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ÜBER DIE AUTORIN

URSULA VON ARX, 1967 geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Psychologie. Sie arbeitete als Lehrerin und Journalistin und war Redakteurin beim NZZ Folio und beim Magazin des Tages-Anzeigers. Bei Kein & Aber erschien 2010 ihr Buch Ein gutes Leben. 20 Begegnungen mit dem Glück. Ursula von Arx ist dreifache Mutter und lebt in Brüssel.

ÜBER DAS BUCH

Niemanden meint man besser zu kennen. Niemanden liebt man mehr von Anfang an. Niemandem bereitet man so viel Leid. Vierzehn Väter, Mütter und ihre Töchter oder Söhne erzählen in diesem Buch in seltener Offenheit über ihr Verhältnis zueinander, von tiefstem Glück und größten Sorgen. Das Panoptikum einer unkündbaren Beziehung.

»Mit großer Leichtigkeit fragt Ursula von Arx nach dem, was einer Biografie Bedeutung gibt.«
FAZ zu Ein gutes Leben

»Wunderbar beobachtete Porträts, in denen die Autorin darauf verzichtet, die Personen zu psychologisieren.«
DER SPIEGEL zu Ein gutes Leben

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Für Vera, Felix und Arno

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

DIRK NIEPOORTS LANGER ATEM

Wer seinem Kind vertraut, stößt es auch einmal vor den Kopf

MEIN ERSTER, MEIN LIEBSTER, MEIN TYRANN

In der Pubertät verwandelte sich ihr Sohn in ein Monster

WIR SPINNEN ALLE IN UNSERER FAMILIE

Ihre Eltern waren komplett anders als andere

WAR ER 75?

Sein Vater lässt ihn heute fast immer kalt

TRENNT EUCH RASCH VON MEINEN KLEIDERN

Ihr Sohn dachte an jedes Detail, bevor er sich das Leben nahm

MAMA, MAMI, PAPA UND PEPE

Paula hat zwei Mütter und zwei Väter, alle vier sind homosexuell

DIE MUTTER IST ERDE, DER SOHN IST LUFT

Nach jahrelangem Schweigen kam es zur Annäherung zwischen den beiden Wesensverschiedenen

BRUDER KUCKUCK

Wer mit einem Autisten zusammenlebt, setzt fast alles aufs Spiel

DIE TOTALE FREIHEIT

Eine antiautoritäre Mutter und ihre autoritäre Tochter

DER VERLORENE SOHN

Mit dem Glauben hat er nur die Haut des väterlichen Pietismus abgestreift

KURZE BEINE, GROSSES HERZ

Eine kleinwüchsige Tochter lehrt ihre Mutter das Leben

IN DER WUT NENNE ICH IHN STAUBLAPPEN

Schlimmer als ein schwerer Unfall ist ein distanzierter Sohn

DAS GEFESSELTE HERZ

Sie tat alles für ihre Tochter, nur richtig lieben konnte sie sie nicht

HINTER GITTERN

Nichts macht ein Kind für einen Vater so unschuldig wie das Gefängnis

VORWORT

Manchmal bemerkt man seinen Irrtum auf den ersten Blick. Wie dieser Freund von mir, der in seiner Jugend viel Existentialismus gelesen hat. Als er Vater wurde, erwartete er ein Wesen ohne Spuren und Vorurteile. Doch als er in die blauen Augen des Neugeborenen blickte, Minuten nach der Geburt, sah er, dass er sich getäuscht hatte: Da war eindeutig jemand zu Hause; jemand mit eigenem Willen und eigener Sicht. »Im Grunde blieb mir nichts anderes übrig, als dasselbe zu sagen wie Fürst Rainier von Monaco«, sagte der Freund. »Der empfing nach dem Formel-1-Grand-Prix den Sieger in seinem Zelt. Und egal, wer gewonnen hatte, Fürst Rainier begrüßte ihn immer mit denselben Worten: ›Ich freue mich ganz besonders, dass Sie es sind.‹«

Das ist das Drama der hier versammelten Geschichten in einem Satz: Zwei Personen treffen aufeinander und bleiben lebenslang verbunden.

Ich habe bei Recherchen noch nie so viele Tränen gesehen wie in den Begegnungen für dieses Buch. Es waren mehr Tränen von Seiten der Eltern als der Kinder, mehr von Seiten der Mütter als der Väter. Es waren Tränen der Rührung, aber noch mehr Tränen der Trauer.

