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Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung,
die der Reisende nicht ahnt.

 
MARTIN BUBER

1

Rosalie liebte die Farbe Blau. Das war schon so, seit sie denken konnte. Und das war mittlerweile achtundzwanzig Jahre her.

Wie jeden Vormittag, wenn sie um elf ihren kleinen Postkartenladen aufschloss, hob sie auch an diesem Tag den Blick und hoffte, in dem diesigen grauen Pariser Morgenhimmel ein Fitzelchen Blau zu entdecken. Sie fand es und lächelte.

Zu Rosalie Laurents ersten und schönsten Kindheitserinnerungen gehörte ein unfassbar blauer Augusthimmel über einem türkisfarbenen Meer, das in Licht badete und bis zum Ende der Welt zu reichen schien. Da war sie vier Jahre alt, und ihre Eltern hatten das heiße Paris mit seinen steinigen Häusern und Straßen verlassen, um mit der kleinen Tochter an die Côte d'Azur zu fahren. Im selben Jahr, als sie nach diesem lichtdurchfluteten, nicht enden wollenden Sommer in Les Issambres wieder nach Hause zurückgekehrt waren, hatte Tante Paulette ihr einen Aquarellkasten geschenkt. Auch daran erinnerte Rosalie sich noch genau.

»Aquarellfarben? Ist das nicht ein bisschen übertrieben, Paulette?«, hatte Cathérine gefragt, und ihre feine hohe Stimme hatte einen unüberhörbar missbilligenden Klang angenommen. »So ein teurer Farbkasten für ein so kleines Kind? Damit kann sie doch noch gar nichts anfangen. Den heben wir besser noch ein Weilchen auf, nicht wahr, Rosalie?«

Doch Rosalie war nicht bereit gewesen, das kostbare Geschenk ihrer Tante wieder herzugeben. Sie geriet völlig außer sich und umklammerte den Malkasten, als gelte es, ihr Leben zu verteidigen. Am Ende seufzte die Mutter ein wenig genervt und ließ der trotzigen Kleinen mit den langen braunen Zöpfen ihren Willen.

An diesem Nachmittag malte Rosalie stundenlang und hingebungsvoll mit Pinsel und Aquarellfarben Blatt um Blatt, und danach war der Malblock voll und die drei blauen Farbtöpfchen, die der Kasten zu bieten hatte, nahezu leer.

Ob es nun an jenem ersten Blick auf das Meer lag, der sich in die Netzhaut des kleinen Mädchens eingebrannt hatte wie eine Metapher für das Glück, oder an ihrem schon früh ausgeprägten Willen, Dinge anders zu machen als andere – die Farbe Blau entzückte Rosalie wie keine andere. Staunend entdeckte sie die ganze Palette dieser Farbe, und ihre kindliche Wissbegier war kaum aufzuhalten. »Und wie heißt das hier, Papa?«, fragte sie ein ums andere Mal und zog ihren Vater, der ein sehr gütiger und nachsichtiger Mensch war, am (natürlich blauen) Ärmel seiner Jacke und zeigte mit dem Finger auf alles Blaue, das sie entdeckte. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn stand sie stundenlang vor dem Spiegel und studierte die Farbe ihrer Augen, die auf den ersten Blick braun schienen, doch wenn man länger hinsah und ganz genau, erkannte man, dass sie von einem tiefdunklen Blau waren. Das hatte jedenfalls Émile, ihr Vater, gesagt, und Rosalie hatte erleichtert genickt.

Noch bevor sie richtig lesen und schreiben konnte, kannte sie die unterschiedlichsten Blautöne mit Namen. Vom hellsten und zartesten Seidenblau, Himmelblau, Graublau, Eisblau, Taubenblau oder dem gläsernen Aquamarin, das die Seele fliegen ließ, zu diesem satten, kräftigen, strahlenden Azurblau, das einem fast den Atem nahm. Dann gab es noch das unbezwingbare Ultramarin, das heitere Kornblumenblau oder das kühle Kobaltblau, das grünlich-blaue Petrol, das die Farben des Meeres in sich barg, oder das geheimnisvolle Indigo, das fast schon ins Violette spielte, bis hin zu einem tiefen Saphirblau, dem Mitternachtsblau oder dem nahezu schwarzen Nachtblau, in dem sich das Blau schließlich auflöste – für Rosalie gab es keine Farbe, die so reich, so wunderbar und vielfältig war wie diese. Dennoch hätte sie niemals erwartet, dass ihr einmal eine Geschichte widerfahren würde, in der ein blauer Tiger eine bedeutsame Rolle spielte. Und noch weniger hätte sie vermutet, dass diese Geschichte – und das Geheimnis, das sie barg – ihr Leben von Grund auf verändern würde.

Zufall? Schicksal? Man sagt, dass die Kindheit der Boden ist, auf dem wir unser Leben lang marschieren.

Später sollte sich Rosalie oft fragen, ob nicht alles anders gekommen wäre, wenn sie die Farbe Blau nicht so geliebt hätte. Bei dem Gedanken, wie leicht sie den glücklichsten Moment in ihrem Leben hätte verpassen können, erschrak sie fast ein wenig. Das Leben war oft so unüberschaubar und kompliziert, doch am Ende ergab erstaunlicherweise alles einen Sinn.

Als Rosalie mit achtzehn Jahren – ihr Vater war wenige Monate zuvor an einer verschleppten Lungenentzündung gestorben – verkündete, sie wolle Kunst studieren und Malerin werden, ließ ihre Mutter vor Schreck fast die Quiche Lorraine fallen, die sie gerade ins Speisezimmer trug.

»Um Himmels willen, Kind, bitte mach etwas Vernünftiges!«, rief sie aus und verfluchte innerlich ihre Schwester Paulette, die dem Mädchen offenbar diese Flausen in den Kopf gesetzt hatte. Laut hätte sie natürlich niemals geflucht. Cathérine Laurent, die eine geborene de Vallois war (worauf sie sich einiges einbildete), war eine Dame durch und durch. Leider hatte sich der Reichtum der ehemaligen Adelsfamilie in den letzten Jahrhunderten sehr reduziert, und Cathérines Heirat mit dem klugen und liebenswerten, aber wenig durchsetzungsstarken Physiker Émile Laurent, der schließlich an einem wissenschaftlichen Institut gestrandet war, anstatt in der Wirtschaft die erhofften großen Erfolge zu feiern, machte die Sache nicht viel besser. Am Ende hatte man nicht einmal mehr Geld für richtiges Personal – wenn man von der philippinischen Zugehfrau absah, die kaum Französisch konnte und zweimal in der Woche kam, um in der Pariser Altbauwohnung mit den hohen stuckverzierten Decken und dem alten Fischgrätparkett Staub zu wischen und zu putzen. Dennoch stand es für Cathérine außer Frage, dass man an seinen Prinzipien festhalten musste. Wenn man keine Prinzipien mehr hatte, ging alles den Bach runter, fand sie.

