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ÜBER DIE AUTORIN

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Eine Nacht, Markowitz ist ihr Romanerstling, dem 2012 der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen wurde und der zurzeit verfilmt wird.

ÜBER DAS BUCH

Ausgerechnet der unscheinbare Jakob Markowitz soll die schöne Bella heiraten, um ihr die Flucht aus dem nationalsozialistischen Europa zu ermöglichen. Doch zurück in Palästina sieht Markowitz nicht ein, sein unverhofftes Glück wieder aufzugeben, und verweigert Bella die vorher vereinbarte Scheidung.

»Ein bemerkenswerter Roman, pointiert und voller Liebe, in seiner Reife und Weisheit höchst beeindruckend. Lesen Sie einfach den Anfang, Sie werden nicht mehr aufhören können.« Jedi’ot Acharonot

»Ein Glück, wenn nicht ein Wunder, dieses Debüt!« Marie-Luise Scherer

Für Yoav

»Auch eine Faust war einmal eine offene Hand.«

Jehuda Amichai

Vorher

1

Jakob Markowitz war nicht hässlich. Was nicht heißen soll, dass er schön gewesen wäre. Kleine Mädchen plärrten bei seinem Anblick nicht los, lächelten ihn aber auch nicht an. Er war, kann man sagen, von brillanter Mittelmäßigkeit. Ja, mehr als das: Jakob Markowitz’ Gesichtszüge waren ausgesprochen nichtssagend. So nichtssagend, dass das Auge kaum darauf verharren konnte, sondern zu anderen Dingen weiterglitt. Zu einem Baum am Straßenrand. Einer Katze in einer Ecke. Um Jakob Markowitz’ langweilige Züge eingehender zu erforschen, waren ungeheure Anstrengungen erforderlich. Der Mensch reißt sich nicht um ungeheure Anstrengungen, und so kam es, dass ihm nur selten jemand lange ins Gesicht sah. Das hatte auch Vorteile. Der Gruppenführer erkannte sie. Er sah Jakob Markowitz genauso lange ins Gesicht, wie er brauchte, und wandte dann den Blick ab. Der Gruppenführer sagte: Du wirst Waffen schmuggeln. Bei so einem Gesicht wird das keinem auffallen. Und er hatte recht. Jakob Markowitz schmuggelte Waffen, vielleicht mehr als jedes andere Mitglied der Irgun, und nie geriet er in die geringste Gefahr, geschnappt zu werden. Der Blick der britischen Soldaten glitt an seinem Gesicht ab wie Öl an der Pistole. Ob die Kameraden der Irgun ihn wegen seines Wagemuts schätzten, wusste er nicht. Nur wenige sprachen ihn an.

Wenn er nicht gerade Waffen schmuggelte, bestellte er das Feld. Abends saß er hinter seinem Haus und fütterte die Tauben mit Brotresten. Sehr bald versammelte sich dort ein fester Schwarm, der ihm aus den Händen fraß und auf seinen Schultern landete. Hätten die Kinder der Moschawa das Schauspiel gesehen, wären sie in Gelächter ausgebrochen, aber kein Mensch kletterte über die steinerne Einfriedung. Nachts las er Jabotinskys Schriften. Einmal im Monat fuhr er nach Haifa und schlief mit einer Frau gegen Geld. Mal war es dieselbe, mal eine andere. Er vertiefte sich nicht in ihre Gesichtszüge und sie nicht in seine.

Einen Freund hatte Jakob Markowitz. Seev Feinberg war vor allem Schnauzer. Noch vor den blauen Augen, den dicken Brauen, den scharfen Zähnen. Seev Feinbergs Schnauzer war in der Gegend berühmt, manche meinten, sogar im ganzen Land. Als ein Irgun-Mann von einem Einsatz im Süden zurückkehrte, erzählte er von »einem rotbäckigen Mädel, das fragte, ob der schnauzbärtige Sultan noch bei uns ist«. Alle lachten, aber Seev Feinberg lachte am lautesten. Und wenn er lachte, wippte der Schnauzer über der Oberlippe, schlug Wellen über Wellen, so freudig vibrierend wie sein Besitzer seinerzeit zwischen den Schenkeln des Mädels. Es war klar, dass Seev Feinberg nicht dazu geschaffen war, Waffen zu schmuggeln, weil sein Schnauzbart ihm vorauseilte wie eine Kolonne schwarzer Ausrufezeichen. Man hätte blind und dumm sein müssen, um ihn nicht zu bemerken. Die Briten waren zwar dumm, aber es wäre doch zu optimistisch gewesen, sie dazu noch für blind zu halten. Aber wenn Seev Feinberg auch keine Waffen schmuggeln konnte, so konnte er umso besser Araber in die Flucht schlagen, und das tat er nächtelang rund um den Ort.