Eine Familie ist kein sicherer Hafen, sie ist ein Wagnis. Wenig ist vergleichbar mit den Verletzungen, die man sich da zufügen kann. Das liegt an der Unkündbarkeit der Beziehung. Man kann zwar brechen mit seinen Eltern, aber Vater bleibt Vater und Mutter bleibt Mutter. Man kann sie nicht ersetzen, so wenig wie man einen Sohn oder eine Tochter loswerden kann. Kein Wunder, wird zwar oft gekämpft, geflüchtet, sich beklagt – und dann doch wieder geliebt. Komplette Ablehnung zwischen Eltern und Kindern ist selten. Nur einer meiner Gesprächspartner hat den Kontakt mit seinem Vater abgebrochen und bemüht sich darum, ihn wie irgendeinen unsympathischen Mann zu sehen. Alle anderen halten aneinander fest.

Oft wird mit psychologisch subtilen, aber umso wirksameren Waffen gekämpft. Etwa wenn eine Mutter ihrem Sohn alles bietet, was ihn fördern könnte, er diese Angebote aber als Übergriffe versteht und als Aufforderung, mehr aus sich zu machen. Oder wenn der pubertierende Sohn vor den Augen seiner erschöpften Mutter die Wäsche zusammenlegt, weil er spürt, dass sie seine Hilfe als Vorwurf empfinden wird.

Die Sicherheit der Beziehung zwischen Eltern und Kind hat schöne Seiten und gefährliche: Keine andere Beziehung im Leben lässt es zu, sich so wenig auf den Standpunkt des Gegenübers einzulassen. Sogar gute Freunde fordern einen in dieser Hinsicht kaum heraus. Wer sich über seinen Vater oder seine Tochter beklagt, muss kaum mit harten, genauen Fragen rechnen.

So war es nicht einfach, Mütter oder Väter mit ihren Töchtern oder Söhnen zu finden, die bereit waren, getrennt über ihre Beziehung Auskunft zu geben. Nicht nur hieß es, das sei zu privat. Ein häufig genannter Grund war auch, dass man zuerst den anderen direkt mit seinen Erinnerungen konfrontieren müsste. Die hier Versammelten beweisen also Mut, auch wenn sie zum Teil unter geändertem Namen auftreten. Denn sie stehen zu ihrer Geschichte und öffnen sie zugleich für den Blick des Gegenübers.

Keiner meiner Gesprächspartner blieb gleichgültig während des oft sehr langen Interviews über den Vater, die Mutter, den Sohn oder die Tochter. Stets ging es auch um die eigene Person. Stets schwang die Frage mit, wie man werden konnte, was man ist, was man genetisch ge- oder vererbt hat, und was durch Erziehung weitergegeben wurde. Die Eltern suchen bei ihren Kindern, die Kinder bei den Eltern nach Spuren des Eigenen. Dazu kommt fast immer die Frage nach den Fehlern. Viele Eltern sehen sich stark in der Verantwortung für das Lebensglück ihrer Kinder. Und die Kinder sehen die Eltern als Mitverursacher ihrer Probleme.

Die Geschichten in diesem Buch zeigen, wie schwer es ist, in der Erziehung den richtigen Weg zu finden. Faustregeln helfen nicht weiter, gefragt ist Urteilsvermögen. Meist geht es um das richtige Maß an Druck, Erwartungen, Gehorsam, Schutz, Geborgenheit, Lob, Freiheit, Kontrolle, Vertrauen. Mal klagten die Kinder über ein Zuviel, mal über ein Zuwenig, und oft relativierten sie sich gleich im nächsten Satz.

Was mich überrascht hat, ist, wie unterschiedlich es zwischen Eltern und ihren Kindern zugeht. Und wie unterschiedlich gut Eltern und Kinder zusammenpassen. Manche können sich harmonisch aneinanderschmiegen. Sie stützen, stärken und ergänzen sich. Andere sprechen nicht dieselbe Sprache und müssen um Verständigung ringen, und nicht immer bemühen sich beide Seiten mit gleichem Elan. Manche sind sich mühelos nah, andere wie Katz und Maus. Was mich beruhigt hat: Fehler werden in jedem Fall gemacht. Und trotzdem finden fast alle Kinder den Weg ins Leben, mal nach dem Beispiel der Eltern, mal in der Gegenrichtung, oft in ganz eigener Regie.

Man sucht sich seine Eltern nicht aus, so wenig wie seine Kinder. Aber es sind die Eltern, die sich für ein Kind entscheiden. Werdende Väter oder Mütter wissen, dass sie einen lauten, hungrigen Unbekannten in die Arme gelegt bekommen, dessen Hilfsbedürftigkeit und dessen Ansprüche sie an die Grenzen ihrer Kräfte bringen können und darüber hinaus. Sie wissen, dass sie sich einem Wesen in die Hand geben, das sich rasant verändert, viel schneller und radikaler als sie selbst, und wer weiß, wohin. Kaum haben sie sich an ein Kind gewöhnt – an das Baby, die Schülerin, den Halbwüchsigen – schon ist es Erinnerung, und jemand Neues gleichen Namens steht vor ihnen. Der sie womöglich beschimpft, beschuldigt und infrage stellt und für den sie sich zuständig fühlen: für jede Dummheit, jeden Misstritt, jedes Husten, jede Katastrophe. Enttäuschungen sind vorprogrammiert.

