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Über den Autor
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Anna Kuschnarowa studierte Ägyptologie, Germanistik und Prähistorische Archäologie in Leipzig, Halle/Saale und Bremen und unterrichtete zehn Jahre an mehreren deutschen Hochschulen. Ihr wissenschaftliches Interesse gilt Gender-Themen. Sie arbeitet als freie Autorin und Fotografin und gründete 2011 die Seschat Fernschule für Ägyptologie. In ihrer Freizeit reist sie so weit weg wie möglich und so oft sie kann. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr bereits die Romane Spielverderber, Schattensommer, Junkgirl und Djihad Paradise.
www.anna-kuschnarowa.de
Impressum
Ebenfalls lieferbar:
»Kinshasa Dreams« im Unterricht – in der Reihe
Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62915-9
Beltz Medien-Service; Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim
Kostenloser Download: www.beltz.de/lehrer
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74484-5)
www.beltz.de
© 2014 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christian Walther
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Cornelia Niere, München, unter
Verwendung eines Fotos von Getty Images
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74501-9
Für den Roman Kinshasa Dreams wurde Anna Kuschnarowa mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis und dem Friedrich-Gerstäcker-Preis ausgezeichnet
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30. Oktober. Von Brazzaville zieht die Hölle auf. Über den Fluss zieht sie auf, die Hölle. Türmt Wolke auf Wolke auf Wolke. Schwarz auf schwarz auf schwarz bis zur Undurchdringlichkeit. Und mitten durch all das Schwarz eine Schlange. Schwefelgelb. Ein Wolkenpython mit giftigem Blick windet sich über den Himmel nach Süden, züngelt in Richtung Kinshasa.
Und Kinshasa, der Moloch, hat den Atem angehalten. Alles, was lebt, hat sich irgendwohin verkrochen, auch die Menschen. Die mit Haus, die sind dorthin, und die ohne, die haben sich irgendwas gesucht. Erstarrt sind sie alle. Vor Angst sind sie erstarrt, denn ein solch schwefeliges Gewölk ist ein Omen, ein großes Omen. Aber kein gutes.
Kinshasa schweigt. Das tut es sonst nie. Kinshasa ist laut, am Tag und in der Nacht ist es laut, ein Moloch eben, aber nun hat sich Stille wie ein riesiges Leichentuch über die Stadt gebreitet, weil keiner mehr wagt zu atmen.
Nur Adanna Longomba atmet. Atmet laut. Atmet schwer. Schwitzt. Stöhnt. Ihr Bauch ist geschwollen, so geschwollen, dass es aussieht, als müsste er jeden Augenblick platzen. Und Adannas Gesicht ist aufgedunsen, in Bächen rinnt ihr der Schweiß über die Wangen und aus ihren Augen starrt die Angst. So nackt wie ihr Leib unter dem Laken ist sie, diese Angst in ihren Augen. Angst vor dem Tod ist das. Seit drei Tagen geht das schon so.
Adanna krümmt sich vor Schmerzen, kann sich gar nicht genug krümmen, denn ihr Bauch ist ihr beim Krümmen im Weg. Sie hechelt, weil sie mal irgendwo gelesen hat, dass das hilft. Ihre Finger krallen sich ins Laken, verkrampfen. Sie spürt es nicht. Da ist ein anderer Schmerz, ein mächtigerer Schmerz, denn tief in ihren Eingeweiden hockt ein Dämon, und der will sie töten. Aber schlimmer noch als die Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Dämon. Wenn ein Dämon sie tötet, dann wird sie auf immer verflucht sein, wird niemals Ruhe finden, wird selbst zum Dämon.
Die Schlange ist näher gekrochen. Ist nah, ganz nah. So nah, dass ihr Kopf plötzlich vor Adannas Fenster pendelt und ihre zu Stäbchen zusammengezogenen Pupillen in Adannas angstgeweitete Augen starren. Adanna weiß, eine schwefelgelbe Wolkenschlange, die in das Zimmer einer Hochschwangeren starrt, ist kein gutes Zeichen.
Adannas Herz rast. Der Dämon in ihr verpasst ihr einen Tritt. Ihr ist, als ob er lacht. Sie und ihren Schmerz auslacht.
In diesem Augenblick öffnet sich die Tür und Masous mächtiger Leib wirft aus dem Türrahmen einen bedrohlichen Schatten in das Zimmer. In der Linken trägt Masou Handtücher, in der Rechten eine Schüssel mit warmem Wasser. Auch sie sieht den Python, sieht, wie er Adanna fixiert, einen Lidschlag lang nur, aber lange genug, um einen Schrei auszustoßen, Handtücher und Schüssel fallen zu lassen, die Hände in die Höhe zu reißen und schreiend und zeternd davonzulaufen.
Wieder tritt der Dämon. Tritt und tritt. Hört nicht auf, ist im Blutrausch. Zerfetzen wird er Adanna, in tausend Stücke wird er sie reißen. Adannas Schrei gellt durch das Haus, gellt über die Häuser der Nachbarschaft hinweg, gellt über Kinshasa, gellt in die Nacht, gellt in das Schwarz, ein unmenschlicher Laut, der das Leichentuch des Schweigens zerfetzt. Ein Blitz zerreißt das Schwarz. Und dann noch einer und noch einer und noch einer. Der ganze Himmel ein gigantisches Stroboskop. Und dann ein Schlag. Lauter als die MGs der marodierenden Milizen. Der Sound steht wieder auf on. Masou flucht, oh, wie sie flucht, das ganze Haus bebt, das Viertel, ganz Kinshasa bebt. Irgendeine fürchterliche Macht grollt Kinshasa und lässt es diese Stadt hören und fühlen.
Masou ist außer sich und schlägt die Tür, die sie vorhin offen gelassen hat, mit solcher Wucht zu, dass die wacklige Klinke zu Boden fällt. Masou lässt sie liegen. Sie will das alles nicht. Aufhören soll das. Solche Hexendinge sollen in ihrem Haus nicht geschehen. Masous Wut trampelt die knarzende Treppe hinunter. Der Féticheur könnte helfen, aber zum Féticheur traut Masou sich nicht. Nicht heute, nicht, wenn die Welt in Schwärze versinkt und ein schwefeliger Wolkenpython über ihrem Haus lauert, um sie alle zu erwürgen und zu verschlingen. Es tut ihr leid, ja, Adanna ist ihre Tochter, aber sie wird dieses Unglück so oder so nicht überleben, und deshalb ist es besser, wenn sie sie einschließt. Vielleicht bleibt der Fluch ja dann, wo er ist, bei Adanna und ihrem Bastard.