»Eine de Vallois macht so etwas nicht«, war einer ihrer Lieblingssätze, und den gab sie selbstverständlich auch an diesem Tag ihrer einzigen Tochter mit auf den Weg, die sich unglücklicherweise in eine ganz andere Richtung zu entwickeln schien, als ihre Mutter es für sie vorgesehen hatte.

Seufzend stellte Cathérine die weiße Porzellanform mit der duftenden Quiche auf dem großen ovalen Tisch ab, der nur für zwei gedeckt war, und dachte wieder einmal, dass sie kaum jemanden kannte, auf den der Name Rosalie so wenig zu passen schien.

Sie hatte damals, während der Schwangerschaft, ein zartes Mädchen vor Augen gehabt, blond wie sie selbst, höflich, sanft und irgendwie … liebreizend. Das alles war Rosalie auf jeden Fall nicht. Sicher war sie klug, aber eben auch sehr eigensinnig. Sie hatte ihren eigenen Kopf und konnte manchmal stundenlang schweigen, was ihre Mutter befremdlich fand. Wenn Rosalie lachte, lachte sie zu laut. Das war wenig elegant, auch wenn andere ihr versicherten, Rosalie habe so etwas Erfrischendes an sich.

»Lass sie doch, sie hat ihr Herz am rechten Fleck«, hatte Émile immer gesagt, wenn er wieder einmal einem Spleen seiner Tochter nachgab. Wie damals, als sie als Kind ihre neue Matratze und die teure Bettwäsche mitten in der Nacht auf den feuchten Balkon gezerrt hatte, um unter freiem Himmel zu schlafen. Weil sie sehen wollte, wie die Welt sich dreht! Oder als sie ihrem Vater zum Geburtstag mit Lebensmittelfarbe diesen grässlichen blauen Kuchen gebacken hatte, der so aussah, als würde man sich schon nach dem ersten Bissen daran vergiften. Nur weil sie diesen Blau-Tick hatte! Das war reichlich verstiegen, fand Cathérine, aber Émile hatte es natürlich großartig gefunden und behauptet, es sei der beste Kuchen, den er jemals gegessen hätte. »Ihr müsst alle davon kosten!«, hatte er gerufen und die blaue Teigpampe auf die Teller der Gäste verteilt. Ach, der gute Émile! Er hatte seiner Tochter einfach nichts abschlagen können.

Und jetzt diese neue Idee!

Cathérine runzelte die Stirn und betrachtete das schlanke, groß gewachsene Mädchen mit dem blassen Gesicht und den dunklen Augenbrauen, das jetzt gedankenverloren an seinem langen braunen, nachlässig geflochtenen Zopf spielte.

»Schlag dir das aus dem Kopf, Rosalie. Die Malerei ist eine brotlose Kunst. So etwas will und kann ich nicht unterstützen. Wovon willst du denn mal leben? Denkst du, die Leute haben auf deine Bilder gewartet?«

Rosalie drehte weiter an ihrem Zopf und antwortete nicht.

Wäre Rosalie eine liebreizende Rosalie gewesen, hätte sich Cathérine Laurent, geborene de Vallois, um den Lebensunterhalt ihrer Tochter sicher keine großen Gedanken gemacht. Schließlich gab es immer noch genügend gut verdienende Männer in Paris, da war es egal, ob die Ehefrau nebenher ein bisschen malte oder diverse Ticks hatte. Aber sie hatte das ungute Gefühl, dass ihre Tochter nicht in solchen Kategorien dachte. Weiß Gott, mit wem sie sich am Ende einlassen würde!

»Ich möchte, dass du etwas Vernünftiges machst«, sagte sie noch einmal mit Nachdruck. »Das wäre auch in Papas Sinne.« Sie legte ihrer Tochter ein Stück von der dampfenden Quiche auf den Teller. »Rosalie? Hörst du mir überhaupt zu?«

Rosalie blickte auf, und ihre dunklen Augen waren unergründlich.

»Ja, Maman. Ich soll etwas Vernünftiges machen.«

Und das hatte sie dann auch getan. Mehr oder weniger. Das Vernünftigste, was Rosalie sich hatte vorstellen können, war, nach ein paar Semestern Grafik und Design einen Postkartenladen zu eröffnen. Es war ein winziges Geschäft in der Rue du Dragon, einer hübschen kleinen Straße mit mittelalterlichen Stadthäusern, die im Herzen von Saint-Germain lag, einen Steinwurf von den Kirchen Saint-Germain-de-Prés und Saint-Sulpice entfernt. Hier gab es einige Boutiquen, Restaurants, Cafés, ein Hotel, eine Boulangerie, Rosalies Lieblingsschuhgeschäft, und sogar Victor Hugo hatte hier einst gewohnt, wie eine Plakette am Haus mit der Nummer 30 vermerkte. Wenn man es eilig hatte, konnte man die Rue du Dragon in wenigen Schritten durchlaufen, um dann entweder auf den belebten Boulevard Saint-Germain zu stoßen oder – in entgegengesetzter Richtung – auf die etwas stillere Rue de Grenelle, die zu den eleganten Häusern und Stadtpalästen des Regierungsviertels führte und irgendwann auf dem Champ de Mars und vor dem Eiffelturm endete. Aber man konnte die kleine Straße natürlich auch ganz absichtslos entlangschlendern und immer wieder stehen bleiben, weil man in den Auslagen etwas Schönes entdeckt hatte, das gekostet, in die Hand genommen oder anprobiert werden wollte. Dann konnte es schon einige Zeit dauern, bis man ans Ende der Straße gelangte. Auf diese Weise hatte Rosalie auch das Zu Vermieten-Schild in dem leer geräumten Antiquitätenlädchen entdeckt, dessen Besitzerin ihr Geschäft vor Kurzem aus Altersgründen aufgegeben hatte.

In der Regel sah man eben mehr, wenn man langsamer ging.

Rosalie hatte sich gleich in das kleine Ladenlokal verliebt. Ein himmelblauer Holzrahmen zog sich um das einzige Schaufenster und die Eingangstür rechts daneben, über der noch die altmodische silberne Türglocke der Vorbesitzerin hing. Auf dem alten schwarz-weißen Steinfußboden brach sich das Licht in kleinen Kreisen. Über Paris wölbte sich an diesem Tag im Mai ein wolkenloser Himmel, und Rosalie kam es vor, als ob der kleine Laden geradezu auf sie gewartet hätte.

Die Miete war zwar alles andere als klein, aber wohl noch günstig für die gute Lage, wie ihr Monsieur Picard, ein beleibter älterer Herr mit schwindendem Haar und listigen braunen Knopfäuglein, versicherte. Zudem gab es über dem Geschäft noch einen weiteren Raum, der über eine enge Holzwendeltreppe erreichbar war und an den ein kleines Bad und eine winzige Küche grenzten.

