdritt

Er hatte nichtsahnend den Park betreten, war die kleine Anhöhe hinaufgelaufen und hatte sich auf die unscheinbare, von zwei großen Ulmen verdeckte Parkbank gesetzt. Und schon wie er das Jackett ausgezogen und beiseitegelegt hatte, hatte er gespürt, wie er langsam ruhiger wurde, wie sich die Anspannung zu lösen begann, wie ihn das seltene Gefühl von Gelassenheit erfasste, und ihm war wieder eingefallen, warum er so gerne hier war, in der Natur, auf dieser Bank, mit der Aussicht auf langgestreckte Wiesen und die prachtvolle Kastanienallee, die sich bis zur Nordseite des Parks zog. Nicht nur, um ein paar Minuten allein und ungestört zu sein, abseits des Unialltags, des hektischen Trubels, der Vorlesungen und Seminare, sondern weil für diese eine kostbare Viertelstunde in der Woche niemand eine Meinung über ihn hatte.

Er war nicht wachsam, vielleicht hatte er sie auch deshalb erst nicht bemerkt. Es war nur eine Bewegung, unscheinbar im Augenwinkel, und ein Wortfetzen. Kleene. Neugierig drehte er sich um und dachte nicht daran, dass das ein Fehler sein könnte.

Sie saßen einige Parkbänke von der seinen entfernt und tranken Cola. Das Mädchen trug ein graues, verwaschenes T-Shirt mit einem Micky-Mouse-Aufdruck, eine pinkfarbene Hose und weiße Schuhe. Der kleine Junge, der offensichtlich ihr Bruder war, hatte einen zu großen Anorak an und eine Schiebermütze auf dem Kopf, die aus vielen verschiedenen Jeansflicken zusammengenäht war. Die beiden Kinder waren ungewöhnlich still, ihre Mutter sah müde aus. Da Vinci, Anna selbdritt, vermutlich Fünfzehnhundertzehn, dachte Hans, und auch wenn es hier nicht drei Generationen waren, so doch eine Kleinfamilie, dazu die Landschaft im Hintergrund, der gleiche Grad an Glück und Erschöpfung. Fehlte nur noch das Lamm, dann wäre die Idylle perfekt. Er zwang sich, seinen Blick abzuwenden.

Man hatte in letzter Zeit einiges darüber lesen können. Grenzübergänge, die Botschaften. Den Terminus »Ausreisewelle« nahm keiner in den Mund, aber das war ja auch nicht zu erwarten. Noch hielt es sich wohl in Grenzen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Er griff in seine Manteltasche, holte das Silberetui hervor, nahm eine Zigarette und zündete sie an. Schnell löste sich der Rauch in der kalten Luft auf. Er lehnte sich zurück. Es war kühl geworden. Bald würde der erste Schnee in den Ebenen des Parks liegen, weiße, dünne Laken, die Wiesen und Pfade bedecken, doch noch schien die Sonne.

Er sah auf die Uhr. Viertel nach zwei. In fünf Minuten begann das Kandidatenkolloquium der Doktoranden. Vorsichtig drehte er sich noch einmal um, die Parkbank war jetzt leer, die Kleinfamilie verschwunden. Und doch war es ihm, als säße jemand dort und beobachte ihn. Hans stand auf, nahm seinen Hut und ging zum Ausgang des Stadtgartens. Auf den Wiesen hatten sich zahlreiche Krähen niedergelassen. Einige breiteten ihre Flügel aus und setzten immer wieder zum Flug an. Sie hoben jedoch nie wirklich ab. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und beschleunigte seinen Gang. Die Tiere waren unruhig.

Nachbarschaftliches Verhältnis

Gleichmäßig und monoton ließ die Stimme des Sprechers die Nachrichten des Tages passieren. Hanna nahm das Bügeleisen und drehte die Skala auf »Seide«, legte dann, anstelle der Hose, die Bluse auf das Bügelbrett. »Der Sprecher des Außenministeriums der BRD …« Sie fasste zum Regler des Radios und erhöhte die Lautstärke. »… äußerte sich heute zu dem Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander. Im Wortlaut hieß es: Es handle sich zwar noch nicht um ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis, aber den Menschen in Ost und West liege viel daran, dass es eines werde.« Der Sprecher machte eine Pause. »Und nun das Wetter.«

Hanna lächelte. Nachbarschaftliches Verhältnis. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde es die Mauer nicht mehr geben. Auf der Straße wurde doch seit Wochen von nichts anderem mehr gesprochen. Ausreiseanträge, Verwandtenbesuche, Demonstrationen. Es war alles nur noch eine Frage der Zeit. Und vielleicht waren sie wirklich bald neue Nachbarn. Ost und West. Sie führte das Bügeleisen nach links, ruhig und gleichmäßig wie der Bug eines Schiffes glitt die Bügelsohle über den Stoff. Das Radio lief weiter, aber sie hörte nicht mehr zu. Sie stellte sich vor, wie sie mit dem Zug nach drüben fahren, seine Adresse finden, ihren ganzen Mut zusammennehmen und klingeln würde. Und wenn Hans dann öffnete, würde sie kurz ihre Tasche abstellen und freundlich sagen: »Guten Tag, ich wollte mich nur eben vorstellen: Ich bin deine neue Nachbarin.«

Hanna hielt inne, stellte das Bügeleisen hochkant auf das Bügelbrett und strich mit der flachen Hand über den zarten, warmen Stoff. Es würde nicht leicht werden, das wusste sie. Nachdenklich begann sie, die Bluse zu wenden. Die Außenseite kam wieder zum Vorschein. Ein matt schillerndes Nachtblau. Sie hob die Bluse ins Licht und prüfte das Ergebnis. Aber sie war vorbereitet, seit langer Zeit schon war sie auf diesen Moment vorbereitet. Ruhig ging sie zum Kleiderschrank und hängte die Bluse über den Bügel, auf dem schon die Hose hing. Noch einmal strich sie den Stoff glatt. Hans hatte ihr die Bluse geschenkt, damals, kurz vor ihrer Hochzeit. »Mein schöner nachtblauer Vogel«, hatte er gesagt. Langsam schloss Hanna die Türen des Schranks und senkte den Kopf. Kalte Wut stieg in ihr auf, dunkel wie die Nacht. Sie drehte sich um. Es würde nicht mehr lange dauern.