Und dann kommt der Sturm auf, aus dem Nichts. Ohne vorankündigende Brisen, ohne Crescendo. Nein, aus dem Nichts. Er holt aus und dann reißt er die Welt aus den Angeln, die Bäume biegen sich, biegen sich immer tiefer, gehen in die Knie, verbeugen sich vor der Sturmmacht, und dann brechen sie, fallen einfach um, bleiben kurz liegen, ehe der Sturm sie aufhebt und über die Stadt schleudert, bis sie krachend irgendwo landen und irgendwen erschlagen. Heute hat er seinen Spaß, der Sturm. Er ist wie ein Kind, das niemand erzogen hat, er faucht durch die Gassen, heult auf vor Freude, wenn er wieder ein Haus abgedeckt hat, wenn er irgendwo Wäsche findet, die jemand auf den Leinen vergessen hat, oder Menschen, die so dumm waren, nicht zu Hause zu bleiben. Dann wirbelt er eben die herum. Ihm ist es egal, er spielt mit allem, was er auf der Straße so findet, wirft alles durcheinander, und wenn er das Interesse daran verloren hat, lässt er es irgendwo fallen, auf einen Menschen, ein Tier, ein Dach. Hauptsache, es richtet möglichst viel Schaden an. Der Sturm hat keinen Respekt. Vor nichts hat er Respekt. Nicht einmal vor dem Wolkenpython.
Der Python lässt ab von Adanna, bäumt sich auf, windet sich bedrohlich, um den Sturm zu erwürgen, hängt seinen Kiefer aus, um den Sturm zu verschlingen. Aber der Sturm hat es nur darauf angelegt. Er zischt zwischen die Kiefer, in den Rachen hinein, wirbelt herum, fährt durch den mächtigen Schlangenleib, wirbelt und wirbelt und aus ist es mit dem Python.
Übrig bleiben nur Schwärze und ein paar gelbe Flecken oben, und unten Kinshasa im Chaos. Noch mehr Chaos als sonst, auch wenn man sich das eigentlich gar nicht vorstellen kann. Der Sturm betrachtet sein Werk und wird müde. Er treibt Wasserwände über die Stadt und dann öffnet die himmlische Hölle ihre Schleusen.
Wer so etwas noch nicht gesehen hat, kann es sich auch nicht vorstellen. Wirklich, Wände aus Wasser. Wie tausend Meter hohe Wasserfälle stürzt das Wasser auf die Stadt und zerteilt den Moloch in winzige Sichtparzellen, die nach hinten grauer und grauer werden und sich im Nichts vor der nächsten Regenwand auflösen.
Aber auch ein kleines Unglück, nur ein Familienunglück, ein Unglück, das in erster Linie Adanna und Masou und, ja, irgendwie auch mich betrifft, gibt die Hölle frei. Adanna schreit und jammert und presst und Masou lässt sich nicht mehr blicken. Und irgendwann hat sie es geschafft, Adanna, ein letzter Schrei noch von ihr und plötzlich schreie auch ich und Adanna fällt in Ohnmacht.
Der neue Mensch, der Dämon, der Hexensohn, also, um es kurz zu sagen, ich, schreit die ganze Nacht. Über das Grauen dieser Nacht schreie ich hinweg, dass es die Nachbarschaft trotz des Höllendonners hört und sich, sobald der Regen etwas nachgelassen hat, ängstlich vor unserem Haus herumdrückt. Da tobt Masou und schreit sie an, ob sie denn kein eigenes Unglück hätten und ob es denn eine Art sei, seine Nase ständig in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Nicht dass Masou es jemals anders gehandhabt hätte und nicht die Erste gewesen wäre, die davon erfuhr, wenn jemand verhext war oder gestorben ist. Aber nun lag die Sache anders, denn diesmal hat das Unglück sie getroffen, und das geht nun wirklich niemanden etwas an.
Die Leute sehen das anders. Um die zehn Millionen Einwohner hat Kinshasa, so genau weiß das keiner, aber trotzdem ist es ein Dorf, und in einem Dorf geht nun einmal jeden alles an. Daran kann auch Masou nichts ändern. Und das, das ärgert sie am allermeisten.
Weil sich die Leute nicht verscheuchen lassen, verrammelt sie die Tür, ganz fest, und dann zieht sie die Fensterläden noch dichter ans Fenster und schließt die Vorhänge. Aber einen kleinen Spalt lässt sie offen und schleudert heimlich böse Blicke gegen dieses Nachbarpack. Aber dieses, da es nun augenscheinlich nichts mehr zu sehen gibt, zieht sich recht schnell wieder in seine Häuser zurück. Es ist Regenzeit und da sind Regenwände ganz normal, und auch häufige Gewitter sind normal und Sturm ist auch nichts Außergewöhnliches. Aber ein solch heftiges Unwetter wie dieses ist nicht normal. Wenn es nach zwanzig Minuten wieder aufhören würde, aber dass es die ganze Nacht lang geht, das ist kein gutes Zeichen, und bei schlechten Zeichen ist es besser, wenn man zu Hause ist.
Adanna bewegt sich nicht mehr. Keiner weiß, ob sie noch lebt. Den Abmarsch der Nachbarschaft verfolgt Masou durch ihren Vorhangspalt mit Genugtuung, aber kaum sind sie weg, folgt der Wut wieder die Angst. Noch immer heult der Dämon über den Lärm des Unwetters hinweg. Eine Gänsehaut kriecht Masou über den Rücken und die Härchen auf ihren Armen sträuben sich.
›Dass ein Säugling überhaupt so laut schreien kann und so lange, das beweist, dass es gar kein richtiger Säugling ist, sondern ein Dämon. Aber es ist sowieso ein Hexenkind, denn da war ja auch dieser Schlangenkopf im Fenster gewesen und das nicht enden wollende Unwetter und überhaupt …‹, denkt sie. Und ›eigentlich müsste man den Féticheur holen, damit er dem allen ein Ende bereitet‹. Aber im Moment weiß sie nicht, was schlimmer ist, das dämonische Unwetter oder das Hexenkind. Schließlich lässt sie sich auf das Sofa fallen und starrt vor sich hin.
Und ich schreie und schreie und bin voller Empörung, weil ich Hunger habe und es kalt ist und keiner von mir Notiz zu nehmen scheint und ich nicht so leicht aufgebe. Und Adanna, ma mère, Maman, meine Mutter, liegt bleich und reglos neben mir.
Am Morgen, ich schreie noch immer, aber nicht mehr so laut, wird auf einmal die Klinke wieder in die Tür gesteckt und gedrückt und Grandpère ist von einer Geschäftsreise zurück und steht im Zimmer.
Als er Adanna und mich so sieht, wird er bleich, dann rot, dann, was er sonst nie tut, schreit er, schreit nach Masou, kommen soll sie, aber fix, und Masou, die an einen schreienden Ehemann nicht gewöhnt ist, erschrickt, und auch sie tut, was sie sonst nie tut, und macht, was Grandpère sagt, und kommt, aber ehe sie eintritt, bekreuzigt sie sich.