Nur wenige Nächte verbrachte Seev Feinberg allein. Wenn sich herumsprach, dass er den Abend Wachdienst hatte, liefen gleich ein paar Kameraden zusammen. Die einen wollten von den Abenteuern seines Schnauzers zwischen Frauenschenkeln hören, die anderen wollten über die politische Lage und über die verfluchten Deutschen reden, und wieder andere wollten sich nur über die Rinderzucht und das Jäten der Felder und das Ziehen von Weisheitszähnen beraten – einige der Gebiete, auf denen Seev Feinberg sich als Fachmann betrachtete. Auch Mädchen kamen. Seev Feinberg war zwar ein treuer Wächter, den Finger immer am Abzug, aber man muss ja bedenken, dass Gott dem Menschen zehn Finger geschenkt hat, und das nicht umsonst. Der Geruch der Felder nach dem Regen, ein Quäntchen Gefahr (das Rascheln dort – Araber oder Wildschwein?). Das Ächzen und Stöhnen drang manchmal bis an die Häuserwände. Zuweilen gesellte sich Jakob Markowitz zu Seev Feinberg und seinen Kameraden, unterm Arm den zerlesenen Band von Jabotinsky, dem schon Schweißgeruch anhaftete. Seev Feinberg begrüßte ihn freundlich wie jeden anderen. Er war so sehr an menschliche Gesellschaft gewöhnt, dass er gar nicht ungesellig sein konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Nicht mal die Briten verabscheute er wirklich, und tötete er einen Menschen, so tat er es ungern, wenn auch höchst effizient. Das erste Mal hatten sie miteinander geredet, als Jakob Markowitz mitten in der Nacht von seinem Besuch in Haifa heimkehrte. »Halt«, herrschte Seev Feinbergs Stimme ihn im Dunkeln an. »Wer bist du, und woher kommst du?« Jakob Markowitz zitterten die Beine, aber er antwortete mit fester Stimme: »Ich bin Jakob Markowitz. Ich war bei einer Frau.« Seev Feinbergs Lachen weckte die Hühner in den Ställen. Dann fragte er weiter, und Jakob Markowitz antwortete von Herzen gern. Er erzählte von den Nippeln der Frau, die allerliebst gewesen waren, und fand sich sogar bereit, ihren Po und ihre Beine ausführlich zu beschreiben, ohne Seev Feinberg auch nur ein einziges Pfund für das Wissen abzuverlangen, das ihn die Hälfte seines Wocheneinkommens gekostet hatte. Schließlich beugte sich Seev Feinberg zu Jakob Markowitz vor und fragte: »Sag mal, wie feucht war es dort?« Seev Feinbergs Schnauzer kitzelte Jakob Markowitz’ Wange, aber er wagte nicht, sich zu rühren. Noch nie hatte ihn jemand so lange angeschaut. Schließlich begriff er, dass er nicht länger zaudern konnte, und erwiderte: »Was meinst du damit?«

»Was ich damit meine?« Seev Feinbergs Schnauzer peitschte Jakob Markowitz und ließ ihn zurückzucken. Seine blauen Augen weiteten sich in solcher Verblüffung, dass sie Jakob Markowitz um ein Haar mitsamt Jabotinskys Schriften verschlungen hätten. »Ich meine die Vagina, Kamerad. Wie feucht war die Vagina?« Bei Vernehmen des göttlichen Worts schwindelte es Jakob Markowitz, und er sank auf einen Felsblock. Seev Feinberg setzte sich neben ihn. »Dir ist doch hoffentlich klar, dass es unterschiedliche Feuchtigkeitsgrade gibt? Es gibt die Feuchten, und es gibt Tropfnasse, und es gibt welche – ei, ei, ei –, in denen du ertrinken kannst wie im Schwarzen Meer. Das hängt natürlich von der Ernährung des Mädels und vom Wetter ab, vor allem aber von der Leidenschaft, die zwischen dem Mann und der Frau entflammt.« Danach fragte Seev Feinberg erneut, wie feucht es dort gewesen sei, und Jakob Markowitz musste eingestehen, kein bisschen Feuchtigkeit festgestellt zu haben. »Gar nichts?« »Gar nichts. So trocken wie die Felder Ende August.« Nun schwieg Seev Feinberg eine lange Weile und sagte schließlich: »In diesem Fall, Kamerad, rate ich dir zu prüfen, ob sie keine anderen Männer hat. Du kennst sicher den Massenerhaltungssatz. Im menschlichen Körper gibt es eine begrenzte Menge an Flüssigkeiten, und ich fürchte, mein Freund, deine Frau dort in Haifa gibt sie im Beisein eines anderen Mannes ab.« Jakob Markowitz atmete erleichtert auf und erklärte, dass nun alles klar sei: Die Frau in Haifa habe erwähnt, er sei der Vierte an dem Abend gewesen, und in Kenntnis des Massenerhaltungssatzes erscheine es tatsächlich logisch, dort kein Wasser vorgefunden zu haben. Seev Feinberg brach in schallendes Gelächter aus, und Jakob Markowitz musste einstimmen. Er wusste nicht, warum er lachte, wollte es auch nicht wissen. Es war so angenehm, neben diesem Mann zu lachen, dessen Schnauzer die Jesreelebene bezauberte und dessen Lachen durchs ganze Land hallte. Wenn in Seev Feinbergs Lachen Spott mitschwang, so verklang er gleich, das Lachen jedenfalls hielt lange an. Er lachte und lachte, bis sich in seinem Schritt ein kleiner Fleck abzeichnete, und als er das merkte, lachte er noch mehr. Von jenem Abend an waren Jakob Markowitz und Seev Feinberg Freunde.