Räuber und Gendarm

»Hamse das gehört, heute früh im Radio?« Die Blumenverkäuferin ließ sich Zeit. Matthias schüttelte den Kopf und trat von einem Bein auf das andere.

»Nee, ich hab’s eilig.«

»Eilig ham was doch alle, junger Mann, aber bald ham wa auch die Reisefreiheit und allet andere.«

»Ja, ja.«

Er nahm den Strauß, zahlte und ging schnell zurück. Freiheit. Was war das schon? Er klingelte. Als sie öffnete, überreichte er ihr die Blumen, und während sie sich umarmten, fuhr er mit der rechten Hand vorsichtig durch ihre Haare, mit der anderen berührte er flüchtig ihren Wangenknochen.

Als sie in die Küche ging, um den Kaffee aufzusetzen, sah er ihr nach. Sie war immer noch sehr schön, groß, ja, aber elegant groß. Mit starken Schultern an einem langen, zierlichen Oberkörper. Es erinnerte ihn immer an Ausdauer. Einmal hatte er eine Sendung gesehen über eine Frau, die den Ärmelkanal durchschwommen hatte. Sie hatte die gleichen Gliedmaßen gehabt wie Hanna.

Matthias klappte das Bügelbrett zusammen. Er wusste nicht, warum er ausgerechnet jetzt an Hans denken musste, dieses selbstgefällige Aschloch. Sie hatten nie wieder von ihm gesprochen. Aber früher oder später würde sie sich auf den Weg zu ihm machen, das wusste er.

Er setzte sich auf das Sofa, sie brachte die Tassen und ordnete sie um die Keksdose an. Es war alles so wie immer. Dieselben Rituale, nur dass er zum ersten Mal nichts dabei tat. Keine Zeitung las oder einen Radiosender suchte oder aus dem Fenster sah. Er beobachtete sie, als hätte er sie gerade erst kennengelernt, als sei sie eine Bedienung und er der Gast, der sich in sie verliebt hatte, ohne dass sie davon Kenntnis zu nehmen schien. Immer wieder fuhr sein Blick an jener dunklen Haarsträhne entlang, die exakt die Konturen ihres rechten Wangenknochens umrahmte. Irgendwann bei einem Betriebsfest, zu dem sie nur ihm zuliebe mitgegangen war, obwohl sie nichts mehr verabscheute als diese VEB-Partys, hatte Wolfgang ihn zur Seite gezogen und gesagt, er habe in seinem ganzen Leben keine Frau gesehen, die so aristokratische Gesichtszüge habe, so elegant sei wie Hanna. Er hatte damals laut gelacht, »Wolfgang, du alter Sozialist, was weißt du denn von aristokratischen Zügen?«, und seinem Brigadeleiter für diesen Unsinn noch zwei Mal vor lauter Lachen auf die Schultern geklopft. Aber vielleicht lag es an jenem weichen Licht, das nachmittags mitunter durch die Fenster fällt und die Menschen schöner macht, vielleicht lag es an dieser Haarsträhne, von der sich sein Blick immer noch nicht lösen konnte. Ihm war es, als hätte Wolfgang das eine Mal besser hingesehen als er selbst all die Jahre.

»Stell dir vor«, sie blieb kurz vor dem Tisch stehen, »heute haben sie im Radio etwas von nachbarschaftlichem Verhältnis zwischen Ost und West gefaselt. Was die sich alles einfallen lassen, um ja nicht zuzugeben, dass wir auf dem besten Weg sind, wieder ein Land zu werden. Ist das nicht seltsam?« Sie stellte die Kaffeekanne ab und setzte sich. Er sah aus dem Fenster.

»Hey«, sie stupste zärtlich mit ihrem Zeh an sein Knie. »Glaubst du nicht auch, dass die Mauer bald fällt?«

Im Hof spielten die Nachbarskinder Räuber und Gendarm, er sah sie nicht an, als er ihr antwortete: »Nein, glaub ich nicht. Bestimmt nicht.«

Letzte Gelegenheit zum Glück

In der Nacht war das Wetter umgeschlagen. Sein Kopf schmerzte leicht, dennoch ging er auf dem Weg zum Institut seinen Vortrag noch einmal durch.

Einer seiner Kollegen, wie er wissenschaftlicher Assistent am Institut, hatte sich intensiv mit der Kunstliteratur der Frühen Neuzeit beschäftigt, mit Quellenstudium und kunsthistorischer Geschichtsschreibung. Nun sollte eine Tagung die Publikationsreihe, die seit zwei Jahren zu dem Thema erschienen war, abrunden. Er hatte seine Teilnahme zugesagt und es im nächsten Moment wieder bereut. Nichts war langweiliger als der Blick auf das eigene Berufsbild vor hundert Jahren, in stickigen Hörsälen, mit knochentrockenem Mürbeteiggebäck und zahlreichen sogenannten Experten, die wie Schildkröten aussahen und genauso rochen. Neben einem Ladengeschäft blieb er stehen, die Fußgängerampel stand auf Rot. Hans drehte seinen Kopf und betrachtete sich in der Schaufensterscheibe.

Im Großen und Ganzen konnte er zufrieden sein. Er war ein gut aussehender Mittdreißiger, seine Kleidung – italienische Maßarbeit in dunklen Farben – deutete auf einen gehobenen Lebensstandard hin, wenn auch sehr dezent. Sein Gesicht zeichnete sich durch fein geschnittene Züge aus. Das Haar war dunkelbraun und voll, nur an den Schläfen lichtete es sich leicht, doch war dieser Verlust von Juvenilität nicht von Nachteil, wie er fand, denn es gab seinem Aussehen vor allem in Hinblick auf seine große, schlanke Statur – Hans hob das Kinn leicht und korrigierte im Spiegel der Scheibe den Sitz seines Jackettkragens – etwas weniger Schmächtiges.