»Alte Hexe, was hast du getan? Lässt deine eigene Tochter verbluten und um deinen Enkel kümmerst du dich nicht?! Bist du noch recht bei Sinnen, Alte?« Grandpère schüttelt zornig seinen Kopf und droht ihr mit seinem Spazierstock, den er nie aus der Hand gibt, obwohl er ihn damals noch nicht gebraucht hätte, er zieht seinen Dolch, den er auch immer bei sich trägt, zerschneidet die Nabelschnur und wickelt mich in eine Tischdecke, die er hastig von der Kommode gerissen hat, während Porzellandinge klirrend auf dem Boden zerschellen. Aber er pfeift auf das Porzellan, auch wenn es das gute belgische von seinem Großvater ist. Er nimmt mich in die Arme, wiegt mich hin und her, und mein Geschrei verebbt nicht, aber es wird leiser. Er geht einen Schritt auf Masou zu, aber sie weicht vor ihm zurück. Nicht wegen ihm, oh nein, vor Grandpère hat sie keine Angst, aber vor mir.
Sie faucht zurück: »Enkel! Enkel??? Ein Hexenkind ist das! Ein Dämon! Die ganze Nachbarschaft hat der Bastard zusammengeschrien, und kurz bevor die Hölle ihn ausgespien hat, hat der Himmel einen Python durchs Fenster geschickt und Adanna mit Blicken getötet. Ich hätte längst den Féticheur geholt, damit er den Dämon beseitigt, aber er«, sie deutet auf mich, »ist so trickreich und hat ein Inferno am Himmel entfacht, dass ich das Haus nicht verlassen konnte.«
Grandpères Augen sind nur noch Schlitze. Seine Hände zittern. Nicht aus Angst. Es ist die Wut und die ist ihm wie ein Stromschlag in die Glieder gefahren und er würde Grandmère jetzt gerne erwürgen. Und zwar mit den eigenen Händen.
»Du Giftschlange, du Krokodil von einer Frau, du wolltest deinen eigenen Enkel sterben lassen …!«
In diesem Augenblick zuckt Adannas rechtes Augenlid. Beide haben es gesehen. Masou erschrickt. Es ist so eine Art Erschrecken vor Freude. Sie macht einen riesigen Bogen um Grandpère, als hätte er eine Handgranate in den Händen. Dann kniet sie neben ihrer Tochter nieder.
»Jean-Luc, Jean-Luc. So schau doch, Jean-Luc, sie lebt! Adanna lebt!« Masou lächelt. Ihre Tochter lebt. Stark ist sie, ihre Tochter. Stärker als der Dämon.
Grandpère stürzt aus der Tür. Mich gibt er nicht aus der Hand. Ein Hexenkind sollte man auch nicht aus der Hand geben, wenn man selbst nicht an Hexen glaubt, sonst wird es von denen, die an Hexen glauben, schneller beseitigt, als man blinzeln kann.
Er stürzt also aus der Tür und kommt kurz darauf mit dem Arztnachbarn im Schlafanzug und der nachtbehemdeten Nia, der Mutterschwester von nebenan, zurück.
Inzwischen ist das Unwetter weitergezogen, aber die Straßen ähneln jetzt mehr dem Kongofluss als etwas, auf dem man mit Autos vorwärts kommt.
»Sie braucht Blut«, befindet der Arzt nach einer kurzen Untersuchung. »Und zwar schleunigst.«
»Du nimmst Jengo«, sagt Grandpère und drückt mich Tante Nia in die Arme und damit war ich schon so gut wie getauft.
»Und wehe, wenn ein Féticheur auch nur seinen kleinen Zeh über meine Schwelle setzt, dann schneide ich ihm eigenhändig die Nase ab«, sagt er zu seiner Frau und wedelt kurz mit seinem Dolch vor ihrem Gesicht herum. Dann wird Maman von Grandpère und dem Arzt gepackt und in Jean-Lucs verbeulten Toyota verfrachtet.
Ungefähr tausend Schlaglöcher und mindestens zwei Dutzend überflutete Straßen später bilden wir dann einen kleinen Auflauf im CMK, dem Centre Médical de Kinshasa, dem Krankenhaus, Grandpère, Maman, der Arzt, der irgendwelche Zettel zur Überweisung ausfüllen muss, Tante Nia und ich, und es fällt gar nicht auf, dass wir einen kleinen Auflauf bilden, weil ohnehin mit jedem Kongolesen, wenn er sich verletzt hat, die halbe Familie mit ins Krankenhaus stürmt. Die Menschen drängen sich in dichten Trauben schon vor dem Eingang und es ist schier kein Vorankommen. Der Sturm scheint halb Kinshasa ins CMK geweht zu haben, mit Knochenbrüchen und Kopfverletzungen und jeder Menge Verwandtschaft.
Maman hat viel Blut verloren und ist ganz bleich. Hätte Grandpère sie auch nur eine halbe Stunde später gefunden, wäre sie tot gewesen, sagt der Krankenhausarzt. Aber zum Glück ist sie erst siebzehn und offenbar ein genauso zäher Knochen wie Grandmère und nun wird Blut aus dem Arm ihres Vaters in Maman umgeleitet, und auch auf mich wird endlich ein Arztblick geworfen. Ich ernte Erstaunen, ich bin geschwächt, wer wäre das nicht nach stundenlangem Dauergeschrei und einem unterkühlten Empfang in der Welt der Menschen, aber den Umständen entsprechend bei bester Gesundheit. Und endlich, endlich, bevor ich das erste Mal in meinem Leben einschlafe, bekomme ich etwas zu trinken.
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1

Ungefähr so muss das alles gewesen sein, ich kann mich zwar nicht erinnern, obwohl ich dabei war, aber Grandpère und Grandmère haben so viel von diesem Glücks-Unglückstag erzählt, und den Rest kann ich mir nur zu gut vorstellen, sodass ich das alles ganz klar vor mir sehe. Ich brauche nur die Augen zu schließen und manchmal träume ich sogar davon. Aber jetzt ist ein verdammt schlechter Zeitpunkt zum Träumen, denn vor mir liegt der Kampf meines Lebens. Das habe ich zwar schon oft gedacht, aber jetzt ist er wirklich da.
Und jetzt steht der Bana Bandoki, das enfant sorcier, das Hexenkind, also ich – Jengo Longomba –, hier.
Jengo Longomba – das ist mein richtiger Name. Und in jedem Land habe ich auch noch einen falschen. Einen, den ich mir angehängt habe, wie man an Dinge Etiketten hängt, um sie anzupreisen, Erwartungen zu wecken oder zu befriedigen. Oder den Leuten auch nur irgendetwas vorzugaukeln. Eine Nationalität. Einen Glauben. Am besten das, was sie hören wollen.