Die Frage, warum Menschen trotzdem Kinder haben, steht hinter allen Geschichten in diesem Buch. Die Antworten, die ich von den befragten Müttern und Vätern bekommen habe, waren breit gestreut. Bei den ältesten Gesprächspartnern entfaltete das biblische Gebot noch Wirkung, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Bei den jüngeren wurden Kinder als Sinnstifter begriffen, als Gegengift zu überdesignten Wohnungen und Leben. Die Väter präsentierten sich manchmal in der passiven Rolle: Der Wunsch sei von den Müttern ausgegangen. Stets war das Ticken der Norm hörbar, dass Kinder eben zum Leben gehören. Nicht zuletzt wurden sie als Spiegel und Vermittler des eigenen Selbst gesehen.

Die grundlegende Antwort, glaube ich, liegt in den Lach- und Sorgenfalten der Väter und Mütter. Alle haben sie sich auf ein Abenteuer mit offenem Ausgang eingelassen. Wie bei allen Abenteuergeschichten dreht sich auch in den Geschichten dieses Buches alles um Momente großen Glücks. Doch die sind oft banal und schnell erzählt. Viel mehr Raum nimmt die Schilderung der Gefahren und Hindernisse ein. Seefahrer bekommen im Laufe der Zeit verwitterte Gesichter, Eltern zerfurchte. Nicht nur Eltern prägen, auch Kinder prägen, deshalb wohl lassen Menschen sich auf sie ein. Eines aber unterscheidet dieses Abenteuer von allen anderen, auf die sich Menschen miteinander einlassen können: Es gibt kein Zurück. Die Verbindlichkeit zwischen Eltern und Kindern ist radikal und die Grundlage für die tiefsten Gefühle überhaupt, die schönsten und die schmerzhaftesten. Wer Vater oder Mutter wird, sucht Liebe lebenslänglich.

DIRK NIEPOORTS
LANGER ATEM

Er zweifelte lange, denn er litt an mangelndem Selbstbewusstsein neben seinem erfolgreichen Vater. Und als Daniel Niepoort (21) sich endlich entschieden hatte, dass auch er Winzer werden wollte, sagte sein Vater nur: Ich werde dir nicht helfen. Für den Sohn war diese Reaktion unverständlich, für Dirk Niepoort (49) war sie ein Zeichen von Vertrauen.

Wenn Dirk Niepoort an einem Tisch mit vielen Leuten sitzt, mit Weinkritikern und Veranstaltern von Weinevents etwa, dann ist er der Leiseste und gleichzeitig das Zentrum. Er trägt bequeme Kleidung, gelockte, unordentliche Haare, manchmal ein feines Lächeln. Er hat nichts Bestimmendes in seinem Auftreten, er hat überhaupt kein Auftreten, vielmehr ist er das, was man wohl als natürliche Autorität bezeichnen würde.

Dass Dirk Niepoort kein Freund des Flüchtigen ist, mag bei ihm in der Familie liegen. Das Unternehmen Niepoort Vinhos, das er in der fünften Generation leitet, existiert seit 1842. Es bringt immer noch Flaschen auf den Markt, die man für vollen Genuss erst nach einem halben Jahrhundert öffnet. Selbstverständlich denkt Dirk Niepoort – der mit vollem Namen Eduard Dirk van der Niepoort heißt, Eduard nach seinem Großvater – über seine eigene Zeit hinaus. Seine Pläne, Ziele, Visionen seien weniger auf die nächsten vier Monate ausgerichtet als auf die nächsten vierzig Jahre, sagt er. Es arbeite in ihm ohne Unterlass, »meine Firma ist mein Leben und meine erste Liebe, mit allen Konsequenzen«.

Dirk Niepoort hat drei Kinder aus zwei Ehen, wobei vor allem die erste Ehe an seiner geringen häuslichen Anwesenheit gescheitert sei. Eine andere Konsequenz ist, dass er sich als verantwortungsvoller 49-jähriger Unternehmer mit seiner eigenen Nachfolge beschäftigen muss. Er tut das auch, und zwar auf seine Art, sehr locker also, weitsichtig, vorsichtig, mit einem langen Atem. Alles scheint bei ihm auf Nachhaltigkeit angelegt, seine Weinberge in Portugals Douro-Region, der biodynamische Garten vor seinem Wohnhaus in Porto mit den vielen Schmetterlingen, aber vor allem auch die Beziehung zu seinen Kindern, zu Daniel zum Beispiel, seinem Ältesten.