Die Ampel schaltete auf Grün, er reihte sich in den Strom der Passanten ein. Auf dem Platz vor dem Universitätsgebäude staute sich der Verkehr. Gerade als er sich geschickt vor einem grauen Passat Kombi vorbeischlängeln wollte, der im Schritttempo fuhr, blieb das Auto stehen und ließ ihn vorbei. Er blickte in die Frontscheibe, eine junge Frau saß hinter dem Steuer und lächelte. Hans kannte sie nicht, dennoch hob er galant seine Hand zum Gruß und lächelte verhalten zurück. Langsam besserte sich seine Stimmung. Er war intelligent, belesen und gleichzeitig charmant, Menschen hielten sich gerne in seiner Nähe auf. Was wollte man mehr? Natürlich, es stimmte schon, er hatte sein Gestern nie gepflegt, wie andere Leute das taten, er hatte es sorgfältig verblassen lassen, aber na und? Was hieß das schon? Das Leben ging weiter, auch wenn die eigene Vergangenheit nicht psychologisch runderneuert worden war. Er lief am Hauptgebäude der Universität vorbei, am Biologischen Institut und der Mensa. Es ging doch darum, was für eine berufliche Leistung man erbracht hatte – jemand rief seinen Namen, aber er reagierte nicht –, und nicht, welcher Partei man vor langer Zeit mal angehört hatte. Er verlangsamte seinen Schritt. Menschen leben. Menschen machen Fehler. So einfach war das. Das Uni-Viertel war wie immer belebt. Hier und da grüßte man ihn.

Vor der Bibliothek blieb er stehen, ein imposanter Treppenaufgang führte zu dem Hauptportal des alten Gebäudes. Studenten hasteten an ihm vorbei, manche nahmen zwei Stufen auf einmal, ungestüm und kopflos rannten sie ihrem Ziel entgegen, ähnlich jungen Hunden. Er atmete die kühle Herbstluft ein und ließ seinen Blick über die klassizistische Fassade schweifen. Weder der Ort noch das Gebäude waren mit einer Erinnerung verbunden, und doch musste er jetzt daran denken, wie er sie kennengelernt hatte, an jenem Frühlingsabend, vor vielen Jahren, im Archiv der Berliner Nationalbibliothek.

Er sollte alte Handschriften sichten, gegebenenfalls eine Zweitschrift anfertigen lassen. Sedlitz, sein Doktorvater, hatte ihm den Auftrag gegeben. Also war er in das Archiv gegangen, und dort hatte sie gesessen, zwischen Büchern und Regalen, umgeben von der Einsamkeit der Dinge. Ihm hatte die Vorstellung immer gefallen, dass er es war, auf den sie dort gewartet hatte, aus einer diffusen Sehnsucht heraus und ohne ihn zu kennen. Er wusste, dass dieser Gedanke sentimental und selbstherrlich zugleich war, eine kleinliche Art, sich das Ego zu polieren, aber vielleicht hatte er auch nur deshalb Freude an dem Gedanken, weil die Wirklichkeit viel prosaischer ausgesehen hatte. Der Raum war dunkel, karg und still, und er hatte das Gefühl gehabt, er beträte eher eine Klause als einen hohen Saal. Sie saß unweit der Tür an einem großen Tisch, auf den ein Messingschild mit der Gravur »Anmeldung« hinwies.

Sie blickte auf, »Wie kann ich Ihnen helfen?«, und das Erste, was er wahrgenommen hatte, war eine sonderbare Helligkeit, und diese ging nicht von den Buchrücken in den Regalen hinter ihr aus.

»Ich würde gerne …« Er brach ab, merkte, wie er rot wurde, doch dann preschte er los, seine Kopfmaschine surrte, war nicht mehr zu stoppen, und er erklärte zu lange und zu ausführlich sein gesamtes Dissertationsvorhaben.

Sie sah ihn immer noch fragend, aber gelassen an. Hans räusperte sich und begann, die Sinnlosigkeit seiner Rede zu erahnen. »Ich, also, eigentlich bin ich hier …«, er wurde wieder Herr seiner Sinne, »im Auftrag von Professor Sedlitz. Es geht um die Abschriften …« Sie nickte, ohne zu lächeln, stand auf, um das Register zu holen, so selbstverständlich, als wäre nichts geschehen, als hätte er sich nicht gerade zum Affen vor ihr gemacht. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar, und noch Jahre später erinnerte er sich an die Geste, mit welcher sie an jenem Tag ihre Haare leicht hinter die Schulter streifte, während sie sich über das Werkverzeichnis beugte.

Ihr Gesicht war von unbeschreiblicher Tadellosigkeit, alles stand in einem wohlgeformten Verhältnis zueinander. »Es verband«, so berichtete er später seinem Kommilitonen Matthias, einem Architekturstudenten, »die Ideale einfacher Formgebung und logischer Linienführung mit einer, ja, fast, wie soll ich sagen, zeitlosen Eleganz.« Ihre Nase war gerade und nicht zu groß, ihre Lippen schwungvoll und sinnlich. Hohe Wangenknochen gaben ihrem Gesicht etwas Klassisches. »Ich muss sie kennenlernen, Matthias, verstehst du, ich muss.«

Matthias, der allein bei dem Gedanken an ein harmloses Gespräch mit Frauen rote Ohren bekam, hatte erst verlegen gelacht, ihm aber dann kameradschaftlich auf die Schulter geklopft. »Na ja, ich versteh schon«, er konnte sich ein ironisches Lächeln nicht verkneifen, »um es also mit Truffaut zu sagen: Diese Frau ist deine letzte Gelegenheit zum Glück.« Es war eine Macke von Matthias, immer Filmzitate parat zu haben, doch Hans hatte ihm nicht geantwortet. Er hatte an seinem Freund vorbeigesehen, in eine nur für ihn vorhandene Ferne, und Matthias hatte erkannt, dass er es völlig ernst meinte.

»Verzeihung?«

Telge, ein Mitarbeiter des Instituts, sah erst den Treppenaufgang, auf den Hans gestarrt hatte, dann ihn selbst fragend an. »Wir warten schon.« Der leichte Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Natürlich, ich war in Gedanken, lassen Sie uns gehen.« Eilig setzte Hans den ersten Schritt auf die Stufe der Treppe.

