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ÜBER DEN AUTOR

Philipp Tingler ist Schweizer (aus Neigung) und Berliner (von Geburt). Er studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie in St. Gallen, London und Zürich und verfasste eine Dissertation über den transzendentalen Idealismus. Als Schriftsteller und Essayist mehrfach ausgezeichnet, schreibt er neben Romanen, Kurzprosa und Sachbüchern regelmäßig für Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen, u.a. Kolumnen für den Zürcher Tages-Anzeiger, das Magazin Business Punk und die Welt am Sonntag. Bei Kein & Aber erschienen viele seiner Werke, zuletzt der Roman Doktor Phil (2010) und Leichter reisen (2011), ein illustriertes Vademecum für unterwegs.

philipptingler.com

ÜBER DAS BUCH

Was ist Freiheit? Inwiefern wird sie heute bedroht durch dogmatische Ideologien und die Albernheiten des Internetzeitalters? Ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf die klassischen Tugenden des Liberalismus, gegen Fundamentalismus und für das autonome Handeln des Einzelnen.

Nothing is more obstinate than a fashionable consensus.

MARGARET THATCHER

INHALTSVERZEICHNIS

 

PROLOG

Was hat Konsum mit Freiheit zu tun?

I. ROLLEN UND KULISSEN

§1 Alterslosigkeit

§2 Albernheit

§3 Unsicherheit

§4 Konsumverzicht

II. WAS IST FREIHEIT?

§5 Axel Honneths Konzept der Freiheit

§6 Freiheit gegen Transparenz: Welt ohne Stecker

§7 Freiheit und Konsum: Was heißt liberal?

§8 Die Gefahr des Fundamentalismus

III. IRONIE ALS KULTURLEISTUNG

§9 Kulturformen des Humors und die Teilung des Westens

§10 Die Schweiz und England: Splendide Isolation

Bibliografie

PROLOG

Was hat Konsum mit Freiheit zu tun?

Kennen Sie das Glück? Und zwar ein ganz spezifisches Glück, nämlich jenes der daseinsvalidierenden Befriedigung durch Konsum? Es handelt sich hier um ein Glücksgefühl, das einem früher, vor der Massenkonsumgesellschaft, die Kunst verschafft hat – jedenfalls nach Auffassung jener beiden Experten, die ich, es ist noch nicht lang her, an einem Sonntagvormittag, wach durch Jet Lag, im Schweizer Fernsehen sah (also: konsumierte), im Rahmen einer philosophischen Sonntagssendung. Es handelte sich um irgendeinen Kulturwissenschaftler, dessen Name leider in Vergessenheit geraten ist, und den Philosophen und Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich, den ich schätze und für geistreich halte. Die Sendung widmete sich der Frage des Konsums als Lebensinhalt. Offenbar hat die durchschnittliche Person in Westeuropa heute ungefähr 10 000 Gegenstände in ihrem Besitz.

Wortreich beschrieben die beiden Experten, wie der Verbrauch materieller Güter für den spätmodernen Menschen identitätsstiftend sei. Während das Individuum früher Identitätserprobung und Selbstfindung vermittels traditioneller Kulturtechniken – wie zum Beispiel der des Lesens – praktiziert hätte, geschehe dies heute durch Konsum; eine hochdifferenzierte Warenwelt impliziere dabei einen Zwang zur Festlegung, indem jeder kleine Kauf zum Akt der Persönlichkeitskonstitution geriete und Authentizität quasi nur eine Variable in diesem ewigen Spiel der Tauschwerte sei. Das irritierte, zwangsflexibilisierte moderne Subjekt werde inkludiert und exkludiert und instrumentalisiert in endlosen Transaktionen, der Schaffung von Lebenswelten und -werten durch Konsum, der Erziehung und Sozialisierung durch Konsumprodukte, die nebenbei gesagt die wirksamsten Massenmedien unserer Tage darstellten. Hier nun spätestens wurde mir die Sache ein wenig zu dogmatisch und deterministisch. Doch ich hörte weiter zu. Ich bin nämlich duldsam. Nah, nicht wirklich. Ich war jet-lagged.