Zwei Mal rettete Jakob Markowitz Seev Feinberg das Leben, und beide Male an ein und demselben Abend. Als er an dem Tag aus Haifa zurückkehrte, eilte er zum Wachstand, weil er zum ersten Mal im Leben ein Paar ungleich großer Brüste gesehen hatte. Während er noch überlegte, was Seev Feinberg wohl dazu sagen würde, entdeckte er einen geduckten Araber im Gebüsch, den Gewehrlauf auf einen wogenden Klumpen gerichtet, bei dem es sich vermutlich um Seev Feinberg auf einer Frau handelte. Es wäre verlockend zu sagen, dass Jakob Markowitz keinen Augenblick zögerte. Schließlich hatte er bis zu jenem Abend nur Waffen geschmuggelt und, abgesehen von den Ratten, denen er wegen der Flurschäden, die sie anrichteten, den Kopf zerschmetterte, noch nie ein Lebewesen getötet. Er überwand das Zittern in den Beinen, hob lautlos einen glatten, weißen Stein auf und schlug dem jungen Mann mit einem harten Schlag den Schädel ein. Ein Schuss zerriss das Dunkel der Nacht und das Trommelfell von Jakob Markowitz. Er tastete seinen Körper nach Verletzungen ab und stellte fest, dass Seev Feinbergs Pistole diesmal danebengezielt hatte. »Ich bins«, schrie er. »Nicht schießen!«

Seev Feinbergs gemurmelte Dankesworte gingen im Strahl des Kotzens unter. Jakob Markowitz hatte den am Boden Liegenden kaum angesehen, als sich ihm auch schon der Magen umstülpte. Das Blut des jungen Mannes funkelte im Mondlicht, und seine ausgetretene Hirnmasse machte Jakob Markowitz schaudern. Die Grillen jedenfalls zirpten weiter. In seiner Verzweiflung schloss Jakob Markowitz die Augen, verrammelte die Tore seines Geistes gegen die Bilder des jungen Mannes und seines vergossenen Hirns und klammerte sich mit aller Macht an die Brüste der Frau aus Haifa. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er sich anderen, gänzlich symmetrischen Brüsten gegenüber. Rachel Mandelbaum stand zitternd und halb nackt neben Seev Feinberg. Vor lauter Schreck hatte sie vergessen, sich zu bedecken, und nun stand sie in ihrer ganzen Pracht vor ihm, schluchzend angesichts der Leiche des Arabers. Beim Anblick von Rachel Mandelbaums Brüsten versteifte sich Jakob Markowitz’ Glied. Je mehr sich sein Glied versteifte, desto flauer wurde ihm im Kopf, bis er völlig von der Gestalt des erschlagenen Arabers abkam. Langsam, aber sicher dämmerte ihm, dass er Rachel Mandelbaums Brüste anstarrte, obwohl er keineswegs Abraham Mandelbaum war. In dieser Erkenntnis hörte Jakob Markowitz auf, Rachel Mandelbaums Brüste anzustarren, wandte sich an Seev Feinberg und sagte: »Abraham wird dich umbringen.«

Eingeweihte und Unwissende waren sich uneins in der Frage, wie viele Menschen Abraham Mandelbaum getötet hatte. Manche sagten zehn, andere fünfzehn. Wieder andere taten das als Übertreibung ab und behaupteten entschieden, es seien nicht mehr als vier gewesen. Schließlich einigte man sich auf eine symbolische Zahl, sieben. Obwohl alle einhellig annahmen, dass von Arabern die Rede war, höchstens noch einem Briten, konnte kein Mensch die Hand dafür ins Feuer legen. Fliegen überlegten es sich zwei Mal, ehe sie Abraham Mandelbaum in die Nähe kamen. Katzen rieben sich nicht an seinen Beinen. Hätte es im Ort eine Guillotine gegeben, wäre Abraham Mandelbaum ausersehen worden, sie zu bedienen. Da es keine gab, musste er sich mit der Aufgabe des Schächters begnügen. Nur wenige wussten, dass er nachts im Schlaf bitterlich auf Polnisch weinte, rätselhafte Sätze über ein weißes Lamm, einen Zuckerapfel oder die Bosheit der Kinder lallte. Rachel Mandelbaum hörte und verstand es und kletterte still aus dem Bett. Auch von dem Schiff war sie still an Land gegangen, fünf Jahre zuvor. Hatte stumm im Haifaer Hafen gestanden und gewartet, dass etwas geschah. Ihren ganzen Wagemut hatte sie für die Reise nach Palästina aufgebracht, und nun, dort angekommen, besaß sie gerade noch die Energie, stehen zu bleiben und zu warten. Sie wartete nicht lange. Nach einer halben Stunde trat Abraham Mandelbaum zu ihr und stellte sich vor. Er lud sie zu einer Brause am Kiosk ein und nahm sie mit nach Hause. Rachel Mandelbaum folgte ihm wie ein Entenküken, das auf der Hafenmole aus dem Ei geschlüpft war und dem ersten Lebewesen, das es erblickte, nachlief.