»Da haben Sie die Wohnung gleich mit dabei, hahaha«, scherzte Monsieur Picard, und sein kleiner Bauch bebte vergnügt. »Was für eine Art von Geschäft haben Sie sich denn vorgestellt, Mademoiselle? Ich hoffe doch, es ist nichts, was Krach macht oder riecht – schließlich wohne ich in diesem Haus.«

»Eine Papeterie«, hatte Rosalie gesagt. »Geschenkpapier, Briefpapier, Schreibstifte und schöne Karten für ganz besondere Anlässe.«

»Aha. So, so. Na dann, viel Glück!« Monsieur Picard schien etwas ratlos. »Karten mit dem Eiffelturm drauf werden von den Touristen ja immer wieder gern gekauft, was?«

»Ein Postkartenladen?«, hatte ihre Mutter ungläubig ins Telefon gerufen. »Mon Dieu! Mein armes Kind, wer schreibt denn heute noch Karten?«

»Ich, um eine zu nennen«, hatte Rosalie geantwortet, und dann hatte sie einfach aufgelegt.

Vier Wochen später stand sie auf einer Leiter vor ihrem Laden und befestigte ein bemaltes Holzschild über der Eingangstür.

LUNA LUNA stand in großen geschwungenen Buchstaben darauf und etwas kleiner darunter: Rosalies Wunschkartenladen.

2

Wäre es nach Rosalie gegangen, hätten ruhig viel mehr Menschen Briefe und Karten schreiben können. Das kleine und manchmal auch große Glück, welches ein handgeschriebener Brief sowohl beim Empfänger als auch bei dem, der ihn schrieb, auch heute noch auszulösen vermochte, war einfach nicht mit einer E-Mail oder einer SMS zu vergleichen, die rasch vergessen war und im Orkus der Bedeutungslosigkeit versank. Dieses kurze Erstaunen, wenn man plötzlich einen persönlichen Brief in der Post entdeckte, die freudige Erwartung, mit der man eine Postkarte umdrehte, einen Umschlag behutsam öffnete oder ungeduldig aufriss. Die Möglichkeit, ein Stück des Menschen, der an einen gedacht hatte, in Händen zu halten, seine Schrift zu studieren, seine Stimmung zu erahnen, vielleicht sogar noch den Geruch von Tabak oder Parfüm zu erhaschen. Das war so ungeheuer lebendig. Und auch wenn die Menschen heute immer seltener richtige Briefe verfassten, weil angeblich die Zeit dazu fehlte, kannte Rosalie doch niemanden, der nicht gerne einen persönlichen Brief oder eine handgeschriebene Karte bekommen hätte. Die Gegenwart mit all ihren sozialen Netzen und digitalen Möglichkeiten hatte wenig Charme, fand sie. Das alles mochte effektiv sein oder praktisch oder schnell – doch Charme hatte es nicht.

Früher war das Öffnen des Briefkastens sicherlich um einiges spannender gewesen, dachte sie, als sie jetzt im Hausflur vor den Postkästen stand. Das Einzige, was man heute in der Regel darin fand, waren Rechnungen, Steuerbescheide und Reklameschreiben.

Oder Mieterhöhungen.

Verdrossen blickte Rosalie auf das Schreiben ihres Vermieters. Das war nun schon die dritte Mieterhöhung in fünf Jahren. Sie hatte es kommen sehen. Monsieur Picard war in den letzten Wochen, wenn sie sich auf dem Flur begegnet waren, immer so ausnehmend freundlich gewesen. Und am Ende hatte er jedes Mal tief geseufzt und gesagt, das Leben in Paris werde auch immer teurer.

»Wissen Sie, was mittlerweile ein Baguette kostet, Mademoiselle Laurent? Oder ein Croissant? Wissen Sie, was die in der Boulangerie für ein Croissant nehmen? Es ist unglaublich! Ich frage Sie, was ist drin in so einem Croissant – Wasser und Mehl, mehr doch nicht, oder?« Er hatte mit einer anklagenden Geste die Schultern hochgezogen und Rosalie in einer Mischung aus Empörung und Verzweiflung angeschaut, bevor er weiterschlurfte, ohne eine Antwort abzuwarten.

Rosalie war in den Laden gegangen und hatte die Augen verdreht. Natürlich wusste sie, was ein Croissant kostete. Schließlich aß sie jeden Morgen eins – sehr zum Verdruss von René.

René Joubert war groß, dunkelhaarig, gesundheitsbewusst und extrem sportlich. Er war seit drei Jahren ihr Freund, und er war Personal Trainer. Vielleicht, so dachte Rosalie manchmal seufzend, auch in umgekehrter Reihenfolge. René Joubert nahm seinen Beruf sehr ernst. Er betreute vorzugsweise wohlhabende Damen der feinen Gesellschaft von Paris, die sich ihre Figur, ihre Kondition und ihre Gesundheit mithilfe des gut aussehenden Diplomsportlers mit den sanften braunen Augen und dem durchtrainierten Körper gerne erhalten wollten. Renés Terminplan war stets gut gefüllt, doch wie es aussah, reichte ihm die Pariser Hautevolee nicht als Betätigungsfeld. Jedenfalls ließ er keine Gelegenheit aus, Rosalie zu einem gesunden, bewegungsintensiven Leben bekehren zu wollen (mens sana in corpore sano!) und auf die Gefahren hinzuweisen, die überall im Essen lauerten. Auf seiner Todesliste standen – ganz oben! – Rosalies so geliebte Croissants. (Weißmehl ist Gift für den Darm! Hast du noch nie vom wheat-belly gehört? Weißt du eigentlich, wie viel Fett in so einem Ding steckt?)

Rosalie, die ihre eigene Vorstellung von einem geglückten Leben hatte (und dazu gehörten nicht zwingend Krafttraining, Müsli oder Soja-Drinks), zeigte sich allerdings recht unbeeindruckt, und alle missionarischen Bemühungen ihres Freundes waren bisher kläglich gescheitert. Rosalie sah einfach nicht ein, warum sie »Körner« essen sollte. »Körner sind Viehfutter. Ich bin doch keine Kuh«, pflegte sie zu sagen, und dann bestrich sie ein Stück frisches Croissant dick mit Butter und Marmelade und schob es sich in den Mund.

René sah ihr mit gequälter Miene zu.

»Außerdem schmeckt zum Café crème nichts besser als ein Croissant oder ein frisches Baguette«, fuhr sie fort und fegte ein paar Krümel von der Bettdecke. »Das musst du zugeben.«

»Dann lass doch einfach den Café crème weg, ein Smoothie aus Kiwi und Spinatblättern ist morgens sowieso viel gesünder«, gab René zurück, und Rosalie hätte sich vor Lachen fast an ihrem Croissant verschluckt. Das war wirklich das Absurdeste, was sie jemals gehört hatte. Ein Morgen ohne Kaffee war wie … Rosalie suchte nach einem passenden Vergleich und gab auf … war einfach nicht vorstellbar, schloss sie in Gedanken.