Konsum mache unfrei, erklärten die Experten. Das Neue werde in der Konsumgesellschaft zum Wert an sich, die Welt und die Dogmen des Konsums breiteten sich aus in alle Sphären, bis in die Politik, die den Wähler und Bürger zum Konsumenten herabstufe, der ständig nurmehr auf den nächsten Reiz warte. Ja, ganz recht, Richard Sennett wurde zitiert, der in seinem Werk The Culture of the New Capitalism konstatiert, dass der arme fragmentierte flexible Mensch, der eine lineare Lebensführung und ein langfristiges, zeitstabiles Identitätsprojekt höchstens noch simulieren könne, sich in irrlichterndem, entfesseltem Konsumieren erschöpfe. Sofern er nicht gleich in die Depression flüchtet, während links und rechts von ihm traditionelle Institutionen und die protestantische Arbeitsethik den Bach runtergehen (und höchstens durch unverbindliche virtuelle soziale Netzwerke ersetzt werden). So steht es dann da, das postpostmoderne Subjekt, unfähig zur Selbstbestimmung, mit einer zersplitterten Biografie, der Konsistenz eines kontextübergreifenden Zeitmanagements und seiner lebensgeschichtlichen Zusammenhänge beraubt. Und irgendwann frisst dann wohl die Apotheose des ständig Neuen, mit ihrem Zwang zur ungehemmten Flexibilität, zu immer wechselnden Rollen, mit ihrer beschleunigten Ideologie der Potenz – sich selbst auf. So ungefähr.

Ich bin entschieden nicht dieser Auffassung. Zunächst einmal teile ich nicht die Einschätzung, dass Lesen als Kulturtechnik veraltet und damit sozusagen aus der Mode wäre. Eine derartige Diagnose ignoriert einen wichtigen Aspekt – und es ist kein Wunder, dass gerade deutsche Kulturwissenschaftler diesen Gesichtspunkt übergehen, weil er in Deutschland immer noch stark tabuisiert ist: Ich meine den Aspekt der sozialen Klasse. Wenn nämlich irgendjemand nicht liest, dann sind das die bildungsfernen Schichten. Aber haben die je gelesen? Das ist das eine. Das andere, Grundsätzlichere, ist, dass ich prinzipiell nicht die Auffassung teile, dass in unseren herrlich beschleunigten Zeiten die alte, gemächlichere Kulturtechnik des Lesens verdrängt würde durch den entfesselten Konsum materieller Güter. Wenn Sie mich fragen, verhält es sich vielmehr so, dass das Buch als Gut genau jene Dynamik mitmacht, die die Experten für sämtliche anderen Güter – von Unterhosen über Joghurt bis zu Mobiltelefonen – feststellen: Es (das Buch) durchläuft eine vielfache modische Differenzierung. Das heißt: Literatur (oder das, was dieses Etikett heutzutage trägt) wird durchaus nicht ignoriert; sondern sie wird konsumiert, konsumiert wie alle anderen menschlichen Artefakte, und wenn die Modisierung alle Bereiche durchdringt, so natürlich auch die des geschriebenen Worts; wenn zunehmend sämtliche Produkte der Mode unterliegen, so auch Bücher. So wie manche Konsumenten eine sinnstiftende Alltagsästhetisierung und die Illusion eines balancierten Daseins durch den Kauf probiotischen Joghurts erfahren, so realisieren dies andere durch den Erwerb und Konsum von Büchern mit Titeln wie Anständig essen.

Ich bin, der Leser wird es an dieser Stelle bereits gemerkt haben, kein Feind des Konsums, sofern er mit dem Markt einhergeht, den ich von allen Ressourcenzuteilungsmechanismen für den besten halte, denn der Markt ist immer noch jene Form der Allokation von Gütern, die mit einem Mindestmaß an ideologischer Unterfütterung auskommt und dem Einzelnen die größte Freiheit lässt. Der Markt ist etwas Wunderbares. Konsum und Konsumprodukte als Rollenangebote stehen grundsätzlich allen offen, die freie Entfaltung des Individuums im Wechselspiel von Individualität und Zugehörigkeit ist eines der großartigen Angebote der Konsumgesellschaft, ein Glücksangebot ohne Fundamentalismus und Aggression. Freiheit und Konsum sind Geschwister. Ich bin auch überhaupt nicht der Meinung, dass der Konsumgesellschaft per se ein Zug zu Normierung und Rückwärtsgewandtheit eingeschrieben sei, wie das die Experten im Sonntagsfernsehen und auch nicht wenige Feuilletonisten behaupten. Konsum per se bedeutet nicht Zerstörung von Vielfalt und die Einebnung kultureller Differenzen, im Gegenteil, bei den heute im freien Teil der Welt exponentiell zunehmenden Kaufoptionen, Kreativitätsräumen und Selbstformungsmöglichkeiten wird Distinktion zum Wert an sich. Natürlich macht Konsum allein nicht glücklich, das ist eine Binsenweisheit. Aber der abgeschmackte Einwand einer endlos desavouierten linken Kulturkritik, die eine globalisierte Warenkultur zum neuen Totalitarismus erklärt, der den Menschen nötige, seine innere Leere mit der Erfüllung ständig frischer Konsumimperative zu übertünchen, sich mit Produkten oder Dienstleistungen zu identifizieren und sein Selbstwertgefühl davon abhängig zu machen, – dieser Einwand zeigt, so plakativ und dogmatisch er ist, unwillkürlich ein anderes Manko auf: Die offenbar inhärente Tragik der modernen, freien, emanzipierten Konsumgesellschaft besteht darinnen, dass sie keine oder jedenfalls wenig geistvolle Gegner hat, namentlich nicht auf dem Feld der Literaten.