Später fragte sie sich, wozu er am Ankunftstag des Schiffes in den Hafen gekommen war. Er hatte an jenem Tag, den er mit ihr im Hafen verbrachte, nichts geschleppt und nichts gekauft. Verwandte hatte er keine, und deshalb nahm Rachel Mandelbaum an, dass er niemanden hatte abholen wollen. Hier irrte sie sich. Abraham Mandelbaum kam alle paar Wochen in den Hafen, um die Schiffe zu begrüßen. Wenn der Hunger groß genug ist, reicht schon die Erwartung allein, um die Leere im Magen wenigstens etwas zu füllen. Abraham Mandelbaum besah sich die von Bord Gehenden – grünliche Gesichter, blasse Glieder – und versuchte, einen bekannten Gesichtszug zu erkennen. Nach einer Weile verliefen sich die Leute, und Abraham kehrte heim. An dem Tag, an dem er Rachel erblickte, wusste er sofort Bescheid, wartete aber noch dreißig quälende Minuten, um sicher zu sein. Kein Mensch kam. Sie tat keinen Schritt. In ihrem grünen Kleid wirkte sie auf ihn wie eine ins Meer geworfene und nun an Land gespülte Flasche, und er, der alleinstehende Überlebende, würde sie aufheben und den Inhalt der Flaschenpost lesen. Er nahm sie mit nach Hause und heiratete sie, aber niemals gelang es ihm, die Worte in der Flasche zu entziffern.

Rachel Mandelbaum, geborene Kanzelpult, legte das grüne Kleid ab und nähte Gardinen daraus. Aus dem roten Ballkleid machte sie zwei Tischdecken und einen Kissenbezug. Fünf Monate nach ihrer Ankunft erinnerte fast nichts mehr an das ehemalige Stadtmädchen. Das ganze Haus war voll mit textilen Andenken an ihr früheres Leben, die zusehends verblichen und verschlissen, bis man meinen konnte, diese Stoffe seien seit eh und je hier, in Palästina, gewesen. Die anderen Frauen betrachteten sie mit Anerkennung und Erstaunen. Einerseits ist es wahrhaft erfreulich, wie gut sie sich einlebt, nicht wie diese verwöhnten Damen, die hier ankommen und meinen, sie befänden sich in einem Feriendorf bei Zürich. Andererseits, mit welchem Gleichmut sie die modernsten Kleider in Gardinen verwandelt, Gott bewahre, die Creme de la Creme der Wiener Mode wird bei ihr zum Handtuch in der Fleischerei ihres Mannes. Auch die deutsche Sprache hatte Rachel Kanzelpult abgelegt. Sobald sie im Haifaer Hafen einen Fuß an Land gesetzt hatte, hatte sie sich geschworen, nur noch Hebräisch zu sprechen. Da sie kein einziges Wort konnte, hüllte sie sich lieber in Schweigen, selbst wenn ihr Gesprächspartner ebenfalls Deutsch sprach. Als Beamte von der zionistischen Führung den Ort besuchten, wurde einem von ihnen zugeflüstert, dass die schöne Frau an der Tür der Fleischerei auch in Österreich geboren sei. Sogleich überhäufte er sie mit einem aufgeregten Redeschwall, der mit einem stummen Blick erwidert wurde. Rachel verbarrikadierte sich hinter ihrem Schweigen, und die verlegene Delegation machte sich eilig aus dem Staub. Die Frauen, die die ernste, junge Nachbarin allmählich lieb gewannen, lobten sogleich ihre Treue zur hebräischen Sprache. Die Geschichte von der frechen Neueinwanderin, die dem Beamten eine Lektion in Sachen »Hebräer, sprich Hebräisch« erteilt hatte, machte die Runde, und viele grüßten Rachel auf der Straße. Sie grüßte mit leichtem Akzent zurück. Ihre wahren Beweggründe blieben verborgen, vielleicht sogar ihr selbst. Tief drinnen spürte sie instinktiv: Wenn sie auch nur einen schmalen Spalt offen ließe, würde die Trauer über ihr früheres Leben aufbranden und das ganze Land überschwemmen. Die Kleider, die Bälle, das Licht, das sich auf den Pflastersteinen brach, die Schneeflocken – all das wurde hinter Schloss und Riegel verbannt. Ein Blick zurück und sie würde, wie Eurydike, haltlos abgleiten in das süße, ach so süße europäische Inferno.