Ganz zu Anfang, als sie René gerade kennengelernt hatte, hatte sie sich einmal dazu überreden lassen, ihn auf seiner frühmorgendlichen Laufstrecke durch den Jardin du Luxembourg zu begleiten. »Du wirst sehen, es wird toll«, hatte er gesagt. »Morgens um sechs ist Paris eine völlig andere Stadt!«

Da mochte er recht haben, doch das alte, ihr angenehm vertraute Paris, in dem man nachts lange aufblieb und zeichnete, schrieb, las, diskutierte und seinen Rotwein trank, um den nächsten Morgen dann in Ruhe und am besten mit einer großen Tasse Milchkaffee im Bett zu beginnen, gefiel Rosalie eindeutig besser. Und während René mit großen gazellenartigen Sprüngen unter den alten Kastanienbäumen neben ihr herlief und bemüht war, sie in ein lockeres Gespräch zu verwickeln (Man sollte immer nur so schnell laufen, dass man sich noch gut unterhalten kann!), keuchte sie schon nach den ersten hundert Metern und blieb schließlich mit Seitenstechen stehen.

»Aller Anfang ist schwer«, hatte ihr Coach gesagt. »Jetzt nicht aufgeben!«

Wie alle Verliebten, die sich zunächst große Mühe geben, mit dem Partner symbiotisch zu verschmelzen und dessen Vorlieben aufzugreifen, hatte Rosalie es auf Renés Drängen hin sogar noch einmal probiert (allerdings allein und nicht um sechs Uhr morgens), aber nachdem ein Hundertjähriger mit zackigem Schritt, beängstigend weit vornübergebeugtem Oberkörper und schlenkernden Armen an ihr vorbeigezogen war, hatte sie sich von der Idee, sportlich zu werden, endgültig verabschiedet.

»Ich glaube, mir reichen meine Spaziergänge mit William Morris«, hatte sie lachend erklärt.

»William Morris, wer ist das? Muss ich jetzt eifersüchtig sein?«, fragte René besorgt. (Zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht bei ihr im Laden gewesen, und von dem Künstler William Morris hatte er noch nie etwas gehört. Doch das war verzeihlich, schließlich kannte auch sie nicht alle Knochen und Muskelstränge ihres Körpers mit Namen.)

Sie hatte René einen Kuss gegeben und ihm erklärt, dass William Morris ihr kleiner Hund sei, den sie – immerhin die Besitzerin einer Papeterie – nach dem legendären viktorianischen Maler und Architekten benannt hatte, unter anderem weil dieser die wunderbarsten Dessins für Stoffe und Tapeten entworfen hatte.

William Morris – der Hund – war ein überaus verträglicher Lhasa Apso, und er war nun fast schon so alt wie der Postkartenladen. Tagsüber lag er ganz friedlich in seinem Körbchen neben der Eingangstür, nachts schlief er hinter der Küchentür auf einer Decke, und manchmal, wenn er träumte, zuckten seine Pfoten im Schlaf und schlugen gegen den Holzrahmen. Wie der Mann aus dem Tierheim ihr damals erklärt hatte, war diese kleinwüchsige Hunderasse so besonders friedlich, weil sie früher den schweigsamen tibetanischen Mönchen als Begleiter auf ihren Wanderschaften gedient hatte.

Der Bezug zu Tibet wiederum gefiel René, und auch William Morris hatte den jungen Mann mit den breiten Schultern und den großen Füßen mit freundlichem Schwanzwedeln begrüßt, als Rosalie ihn nach vier Wochen zum ersten Mal in ihre Wohnung eingeladen hatte. Nun … Wohnung war vielleicht nicht ganz das richtige Wort für dieses eine verwinkelte Zimmer über dem Laden, in dem gerade mal ein Bett, ein Sessel und ein Schrank Platz hatten und ein großer Zeichentisch, der unter dem Fenster stand. Doch das Zimmer war ausgesprochen gemütlich, und das Beste hatte Rosalie erst nach ihrem Einzug entdeckt: Durch ein zweites kleines Fenster, das sich an der Rückseite des Gebäudes befand, gelangte man auf ein flaches Zwischendach, das Rosalie im Sommer als Terrasse diente. Alte Steinkübel mit Pflanzen und ein paar verwitterte Blumengitter, an denen im Sommer leuchtend blaue Clematis emporrankten, schirmten diesen lauschigen Platz so ab, dass er kaum einsehbar war.

Hier, unter freiem Himmel, hatte Rosalie für sie beide gedeckt, als René das erste Mal zu ihr kam. Sie war keine große Köchin, mit Pinsel und Stift war sie weitaus geschickter als mit dem Kochlöffel, doch auf dem wackligen Holztisch mit der weißen Tischdecke flackerten Windlichter in verschiedenen Größen, und es gab Rotwein, Gänseleberpastete, Schinken, Weintrauben, einen kleinen Schokoladenkuchen, in reichlich Öl eingelegte Avocadoherzen, gesalzene Butter, Camembert, Ziegenkäse und – Baguette.

»Oh mein Gott«, hatte René in komischer Verzweiflung geseufzt. »Lauter ungesunde Sachen! Der Overkill! Das wird mal ein schlimmes Ende nehmen mit dir. Irgendwann wird dein Stoffwechsel zusammenbrechen, und dann wirst du so dick wie meine Tante Hortense.«

Rosalie nahm einen großen Schluck Rotwein aus ihrem Glas, wischte sich über den Mund und zeigte mit dem Finger in seine Richtung. »Falsch, mein Lieber«, hatte sie gesagt. »Lauter köstliche Sachen.« Dann war sie aufgestanden und hatte sich mit einer raschen Bewegung ihr Kleid abgestreift. »Bin ich etwa dick?«, hatte sie gefragt und war mit anmutigen Schritten und wehendem Haar halb nackt über das Dach getanzt.

René konnte gar nicht schnell genug sein Glas abstellen.

»Na warte!« Er war lachend hinter ihr hergelaufen und hatte sie schließlich eingefangen. »Nein, du bist genau richtig«, hatte er gemurmelt, und seine Hände hatten begehrlich über ihren Rücken gestreichelt. Und dann waren sie auf dem Dach geblieben und hatten zusammen auf einer Wolldecke gelegen, bis die Feuchtigkeit des frühen Morgens sie überrascht hatte.

Als sie jetzt in dem halb dunklen Hausflur stand, in dem es immer leicht nach Orangenreiniger roch, und den Briefkasten wieder zuschloss, dachte Rosalie mit einer gewissen Wehmut an jene Nacht auf dem Dach.

In den vergangenen drei Jahren waren die Unterschiede zwischen René und ihr immer deutlicher zutage getreten. Und wo sie früher die Gemeinsamkeiten gesucht und gefunden hatte, sah sie jetzt alles, was sie von ihrem Freund trennte, mit übergroßer Deutlichkeit.