Tatsächlich wird dieser junge, freundliche Mann im Blue-Authentic-T-Shirt – Eduardo Daniel Knöpfel van der Niepoort, Knöpfel nach seiner Mutter – bald zu seinem Vater ziehen, er ist jetzt für zwei Tage hier, um die letzten administrativen Fragen zu klären. Aber eigentlich wird er zu einem sehr guten Freund ziehen. Denn so beschreibt er seinen Vater, als einen sehr guten Freund, der sehr viel von ihm wisse, jedenfalls im Vergleich zur Mutter.

Das ist insofern erstaunlich, als Daniel Niepoort mit ihr sehr viel mehr Zeit verbrachte als mit ihm. Doch örtliche Nähe kann emotionale Distanz schaffen, und örtliche Distanz emotionale Nähe. Als er drei war, zog seine Mutter mit ihm und seinem eben geborenen Bruder von Porto nach St. Gallen, von wo sie ursprünglich stammt, wo sein Vater Wirtschaft studierte und wo die beiden sich kennengelernt hatten. Seither, also seit der Scheidung seiner Eltern, sah er seinen Vater nur in den Ferien, meist in Portugal, oder wenn der Papi, wie er ihn nennt, geschäftlich in der Schweiz zu tun hatte. Ihre Beziehung sei hauptsächlich übers Telefon gelaufen: »Ich wusste, wenn ich ihn brauche, kann ich anrufen.«

Dass er nun, mit 21 Jahren, auch räumlich die Nähe zu seinem Vater sucht, erklärt Daniel Niepoort einerseits mit seinem angespannten Verhältnis zur Mutter, andererseits mit beruflichen Interessen, doch vor allem erklärt er es mit dem Alter: »Meine Mutter hat sehr gut für mich gesorgt, als ich ein Kind war, später orientiert man sich mehr am Vater.« Vielleicht sei es auch eine Frage des Geschlechts, fügt er an, vielleicht müsste er ergänzen »als Junge«, also: als Junge orientiere man sich mit zunehmendem Alter mehr am Vater. Jedenfalls finde er, dass der große Abwesende seiner Kindheit die wenige Zeit, die sie miteinander verbracht hätten, mehr als wettgemacht habe: »Mit Taten. Er hilft einem.«

Wobei Dirk Niepoort mit diesen Taten auf sich warten ließ: »Ich wollte nie jemandem beweisen, dass ich der beste Vater der Welt bin.« Die Beziehung zu Daniel in Ruhe wachsen zu lassen, daran glaubte er, und dass alles Forcierte kontraproduktiv sei. Es widerspreche seinem Charakter grundsätzlich, sich aufzudrängen. Und so habe er darauf vertraut, dass sich sein Kontakt zu Daniel intensivieren würde, sobald sein Sohn selber die Initiative ergreifen könne, sobald er zum Beispiel ein Handy besitze und ihn von sich aus anrufen könne. Und so sei es auch gewesen.

Seine Ex-Frauen konnten diese abwartende Haltung nicht immer nachvollziehen, es wurde ihm Egoismus und Gleichgültigkeit vorgeworfen. Dirk Niepoort erinnert sich an eine Szene, da lag er auf dem Sofa, die Zeitung in der Hand, daneben Daniel und seine Halbschwester Anna, zeichnend. Alle glücklich, alle bei sich und mit den anderen, Friede. Da sei seine Frau nach Hause gekommen und habe in vorwurfsvollem Ton zu ihm gesagt: »Wenn du ausnahmsweise mal hier bist, würdest du dich nicht besser mit den Kindern beschäftigen?« – »Aber warum hätte ich das tun sollen?«, fragt er. »Es wäre aufgesetzt gewesen. Es hätte weder mir Freude bereitet noch Daniel noch Anna, die ja ganz in ihrem Tun aufgingen. Warum hätte ich sie dabei stören sollen?«

Er habe mit seinen Kindern immer auf einen beiläufigen Umgang gesetzt, sagt er, darauf, dass man das tue, was einem natürlich erscheine. So entwarf er für Daniel kein Spezialprogramm, wenn er bei ihm in den Ferien war, sondern er nahm ihn einfach überallhin mit, in die Kellerei, zu Geschäftsessen, ins Büro oder in den Rebhang zur Ernte. Diese Erfahrungen hätten seinem Sohn geholfen, mit den verschiedensten Leuten umzugehen, ist der Vater überzeugt. Daniel zeige keine Scheu gegenüber Reichen, Gebildeten, Prominenten, und er zeige absolut keinen Dünkel gegenüber Bedürftigen oder weniger gebildeten Menschen. »Je anpassungsfähiger jemand ist, desto freier ist er zu tun, was er will«, sagt Dirk Niepoort, und dass er das seinen Kindern immer habe klarmachen wollen. Er glaube, dass Daniel sehr anpassungsfähig sei und in diesem Sinne frei.