Schmiels Spinnerei

»Schöne Scheiße!« Vergeblich hatte Fritzsche versucht, die Tür zur Wohnung zu öffnen. Erst nach dem dritten Versuch rastete der Schlüssel in das Schloss ein. Wütend schmiss er seine Tasche in die Ecke des Flurs, ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm eines der Flaschenbiere. Er zog den Zollstock aus der Tasche, setzte ihn an den Flaschenhals und hebelte den Kronkorken herunter, es zischte kurz, das Bier begann zu schäumen, lief über, doch es war ihm egal. Er nahm einen Schluck und wischte sich die nasse Hand an der Arbeitshose ab, während er zum Fenster ging. Dann schob er die Gardine zur Seite, stützte sich mit einer Hand auf dem Fensterbrett ab und betrachtete die gegenüberliegenden Häuser. Sie reihten sich immer noch sorglos aneinander, und er wollte nicht aufhören, jedes einzeln anzusehen, obwohl er wusste, dass sich keines vom anderen unterschied. Die gleiche Bauweise, vom Sockel bis zu den flachen Dächern, und immer der gleiche Abstand zwischen den Parzellen. Sachliche Wohnmaschinen, die sich in all den Jahren, in denen er und Klara schon hier lebten, nicht verändert hatten, die einfach nur da standen und ihren Zweck erfüllten. Er setzte die Flasche an und trank langsam ein paar Schlucke.

Sie sollten aufhören und nach Hause gehen, hatten sie ihm im Werk gesagt. Also hatte er das Warenlager abgeschlossen, den Schlüssel beim Pförtner abgegeben und sich auf den Weg gemacht. In seiner rechten Hand trug er die alte flache Ledertasche, und obwohl nicht viel darin war, lief er auf dem sandigen Schotter langsamer als die anderen Arbeiter. Manchmal klopfte ihm jemand im Vorübergehen auf die Schulter, sie wünschten ihm einen schönen Feierabend, er nickte und versuchte, die Schmerzen in seinem Rücken zu ignorieren. Er passierte das pompöse Eingangstor, ein Relikt aus Gründerzeittagen, das man vergessen hatte abzureißen, und wollte gerade nach rechts einbiegen, auf den Pfad zur Bushaltestelle, als er den Pfiff hörte. Er drehte sich um und sah, wie sich Schmiel von den anderen Arbeitern, die noch am Tor standen und rauchten, verabschiedete. Schmiel hob die Hand zum Gruß, während er versuchte, die Entfernung zu Fritzsche mit kleinen, hastigen Schritten zu verkürzen. Doch er war eindeutig zu schwerfällig für sein Vorhaben, atemlos kam er neben Fritzsche zum Stehen.

»Schmiel, was is, was rennste so«, fragte er, um seinem Kollegen noch etwas Zeit zur Erholung zu geben.

»Hamse dir ’n Lohn erhöht?«

Schmiel holte tief Luft und sah ihn aufgeregt an. »Ja, jetzt lachste noch übern Sozialismus, aber bald hast’n nich mehr …« Er brach den Satz schnaufend ab.

»Haste wieder ’ne Weltverschwörungstheorie?«, fragte Fritzsche und klopfte sich den Eisenstaub von der Hose. Schmiel atmete immer noch schwer.

»Nee, aber was glaubst du denn, warum die uns heute haben eher gehen lassen, hm?« Er fuhr sich mit seinen dicken Fingern hastig durch die kinnlangen roten Haare, die ihm schräg ins Gesicht fielen, und schob sie ungelenk hinter die Ohren.

Fritzsche mochte Schmiel. Er hatte vor drei Jahren als Lehrling in der Dreherei angefangen, doch dann hatte man ihn in die Schmiede geholt, weil Schmiels Finger nicht geeignet waren für Präzisionsarbeit. Seitdem standen sie beide abwechselnd an der Hebemaschine für die Eisenplatten.

Als er den Neuen zum ersten Mal sah, musste er unweigerlich an einen Plüschbären denken. Schmiel hatte einen kleinen Kopf, wild wachsende rötliche Haare, und seine blauen Augen waren stets in Bewegung. Der flinke Blick stand in deutlichem Kontrast zu seiner Statur, und wenn er erzählt hätte, dass er einmal in seinem Leben eines dieser kugelförmigen Aquarien verschluckt habe, Fritzsche hätte es nicht abwegig gefunden, in Anbetracht der Form von Schmiels Bauch. Er war ein bisschen verrückt, aber sie kamen gut miteinander aus, solange es nicht um das »Ganze an sich« ging, wie Schmiel es immer nannte. Er war einer von denen, die an die große Revolution glaubten, die alles ändern würde. »Der Sozialismus an sich, Karl, das is keine schlechte Sache, aber was die Knallköppe draus gemacht haben, das is Mist.« So begann Schmiel seine endlosen Erörterungen über das Wohl und Wehe des Landes, gefolgt von flammenden Monologen, die sich um den »wahren Kern« der Marx’schen Theorie drehten, und zum Schluss kam er meist zu der Überzeugung, dass sich bald was ändern müsse.

Fritzsche wusste, dass sein Kollege Teil der einen oder anderen Bürgerbewegung war und er unter seiner Arbeitsklamotte immer noch den Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« trug. Und Schmiel wusste, dass Fritzsche es wusste, und beide wussten, dass es dem anderen egal war.

 

Schmiel sah ihn immer noch erwartungsvoll an. »Na, was denkste?«

»Vielleicht, weil wir mit der Produktion vorn liegen, was weiß ich. Du stellst Fragen.«

Fritzsche drehte sich zur Seite, um weiterzugehen, da hielt Schmiel ihn am Arm fest. Seine Pupillen hatten sich verengt, und sein Blick flackerte noch hektischer als sonst.

»Du, jetzt isses soweit. Ich sag’s dir, jetzt geht’s los.«

Er nickte Fritzsche zu wie einem Verbündeten, dem man nicht mehr groß etwas erzählen musste.

Fritzsche zog seinen Arm aus Schmiels Umklammerung.

»Mann, ich bin wirklich knülle, ich geh jetzt nach Hause, und du freu dich doch einfach mal, dass dir der Sozialismus heute frei gegeben hat.«

Er trat einen Schritt nach vorne, wieder hielt Schmiel ihn am Arm zurück. Diesmal war sein Griff fester und ließ keine Widerrede zu. Fritzsche drehte sich erstaunt um, das war nicht Schmiels Art. Seine Augen blitzen.