Rosalie liebte es, im Bett zu frühstücken, René konnte der »Krümelei im Bett« nichts abgewinnen. Sie war ein Nachtmensch, er ein Frühaufsteher; sie mochte die moderaten Spaziergänge mit ihrem kleinen Hund, er hatte sich im letzten Jahr ein Rennrad gekauft, mit dem er pfeilschnell durch die Straßen und Parks von Paris sauste. Wenn es ums Reisen ging, konnte es ihm nicht weit genug weg sein, während Rosalie sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als auf einem der alten kleinen Plätze zu sitzen, wie man sie in den europäischen Städten und Städtchen des Südens fand, und die Zeit einfach verstreichen zu lassen.

Am meisten aber bedauerte sie es, dass René ihr niemals Briefe oder Karten schrieb, auch zum Geburtstag nicht. »Ich bin doch hier«, sagte er, wenn sie am Geburtstag wieder einmal vergeblich nach einer Karte auf dem Frühstückstisch Ausschau hielt. Oder »Wir können doch telefonieren«, wenn er auf einem seiner Seminare war.

Am Anfang hatte Rosalie ihm noch selbst gezeichnete Karten und Zettel geschrieben, zum Geburtstag und als er sich den Fuß gebrochen hatte und eine Woche ins Krankenhaus musste, oder auch einfach, wenn sie kurz aus dem Haus ging, um irgendwelche Besorgungen zu machen, oder wenn sie spät in der Nacht zu Bett gegangen war und er schon schlief. »Hallo, Frühaufsteher, bitte sei leise und lass deine kleine Nachteule noch ein wenig schlafen, hab gestern noch lange gearbeitet«, schrieb sie und legte ihm einen Zettel mit einer gezeichneten Eule, die auf einem Pinsel hockte, neben das Bett.

Überall hatte sie ihre kleinen Botschaften hinterlassen – hinter dem Spiegel, auf dem Kopfkissen, auf dem Tisch, in seinem Turnschuh oder in einem Seitenfach seiner Reisetasche, aber irgendwann, sie wusste gar nicht mehr, wann eigentlich genau, hatte sie damit aufgehört.

Glücklicherweise hatte jeder seine eigene Wohnung und ein gewisses Maß an Toleranz, und René war ein positiver, dem Leben zugewandter Mensch ohne nennenswerte Abgründe. Er kam ihr so friedlich vor wie ihr Lhasa Apso. Und wenn sie gelegentlich dennoch diskutierten (über Kleinigkeiten), landeten sie am Ende stets im Bett, wo sich ihre Streitigkeiten und Reibereien in der besänftigenden Dunkelheit der Nacht auflösten.

Wenn Rosalie bei René übernachtete, was seltener vorkam, weil sie gern in der Nähe ihres Ladens war und er im Bastille-Viertel wohnte, aß sie ihm zuliebe ein paar Löffel von dem matschigen Brei mit den getrockneten Früchten und Nüssen, den er ihr nach wie vor mit Inbrunst zubereitete, und er hörte auch nicht auf, ihr zu versichern, dass sie irgendwann doch noch auf den Geschmack kommen würde.

Sie lächelte dann halbherzig und sagte »irgendwann bestimmt«, und sobald er fort war, kratzte sie den Rest aus der Müsli-Schüssel in die Toilette und holte sich auf dem Weg zum Laden in einer Boulangerie als Erstes ein ofenwarmes Croissant.

Noch auf der Straße riss sie sich ein Stück ab und schob es sich in den Mund, glücklich, dass es so etwas Himmlisches gab. Doch davon erzählte sie René natürlich nichts, und da ihr Freund nicht gerade über sehr viel Phantasie verfügte, wäre er sicherlich höchst erstaunt gewesen, wenn er seine Freundin bei dieser kleinen Affäre mit einem Croissant überrascht hätte.

Das Croissant brachte Rosalie wieder zurück zu Monsieur Picard und dieser ärgerlichen Mieterhöhung. Sie runzelte die Stirn und starrte besorgt auf die Zahlen in dem Schreiben, die ihr ziemlich bedrohlich erschienen. Auch wenn sich Luna Luna inzwischen einer festen Stammkundschaft erfreute und immer wieder neue Kunden und Touristen vor der kleinen Papeterie mit der liebevoll dekorierten Auslage stehen blieben, um drinnen dann mit entzückten Ausrufen Geschenkkarten, hübsche Notizbücher oder Briefbeschwerer in die Hand zu nehmen, und das Geschäft nicht verließen, ohne etwas gekauft zu haben, konnte sich Rosalie keine großen Sprünge erlauben. Mit Postkarten und schönen Schreibwaren aller Arten war heutzutage nicht das große Geld zu machen, nicht einmal im einstigen Literatenviertel Saint-Germain.

Dennoch hatte Rosalie ihren Entschluss nie bereut. Ihre Mutter, die ihr aus dem Erbe schließlich doch ein kleines Startkapital zur Verfügung gestellt hatte, hatte am Ende resigniert geseufzt und gemeint, sie würde ja sowieso machen, was sie wolle, und immerhin sei es besser, einen Laden zu führen, gleich welcher Art, als Malerin im freien Fall zu sein. Allerdings nur unerheblich besser.

Cathérine Laurent würde sich wohl nie damit abfinden, dass ihre Tochter nicht einen vernünftigen Beruf erlernt hatte. Oder zumindest einen aufstrebenden jungen (gerne auch älteren) Mann geehelicht hatte. (Dieser gutmütige Fitnesstrainer mit seinen Riesenfüßen, der so langweilig war, dass sie fast weinen musste, konnte es doch wohl nicht sein!) Cathérine kam so gut wie nie in den Laden ihrer Tochter, und ihren Freunden und Bekannten aus dem vornehmen siebten Arrondissement erklärte sie, Rosalie führe nun ein Geschäft für Bürobedarf – das klang zumindest etwas seriöser.

Nun – Bürobedarf traf es nicht ganz, um nicht zu sagen gar nicht. Aktenordner, Schnellhefter, Papierlocher, Ablagekörbe, Klarsichthüllen, Kleber, Dokumentenmappen und Büroklammern suchte man in der zauberhaften Papeterie Luna Luna vergeblich. Doch Rosalie hielt es für überflüssig, diesen Irrtum aufzuklären. Sie lächelte und schwieg und freute sich jeden Morgen, wenn sie in ihren Laden hinunterging und die Eisengitter hochzog, um die Sonne hereinzulassen.

Die Wände erstrahlten in einem zarten Hortensienblau, in der Mitte des Raums stand ein alter dunkler Holztisch, auf dem alle Schätze ausgebreitet waren: mit Blumenmustern bezogene Kästen, in denen die unterschiedlichsten Karten und Umschläge zu finden waren, oder glasierte Keramikbecher in zarten Farbtönen, die eine Künstlerin aus dem Quartier herstellte und in denen feine, mit gemustertem Papier überzogene Stifte steckten. Daneben Schreibmappen mit alten Rosendrucken. Hübsch verzierte Kladden und Notizbücher stapelten sich neben Briefpapiermappen und Kästchen mit Siegellack und Holzstempeln.