Vielleicht lag es an der Freiheit, die er verspürte. Auf jeden Fall war es für Daniel Niepoort nicht einfach herauszufinden, was er beruflich machen wollte. Eine Winzerlehre war naheliegend. Er war oft mit seinem Vater im Douro unterwegs gewesen, und er hatte dessen Leidenschaft für Wein früh vermittelt bekommen. Doch obwohl nie Druck auf ihn ausgeübt worden war, trug er lange eine Frage mit sich herum: »Würde ich das nur für meinen Vater tun oder wirklich für mich?«

Als er sich endlich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte und sie dem Vater eröffnete, reagierte dieser zunächst gar nicht. Sie waren im Auto unterwegs nach Frankreich, und sein Vater schwieg einfach.

Nach einer Weile fragte Daniel Niepoort: »Papi, hast du gehört? Ich will Winzer werden. W I N Z E R! Verstehst du?«

Der Vater sagte nur: »Daniel, ich werde dir nicht helfen.«

Darauf Daniel Niepoort: »Bist du denn nicht glücklich?«

Der Vater wiederholte nochmals, dass er ihm nicht helfen werde.

»Irgendwann fing ich an zu weinen. Dass er so abweisend reagieren würde, hatte ich ja nun wirklich nicht erwartet.« Und erst da, nach seinen Tränen, habe sein Vater Emotionen gezeigt und gesagt: »Daniel, ich bin der glücklichste Vater der Welt, aber ich darf es dir nicht zeigen.«

Er wisse nicht, sagt Daniel Niepoort, ob er diesen Satz damals verstanden habe. Er wisse nur, dass er ihn niemals vergessen werde.

Dirk Niepoort freute sich auf jeden Fall, als er erfuhr, dass sein Erstgeborener sein Metier erlernen wollte. Und drei Jahre später freute er sich nochmals, als auch der zweite Sohn diesen Weg einschlug: »Denn mit Wein zu arbeiten ist ja wirklich etwas Schönes.«

Er wollte Daniel allerdings klarmachen, dass er sich nicht darauf verlassen durfte, bei Niepoort Vinhos ein sicheres Unterkommen zu haben. Er wollte, dass er sich bewusst wird, dass er nicht alleine ist. Daniel hat zwei Geschwister, und außerdem hat Dirk Niepoort eine Schwester, die ebenfalls zwei Kinder hat. Es sind also fünf Personen, die eines Tages klären müssen, wie sie sich organisieren und das Unternehmen untereinander aufteilen wollen. In seiner Generation ist er der Hauptverantwortliche für die Entscheidungen, die gefällt werden, aber seine Schwester will mitreden. Schon zu zweit ist es nicht einfach, sich einigen zu können. Zu fünft wird diese Aufgabe nicht leichter.

Auch darum wollte Dirk Niepoort ganz sicher sein, dass Daniel wirklich das tut, was er tun will. Er wünschte sich keinen Sohn, der sich als Erfüllungsgehilfe von vermeintlich väterlichen Erwartungen zu etwas zwinge, was nicht seins ist. Daraus entstehe nichts Gutes. »Du kannst, wenn du wirklich willst«, an diesen Satz glaubt Dirk Niepoort aufgrund eigener Erfahrung. Voraussetzung für die Bewahrheitung dieses Satzes sei allerdings, dass man wisse, was man wolle. Wie oft war er als Spinner verschrien worden, weil er neue Wege beschritt, sei es im Marketing, sei es in der Produktion, sei es, als er das Douro-Gebiet nicht nur als Portwein-Gegend, sondern auch als Anbaugebiet für trockenen Weiß- und Rotwein bekannt machen wollte. Starke Anfechtungen könne man nur mit starken Überzeugungen kontern, sagt er. Und deshalb also, um den Willen seines Sohnes zu prüfen und zu festigen, habe er ihn anfangs ganz bewusst weder moralisch bestärkt noch sonst unterstützt. Er habe ihm keine Türen geöffnet und keine Beziehungen spielen lassen. Er ließ ihn seine Lehrstellen alleine suchen.