»Sag mal, nimmste mich auf die Schippe oder weißte wirklich nich, was Sache is?«

»Was soll denn los sein? Die haben uns früher rausgelassen, na und?«

»Mann, da sind welche rüber, und nich nur drei Mann. Die oben haben Schiss, verstehste. Deshalb haben se uns heute frei gegeben. Da sind ’n Haufen abgehaun, mit Frauen und Kindern, über Ungarn. Es heißt, die haben ’nen Zaun eingerissen. Hat dir das etwa noch keiner gesagt?«

 

Nachdenklich trank Fritzsche den letzten Schluck aus der Flasche. Er verstand die Menschen nicht, die nach Veränderung riefen. Man ruft nach Veränderung, aber wenn sie dann da ist, ist man unzufrieden, weil man sich das, was nach der Veränderung kommt, anders vorgestellt hat. Ziellos glitt sein Blick an den Fassaden der Häuser entlang. Er hatte Schmiel nicht geantwortet. Warum auch? Ein Zaun, na und? Was hieß das schon. Wahrscheinlich Idioten, haben gezeltet, zu viel gesoffen und einen Zaun eingerissen. Es klingelte an der Tür. Mehr war das nicht. Nur Blödsinn. Fritzsche stand auf, stellte die Flasche ab, zog die Gardine wieder über das Fenster und beschloss, Klara nichts von Schmiels Spinnerei zu erzählen.

Weiße Wäsche

Sie hatte sich einen Kaffee gemacht, leise, um ihn nicht zu wecken. Dann hatte sie die Vorhänge halb aufgezogen und sich in den kleinen Biedermeiersessel gesetzt, der neben der Spiegelkommode stand. Die ersten Sonnenstrahlen fielen in das Zimmer und legten sich als schwache Lichtstreifen auf die Bettdecke. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, und manchmal beneidete sie ihn um seinen Schlaf – als sei es das Natürlichste von der Welt. Ihr gelang es selten, tief zu fallen, in jene traum- und fensterlosen Räume, jene Dunkelheit, aus der man gestärkt erwachte.

Und trotz der langen Zeit, die inzwischen vergangen war, ertappte sie sich manchmal dabei, wie sie immer noch verwundert war über den Anblick seines schlafenden Gesichts in ihrem Bett, seine dunkelblonden, kinnlangen Haare, seinen Dreitagebart, die Wärme seines Körpers.

Ein Windstoß drückte das Fenster jetzt nach innen, die bodenlange weiße Gardine bauschte sich. Rasch stand Hanna auf und schloss es, dann drehte sie sich um. Matthias bewegte sich kurz, drehte sich vom Rücken auf den Bauch, aber er wachte nicht auf. Sie drehte sich zum Fenster. Es war kalt geworden über Nacht, der Sommer ging langsam seinem Ende entgegen. Sie legte die Arme um ihren Oberkörper, dann lief sie ein paar Schritte am Bett vorbei und zog den dunkelgrünen Pullover zu sich herunter, der über der geöffneten Schranktür hing.

Eigentlich war er viel zu groß, Hanna lächelte, sah kurz zu dem Schlafenden und hielt sich den überstehenden Ärmelsaum an die Nase. Die Wolle roch nach Bier, nach Rauch und nach ihm. Sie wollte die Schranktür zukloppen, doch etwas klemmte zwischen Tür und Rahmen, ein rosafarbenes Stück Stoff. Es hing aus einem alten Pappkarton heraus, der auf dem Boden des Schranks stand. Neugierig zog sie daran, dann hielt sie inne. Einen Moment lang überlegte sie, ob richtig war, was sie tat, und während sie noch darüber nachdachte, zog sie den Rest des Morgenmantels hervor, schließlich hielt sie das Kleidungsstück vor sich.

Es war aus reiner italienischer Seide, tailliert, in einem eleganten Altrosa, und nur der Gürtel war mit einer alten englischen Spitze eingefasst. Hans hatte ihr den Morgenmantel einst geschenkt, und während sie den Stoff damals mit ihren Händen befühlt hatte, immer und immer wieder, hatte er ihr erzählt, wie er ihn bekommen hatte, auf welch abenteuerlichen Wegen. So etwas war nicht einmal im Intershop zu bekommen, das wusste sie, aber Hans kannte Mittel und Wege, immer, und immer hatte er das bekommen, was er wollte. Nachdenklich befühlte sie den Stoff des Mantels, sie hatte ihn immer gerne getragen. Er hatte sie an die Zwanzigerjahre erinnert, an rauschende Feste und glanzvolle Nächte, an Verschwendung und Lust. An Zeiten, in welchen man dem hellen Tag, dem Morgen nach den Ausschweifungen, nicht anders begegnen konnte als in jenem stilvollen Kleidungsstück aus Seide, das einen einhüllte wie ein Kokon, wie ein warmes Versprechen.

Langsam ließ Hanna die Hände sinken, dann lehnte sie sich an das Holz der Schranktür. Die Gardine bewegte sich durch einen Luftzug leicht und gab den Blick auf den Hof frei. Draußen brach der Tag an. Sie hatte den Tisch gedeckt, damals, viel zu früh, obwohl sie wusste, dass es lange dauern könnte, bis sie die »Kontrolle« seiner Person und vor allem seines Gepäcks abgeschlossen hätten. Und als es endlich an der Tür klingelte, war sie aufgesprungen und zur Tür gerannt, verrückt vor Freude, wie ein dummes Kind. Hanna verschränkte die Arme vor der Brust, spürte das weiche Kratzen von Matthias’ Pullover auf ihrer Haut, und obwohl sie immer noch fröstelte, blieb sie am Fenster stehen und blickte auf die Wäschestangen im Hof. Sie kamen zu dritt, einer war noch sehr jung und sah aus, als wäre er eben erst volljährig geworden. »Dürfen wir reinkommen?« Sie war überrascht, aber dann, »Natürlich, bitte«, und ihre Hand hatte in den Flur gezeigt. Sie führte sie in Hans’ Arbeitszimmer. Draußen schien die Sonne, Staub tanzte durchs Zimmer. Sie war ans Fenster gegangen, hatte in den Hof geblickt. So wie jetzt. Das Licht war schön gewesen an diesem Nachmittag, kühl, aber klar. Die Nachbarin hängte gerade Wäsche auf, die Laken zitterten im Wind. Kurz hatte sie geglaubt, der Wind pfeife wieder durch die Ritzen, sie mochte das Geräusch, aber zu hören waren nur das Rascheln von Papier in ihrem Rücken und die Schritte auf dem Parkett. Jemand blieb dicht hinter ihr stehen und schaute über ihre Schulter in den Hof. Sie hörte seine Worte, seine Fragen, aber sie verstand sie nicht. Sie spürte nur seinen Atem in ihrem Nacken. Kurz wurde ihr schwindlig, sie streckte ihr Rückgrat durch und konzentrierte sich auf das flatternde Weiß der Tücher an der Wäschestange, und sie fragte sich, was das Geheimnis dieser strahlend weißen Wäsche war und warum ihr das so selten gelang, obwohl Hans, so jovial und unkonventionell er sich auch immer gab, doch viel Wert legte auf weiße Wäsche. Gelegt hatte.