Jengo, der Vielnamige, der Etikettenschwindler. Geboren am 30. Oktober, Jahrzehnte später, aber doch am Tag des Kampfes, dem Tag des Sieges, dem Tag, als David Goliath besiegte, dem Tag, als Muhammad Ali sich seinen Titel zurückeroberte. Jengo Longomba. Kinois. Kongolese. Illegaler. Boxer. Ziel: Diesen Kampf gewinnen. Bleiben. Ankommen. Existieren zu dürfen, meinen echten Namen zu tragen. Staatsbürger zu werden. Irgendwann. Ein normales Leben. Endlich.
Der Kampf. Zwei Stunden noch bis dahin. Und dann die paar Minuten, in denen es um alles geht. In denen es darum geht zu siegen, am besten durch K.o. Darum, ob die Odyssee nun ein Ende hat. Darum, wieder zu wissen, wer ich wirklich bin. Und allein diese beiden Fäuste und mein Kopf werden darüber entscheiden. Und die Kampfrichter. Wenn ich nicht durch K.o. siege, werden sie entscheiden über ein technisches K.o. oder einen Sieg nach Punkten. Und wenn ich nicht gut bin, dann werden sie gegen mich entscheiden. Und dann bleibe ich das Irrlicht, das ich jetzt bin, das sich nur dort aufhält, wo es nicht gefunden wird. Heute hier. Morgen da. Im Zickzack auf der Flucht vor dem Scheitern.
Mein Herz schlägt mich. Schlägt mich zu schnell. Viel zu schnell für den Ruhezustand. Hundertachtzig Mal in der Minute schlägt es mich. Zu kurz, zu hart, zu oft. Ich schließe die Augen. Alles dreht sich. Ich zwinge mich, ruhiger zu atmen.
Muhammad Ali war bestimmt nicht so aufgeregt. Vor keinem Kampf. Nicht einmal vor dem »Rumble in the Jungle«. Da hat er der versammelten Presse verkündet: »Noch vor Tagesanbruch werde ich der Meister sein.«
Er hatte sie nicht, diese jämmerliche Scheißangst, die mich gerade befällt. Ich weiß nicht, wie oft ich dem Tod schon von der Schippe gesprungen bin, aber eine solche Angst hatte ich noch nie. Gerade fühle ich mich alt, fühle mich zermürbt. Vorzeitig gealtert. Habe zu schnell gelebt und zu viel gesehen. Habe alles verloren, was einmal wichtig war für mich. Nur das Boxen, das habe ich wiedergefunden, und es ist alles, was ich noch habe. Ich bin vierundzwanzig und fühle mich wie hundert. Eine unglaubliche Müdigkeit fließt von meinem Kopf in all meine Glieder. Ich spüre, wie die Spannung aus meinen Fäusten weicht, wie die Finger schlaff werden, wie sie kalt und feucht an der Handfläche hängen. Voller Ekel bewege ich sie. Überhaupt bin ich gerade voller Ekel. Auch der Kampf ekelt mich. Ein Kampf sollte nicht so wichtig sein. Von wegen Sport und Spiel. Ein beschissenes Spiel ist das. Ein verdammt ernstes Spiel ist es. Wenn ich mich nicht zusammenreiße, werde ich in drei Stunden ein Wrack sein. Alles wird schmerzen. Mindestens. Vielleicht werde ich mir die Nase brechen oder das Jochbein oder das Schlüsselbein. Wenn ich Pech habe, dann werde ich innere Verletzungen haben. Manchmal stirbt eben einer. Nicht oft. Aber manchmal eben doch. Und es wird an mir liegen. Ganz allein an mir. Wenn ich nicht sterbe, aber verliere, dann werde ich ein Mensch sein, der nichts mehr zu verlieren haben wird. Und dann?
Meine Finger knacken, als ich sie dazu zwinge, eine Faust zu machen.
Wenn ich aber Glück habe und mein Körper mir wieder gehorchen wird, dann wird mein Gegner alles abbekommen. Alles. Vor allem die letzten acht Jahre wird er abbekommen. All den Dreck, den ich gefressen habe, wird er durch meine Fäuste schlucken müssen. All meine Wut. Meinen Hass. Meine Verzweiflung. Und darum wird er verdammt noch mal nicht zu beneiden sein.
Und irgendwie ekelt mich auch das.
Ich blicke auf meine Hände.
»Ein Boxer hat nur eine einzige Waffe: seine Fäuste. Wenn sie ihn im Stich lassen, ist er verloren«, hat Ali gesagt. Er hat aber auch gesagt: »In der Garderobe tanze ich ganz locker und sehe in den Spiegel. Ich verspüre den Nervenkitzel, der sich von allein einstellt: Was immer jetzt auch geschehen mag, es wird auf jeden Fall mein Leben verändern.« Und: »Alles, was ich mir im Leben wünsche, steht heute Abend auf dem Spiel.«
Das hat er auch gesagt. Und da ist doch auch so was. So ein kleiner Nadelstich, eine Punktierung im Panzer der Siegesgewissheit. So ein kleiner Zweifel, so eine winzige Verunsicherung. Mon dieu! Le plus grand hatte Zweifel! An sich. An seinem Gegner. Am Ausgang des Kampfes. Und ja, man sollte sich nie zu sicher sein. Kann ja sein, dass man einen super Kampf kämpft und dann eine winzige Konzentrationsstörung, Unaufmerksamkeit, Ablenkung, für den Bruchteil einer Sekunde die Deckung fallen lassen und zack. Suckerpunch. Zwischen Champ und Volltrottel liegt manchmal nur eine Armlänge. Oder eine halbe.
Seltsam. Dieser winzige Zweifel des plus grand macht mir irgendwie Mut. Nur weil man kämpft, hat man eben nicht gleich die Garantie für den Sieg mitgebucht. »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren«, sagen die Deutschen gerne. Und irgendwie ist das putzig, wenn ein Deutscher das sagt. Jedenfalls habe ich nur wenige Deutsche erlebt, die ihre Rechte mit besonderem Enthusiasmus verteidigen. Aber wie auch immer. »Wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Daran ist nicht zu rütteln. Und selbst wenn man eine auf die Fresse kriegt, dann hat man es wenigstens versucht.
In diesem Augenblick taucht meine Entourage auf dem Parkplatz vor der Halle auf. So weit ist es schon. Ich habe eine eigene Entourage aus Trainer, Manager, Promoter, Beratern, Strategen. Und zusammen sind wir eine Symbiose. Völlig egal, ob man sich nun mag oder nicht. Ohne den anderen ist man nichts. Rein gar nichts. Am wenigsten aber ist der Boxer. Die Entourage kann nicht boxen, hat aber Kohle. Und noch wichtiger – Kontakte. Sie zieht die Fäden im Hintergrund. Und der Boxer, das ist die Projektionsfläche für die Fans, der ferngesteuerte Star, der Typ, der seinen Arsch hinhält, damit die anderen ihren Porsche fahren, auf ihre Rolex starren und ihre Frauen mit Brillis dekorieren können.
Die Jungs haben einen ganzen Haufen Kohle in mich investiert. Und heute ist Zahltag. Wenn ich heute den Loser raushängen lasse, dann lassen sie mich fallen wie eine entsicherte Handgranate.