So lernte Daniel Niepoort den Weinbau in der Schweiz. Manchmal habe er ihn dann aus Winterthur oder Maienfeld oder Tartegnin angerufen, etwa mit der Frage: »Papi, sag mal, würdest du einen Wein aus dem Jahr 2010 mit einem Etikett aus dem Jahr 2011 versehen, nur, weil du keine 2010-Etiketten mehr hast?« Und natürlich habe er da sagen müssen: »Nein, auf keinen Fall, das ist total unseriös.«

Aber Dirk Niepoort ist der Meinung, dass man aus Fehlern sowieso am meisten lerne und dass es in der Lehrzeit in erster Linie darum gehe, neue Wirklichkeiten kennenzulernen. »Und wenn er schon Schweizer ist, soll er doch bitte auch die typisch schweizerischen Tugenden verinnerlichen: Pünktlichkeit, Präzision, eine gewisse Bodenständigkeit. Und danach bringe ich ihm das gewisse Etwas bei.«

Dabei ist ihm bewusst, dass »es das Normale wäre, den Kindern gleich das Beste zu geben«. Er hält das jedoch für nutzlos. Zuerst müsse man die Grundlagen beherrschen. Weniges gründlich zu begreifen bringe einen tausendmal weiter als ein Haufen Halbwissen, auch menschlich: »Hätte ich Daniel von Anfang an zum besten Winzer der Welt geschickt, in die Domaine de la Romanée-Conti, dann hätte ich ihn verdorben. Dann wäre er womöglich einfach nur ein arroganter Angeber geworden.« Jetzt hingegen sei die Zeit reif dafür, und nächste Woche gehe er tatsächlich.

Der Sohn hat seine Bewährungsprobe offenbar bestanden, der Vater ist nun bereit, ihn beruflich unter seinen Schutz und Schirm zu nehmen. Doch der Weg dahin verlief nicht ohne Krisen.

Daniel Niepoort sagt, er sei nicht mit der Selbsteinschätzung aufgewachsen, der Mittelpunkt der Welt zu sein. Zwar ist er durchaus mit Aufmerksamkeit genährt worden. Dennoch hielt er zeitweise nicht viel auf sich. Dass bei ihm in der Schule Legasthenie festgestellt wurde, verunsicherte ihn zusätzlich. Kein Wunder, suchte er sich damals einen Freund aus, der ihn behandelte wie einen Diener.

Sein Vater wurde in jenen Jahren für ihn eine Art Sehnsuchtsgestalt, ein fernes Vorbild. Als dieser ihn kürzlich gefragt hatte, ob er ihm erklären könne, warum Anna, seine Halbschwester, sich sträube, Portugiesisch zu sprechen, konnte er das genau erklären: Weil diese Sprache mit Schmerz verbunden ist, mit dem Schmerz des Abschieds. Weil sie an den Vater erinnert, der meist anderswo ist als man selbst.

Aus dem fernen wurde später ein unerreichbares Vorbild. Die schwierigste Zeit mit seinem Vater war in seinem dritten Lehrjahr. Daniel Niepoort hatte sich entschieden, in dessen Fußstapfen zu treten, und er litt plötzlich unter der vermeintlichen Gewissheit, die seien viel zu groß für ihn. Er beobachtete seinen Vater jetzt mit scharfem Blick und wurde dabei kleiner und kleiner. Er beobachtete, wie dieser Wein degustierte und ihn mit klaren Worten zu bewerten wusste; wie er Vorträge hielt und die Zuschauer mit freundlicher Souveränität bannte; wie er mit Besuchern und seinen Mitarbeitern umging, so selbstverständlich, so ruhig, so sicher. Manchmal sprach er mit ihnen Englisch, dann wieder Portugiesisch, manchmal Spanisch oder Italienisch. Mit Daniels Westschweizer Lehrmeister sprach er Französisch, mit seiner eigenen Mutter Deutsch, mit Daniels Mutter Schweizerdeutsch, alles hatte er im Repertoire. Dazu steckte er voller Ideen und seine Antennen waren permanent auf Empfang. Ging man mit ihm zum Beispiel im südafrikanischen Stellenbosch in eine Buchhandlung, schaute er sich ein bisschen um, kam in ein lockeres Gespräch mit der Besitzerin des Ladens und saß wenige Augenblicke später im Haus gegenüber beim Mittagessen mit einer Cartoonistin, deren Arbeiten er gerade eben entdeckt hatte. Monate später konnte man das Ergebnis dieser Unterredung sehen: als Etikett zu Ubuntu, dem Niepoort-Rotwein zur Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika.