Tagsüber half Rachel Mandelbaum ihrem Mann in der Fleischerei, von Blutgeruch umweht wie von einem Parfüm. Nachts saß sie im Bett und strickte ganz eifrig, damit ja kein einziger Gedanke aus der Vergangenheit in diese Gegenwart drang. Aber ein Mal im Monat legte sie das Strickzeug weg und stieg leise aus dem Bett. Abraham Mandelbaum stöhnte in veraltetem Polnisch, und Rachel streichelte ihm mit geübter Hand den Kopf und ging hinaus. Draußen: Palästina schläft. Die Erde atmet schwer, ihr Atem riecht nach Erde und Zitrushainen und Stroh. Und zwischen all dem wartet Seev Feinberg auf sie. Sie schließt die Augen, und er küsst ihren Hals. Sein Schnauzer kratzt ihre zarte, durchscheinende Haut. Aber Rachel dreht den Hals nicht weg. Im Gegenteil: Wieder und wieder reibt sie sich an dem drahtigen Haar. Über Zitrushaine, Strohballen, den Hafen und das große Meer kommt die Erinnerung an den Schnauzer eines österreichischen Soldaten, Johann hatte er geheißen, an den Weingeruch seiner Lippen, wenn er sie küsste, und an das pulsierende Blut in ihren Adern, wenn er sie im Walzertakt herumwirbelte. In diesen Momenten werden Rachel Mandelbaums Augen feucht und desgleichen ihre Vagina.

2

An dem Abend, an dem Jakob Markowitz dem jungen Araber den Kopf zerschmetterte, waren Rachel Mandelbaums Augen gar nicht erst feucht geworden. Nur Minuten vorher hatte Seev Feinberg ihr die Bluse ausgezogen und sein Gesicht gleich zwischen ihren Brüsten vergraben. Der österreichische Soldat Johann hatte es nie geschafft, ihren Brüsten einen Besuch abzustatten, und deshalb weckte die Berührung mit Seev Feinbergs Schnauzer dort keinerlei Empfindung, außer, vielleicht, einem leichten Stechen. Rachel Mandelbaum überlegte, ob sie Seev Feinbergs Kopf von der Brust auf den Hals umlenken sollte, aber ehe sie zu einer Entscheidung gelangte, hörte man das widerliche Krachen eines berstenden Schädels. Rachel kannte dieses Geräusch bestens. Es ist ja relativ selten, aber wem es einmal zu Ohren gekommen ist, dem bleibt es unverkennbar in Erinnerung. Eines schönen Abends in Wien, unterwegs von ihrem Haus zum Café am Platzl, sah Rachel Kanzelpult drei Burschen einen alten Juden herumstoßen. Sie gaben ihn wie einen Spielball einer dem anderen ab, und Rachel war entsetzt, auf ihren Gesichtern die Unschuld und Lust zu erkennen, die so typisch für spielende Kinder sind. Dann versetzte einer dem Alten einen ungeschickten Stoß, sodass er stolperte und zu Boden stürzte. Sein Kopf schlug auf dem Bordstein auf. Nun war er kein Teil eines Spiels mehr, sondern ein zerbrochenes Spielzeug, ein Ball ohne Luft. Die Burschen sahen ihn erschrocken an. Kurz darauf schluckte einer von ihnen seinen Speichel hinunter und sagte: »Kommt. Wir suchen uns einen anderen.« Sie gingen ihres Weges und Rachel den ihren. Eine Woche später war sie an Bord des Schiffes. Nachts, wenn ihr vor Übelkeit und Sehnsucht der Bauch zu platzen drohte, erinnerte sie sich an das Krachen des berstenden Schädels.

Als Jakob Markowitz zu Seev Feinberg sagte, »Abraham wird dich umbringen«, erfasste Rachel Mandelbaum, dass sie barbusig vor Jakob Markowitz’ Augen stand. Nicht den leichtesten Schatten eines Schnauzers hatte Jakob Markowitz, dies bestätigte ein flüchtiger Blick eindeutig, und so fand Rachel Mandelbaum die Szene völlig ungerechtfertigt. Sie bedeckte sich hastig, beunruhigt bei dem Gedanken, dass nun drei Männer im Ort den Leberfleck auf ihrer rechten Brust kannten. Hätte sie Jakob Markowitz’ Gedanken erraten, wäre sie wohl kaum beunruhigt gewesen. Verglichen mit den asymmetrischen Brüsten der Frau aus Haifa waren Rachel Mandelbaums Brüste ein himmlisches Werk, und Jakob Markowitz fand sie dieses Leichenschmauses für einen erschlagenen Araber durchaus würdig. Andererseits, dachte er, war ein erschlagener Araber mehr als genug, man musste ihm nicht noch Seev Feinberg zugesellen, der endlich aufgehört hatte, Jakob Markowitz zu danken, und nun fluchte wie ein russischer Seebär. »Du Idiot, du Dummbeutel, verdammt sei die Hündin, die dich geworfen hat.« Zuerst dachte Jakob Markowitz, Seev Feinberg meine den Araber, aber als er anfing, sich mit seiner Bärenpranke den Schnauzer zu raufen, begriff er, dass er sich selbst verfluchte. »Innerhalb von drei Minuten werden hier dreißig Männer auftauchen, und selbst das reicht nicht, um mir Abraham Mandelbaum vom Hals zu halten. Ach, ach, ach, du preisgekröntes Schwein, heute wirst du zur Schlachtbank geführt.« Seev Feinberg raufte sich erneut den Bart, und Jakob Markowitz hatte das Empfinden, vor seinen Augen ein Weltwunder zerfallen zu sehen, als wohne er der Verbrennung der Bibliothek von Alexandria bei. »Lass den Schnauzer in Ruhe«, brüllte er, über den Klang seiner eigenen Stimme erschrocken, »wir werden ihm zu zweit entgegentreten.«