Man macht also, wenn man als Schriftsteller an die Freiheit des Marktes und die Freiheit des Einzelnen glaubt, oft die Erfahrung, nicht dazuzugehören. Der britisch-amerikanische Autor Andrew Sullivan, dessen Schrift The Conservative Soul das vorliegende Pamphlet mitinspirierte, beschreibt diese Erfahrung der Isolation wie folgt: »the academic left, for it’s part, retreated into a subculture of postmodern discourse, a subculture that, at it’s worst, opposed basic notions of Western freedom: of speech, of trade, of religion«. Und weiter: »Just as the early civil rights movement degenerated into bitter black nationalism, and the left’s campaign for homosexuality degenerated into a screed in favor of ›queerness‹ for its own sake, so the optimistic left degenerated into resentment and alienation from the center of American discourse.« Dies beschreibt die Situation in den Vereinigten Staaten, illustriert aber auch, hier aus Sullivans Perspektive, die grundlegende Erfahrung des Nicht- oder Nicht-mehr-Dazugehörens. Für Sullivan ist das Erlebnis des Verlusts übrigens eine Grunderfahrung in der Formung der konservativen Seele. Wobei »konservativ« hier im angelsächsischen Sinne zu verstehen ist; wir werden darauf zurückkommen.

Man kann Konsum nur glaubwürdig kritisieren, wenn man ihn ausübt. Man kann hübsche und schicke Leute dann am besten kritisieren, wenn man selbst dazugehört. Die Emanzipation des Konsumenten setzt – den Konsumenten voraus. So wie man die Schönheitsimperative unserer kategorischen Wellness-Gesellschaft nur dann wirklich glaubwürdig anprangern kann, wenn man selbst einigermaßen gut aussieht. Das ist nicht fair, aber wahr. Dass Geld nicht glücklich mache, lässt sich am plausibelsten von reichen Leuten feststellen (die das auch regelmäßig tun). Oder, mit anderen Worten: Man kann den Konsum und seine vermeintlichen neoliberalen Ideale nicht verdammen und so tun, als schwimme man neben dem Mainstream, wenn man in der Tat lediglich erfolglos und verkracht ist, wie so viele Akteure einer angeblich linken Systemkritik.

Ich für meinen Teil werde nie verstehen, wie man den Liberalismus verhöhnen und denunzieren und seinen Niedergang herbeisehnen kann, wie es gegenwärtig nicht nur in Deutschland in der öffentlichen Debatte geschieht und salonfähig ist und sich politisch unter anderem kristallisierte in dem vorübergehenden Erstarken einer politischen Bewegung, die man eigentlich, weil sie nicht kohärent und nicht programmatisch ist, eher als Sammlung bezeichnen müsste: Ich spreche von der sogenannten Piratenpartei. Benannt nach Verbrechern, die Eigentumsrechte verachten – dergestalt sind offenbar die romantischen Träume von Wildheit und Rebellion im Vorstellungsgefüge der bewegungsschwachen Internetgemeinde. Auch darauf werden wir zurückkommen in diesem kleinen Essay, der sich einer Bestandsaufnahme der politischen Kultur der Gegenwart widmet und ihren Rahmenbedingungen und der Bedrohung der Freiheit durch ihre Verächtlichmacher und Nichtversteher. Und wir wollen auch ein Licht in die Zukunft halten. Doch zunächst soll geklärt werden, was Freiheit überhaupt sei. Anschließend werden wir uns unter anderem beschäftigen mit dem Spannungsverhältnis von individueller Freiheit und Öffentlichkeit in der digitalen Gesellschaft, der Gleichzeitigkeit von technischem Fortschritt und neuer Prüderie und dem Humor-Manko des öffentlichen Diskurses besonders im deutschen Sprachraum. Die Freiheit des Westens wird zunehmend bedroht durch Fundamentalismus und Ideologisierung. Basierend auf den Unterschieden zwischen kontinentaleuropäischem und angelsächsischem Konservativismus soll abschließend die Bedeutung einer liberalen Ironie als menschliche und politische Tugend gewürdigt werden – Ironie als Kulturpraxis und natürliche Feindin des Fundamentalismus und Retterin des höchsten Guts: der Autonomie des Einzelnen in der emanzipierten Konsumgesellschaft.

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