»Alles klar, Iron Joe?«, fragt Fjodor und gibt mir einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. Ich nicke. Fjodor, den wir nur Fedja nennen, hat es geschafft. In der Ukraine geboren, ist er hier angekommen. Deutscher Pass, fett im Geschäft. Fedja ist der Trainer. Und er hat sie fast alle trainiert. Fast alle, die in den letzten zehn Jahren groß geworden sind auf den Brettern. Und Fedja ist es zu gönnen. Fedja ist so ein bisschen wie ein Vater für mich.
»Wir zählen auf dich, Joe.« Huerdler, der Promoter, eine fette Zigarre im Mundwinkel, boxt mich in die Seite.
»Klar, Mann«, sage ich, und Wut wallt in mir auf. Huerdler, den kleinen Scheißer, konnte ich noch nie ab. Ein Wunder, dass er noch Pupillen in den Augen hat und keine Dollarzeichen. Ein gieriges kleines Frettchen, das peinlich immer den Obermacker markieren muss. Wenn heute etwas schiefgeht, dann ist er der Erste, der sich zurückzieht. Das ist mal so sicher wie das Amen in der Kirche. Ja, auch vor meiner Entourage ekle ich mich gerade. Aber ohne kannst du es echt knicken.
»Enttäusch uns nicht, Iron Joe! Du weißt, es steht viel auf dem Spiel heute«, ruft Kupka, der Manager.
›Mehr als du denkst, Arschloch!‹, denke ich.
»Wir sehn uns dann gleich beim Fight«, fügt er noch hinzu, ehe sich die ganze Bagage außer Fedja wieder in Bewegung setzt und wahrscheinlich noch sonst was für Geschäfte abschließt.
›Ich seh dich bestimmt nicht‹, denke ich. Wenn ich kämpfe, dann sehe ich nichts außer meinem Gegner. Und lieber dem Gegner auf die Handschuhe starren als auf Kupkas Hackfresse.
Als die anderen weg sind, gehe ich mit Fedja in die Garderobe. Aufwärmtraining. Seilspringen. Das Stahlseil klickt auf den Hallenboden. Eins, klick, zwei, klick, drei …
Ich spüre, wie mein Kampfgeist zurückkehrt. Gut, dass ein Großteil meines Teams solche Whacks sind. Diese erneute Erkenntnis hat mich total reizbar gemacht. Und irgendwie gibt mir das Kraft.
Zweihundertdreiundvierzig, klick, zweihundertvierundvierzig, klick … Ich bin im Flow. Die übliche Seilspringtrance. Tausendirgendwas, klick. Gedankensturm. Acht lange Jahre von Kinshasa bis zu diesem Kampf. Meine Gedanken irren durch meine Geschichte. Presence off. Past on.

2

Das Erste, woran ich mich wirklich erinnere, ist ein Streit zwischen Adanna und Masou. Ausgerechnet. Ich muss fünf gewesen sein und es ging um Diallo, mon père, meinen Vater.
Maman heulte und Grandmère hatte die Hände in die Hüfte gestemmt und spielte sich mächtig auf.
»Nun heul nicht, dummes Huhn. Er wird nicht mehr kommen. Was hast du auch erwartet?! Keine Bantu, die noch ein Fünkchen Verstand hat, lässt sich von einem Wolof schwängern. Und schon gar nicht von so einem muslimischen Filou wie Diallo.«
Maman vergrub ihren Kopf zwischen den Händen.
»Aber … aber ich liebe ihn!«, schluchzte sie zwischen ihren Fingern hervor. »Und – er, er ist so schön«, fügte sie noch an.
»Tsss … schön! Ein Nicht-Bantu kann gar nicht so schön sein. Du warst schön. Jeden Bantu-Mann hättest du haben können. Jeden. Und Liebe«, fast spuckte sie es aus, »Liebe!!! Wenn ich das schon höre! Liebe ist keine Grundlage für eine Ehe. Liebe vergeht. Dein Vater und ich haben auch nicht aus Liebe geheiratet. Er war aus wohlhabendem Haus. Ich war aus wohlhabendem Haus. Perfekt. Und bis heute sind wir zusammen. Man gewöhnt sich schon aneinander.« Und nach einer kurzen Pause: »Und hat es euch geschadet?«
Maman schwieg.
»Oder wärst du lieber in den Slums groß geworden oder auf dem Land?« Grandmère ließ nicht locker.
Als Maman weiter schwieg, schwieg Grandmère auch. Voller Verbitterung schwieg sie. Eine Schande war das. Ein Wolof, kein Bantu. Ein Senegalese, kein Kongolese. Ein Moslem, kein Christ. Zustände waren das!
In diesem Augenblick erspähte sie meine nackten Füße, die unter dem Vorhang hervorschauten, hinter dem ich mich versteckt hatte. Und da schoss sie auch schon vom Sofa empor wie eine Hyäne und stürzte sich auf mich. Ich zitterte, war wie hypnotisiert vor Angst und rührte mich nicht vom Fleck. Grandmères massige Gestalt verdunkelte den Schein der nackten Glühbirne und warf einen riesigen Schatten auf mich. Genau in diesem Augenblick zersprang die Glühlampe in tausend Scherben, von denen ein Teil auf Grandmerès angegrauten Löckchen landete.
»Da! Da siehst du, was das Hexenkind wieder angerichtet hat«, kreischte sie erbost zu Maman und deutete an die Decke, und schon hatte sie mich an beiden Ohren gepackt und hinter dem Vorhang hervorgezogen. Und ich dachte wieder einmal, dass wahrscheinlich eher Grandmère verhext war als ich und sie das mit der Glühbirne absichtlich gemacht hatte, um mich zu verleumden. Und ich schrie. Verdammt, es tat ganz schön weh, wenn man erst fünf war und an beiden Ohren durch das ganze Zimmer gezerrt wurde.
Meine schöne Mutter sprang auf und wollte sich zwischen uns werfen, aber Grandmère war stärker.
»Und du dumme Tochter verteidigst deinen Hexensohn auch noch, dabei hätte dich der kleine Dämon fast umgebracht damals bei seiner Geburt. Das kommt davon, wenn man sich mit einem nichtsnutzigen Wolof einlässt. Eigentlich müsste man deinen Sohn … Mit jedem Jahr wird er mächtiger …«
Der Tod griff mir mit seinen kalten Knochenfingern mitten ins Herz, und dann war da nur noch ein Eisklumpen in mir, der nicht mehr zu schlagen wagte, weil er sonst sofort in tausend Stücke zersprungen wäre. ›Eigentlich müsste man deinen Sohn …‹ Ich weiß genau, was sie sagen wollte. ›Aussetzen‹, wollte sie sagen, oder ›töten‹. Aussetzen, weil man das mit Hexenkindern in Kinshasa so machte. Und wer ausgesetzt worden war, war Freiwild. Jeder, wirklich jeder, durfte ein Straßenkind schlagen. Sogar totschlagen. Mit meinen eigenen Augen habe ich das schon gesehen. Was mit einem Hexenkind geschieht, kümmert keinen. Die einen schauen weg und die anderen feuern die Täter auch noch an.