Sie drehte sich nicht um, aber sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Sie habe nichts gewusst. Gar nichts. Und ihre Finger hatten die Ellbogen umklammert, so dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie stellten ihre Fragen nicht nur einmal, doch irgendwann gaben sie auf. Sie hatte ihnen das Wohnzimmer gezeigt, das Schlaf- und das Badezimmer, die Abstellkammer. Sie rissen Schränke und Schubladen auf, durchsuchten sein Bücherregal. Dann traten sie auf den Balkon und rauchten. Einer machte sich offensichtlich einen Spaß, vielleicht war es aber auch Bestandteil der Durchsuchung. Ruhig, fast routiniert, die Zigarette im Mundwinkel, stülpte er die Blumentöpfe um. Die Pflanzen fielen auf die Holzplanken des Balkons, es flackerte noch einmal – rot, grün, blau – ein letztes Leuchten, bis am Boden jegliche Farbe aus den Blättern und Blüten gewichen war.

Nach drei Stunden fiel die Tür leise hinter ihnen ins Schloss. Sie saß in der Küche, auf dem Tisch lag ein Schreiben, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass ihre Arbeitsstelle in der Bibliothek bis auf weiteres unbesetzt bleibe. Es wurde langsam dunkel draußen, sie dachte, jetzt würde es regnen, aber es regnete nicht. Sie zündete sich eine Zigarette an und ließ sie zwischen ihren Lippen ausgehen, sie dachte, jetzt würde er kommen, aber er kam nicht. Sie hörte auf die Geräusche im Treppenhaus, Türen, die geöffnet wurden und wieder zufielen, Schlüssel, die sich in Schlössern drehten, Väter, die von der Arbeit nach Hause kamen, einmal erklang aus einem Fernseher die Melodie des Sandmanns.

Manchmal hörte sie, wie die Kinder um das Haus rannten, wie sie lachten, wie sie lebten, leichtherzig und selbstvergessen.

Sie stellte sich noch im Konsum an, aber sie ging nicht zum Bäcker, sie wollte die Fragen nicht hören. Sie machte die Hausordnung, wenn sie an der Reihe war, oder ging in den nahegelegenen Park und setzte sich auf eine Bank. Dort saß sie, wie sie in der Küche saß, sie sah die Tage vorbeiziehen, die Räume machten keinen Unterschied mehr. Sie schlief auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer, irgendwo klingelte es, einmal, zweimal, bis auch das verhallte zwischen den herausgezogenen Schubladen und den Büchern, die wie faulendes Laub auf den Teppichen lagen.

Irgendwann war sie aufgestanden und zur Tür gegangen. Das Klingeln hatte nicht mehr aufgehört. Es musste geregnet haben. Seine Klamotten waren triefnass, und sein Gesicht glänzte wie Glas. Sie sah ihn an, als könnte sie ihn nicht einordnen, als müssten sie einander erst noch vorgestellt werden.

»Ich komme seit Tagen vorbei, aber keiner macht mir auf. Was ist denn bei euch los?«

Sie hatte genickt, und dann hatte sie gelächelt, aus einer weiten Ferne.

»Ist alles in Ordnung?«, und wieder hatte sie genickt. »Ist Hans da?«, und sie begann, den Kopf zu schütteln, langsam, nach rechts und links, kleine Bewegungen, ohne Unterlass. Er sah über ihre Schulter, in den Flur, zu der herausgerissenen Garderobe und den bleichen Vierecken, in welchen die Kunstdrucke gehangen hatten. Er senkte den Kopf und registrierte die zerbrochenen Scherben des Spiegels auf den Holzdielen. Er sah an ihr herab, von ihren Haaren über das Nachthemd bis zu ihren nackten Füßen. Dann hob er die Hand und hielt ihr Kinn fest, so dass sie den Kopf nicht mehr bewegen konnte.

Sein Blick war ernst und klar. »Hast du Hunger?«, fragte er.

Sie sah ihm in die Augen, sie nickte.

»Dann mach ich uns jetzt Nudeln«, sagte Matthias und ging an ihr vorbei in die Küche.

 

»Bist du schon lange wach?«

Matthias sah sie an wie ein schlaftrunkenes Kind. Sie hatte nicht gemerkt, dass er aufgewacht war. Sie schüttelte den Kopf. Er gähnte und breitete die Arme aus. »Was’n das?« Dann deutete er mit dem Kopf auf ihre Hand, in der sie den Morgenmantel hielt.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ach, nichts …«

Matthias ließ einen Arm aus dem Bett hängen und befühlte den Stoff. »Für nichts fühlt sich das aber gut an …« Seine Finger spielten mit der Spitze des Gürtels. »Zieh doch mal an …« In seinen Augen blitzte es.

»Nein«. Hastig kniete sie sich vor den Schrank und stopfte den Stoff zurück in den Pappkarton. »Passt nicht mehr …«

Matthias streckte sich auf dem Bett. »Schade.«

Sie stand auf. Seine Hand umfasste ihre Kniekehle. »Kaffee?«, fragte sie und trat einen Schritt zurück. Er nickte, sie drehte sich um, und seine Hand schwebte für einen Moment wie schwerelos in der Luft.

Er stützte seinen Kopf ab und sah ihr hinterher. »Mein Pulli steht dir sowieso besser.«

Aber sie hörte es nicht mehr.