In den hellen Regalen an der Seitenwand steckten Rollen mit feinem Geschenkpapier und nach Farben und Größen geordnete Briefbögen und Umschläge; duftige Geschenkbänder segelten seitlich des kleinen Weichholztischs, auf dem die Kasse stand, von großen Rollen nach unten, an der blau gestrichenen Rückwand hingen Steinkacheln mit weißen Tauben, dunklen Trauben und blassrosa Hortensien – alte Motive, die unter einer dicken Lackschicht in neuem Glanz erstrahlten – und ein großes Ölbild, das Rosalie selbst gemalt hatte und das einen märchenhaften Wald zeigte, durch den ein Mädchen in purpurrotem Kleid und mit wehenden blonden Haaren lief. In der Ecke neben der Kasse stand eine hohe verschlossene Glasvitrine und beherbergte kostbare Füller und silberne Brieföffner.

Das Schaufenster war mit filigranen Kartenhaltern dekoriert, die von Weitem an bunte Patchworkdecken erinnerten. Hinter herzförmig gebogenen Silberdrähten, die in einem Quadrat angeordnet waren, versammelten sich die unterschiedlichsten Karten zu einem fröhlichen Gesamtkunstwerk. Gleich daneben hingen Bahnen von Geschenkpapier in Dunkelblau, Türkis und Resedagrün mit den prächtigen ornamentalen Mustern von William Morris aus, und unten in der Auslage gab es fächerförmig ausgebreitete Karten, hübsche Kartenboxen mit Blumenmotiven oder Gemälden von Frauen, die am Meer standen oder in Büchern lasen. Dazwischen lagen in Schachteln auf Seidenpapier gebettet schwere gläserne Briefbeschwerer, in denen gepresste Rosenblüten, Stiche von alten Segelschiffen, gemalte Glückshände und auch Worte oder Sätze verewigt waren, die man jeden Tag lesen konnte, ohne dass man ihrer überdrüssig wurde. Paris stand da mit zartem braunem Pinselstrich auf chamoisfarbenem Grund geschrieben. L'Amour oder La beauté est partout – »Schönheit ist überall«.

So hatte es jedenfalls der Bildhauer und Maler Auguste Rodin gesagt, und wenn Rosalie sich in ihrem Laden umsah, war sie glücklich, ihren Teil zu der Fülle und Schönheit beizutragen, die das Leben bereithielt.

Das Besondere bei Luna Luna waren jedoch die handgefertigten Karten, die in den beiden drehbaren Postkartenständern steckten, die rechts von der Eingangstür standen und gerade noch so in die kleine Papeterie hineinpassten, obwohl ihnen vielleicht die größte Bedeutung zukam.

Dass sich der kleine Laden in der Rue du Dragon überhaupt all die Jahre gehalten hatte, lag vor allem daran, dass Rosalie die Idee mit den Wunschkarten gehabt hatte. Die Wunschkarten waren ihre Spezialität, und sehr bald hatte es sich herumgesprochen, dass man in der Papeterie Luna Luna selbst gemachte Karten für jeden auch noch so ungewöhnlichen Anlass bekam.

Abends nach Ladenschluss und bis spät in die Nacht hinein saß Rosalie an ihrem großen Tisch in dem Zimmer über dem Laden und zeichnete und aquarellierte Karten für all jene, die noch an die Magie handgeschriebener Worte glaubten. Es waren zauberhafte kleine Kunstwerke auf Büttenpapier mit gerissenem Rand, die mit einem Satz oder Spruch versehen waren, zu dem sich Rosalie eine Zeichnung einfallen ließ. »Vergiss mich nicht«, stand zum Beispiel in mit blauer Tusche geschriebenen Buchstaben auf einer Karte, und darunter sah man die Zeichnung einer kleinen Frau mit zwei Koffern, die dem Betrachter einen überdimensionalen Blumenstrauß mit duftig hingetupften Vergissmeinnicht entgegenhielt. Oder: »Die Sonne scheint auch hinter den Wolken« – hier stand ein verzagtes Mädchen mit einem roten Regenschirm unter einem grauen Himmel auf einer Straße im Regen, während am oberen Bildrand kleine Engel mit der Sonne Ball spielten. »Als ich aufwachte, habe ich mir gewünscht, du wärst hier«, verkündete eine andere Karte mit einem sehnsüchtig in die Ferne schauenden Strichmännchen, das auf einem Bett inmitten einer Wiese saß und in eine Pusteblume blies, deren einzelne Blüten sich in winzige wirbelnde Buchstaben verwandelten, die das Wort »Sehnsucht« bildeten.

Rosalies Wunschkarten, die ein wenig an die charmanten Zeichnungen von Raymond Peynet erinnerten, verkauften sich wie von selbst, und nach einer Weile kamen die ersten Kunden mit ihren eigenen Vorstellungen und Ideen.

Natürlich waren es meist die gängigen Anlässe (Geburtstage, Genesungswünsche, Gutscheine, Einladungen, Valentinstage, Hochzeiten, Weihnachts- oder Ostergrüße), aber es gab auch immer wieder spezielle Wünsche.

Töchter wünschten sich etwas für ihre Mütter, Mütter wünschten sich etwas für ihre Söhne, Nichten wünschten sich etwas für ihre Tanten, Großmütter etwas für ihre Enkel und Freundinnen etwas für ihre Freundin. Doch am erfinderischsten in ihren Wünschen waren stets jene Menschen, die sich verliebt hatten.

Erst neulich war ein nicht mehr ganz junger Herr mit Silberbrille und korrektem Anzug in den Laden gekommen und hatte seine Bestellung aufgegeben. Umständlich hatte er einen Zettel aus seiner ledernen Aktentasche hervorgezogen und ihn verlegen auf den Kassentisch gelegt.

»Meinen Sie, dazu fällt Ihnen etwas ein?«

Rosalie hatte den Satz auf dem Zettel gelesen und gelächelt.

»Oh ja«, sagte sie.

»Bis übermorgen?«

»Kein Problem.«

»Aber es muss besonders schön werden.«

»Seien Sie unbesorgt.«

An diesem Abend hatte sie oben an ihrem Zeichentisch gesessen, auf dem im Schein einer alten schwarzen Metalllampe Stifte und Pinsel unterschiedlicher Größen in dicken Einmachgläsern in Reih und Glied standen, und hatte einen Mann im grauen Anzug und eine Frau in einem lindgrünen Kleid gezeichnet, die sich an den Händen hielten und – gezogen von vier aufflatternden weißen Tauben mit blauen Bändern in den Schnäbeln – über Paris schwebten.

Zum Schluss hatte sie den Tuschestift genommen und in geschwungenen Buchstaben an den unteren Bildrand geschrieben:

»Für die Frau, mit der ich fliegen möchte.«

Rosalie hätte nicht sagen können, wie viele solcher Unikate sie in den letzten Jahren hergestellt hatte. Bisher waren noch alle Kunden zufrieden aus ihrem Wunschkartenladen hinausgegangen, und sie hoffte, dass alle Wünsche ihr Ziel so sicher erreicht hatten wie Cupidos Pfeile die Herzen der Verliebten. Doch was ihre eigenen Wünsche anging, hatte die schöne Papeteriebesitzerin weniger Glück.