Seev Feinberg ließ, zu Jakob Markowitz’ und Rachel Mandelbaums Erleichterung, endlich von seinem Schnauzer ab. Das Grauen in seinem Gesicht machte einer Miene Platz, die aus bestimmten Blickwinkeln an Geringschätzung erinnerte. Er war über einen Kopf größer als Jakob Markowitz und fast doppelt so breit. Die achtundsiebzig Kilogramm, die Jakob Markowitz auf die Waage brachte, konnten diesen Kampf nicht entscheiden, der praktisch beendet war, ehe er angefangen hatte. Jakob Markowitz fing seinen Blick auf, und das Herz tat ihm weh. Von Weitem hörte man die Stimmen der sich nähernden Männer, die der Schuss aus dem Schlaf geschreckt hatte. Abraham Mandelbaum sicher vorneweg.

»Lauf«, brüllte Jakob Markowitz. Seev Feinberg rührte sich nicht vom Fleck. »Ich werde sagen, ich sei aus Haifa zurückgekommen und hätte den Araber Rachel angreifen sehen. Du hättest gerade die nördlichen Felder durchkämmt, hättest Schreie gehört und in die Luft geschossen. Geh jetzt, geh!« Unter Seev Feinbergs Schnauzer taten sich vor Verblüffung die Lippen auf. Dann endlich schwang er sich aufs Pferd und galoppierte davon. Rachel Mandelbaum starrte Jakob Markowitz an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Hehre Worte auf Deutsch fielen ihr ein, aber sie kannte deren hebräische Entsprechungen nicht und schwieg deshalb. Und vielleicht war es besser so. Nicht ihretwegen hatte Jakob Markowitz es gewagt, sich derart in Gefahr zu begeben. Rachel Mandelbaums Brüste waren zwar rund und hübsch, aber Seev Feinbergs Schnauzer war einzigartig, etwas ganz Besonderes. Es war der einzige Schnauzer, der sich bei Jakob Markowitz’ Anblick zu einem Begrüßungslächeln hob.

Die Männer bildeten einen Halbkreis um Jakob Markowitz. Noch nie hatten ihn so viele Augen auf einmal angeguckt. Er wiederholte seine Geschichte, blickte dabei immer wieder Bestätigung heischend zu Rachel hin. Ihr Nicken kam ihm zu heftig vor, und er fürchtete, es könnte ihnen schaden. Schließlich schreit man nicht auf der Straße heraus, dass zwei und zwei vier sind, es genügt, das leise zu sagen. Doch Rachels Kopf ging geradezu inbrünstig auf und ab. Das fiel auch Abraham Mandelbaum auf. Die Röte auf den Wangen seiner Frau war ihm zu rot, und obwohl er sich schwertat, die Wangenröte wütender Erregung von der lustvoller Erregung zu unterscheiden, so waren ihre Lippen doch auffallend geschwollen, eher wie beim Liebesakt. Als Seev Feinberg endlich, hoch zu Ross, eintraf, zogen sich Abraham Mandelbaums Brauen zusammen wie zwei schwarze Ziegen, die sich in kalter Nacht aneinanderkuscheln. »Warst lange weg«, bemerkte der Sekretär der Moschawa. »Ich bin die Felder abgeritten, um zu sehen, ob noch mehr da sind.« Beifälliges Gemurmel kam auf, und Jakob Markowitz erlaubte sich endlich, regelmäßig zu atmen. »Und du, was hast du dir dabei gedacht, um diese Zeit rauszulaufen?« Rachel Mandelbaum blickte zu Boden und sagte: »Schlaflosigkeit.« Der Mond tauchte wieder zwischen den Wolken auf und beleuchtete Rachel Mandelbaum wie ein Bühnenscheinwerfer. Sie war so zerbrechlich mit ihrem gesenkten Blick und der zerrissenen Bluse, dass es keinen Mann gab, der sie nicht hätte in die Arme schließen und in seinem Bett schützen mögen, und ohne Abraham Mandelbaum hätten sie das vermutlich auch getan. Nur Abraham Mandelbaum sah nicht seine Frau an, er starrte auf Seev Feinbergs Hosenladen, der aufklaffte wie ein zum Himmel schreiender Mund. Seev Feinberg wischte sich eine Träne des Mitgefühls für Rachel Mandelbaums Schmerz ab, bemerkte den Blick ihres Ehemanns und knöpfte schleunigst die Hose zu. »Man gibts ja ungern zu, aber als ich den Schuss gehört habe, war ich gerade dabei, zum sechsten Mal diese Nacht zu pinkeln. So ist das: Wenn man niemanden hat, mit dem man reden kann, beschäftigt man den Mund mit Trinken. Nächtelang geht das so bei mir, Trinken und Pinkeln, Trinken und Pinkeln.« Die Männer brachen in Gelächter aus, Rachel Mandelbaum lächelte höflich. Abraham Mandelbaum schwieg.