Grandmère verpasste mir einen Stoß, sodass ich stolperte und auf dem Boden aufschlug. Maman hob mich auf und warf ihrer Mutter einen bösen Blick zu. Ich umklammerte Mamans Hals und mein Herz fing wieder an zu pochen. Aber Maman löste sich schnell aus meiner Umklammerung und stellte mich zurück auf den Boden. Sie hielt mich an der Hand, aber so, dass ich ihr nicht zu nahe kam. Ich blickte zu ihr hoch, aber sie sah in eine andere Richtung.
Durch das Spektakel waren nun auch meine Geschwister erwacht. Amali, die zwei Jahre nach mir gekommen war und die alle liebten. Die Zwillinge, Patrice und Etienne, die erst anderthalb waren und die als großes Glück betrachtet wurden, weil Zwillinge eben ein gutes Omen waren. Eine Art Schicksalsausgleich für das Unglück, das Maman und Masou durch mich zugestoßen war. Und Bébé, die gerade mal zwei Monate war, und die eigentlich Daya hieß, die wir aber alle nur Bébé, das Baby, nannten und die Diallo, mein Vater, noch gar nie gesehen hatte.
Amali hatte den Zeigefinger im Mundwinkel stecken und beobachtete mit großen Augen das Geschehen. Dann stellte sie sich neben mich und legte ihre Hand in meine. Bébé und die Zwillinge waren verstört und fingen an zu weinen, und Maman löste ihre Hand von meiner und versuchte, die Kleinen zu beruhigen.
»Siehst du, nichts als Unruhe bringt das Balg in die Familie.« Grandmère hatte die Arme vor der Brust verschränkt und dachte gar nicht daran, ihrer Tochter zu helfen.
Maman ignorierte Grandmère und kümmerte sich um die Kleinen, die aber immer lauter und lauter schrien. Maman sagte irgendwas wie »Chouchou«, was sie immer sagte, wenn sich die Kinder nicht mehr beruhigen wollten. Und das sagte sie immer wieder und wieder und wurde dabei immer lauter und lauter, bis sie es fast schrie. »Chouchou!« Und es klang wie ein Befehl. Aber auf einmal merkte sie, wie sehr sie schrie, und das zweite »chou« blieb ihr im Hals stecken. Sie hielt kurz inne, die Zwillinge plärrten wie am Spieß und Bébé schluchzte zum Gotterbarmen, und dann glitt Maman langsam wie in Zeitlupe auf den Boden und heulte und heulte und konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
Grandmère beobachtete das alles mit der Reglosigkeit eines Krokodils. ›Ich habe es dir ja gesagt‹ war in ihre Züge gemeißelt, aber sagen tat sie es ausnahmsweise nicht. Es hätte in dem familiären Tumult ohnehin niemand gehört.
Ich stand am Rand der Familienwelt. Weg. So weit weg. Das Familienungeheuer, das an all dem schuld war, das war ich. Verflucht seit dem Tag meiner Geburt. Grandmère ließ daran keinen Zweifel. Unglaublich, wie allein man sich manchmal in einer Großfamilie fühlen konnte. Und ich wollte das alles nicht. Ich wollte nicht, dass Masou immer über meinen Vater herzog. Und ich wollte nicht verhext und daran schuld sein, dass Maman unglücklich war. Und dass die Kleinen schrien, das wollte ich auch nicht. Und auf einmal stand mir das Wasser in den Augen, und ich machte die Augen ganz groß, damit die Tränen in den Augen blieben. Ich musste weg. Eines Tages musste ich von hier weg. Ganz weit weg. Und da tropften sie doch – die Tränen. Wenn ich weg wäre, dann wäre meine Familie vielleicht eines Tages glücklich. Ohne mich.
Plötzlich bemerkte ich, dass Amali mich ansah. Sie zog die Ärmel ihres Sweatshirts ganz weit über ihre Finger und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich versuchte so was wie ein schiefes Grinsen. Keine Ahnung, ob mir das gelungen ist, und ich hatte auch überhaupt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn draußen waren Motorengeräusche zu hören. Nein, nicht irgendwelche Motorengeräusche. So klang in ganz Kinshasa nur ein Motor. Ich rannte zum Fenster. Und tatsächlich, da war er, der nagelneue Jeep. Und Papou. Ich weiß nicht, warum, aber wir haben meinen Vater nie ›Papa‹, sondern immer nur ›Papou‹ genannt. Papou sprang soeben höchstpersönlich aus dem Wagen. Über die Schulter hatte er sich einen riesigen Seesack geworfen. Papou war tatsächlich ein sehr schöner Mann. Er stiefelte aus meinem Sichtfeld und ich hörte unten die Tür klappen.
»Papou. Es ist Papou!«, rief ich und rannte nach unten. Amali hinterher. Als er mich sah, ließ Papou seinen Seesack fallen und warf mich lachend über seine Schulter.
»Jengo, le grand!« Er wirbelte herum, erwischte Amali und warf sie sich über die andere Schulter. »Amali!«
So bepackt, sprintete er die Treppe nach oben, als wögen wir nichts, rein gar nichts, und als er Maman sah, ließ er uns über seinen Rücken aufs Sofa gleiten und zog Maman an sich, die noch immer auf dem Fußboden kauerte und ihn ungläubig anstarrte. Auch sie wirbelte er herum und Mamans Augen fingen an zu leuchten wie Sonnen am Beginn der Welt. Meine Eltern küssten sich, vor den Augen von Grandmère küssten sie sich und pressten ihre Leiber aneinander und sahen überhaupt so aus, als würden sie am liebsten gleich im Schlafzimmer verschwinden wollen, während die Zwillinge um sie herumwuselten. Grandmère hatte die Brauen ganz nach oben gezogen und war die pure Abscheu. Schließlich drehte sie sich um und knallte die Tür hinter sich zu, während Amali und ich einen frohen Kriegstanz auf dem Sofa veranstalteten.
Irgendwann rief Maman: »Diallo, chéri! Du hast Bébé noch gar nicht gesehen!«
»Nein, Amour. Zeig her, den kleinen Schatz!«
Maman nahm Bébé, die inzwischen eingeschlafen war, vorsichtig aus dem Körbchen und legte sie Papou in die Hände. Und in Papous riesigen Pranken sah sie noch winziger aus als sonst. Er betrachtete sie lange und hatte dabei feuchte Augen.
»Oh, mon amour, sie ist genauso hübsch wie du«, sagte er leise zu Maman. Und seine Stimme klang ganz rau dabei. So klang er immer, wenn er gerührt war. Sanft drückte er Bébé einen Kuss auf die Stirn, ehe er sie zurück in ihr Körbchen legte.