Jedes Jahr an ihrem Geburtstag ging Rosalie mit einer selbst gemalten Karte zum Eiffelturm, um sich etwas zu wünschen. Dann stieg sie die 704 Stufen hoch, die zur zweiten Plattform führten, und ließ klopfenden Herzens (sie war, wie bereits erwähnt, nicht gerade eine ambitionierte Bergsteigerin) die Karte mit ihrem Wunsch durch die Luft segeln.

Es war ein unschuldiges kleines Ritual, von dem nicht einmal René etwas wusste. Überhaupt war Rosalie eine große Anhängerin kleiner Rituale. Rituale gaben dem Leben eine Form und halfen, das Wirrwarr des Daseins zu ordnen und den Überblick zu behalten. Der erste Kaffee am Morgen. Ein Croissant aus der Boulangerie. Der tägliche Spaziergang mit William Morris. Eine kleine tarte au citron an jedem ungeraden Tag der Woche. Das Glas Rotwein nach Ladenschluss. Der Kranz aus Vergissmeinnicht, wenn sie im April das Grab ihres Vaters besuchte.

Abends, wenn sie zeichnete, hörte sie gern die immer gleichen CDs. Mal waren es die rauchigen Chansons von Georges Moustaki, mal die hingetupften Lieder von Coralie Clément. In letzter Zeit war ihre Lieblings-CD die des russischen Musikers Vladimir Vissotski. Sie lauschte dem Klang der bald lyrischen, bald virilen Lieder nach, deren Worte sie nicht verstand, während die Musik Bilder in ihrem Kopf erzeugte und ihre Stifte über das Papier flogen.

Als junges Mädchen hatte Rosalie Tagebuch geführt, um die Dinge, die ihr wichtig waren, festzuhalten. Das tat sie schon lange nicht mehr, aber seit der Eröffnung des Ladens hatte Rosalie es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend vor dem Schlafengehen den schlimmsten und den schönsten Moment des Tages in ein kleines blaues Notizbuch zu schreiben. Dann erst war der Tag für sie beendet, und sie fand mühelos in den Schlaf.

Ja, Rituale waren etwas, das einem Halt gab und auf das man sich verlässlich freuen konnte. Und so freute sich Rosalie jedes Jahr auf den zwölften Dezember, wenn sie oben auf dem Eiffelturm stand und die ganze Stadt sich zu ihren Füßen ausbreitete. Höhe war nichts, was ihr Angst machte – im Gegenteil, sie liebte dieses Gefühl von Weite, den freien Blick, der die Gedanken fliegen ließ, und wenn ihre Karte davonflatterte, schloss Rosalie für einen Moment die Augen und stellte sich vor, wie ihr Wunsch Wirklichkeit werden würde.

Doch bisher hatte sich keiner ihrer Wünsche je erfüllt.

Das erste Mal, als sie hier mit einer Karte hochgestiegen war, hatte sie sich gewünscht, dass ihre Lieblingstante Paulette wieder gesund werden sollte – damals bestand noch die winzige Hoffung, dass eine komplizierte Operation Paulettes Augenlicht würde retten können, doch obwohl die Operation gut verlaufen war, war die Tante schließlich erblindet.

Ein anderes Mal wünschte sie sich, bei dem Wettbewerb der Nachwuchsillustratoren zu gewinnen. Doch die begehrte Auszeichnung, der Buchvertrag und das Preisgeld über zehntausend Euro gingen an einen schlaksigen jungen Künstler, der nur Palmen und Hasen malte und der Sohn eines reichen Pariser Zeitungsverlegers war.

Als sie René noch nicht kannte und nach ein paar eher unerfreulichen Affären wieder allein lebte, hatte sie sich gewünscht, dem Mann ihres Lebens zu begegnen, der sie eines Abends ins Jules Verne ausführen würde – dem Restaurant oben auf dem Eiffelturm, das den wohl spektakulärsten Blick über ganz Paris bot –, um ihr dort, hoch über der funkelnden Stadt, die Frage aller Fragen zu stellen.

Auch dieser Wunsch hatte sich nicht erfüllt. Stattdessen lernte sie René kennen, der eines Tages in der Rue Colombier buchstäblich in sie hineingerannt war, sich tausendmal entschuldigt hatte und sie in das nächste Bistro zog, um ihr bei einem Salade de pays zu erklären, so was Schönes wie sie habe er noch nie gesehen. Doch René hätte sie eher zu einer Trekkingtour auf den Kilimandscharo eingeladen als in ein teures und in seinen Augen völlig überflüssiges Restaurant auf dem Eiffelturm. (Der Eiffelturm, ich bitte dich, Rosalie!)

Ein anderes Mal hatte sie sich Frieden mit ihrer Mutter gewünscht – ein frommer Wunsch! Sie hatte sich ein kleines Haus am Meer gewünscht – nun ja, das war ziemlich vermessen, aber wünschen durfte man schließlich alles.

An ihrem letzten Geburtstag – es war ihr dreiunddreißigster, und ein ungemütlicher, kalter Regen ergoss sich über das weihnachtlich geschmückte Paris – war Rosalie in ihrem dicken blauen Wintermantel losmarschiert und wieder einmal auf den Eiffelturm gestiegen. Es war nicht viel los an diesem Tag, ein paar Schlittschuhläufer glitten über die Eisfläche, die im Winter stets auf der ersten Plattform errichtet wurde, und einige wenige Japaner in Regencapes wurden nicht müde, sich gegenseitig mit hochgereckten Daumen und breitem Grinsen zu fotografieren.

In diesem Jahr hatte Rosalie einen sehr bescheidenen Wunsch.

Auf der Karte in ihrer Hand war eine Brücke gezeichnet, an deren wabenförmigem Geländer Hunderte von kleinen Schlössern hingen. Ein kleiner Mann und eine kleine Frau standen davor und küssten sich.

Die Brücke war unverkennbar die Pont des Arts, eine Fußgängerbrücke, die über die Seine führte und von der aus man einen wunderbaren Blick auf den Eiffelturm oder die Île de la Cité hatte. An Sommerabenden herrschte hier stets ein reges Treiben.

Rosalie liebte diese schmale, einfache Eisenbrücke mit dem Holzboden. Sie kam manchmal hierher, setzte sich auf eine Bank und betrachtete die vielen Schlösser am Geländer, von denen jedes einzelne von einer Liebe kündete, die ewig währen sollte.

Solange die Liebe währt, ist sie ewig – wer hatte das gesagt?

Rosalie wusste nicht, warum, aber jedes Mal, wenn sie dort saß, rührte sie der Anblick dieser hoffnungsvollen kleinen Schlösser, die so standhaft wie Zinnsoldaten die Liebe verteidigten.

Mag sein, dass es albern war, aber ihr geheimer Herzenswunsch war ein solches Schloss.