Am nächsten Tag, gegen halb acht, hörte man hartes Klopfen an Jakob Markowitz’ Tür. Seev Feinberg stand an der Schwelle. »Pack schnell deine Sachen. Er hats rausgekriegt.« Auf dem Weg nach Tel Aviv, als das Rattern des Zuges das Magenknurren von Jakob Markowitz übertönte (daheim zu frühstücken war nicht mehr infrage gekommen), erzählte ihm Seev Feinberg, was passiert war. »Als der Morgen anbrach, beschloss Abraham Mandelbaum, mit seiner Frau zu schlafen. Er zog ihr das Hemd aus und entdeckte einen furchtbaren Ausschlag auf ihrer Brust. Eine allergische Reaktion auf die Berührung des Schnauzers mit der zarten Haut, die sie dort hat. Ei, ei, ei, was für schöne Haut. Die reinste Milch. Abgesehen von dem Leberfleck. Hast du den Leberfleck gesehen?« Jakob Markowitz erwiderte, der Leberfleck sei ihm nicht aufgefallen, wollte aber gern wissen, wie Seev Feinberg dem Messer des Schächters entkommen war. »Darum gehts ja gerade, er konnte sich nicht entscheiden, welches Messer er nehmen sollte. Fünf Minuten hat er gebraucht, um das passende Werkzeug auszuwählen, genug Zeit für Rachel, um zu meiner Sonia zu laufen und ihr zu sagen, dass sie uns warnen soll. Bloß ist meine Sonia, im Gegensatz zu Abraham Mandelbaum, weit weniger wählerisch.« Seev Feinberg hob das Hemd an und zeigte Jakob Markowitz fünf lange, blutige Schrammen. »Ehrlich, diese Frau hat mehr Kraft als zehn Männer.« Jakob Markowitz nickte anerkennend. Seev Feinberg fing an, Sonia mit einer Reihe von Säugetieren, vom Wolf bis zur Hyäne, zu vergleichen, aber Jakob Markowitz starrte nur eifersüchtig auf die fünf blutigen Furchen, die in Seev Feinbergs Brust klafften. »Dass eine Frau so viel für dich empfindet, das hätte ich nicht für möglich gehalten.« In diesem Moment hörte Seev Feinberg auf, von der Wildhündin zu reden, die angeblich Sonia geworfen hatte, und nickte. »Sie hat ein Herz von der Größe einer Taube und auch eine Vagina voll süßen Wassers.« Nun begann Seev Feinberg mit einer detaillierten Schilderung von Sonias Vagina, ihrer Süße, ihrer zarten Röte, der warmen und fröhlichen Feuchtigkeit, mit der sie ihn empfangen hatte. »Und weißt du, sie hat vielleicht nicht solche Brüste wie Rachel, aber sie macht dich lachen, bis deine Eier sich umeinanderwickeln.« An diesem Punkt begann Seev Feinberg so schallend zu lachen, dass der Zug schneller fuhr, und schließlich seufzte er: »Wenn wir zurückkommen, werde ich sie heiraten. Wirklich und wahrhaftig.«

Seev Feinbergs Augen schauten andächtig, und Jakob Markowitz glaubte ihm beinah. Dann senkte Jakob Markowitz den Blick von den Augen zum Schnauzer und erinnerte sich, wie der sich zwirbelte, wenn ihn eine Frau aus dem Augenwinkel anlächelte, dass er genauso vibrierte wie die feinen Barthaare einer Katze, die eine Maus beschleicht. Und er dachte auch an die Katze, die satt und wohlgenährt an der Tür der Fleischerei auf Rachel Mandelbaums Spendierfreudigkeit wartete, und falls sie dann unterwegs einen verletzten Vogel fand, ihn trotzdem misshandelte, nicht aus Jagdlust, sondern aus Gewohnheit. Ein echter Revolutionär war Seev Feinberg. Ein Kommunist im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Liebe verteilte er völlig gleichmäßig, ohne eine Frau der anderen vorzuziehen. »Ich werde sie heiraten«, sagte Seev Feinberg noch einmal und schlug sich mit der Hand auf den Schenkel zum Zeichen, dass die Sache abgemacht war, »diesmal werde ich sie heiraten.«