Sein Vater habe dann irgendwann bemerkt, dass es ihm nicht gut gehe, und er habe versucht, ihm Mut zuzusprechen: »Daniel, keiner erwartet, dass du die Firma übernimmst, wenn du das nicht magst.« Und: »Daniel, du hast alle Freiheiten und alle Zeit der Welt, dir zu überlegen, was du machen willst.« Und: »Daniel, als ich so alt war wie du, wusste ich nicht die Hälfte von dem, was du weißt.« Und als sein Vater bemerkt habe, dass er ihn zu kopieren versuchte, habe er es noch mit Humor versucht: »Daniel, du wirst deinen eigenen Weg gehen müssen. Die Welt ist zu klein, um zwei Idioten wie mich ertragen zu können.«

Zu Selbstvertrauen hat Daniel Niepoort nicht wegen der tröstenden Worte seines Vaters gefunden, sondern wegen seiner eigenen Taten, und zwar, er gibt es nicht gerne zu: im Militärdienst. Man gab ihm dort die Verantwortung über eine achtköpfige Gruppe. Und siehe da, er war in der Lage, sie zu motivieren. Er bekam die schwierigsten und frechsten Soldaten zugeteilt, und er brachte es fertig, dass sie fünfzig Kilometer marschierten, einfach, weil er es ihnen befahl. Er hatte eine Unterredung mit einem sehr hohen Vorgesetzten, normalerweise dauerte die für Leute seines Rangs zehn Minuten. Bei ihm dauerte sie eineinhalb Stunden, weil er diesem Menschen ins Gesicht sagte, dass er nicht so werden wolle wie er. Dass unter Gebrüll und Demütigungen keiner gern gehorche, dass Respekt der bessere Weg sei, Menschen zu führen. Und er sagte auch, dass er das von seinem Vater gelernt habe.

Inzwischen ist er seinem einst fernen Vater so nahe gekommen, dass er auch Dinge an ihm sieht, die er nicht übernehmen möchte. Sein Vater sei zum Beispiel »ein bisschen ein Bürochaot«. Daniel Niepoort denkt zudem, dass sein Vater seiner Mutter vor der Heirat deutlich hätte sagen müssen, was sie an seiner Seite erwartete. Denn seine Mutter sei konservativ. Sie habe sich immer geordnete Verhältnisse gewünscht: Der Mann kommt nach Feierabend nach Hause, dann setzt man sich gemeinsam vor den Fernseher. Unregelmäßigkeiten hingegen bereiteten ihr Mühe. Doch genau dafür stehe sein Vater. Häufig sei er auf Reisen, zu Hause gebe es Einladungen, viele Gäste, mehrfach mit geschäftlichem Hintergrund, immer Bewegung. Ihm, Daniel, mache das nichts aus, im Gegenteil, er möge es, zu improvisieren.

Schwieriger zu akzeptieren waren für ihn die neuen Frauen an der Seite seines Vaters. Wenn seine Mutter einen neuen Freund hatte, dann habe er damit eigentlich nie Probleme gehabt, weil er gesehen habe, wie sie aufblühte. Beim Vater war es anders. Daniel mochte die Nachfolgerin seiner Mutter gar nicht. Er war damals etwa zehn Jahre alt und fand, sie kümmere sich auf völlig übertriebene Art um ihn, und als sie dann ihr eigenes Kind hatte, war er auf einmal Luft für sie, so nahm er das wahr. »Aber vielleicht war ich einfach nur eifersüchtig, weil ich und mein Bruder jetzt unseren Platz teilen mussten mit dieser Frau und diesem Kind.«

Bezüglich der aktuellen Freundin seines Vaters bemüht Daniel Niepoort sich um Ausgewogenheit: »Sie ist ein sehr netter Mensch. Wirklich. Manchmal ist sie fast überfreundlich. Wenn ich ihr helfe, die Garage aufzuräumen, dann höre ich immer wieder, was für ein toller Typ ich sei. Wenn ich ihr ein Glas Mandarinensaft bringe, bedankt sie sich tausendmal.« Für ihn, sagt er, sei das ein bisschen viel. Doch man werde bestimmt einen Weg finden miteinander. Man werde ja bald zusammenwohnen, und er rechne es ihr auf jeden Fall hoch an, dass sie dazu ihr Einverständnis gegeben habe.

Daniel sage, was er denkt, sagt Dirk Niepoort, ohne Scham und Kalkül. Er sei ehrlich, manchmal fast naiv, ein eigentlich ziemlich perfekter Mensch. Er gerät ins Schwärmen, wenn er an die Geschichte denkt, in der sein Sohn einem Vorgesetzten beim Militär seine Führungsprinzipien erläuterte. Weil er keine Maske aufhabe, sei Daniel ohne Angst, jemand könne sie ihm abreißen. Und er sei ohne Zwang, einem falschen Bild von sich entsprechen zu müssen. Er sei fast zu gut für diese Welt. Das mache ihm nicht wirklich Sorgen, nur ein bisschen, er halte ihn für pfiffig und intelligent genug, seinen Weg zu finden.