Wer mir ein solches Schloss schenkt, ist der Richtige, dachte sie, als sie sich nun über die nasse Stahlkonstruktion des Eiffelturms beugte und ihre Karte in hohem Bogen in den Regen warf.

Natürlich dachte sie dabei an René.

An einem klaren Wintertag Anfang Dezember war sie mit ihrem Freund Hand in Hand über die Pont des Arts spaziert, und das Geländer mit seinen Schlössern hatte in der Sonne gefunkelt wie der Schatz des Priamos. »Schau mal, wie schön!«, hatte sie ausgerufen.

»Eine Wand aus Gold«, hatte René in einem seltenen Anflug von Poesie gesagt und war einen Augenblick stehen geblieben, um die Inschriften der Schlösser zu studieren. »Leider ist nicht alles Gold, was glänzt«, hatte er grinsend hinzugefügt. »Ich wüsste gern, wer von denen, die sich hier verewigt haben, noch zusammen ist.«

Rosalie hätte das nicht gern gewusst.

»Aber ist es nicht trotzdem wunderbar, dass sich die Menschen immer wieder verlieben und das auch zeigen wollen? Also, mich rühren diese kleinen Schlösser irgendwie«, hatte sie eingewandt. »Das ist so … romantisch.«

Mehr sagte sie nicht, denn mit den Geburtstagswünschen war es wie mit den Wünschen, wenn man eine Sternschnuppe am Himmel sah – man durfte sie nicht aussprechen.

René hatte sie lachend in die Arme genommen. »Ach herrje, jetzt sag nicht, dass du im Ernst scharf bist auf so ein albernes Schloss? Das ist ja der pure Kitsch.«

Rosalie hatte verlegen gelacht und bei sich gedacht, dass auch der pure Kitsch manchmal durchaus etwas Reizvolles haben konnte.

Zwei Wochen später hatte sie dann wie jedes Jahr auf dem Eiffelturm gestanden und versonnen der Karte nachgeblickt, die beschwert durch den Regen wie eine angeschossene Taube zu Boden fiel. Sie erschrak, als sich plötzlich von hinten eine schwere Hand auf ihre Schulter legte.

»He, Mademoiselle, qu'est-ce que vous faites là?«, donnerte es in ihr Ohr.

Rosalie fuhr zusammen und verlor vor Schreck fast das Gleichgewicht. Ein Mann in blauer Uniform und mit Käppi bohrte seine dunklen Augen unfreundlich in die ihren.

»He! Was fällt Ihnen ein, mich so zu erschrecken«, gab Rosalie empört zurück. Sie fühlte sich gleichermaßen ertappt und gestört bei ihrem heiligen Ritual. Seit die Regierung aus Angst vor Taschendieben die Touristenattraktionen der Stadt bewachen ließ, konnte man nicht einmal an einem regnerischen Dezembertag vor Störungen sicher sein. Es war die Pest.

»Also! Was machen Sie da?«, wiederholte der Uniformierte barsch. »Sie können doch nicht einfach Ihren Müll hier runterwerfen.«

»Das war kein Müll, das war ein Wunsch«, gab Rosalie gereizt zurück und merkte, wie ihre Ohren ganz heiß wurden.

»Jetzt werden Sie mal nicht frech, Mademoiselle.« Der Polizist verschränkte die Arme und baute sich in voller Größe vor ihr auf. »Was auch immer es war, Sie gehen jetzt schön runter und heben es auf, klar? Und diese Chipstüte hier«, er zeigte auf eine zerknüllte Plastiktüte zu ihren Füßen, von der die Regentropfen perlten, »können Sie auch gleich mitnehmen.«

Er blickte der jungen Frau im blauen Mantel nach, wie sie missmutig Stufe um Stufe des Stahlkonstrukts hinabstieg.

Unten angekommen umrundete Rosalie in einem Anflug von Neugier einmal den Eiffelturm und hielt tatsächlich Ausschau nach ihrer Wunschkarte. Doch diese war wie vom Erdboden verschwunden.

Seit dem etwas skurrilen Vorfall auf dem Eiffelturm, von dem Rosalie logischerweise niemandem etwas erzählt hatte, waren mehr als drei Monate vergangen. Der nasskalte Winterregen war einem stürmischen Januar und einem überraschend sonnigen Februar gewichen. Ihr Geburtstag war lange vorbei, der Valentinstag kam und ging, aber ihr Wunsch hatte sich auch diesmal nicht erfüllt.

René hielt ihr stolz einen Karton mit Laufschuhen entgegen. (Atmungsaktiv, superleicht, der Porsche unter den Laufschuhen, für meine Liebste zum Valentinstag!)

Auch im März war niemand auf die Idee gekommen, Rosalie ein kleines goldenes Vorhängeschloss zu schenken. Und inzwischen war es April.

So viele Wünsche, so viele Pleiten. Die Bilanz der letzten Jahre führte Rosalie zu der Einsicht, dass es vielleicht an der Zeit war, ihr kindisches Geburtstagsritual einzustellen und erwachsen zu werden. Wenn auch in diesem Jahr nichts passierte, würde sie jedenfalls nicht mehr auf den Eiffelturm steigen.

Die Luft war mild, und es wurde allmählich Frühling. Und der Frühling löst manchmal die Versprechen ein, die der Winter einem schuldig geblieben ist.

Das jedenfalls schrieb Rosalie gerade auf eine ihrer Karten, als es unten an der Ladentür energisch klopfte.

3

Le Vésinet war ein zauberhaftes Städtchen, das etwa zwanzig Kilometer westlich von Paris entfernt inmitten einer Biegung der Seine lag. Noch heute konnte man spüren, dass dieser Ort, der zur Region Île-de-France gehörte, in früheren Zeiten ein Waldgebiet gewesen war, das der König gerne für die Jagd genutzt hatte. Die Impressionisten hatten sich hierherbegeben, um an den verträumten grünen Ufern der Seine die unberührte Natur auf die Leinwand zu bannen, und auf manchen Wegen sah es noch heute genauso aus wie auf den Gemälden von Manet oder Monet.

Vornehme alte Villen lagen geschützt hinter Hecken und Steinmauern, grüne Auen, Parks und stille Seen erfreuten das Auge, und wenn man die alten Alleen entlangfuhr und das Licht durch die hohen Bäume fiel, von denen viele über hundert Jahre alt waren, wurde man unwillkürlich von einem großen Frieden erfasst. Mit anderen Worten: Le Vésinet war der perfekte Ort, wenn man seine Ruhe haben wollte.

Es sei denn, so dachte Max Marchais grimmig, man hatte einen Verleger im Nacken, der einem keine Ruhe ließ.

Der berühmte Kinderbuchautor saß an seinem Schreibtisch und blickte hinaus in den Frühlingsmorgen, hinaus in seinen idyllischen Garten mit der großen Wiese, der alten Kastanie und dem blühenden Herzkirschbaum, dem kleinen dunkelgrün gestrichenen Gartenpavillon und den Hortensienbüschen, als das Telefon erneut klingelte.