Abschied

Es war eine dieser Nächte, in denen er den Schlaf nicht wollte und der Schlaf ihn nicht wollte, in denen die Geräusche der Stadt mit dem Lärm seiner Gedanken verschwammen. Er lag auf dem Bett und sah zur Decke. Irgendwo im Haus ließ der Luftzug eine Tür mit lautem Knall ins Schloss fallen. Draußen begann es langsam zu dämmern, zwischen den Ritzen der Holzjalousien fiel ein blasses Licht auf den Fußboden und die Kommode. Zwei Betrunkene unterhielten sich vor dem offenen Fenster. Gelegentlich konnte er ein paar Worte auffangen, die keine Sätze ergaben und nichts besagten. Ohne hinzusehen, griff er nach dem Feuerzeug, das auf dem Nachttisch neben dem Bett lag, und zündete sich eine Zigarette an. Die Betrunkenen gingen fort, ihre Stimmen wurden leiser und leiser, bis sie schließlich gar nicht mehr zu hören waren. Ruhig sah er dem Rauch hinterher, wie er im Halbdunkel des Zimmers schwebte und sich zur Deckenlampe hin auflöste.

Er musste an die letzten Tage und Wochen denken. Die Ereignisse hatten sich überschlagen, und es blieb keine Zeit, die Zusammenhänge zu erkennen, die Dinge in ihrer wirklichen Dimension zu sehen.

»Die kommen alle wieder«, hatte er in der Mittagspause zu Wolfgang gesagt, »glaub mir«. Aber der hatte seine halbe Zigarette zwischen den Ziegeln der Mauer ausgedrückt, ihn ungläubig und verärgert angesehen. »Das denkst auch nur du …« Dann war er den langen Flur zurückgegangen. Matthias hatte ihm hinterhergesehen. Er hatte an dessen geraden Gang gedacht, daran, wie alle auf dem Flur selbstverständlich Platz gemacht hatten, wenn Wolfgang kam. Er hatte an die Sicherheit gedacht, mit der Wolfgang durch den Tag und sein Leben gegangen war, um die ihn Matthias manchmal beneidet hatte, an die Kraft, die von ihm ausgegangen war, auch dann, wenn es ungemütlich wurde, wenn besondere Entwürfe vorm Ministerium verteidigt werden mussten, aber all das, hatte er gedacht, während der Rücken seines Brigadeleiters immer kleiner geworden war, war einer großen Müdigkeit gewichen, die langsam von diesem Menschen Besitz ergriffen hatte und seit Wochen nicht mehr weichen wollte.

Kurz nach der Mittagspause hatte Wolfgang dann vor seinem Schreibtisch gestanden, seltsam ruhig. »Bin gleich fertig mit den Zeichnungen«, hatte Matthias erklärt, ohne nach oben zu sehen, aber da hatte Wolfgang ihn schon nach hinten gedrückt, die Entwürfe vom Tisch gefegt, alle, mit einem Wisch, ihn am Hemdkragen gepackt und geschüttelt, wieder und immer wieder: »Krömke, Leist, die Karge und sogar Olbricht. Die kommen alle wieder, ja?« Sein Blick hatte sich in Matthias’ Gesicht verkeilt, als warte er auf etwas, eine Erklärung, irgendetwas, auch als seine Kraft nachließ, die wütenden Bewegungen müder wurden. Die Wut, die Wolfgang umtrieb, galt nicht ihm, das wusste Matthias. Sie speiste sich aus einer Niedergeschlagenheit, derer er versuchte, sich zu entledigen, die ihn jedoch umso heftiger vereinnahmte, je mehr er sich dagegen wehrte. Er kannte den Grund für Wolfgangs inneren Kampf, aber zum ersten Mal seit ihrer Zusammenarbeit konnte er ihn nicht nachvollziehen.

Wolfgang stützte sich auf dem Tisch ab, sein Blick glitt über die leere Arbeitsfläche, über die Tuscheflecken, die geometrischen Abdrücke im Holz, die Entwürfe. Kurz schüttelte er seinen Kopf, als käme er aus einem langen Kampf und könnte die Niederlage noch nicht glauben, dann richtete er sich auf, fuhr sich durch die Haare, versuchte sie zu ordnen, in langsamen, immer gleichen Bewegungen, während er ziellos zwischen den leeren Schreibtischen umherlief. Schließlich blieb er stehen: »Also ich weiß nicht, was du heute noch machst, aber ich«, er sah sich im Büro um, als sähe er alles zum ersten Mal, »ich fahr jetzt mit Marina und den Kindern los und hol mir das Begrüßungsgeld«.

Matthias antwortete nicht, er blickte auf die Zeichnungen, die am Boden lagen. In der Stille war Wolfgangs Atem hörbar, und eine schneidende Aufmerksamkeit füllte den Raum. Matthias wartete, aber dann sah er zu, wie Wolfgang tief Luft holte, wie er sich einen Ruck gab, sich bückte und die Blätter aufhob, jedes einzelne, wie er sie vor ihn auf den Schreibtisch legte, sich darüberbeugte, ihm auf die Schulter klopfte, langsam und erschöpft, und sagte: »Mach’s gut.«

Er hatte gewartet, bis die Motorengeräusche von Wolfgangs Wartburg verklungen waren, bis das Auto hinter der Schranke in die Straße eingebogen war, erst dann hatte er sich wieder an den Entwurf gesetzt. Die Wohnhäuser kennzeichnete er blau, die für die Markthallen und den Konsum vorgesehenen Standorte gelb, die dazwischen liegenden Freiflächen grün, Straßenzüge blieben weiß, Brücken und Plätze markierte er rot. Zum Schluss unterzeichnete er neben der Legende rechts unten, »Planung: Matthias Lenzke«, dann rollte er den Entwurf ein. Im Vorbeigehen klopfte er aus einer alten Routine heraus kurz auf Wolfgangs Schreibtisch und ging über den Hof zur Abteilung »Wohnungsbau«. Der Lichtschalter war kaputt, er lief den langen, dunklen Gang entlang, kurz vor der Kantine blieb er stehen. Auf den Esstischen standen angebrochene Sektflaschen und schmutzige Gläser. Zerrissene Girlanden hingen von den Lampenschirmen, bunte Luftschlangen lagen kreuz und quer über die Tische verteilt, Kuchenreste auf Papptellern standen neben überquellenden Aschenbechern, und an die Tafel, wo normalerweise das Menü für den Tag stand, hatte jemand mit Kreide geschrieben »Wir sind das Volk!«. Matthias lief weiter, bog um die Ecke, »Abnahme Südwest BD3«, und wollte gerade klopfen, aber die Tür stand weit offen. Er durchschritt den leeren Raum, öffnete das Fenster an der Stirnseite und sah in den Hof. Der Parkplatz lag im fahlen Novemberlicht, der Asphalt war an einigen Stellen schon aufgerissen, und auf der wie brach liegenden Fläche waren nur noch wenige Autos zu sehen. Ganz hinten stand die kaputte Schwalbe von Marina, Wolfgangs Frau. Rauchend und lachend hatte Marina manchmal im Büro gestanden, auch an dem Tag, als der Motor des Mopeds verreckte. Sie war klein und mollig, trug mit Vorliebe bunte und enge Oberteile, ihre Haare waren meist eine Nuance zu blond, und Geburtstagskarten unterschrieb sie gerne mit »Dein Räuberliebchen«. Wolfgang hatte seiner Frau auf den Hintern geklopft und gesagt, das Ding müsse man verschrotten. Marina hatte sich mit wogendem Busen zu Wolfgang umgedreht, die Hände in die Hüften gestemmt, ihn mit einem gespielt bösen Blick angesehen und gefragt: »Meinst du jetzt meinen Hintern oder den Flitzer?« Alle hatten gelacht, und Wolfgang hatte seine Frau umarmt, aber Marina hatte sich freigeboxt: »Ja ja, jetzt lacht ihr noch, aber ich sag’s euch, wenn die Mühle wieder flott ist, mach ich damit bis zum Balaton.«