Maman hatte sich an Papou geschmiegt und er hielt fest ihre Hüfte umfasst. Papou war riesig. Fast zwei Meter war er. Und lustig. Papou hatte ganz viele kleine Lachfältchen um die Augen.
»Geschenke?« Papou zwinkerte uns zu.
»Oh ja! Geschenke! Geschenke!«, riefen Amali und ich und klammerten uns an ihm fest.
»Mooooment! Ihr müsst jetzt erst mal hierbleiben. Sonst ist es nämlich keine Überraschung«, sagte er und befreite sich aus unserer Umklammerung. Dann verschwand er und wir hörten ihn am Jeep herumwerkeln. Natürlich konnten wir nicht warten, obwohl Maman uns zurückpfeifen wollte. Zumindest auf der Treppe mussten wir stehen und waren total im Weg, als Papou mit einem riesigen Ding keuchend und schwitzend die Treppe hochkam.
»Was habe ich euch denn gesagt?«, sagte er und schob uns die Treppe hoch. »Zuerst ist mal eure Mutter dran.«
Maman war auch neugierig zur Treppe geeilt. Und als Papou ins Zimmer kam, konnten wir auch sehen, womit er sich da abgeschleppt hatte. Ein riesiger amerikanischer Kühlschrank. Wow.
»Voilà. Mit Eiswürfelmaschine.« Er grinste über beide Ohren.
Maman konnte es gar nicht fassen. Ungläubig strich sie immer wieder mit den Handflächen über den silbernen Kühlschrank.
Für Grandpère, der noch unterwegs war, hatte Papou einen neuen DVD-Player mitgebracht. Und dann waren wir dran, denn Papou holte den großen Seesack. Einen echten Fußballweltmeisterschaftsfußball aus Leder für mich, eine riesige Plüschkatze für Amali, wasserdichte Plastikbilderbücher mit kleinen Lämpchen für die Zwillinge und eine ganze Schnullersammlung für Bébé. Und noch jede Menge anderer Sachen. Besser als Weihnachten war das.
Gerade fühlte ich mich überhaupt nicht mehr wie ein Verhexter, sondern eher wie der Sohn eines Königs. Wie nah in Familien doch manchmal alles Unglück neben allem Glück der Welt liegt.

3

Es war toll, wenn Papou mal zu Hause war. Das war so selten und meistens blieb er auch nur kurz. Aber es ging nicht immer friedlich zu. Das Band, das meine Eltern verband, war ein seltsames. Mal konnten sie gar nicht voneinander lassen und dann waren sie außerhalb des Schlafzimmers kaum zu sehen, aber dann flogen wieder die Fetzen.
Folgender Klassiker: Ich war mit Amali, meiner Vertrauten, meinem Gefühlszwilling, unten am Kongo gewesen, und eben wollten wir uns ins Haus schleichen, um heimlich trockene Kleider anzuziehen, weil wir das nicht durften, am Fluss spielen. Weil es zu gefährlich war wegen der Malaria. Und weil wir nicht so weit weglaufen sollten von zu Hause. Und weil Kinshasa ein Moloch war, in dem man schnell für immer verloren gehen konnte. Da hörten wir schon unten, dass wieder Krieg war zwischen Maman und Papou.
Papou ist immer viel unterwegs gewesen und kam oft monatelang nicht nach Hause. Er arbeitete irgendwo am Kivusee. Das ist am anderen Ende der Demokratischen Republik Kongo. Kinshasa aber liegt ganz am Westzipfel, beinahe schon in der Republik Kongo. Und auch wenn das verwirrend ist, die Republik Kongo ist ein ganz anderes Land als die RDC, die République Démocratique du Congo. Und Kivu, Kivu liegt ganz im Osten. An der Grenze zu Uganda und Ruanda. Dort, wo noch immer so eine Art Bürgerkrieg tobte.
Als ich Papou einmal gefragt hatte, warum er so weit weg von uns arbeitete, hat er gesagt: »Weil man dort viel Geld verdienen kann und hier nicht.«
Und als ich dann wissen wollte, als was er eigentlich arbeitete, da hatte er für eine Weile so seltsam ins Leere gestarrt und schließlich abgewinkt. Er wollte es mir nicht sagen, aber das hatte mich natürlich erst recht neugierig gemacht, denn Papou brachte wirklich immer viel Geld und Sachen mit nach Hause. Und das war so bemerkenswert, dass die Nachbarn schon tuschelten, weil nur ganz wenige Leute in Kinshasa einen guten Job hatten, geschweige denn einen Kühlschrank mit Eiswürfelmaschine oder einen ein Meter fünfzig breiten Flachbildfernseher.
Für die meisten Kinois – so nennen sich die Leute aus Kinshasa selbst – heißt es »se débrouiller«. Und das meint, sich durchwursteln. Und sich durchwursteln meint, aus allem, aber wirklich aus allem, irgendwie Geld zu machen. Der Vorteil für den, der Geld hat, ist der, dass er im Prinzip alles kaufen kann. Und wenn ich alles sage, dann meine ich auch alles. Schulzeugnisse, staatliche Genehmigungen, Sex mit Minderjährigen. Wirklich alles. Der Vorteil des einen ist der Nachteil des anderen, wie man so schön sagt. Und weil in Kinshasa alles käuflich ist, muss es auch die geben, die alles verkaufen, auch Dinge und Gefälligkeiten, die man unter normalen Umständen nicht verkaufen würde. Sex mit seiner minderjährigen Tochter, zum Beispiel.
Und weil meine Großeltern zwar früher recht reich gewesen waren, zwei Bürgerkriege später aber nicht mehr, und – das wussten auch die Nachbarn – wir aber immer noch so lebten, als wären meine Großeltern noch so wohlhabend wie früher, deswegen tuschelten die Nachbarn. Und auch deshalb, weil Papou kein Bantu war, sondern Wolof. Und kein Kongolese, sondern Senegalese und damit auch noch Ausländer. Und Ausländer waren ohnehin verdächtig. Vor allem, wenn sie so viel Geld hatten.
Also hatte ich Papou noch einmal gefragt: »Papou, was ist dein Beruf?«
Und Papou hatte laut geseufzt und geantwortet: »Jengo, dafür bist du noch zu jung. Das verstehst du noch nicht.«
Und ich, ich hatte die Augen verdreht und gesagt: »Toll. Wie soll ich auch irgendwas verstehen, wenn mir niemand etwas erzählt?«
Und Papou hatte noch einmal laut geseufzt und dann kapituliert und gesagt: »Ich handle mit Coltan.«
»Ist das so was wie Gold oder Diamanten?«
Papou hatte gelächelt. »Ja und nein. Coltan ist weder Gold noch ein Diamant. Es ist nur ein Erz. Eine Art Metall. Aber es ist fast so kostbar wie Gold oder Diamanten, weil es so selten vorkommt.«
»Macht man daraus Schmuck?«
»Nein. Aber man braucht das, damit Handys und Laptops funktionieren.«
Ich war ein wenig enttäuscht. Den Kindern aus meiner Straße zu verkünden, dass mein Vater Gold- oder Diamantenhändler war, das wäre eine Sache gewesen, mit der ich mächtig hätte Eindruck schinden können. Aber Metallhändler?