»Überhaupt Intelligenz«, sagt Dirk Niepoort jetzt, »was ist das schon?« Sein Sohn war kein besonders guter Schüler. Er selber auch nicht und seine Eltern hätten ihn deswegen nicht mit Verachtung bestraft. »Sieh zu, dass du Sprachen lernst«, habe seine Mutter gesagt, »das wirst du immer brauchen können.« Sie hat ihn für seine Lehr- und Wanderjahre ins fremdsprachige Ausland geschickt, damit war das Thema für sie erledigt. Sie sei eine großartige Frau, sagt er und fährt fort: Intelligenz sei das eine, wie man sie nutze das andere. Und auf die Praxis komme es an. »Du musst nicht der Beste sein«, habe er zu Daniel immer gesagt, »aber du musst lernen, den Besten zu erkennen, um mit ihm zusammenzuarbeiten.«

Überhaupt müsse man lernen, seine Fähigkeiten richtig einzusetzen. Und das sei vielleicht das Schwierigste, weil man dafür nicht um ein Rendezvous mit sich selbst herumkomme. Daniel zum Beispiel habe eine große Sensibilität, er spüre, wenn einer etwas gegen ihn habe, bevor dieser es selbst merke. Eine Gabe, die einerseits zu einer guten Menschenkenntnis verhelfen und sehr förderlich sein möge, sowohl im Alltag als auch im Geschäftsleben, die andererseits jedoch dazu führen könne, dass man jede Regung auf sich selbst beziehe und sich so in einem permanenten Zustand der Kränkung befinde.

Wenn man Dirk Niepoort bittet, zu sagen, was die Grundlage seiner Beziehung zu Daniel sei, dann zögert er keine Sekunde: Vertrauen. Daniel habe ihm einerseits geholfen, Selbstvertrauen als Vater zu gewinnen. Denn kurz nach der Trennung von Daniels Mutter war er einmal für zwei Wochen mit ihm allein, und er glaube, das sei sehr wichtig gewesen, weil er da gemerkt habe, dass er ja ganz gut klarkomme mit Kindern beziehungsweise mit Daniel.

Andererseits vertraue er ihm: Einmal bekam er einen Telefonanruf, sein Sohn habe eine Scheibe zerschlagen. Dirk Niepoort redete daraufhin mit Daniel, dieser bestritt die Tat. Er glaubte ihm. »Was, du glaubst mir?«, habe Daniel ihn überrascht gefragt. »Ja, wenn du mir sagst, du hast es nicht getan, dann glaube ich dir«, habe er ihm geantwortet.

Und er hoffe, sagt Dirk Niepoort, dass Daniel auch ihm vertraue, dass er ihm die Sicherheit vermitteln könne, für ihn da zu sein. Sein eigener Vater habe ihn jeweils einfach ins kalte Wasser geworfen und sei dann weggegangen. Er habe wahrscheinlich hinter der Tür gestanden und ihn durch einen Spalt beobachtet. Er wäre bestimmt sofort herbeigerannt, wenn der Sohn am Ertrinken gewesen wäre. »Aber ich konnte nicht sicher sein, ich konnte es vermuten, hoffen, doch sicher war ich nicht.« Im Grunde habe ihn sein Vater mit in weißen Handschuhen verabreichten Ohrfeigen erzogen, so habe er das empfunden. »Das tat nicht weh, das waren gepolsterte Schläge oder ungeschickte Zärtlichkeiten, je nachdem, wie man es sehen wollte.« Auf jeden Fall wusste Dirk Niepoort nie, wo er stand, oder wie sein Vater zu ihm stand. Ob er ihm vertrauen konnte oder ob er ihn fallen lassen würde. Vielleicht war die Botschaft hinter dieser Art Erziehung, dass man nur sich selber trauen soll. Vielleicht glaubte sein Vater, so das Selbstvertrauen seines Sohnes zu stärken. Denn was immer er schaffte, er schaffte es ohne die Hilfe des Vaters.

Auch Dirk Niepoort will, dass sein Sohn es alleine schafft. Und tatsächlich war die für Daniel Niepoort vielleicht wichtigste Anerkennung sein ganz allein errungener Führungserfolg beim Militär. Dennoch suchte Dirk Niepoort in der Erziehung seiner Kinder einen anderen Weg als sein Vater. Er verlangt Eigenständigkeit, will aber zugleich fassbar sein. Er führt und leitet Daniel zwar durchaus an, doch an einer lockeren Leine.

»Ich weiß, dass ich meinem Vater vertrauen kann«, sagt Daniel Niepoort, »in jeder Lebenslage und besonders, wenn ich Mist gebaut habe.« Ein Lehrmeister in Australien wollte ihm einmal damit drohen, dass er seinem Vater erzähle, dass er sternhagelvoll gewesen war. Da hat Daniel Niepoort geantwortet: »Schon gut, aber mein Vater ist bereits informiert. Ich habe es ihm selbst gesagt.«