Matthias schloss langsam das Fenster, er nahm die Rolle und legte sie in das mittlere Fach des Regals, »Laufende Projekte«, es lagen schon mehrere Entwürfe dort, »Statik«, »Vermessung«, »Fernwärmeleitungen«, und über alle hatte sich eine feine Schicht Staub gelegt.

 

Er konnte nicht sagen, wie viele Tage und Nächte seitdem vergangen waren. Die Zeit zog sich dahin, aber die Frage war nicht, warum man Abschied nahm, sondern wie oft.

Irgendwo hupte ein Auto. Er griff zur Zigarettenschachtel, aber sie war leer. Wie spät es wohl war? Aus der Küche war nichts zu hören außer dem leisen Summen des Kühlschranks – als hätte sie nicht nur ihren Koffer mitgenommen, sondern auch die Geräusche.

Nach ihrem Gespräch hatte er ihr einen Kaffee gemacht und dann zugesehen, wie sie den kleinen Koffer aus rotem Leder packte, der an den Seiten schon abgewetzt war, wie sie die Blumen goss und schweigend den Kaffee trank. Er hatte nichts mehr gesagt, sich nicht einmal bewegt. Nur sein Blick war ihr gefolgt, als sie aufstand und auf den Stuhl zuging, auf dem schon der Mantel bereitlag. »Is ja nur für’n paar Tage«, hatte sie gesagt, ohne ihn anzusehen, und selbst da hatte er nichts mehr erwidert, hatte nur gewartet, und er wusste noch nicht einmal, auf was.

Von der Straße drangen jetzt laut Kinderstimmen herauf und die Motorgeräusche vorbeifahrender Autos. Matthias drehte den Kopf zum Fenster. Draußen war es Tag geworden. Zeit, die Jalousien hochzuziehen, dachte er und blieb liegen.

Tick, Trick und Track

Sie hatten die Cola noch nicht einmal ausgetrunken, da hatten sie schon wieder in einen Zug steigen müssen, irgendjemand hatte sogar ein Kofferradio dabei, das vor sich hindudelte, und wenig später waren sie angekommen. Sie brachten sie zu einem rechteckigen Kasten, die Mutter, den Bruder, sie und die russische Familie. Das Gelände war abgeriegelt, es gab eine Schranke, nur ihr Container grenzte direkt an die Straße zum Wohngebiet. In einem Garten auf der anderen Straßenseite stand ein Kirschbaum, der sogar noch Früchte trug. Der Container war nicht schön, aber es war alles da, von dem man sich wünschte, dass es da wäre, nach so einer Reise: Betten, Waschbecken, kleine Schränke und ein Tisch. In einer Metallkiste lagen sogar Buntstifte, Hefte zum Ausmalen und diese Comics, um die sie die anderen in ihrer alten Klasse sicherlich beneidet hätten. Sie waren nicht neu, die Seiten hatten Risse und Flecken, aber das war scheißegal, und so hastig, wie Anne nur konnte, schlug sie den ersten Comic auf und war endlich dort, wo doch in Wirklichkeit alle immer hinwollten: Entenhausen.

Und wahrscheinlich war sie gerade mit Daisy und Donald pfeifend durch die Stadt gelaufen, als der Russe abgehauen war, mitten in der Nacht. Vielleicht wollte er saufen gehen, vielleicht musste er pissen, vielleicht wollte er einfach mal was anderes sehen als den Containerhimmel, wie auch immer, aus irgendeinem Grund hatte der Alte einfach die Tür abgeschlossen, die Bude dichtgemacht, so ein- und ausbruchssicher wie Dagobert Duck seinen Geldtresor. Und vielleicht hätten sie es nie gemerkt, wenn ihr kleiner Bruder nicht wenig später aus dem Doppelstockbett gefallen wäre, dieser Tollpatsch, direkt auf den Kopf, dabei war der doch noch so klein und so zart, der Kopf, fast wie im Comic. Tick, Trick und Track. Und so wie die Figuren nie aus den Bilderkästchen abhauen konnten, konnten sie nicht aus dem Containerquadrat, denn die Tür war zu, und vor den Fenstern hing ein dünnes Gitternetz. Und das hatte sie einfach nicht kapiert. Als hätten die im Aufnahmelager Angst, sie könnten heimlich wieder abhauen, aus dem Westen, zurück in den Osten, dabei waren sie doch gerade erst angekommen.

Und während der Mond sein farbloses Licht auf die Zweige des Kirschbaums im Garten gegenüber warf, wurden seine blonden Haare so rot wie Daisy Ducks Schleife, und während er schrie, die Russin heulte und Mutter panisch nach Taschentüchern suchte, hatte sie auf der Kante des Bettes gesessen, ganz still, und sich geschämt, weil sie sich manchmal heimlich gewünscht hatte, er würde die Biege machen, dieser kleine Rattenzahn, wo sie doch immer alles mit ihm teilen musste, aber jetzt hier, in diesem blöden Film, war alles anders, und sie versprach dem lieben Gott, dass sie ihm alle, wirklich alle von diesen bunten, tollen Comics schenken würde, Hauptsache, der kleine Scheißer würde nicht sterben.

Freiheit