»Du bist also Metallhändler? Ist das so was wie der alte Adom aus der Straße, der unseren Schrott einsammelt?«
Papou hatte mich angesehen und geseufzt. »Das wäre schön.« Und irgendetwas war seltsam an der Art, wie er das gesagt hatte.
Aber zurück zum Elternstreit. Papou war wieder einmal lange weg gewesen. Und wieder einmal war Maman voller Sorge, dass er vielleicht nie wieder zurückkommen würde. Papou aber kam zurück. Und als Maman seine Kleider waschen wollte, da fiel aus all den schmutzigen Männersachen auch ein BH, der nicht Maman und erst recht nicht Papou gehörte. Und als Amali und ich dazustießen, da hielt ihn Maman eben mit spitzen Fingern Papou vor die Nase.
»Oh, schön«, sagte Papou. »Neu?«
»Du Schwein von einem Mann«, legte Maman los. »Sag mir sofort, wem das gehört!«
Papou zuckte mit den Achseln. »Ich habe ihren Namen vergessen.« Und da prasselten auch schon Mamans Fäuste auf ihn nieder.
»Du Bastard. Du verdammtes Arschloch! Oh, hätte ich doch nur auf meine Mutter gehört! Maman hatte mit allem recht. Mit allem. Oh, du verdammter Wolof!« Mamans Stimme überschlug sich, weil sie gleichzeitig schrie und heulte und weiter auf meinen Vater eindrosch.
Papou stand auf und umklammerte Mamans Handgelenke, sodass sie ihn nicht mehr schlagen konnte.
»Hör auf«, presste er hervor. Dann ließ er Maman los und wandte sich zum Gehen. Da fing Maman wieder an. Papou hat Maman nie geschlagen. Ich habe es jedenfalls nie gesehen. Und ich bin mir ganz sicher, dass Papou zu den Männern gehörte, die das unter keinen Umständen getan hätten.
Er drehte sich noch einmal zu ihr um und umklammerte wieder ihre Handgelenke.
»Mein Gott. Ich hab doch sogar schon ihren Namen vergessen. Was erwartest du? Ich war zwei Monate weg …«
Wieder ließ er sie los. Maman spuckte vor ihm aus. »Schwein!«
»Den Tittenheber kannst du behalten!«, rief Papou und knallte die Tür zu. Dann ging er in die nächste Bar, um sich zu betrinken. Er kam auch die ganze Nacht nicht wieder. Wahrscheinlich hatte er irgendwo eine Frau gefunden, deren Namen er bis zum Morgen wieder vergessen konnte.

4

Nach diesem Streit sagte Grandpère eines Tages zu mir: »Jetzt kommst du bald in die Schule. Und wer in die Schule kommt, muss auch seine Stadt kennen.«
Also ließ Grandpère seine Geschäfte Geschäfte sein und sagte: »Mon Grand, mein Großer – heute erkläre ich dir die Stadt und bald erklärt dir die Schule die Welt
Er hatte sich extra fein gemacht und tatsächlich für einen ganzen Tag einen Fahrer angeheuert, damit wir uns in Ruhe die Stadt anschauen konnten.
Die Hitze war schon wieder unerträglich. Schwül und drückend hockte sie über der Stadt. Und trotzdem quollen die Straßen über vor lauter Menschen. Die Stadt und die Kinois flossen an meinem Fenster vorbei. Kinshasa, wie ich es nicht anders kannte: Die Pousse-pousseurs schleppten tonnenweise Brennholz, Ziegel und Zement auf ihren Handwagen durch die Gegend. Und die älteren von ihnen konnten schon kaum noch gerade gehen. Lastwagen, die so überladen waren, dass das, was sie transportierten, fast doppelt so hoch war wie der Lkw selbst. Die Khadafis, die ihr gepanschtes Benzin in Plastikflaschen verkauften, die Zöllner, Polizisten, Geheimdienstler, alle drückten sie sich an ihren Handys die Ohren platt. In Kinshasa konnte man auch noch so arm sein, aber wer auch nur irgendetwas auf sich hielt, der organisierte sich ein Handy. Und zwar ein gutes. Auch Kadoyas, Jugendliche, die für bestimmte Milizen arbeiten, liefen noch immer vereinzelt durch Kinshasa. Mir ist schon immer ganz seltsam geworden, wenn ich Zwölfjährige auf offener Straße mit Uzis und Kalaschnikows unterm Arm sah. Zum Glück waren wir wenigstens nicht im Ostkongo, denn da gab es noch richtig viele Kadoyas. Und manchmal drehten sie durch, die Kadoyas im Osten. Und dann schossen sie wild um sich.
Am Straßenrand Geldwechsler, die ihre Geldscheine in dicken Bündeln vor sich aufgeschichtet hatten und schrien: »Changez! Changez! Wechseln Sie, wechseln Sie!«
Wir mussten einen Umweg machen, weil der Boulevard wegen einer Großdemonstration gesperrt war. Wir hatten die Fensterscheiben heruntergelassen und Lärm drang ins Auto.
Ein unsägliches Gewirr aus Hupen, Wispern, Palavern und Schreien. Getuschelte Putschgerüchte, gezischte Ängste über Hexereien, beklagte Tote, lautstarke Diskussionen über die korrupten Politiker und Fußballer, die versagt hatten, Gefeilsche um Zigaretten, Badelatschen und Erdnüsse und die Klänge von Kwassa-Kwassa und N’dombolo, einer Art kongolesischer Rumba. Ein Mischmasch aus französischen Wortfetzen, Lingala, Kikongo, dem Gackern von Hühnern, die überall am Straßenrand herumliefen, Kindergeschrei und dem Hämmern der Handwerker.
»Eau pure, eau pure! Sauberes Wasser!«, rief ein Wasserverkäufer und hielt mir durch das offene Autofenster eine kleine Plastiktüte mit eingeschweißtem, aber garantiert nicht sauberem Wasser vor die Nase. Der Wasserverkäufer war nicht älter als ich. Ich wollte sein Wasser nicht, griff aber in meine Hosentasche und streckte ihm einen Kaugummi hin. Er verharrte einen Augenblick ungläubig, grinste kurz, dann grapschte er danach und rannte davon, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her. Grandpère hatte es gesehen, sagte aber nichts und lächelte. Niemand sonst aus der Familie hätte gelächelt. Doch. Amali. Aber sonst niemand. Chacun pour soi. Jeder für sich. Das war nun mal das Motto hier.