Als der Zug in Tel Aviv einfuhr, war Seev Feinberg darin vertieft, Jakob Markowitz das Hochzeitsessen zu schildern. Längst waren der Salzhering, das süße Weißbrot und auch der Rinderbraten aufgetragen. Jakob Markowitz aß mit den Ohren, aber die führten anscheinend zum Magen eines anderen. Sein Bauch war schon seit Stunden leer. Nachdem sie eine Weile gegangen waren, wagte er Seev Feinberg schließlich zu fragen, wo sie hinwollten und ob es dort etwas zu essen gäbe. »Wir besuchen Freuke«, sagte Seev Feinberg. »Und wie ich ihn kenne, wirst du von ihm nicht hungrig weggehen.« Jakob Markowitz erstarrte. »Meinst du den Irgun-Vizechef?« »Ihn und keinen anderen.« »Woher kennst du ihn?« Jakob Markowitz’ Gruppenführer hatte ehrfürchtig von dem Vizechef gesprochen. Jakob Markowitz wagte kaum davon zu träumen, diesen Mann kennenzulernen, der nach allem, was er von ihm wusste, bereit wäre, eine Handgranate zu verschlucken und sie durch den After wieder auszuscheiden, falls es der Erlösung des Landes dienen würde. »Wir sind auf demselben Schiff angekommen«, erklärte Seev Feinberg im Gehen.

Aber es steckte natürlich mehr dahinter. Weitere vierhundert Menschen waren auf dem bewussten Schiff eingetroffen, aber keiner hatte sich so mit einem anderen Passagier angefreundet wie Seev Feinberg mit dem späteren stellvertretenden Kommandeur der Nationalen Militärorganisation. Sie liebten Frauen, Witze und Schach, eine Passion, die sich zwar auch bei vielen anderen findet, aber selten mit dieser Intensität. Da es ein kleines Schiff war, mit rund fünfzig ledigen Frauen, an die dreißig guten Witzen und einem einzigen Schachbrett nebst Figuren, beschlossen sie, das europäische Besitzdenken hinter sich zu lassen und alles gleich und gleich zu teilen. Nur in einem Punkt blieben sie so eifersüchtig wie zuvor: in Bezug auf den Sieg. Als das Schiff die Küste des Landes erreichte, waren die beiden in eine stürmische Schachpartie vertieft. Sobald Seev Feinberg den Aufruf des Kapitäns vernahm, setzte er den Läufer auf den Tisch und stand auf. Der zukünftige Irgun-Vizechef fixierte ihn streng. Seit dem Ablegen aus Europa hatte sein Kinn kein Rasiermesser mehr gesehen, und jetzt ähnelte er wieder dem Talmudschüler, der er einmal gewesen war, nur seine Augen verrieten, dass er die Sünde schon gekostet hatte und noch nicht gesättigt war. »Wer mit einer Mizwa anfängt, dem sagt man, bring sie auch zu Ende«, ranzte er Seev Feinberg an. »Zweitausend Jahre haben wir gewartet, dann warten wir halt noch eine Viertelstunde.« Im Tumult der zu Wasser gelassenen Boote spielten die beiden Männer weiter. Keiner schaute auf die Uhr. So viele süße Münder hatten sie schon gekostet, dass keiner der beiden es besonders eilig hatte, die Schollen des Heiligen Landes mit der Zunge zu lecken. Nach zwanzig weiteren Minuten stürzte der Kapitän in den Raum. »Wenn die Briten euch schnappen, könnt ihr den ganzen Weg zurück nach Europa spielen!« Der zukünftige Irgun-Vizechef schien diese Möglichkeit ernsthaft zu erwägen. Schließlich gab er nach. »Ich hoffe, du kannst mit einem Arm schwimmen, Feinberg, denn im anderen wirst du deine Figuren halten.«

Den zum Bersten gefüllten Rucksack auf dem Rücken und die Spielfiguren in Händen eilten sie an Deck. Jeder hielt seine Figuren fest und schärfte sich wieder und wieder ihre Position auf dem Schachbrett ein. Dann wies der Kapitän sie an, einer schwangeren Frau und ihren beiden kleinen Töchtern zu helfen. Beinah hätten sie abgelehnt. Doch dann beschlossen sie: Bei der Wahl zwischen dem Rucksack, den illegalen Einwanderinnen und dem Schachspiel, das seiner Beendigung harrte, würde der Rucksack aufgegeben. Seev Feinberg hielt die Schwangere und die schwarzen Figuren. Der künftige Irgun-Vizechef manövrierte beherzt zwischen den beiden weinenden Mädchen und den weißen Figuren, ließ keine davon in den Wellen verschwinden. Nachdem sie den Strand erreicht hatten, nahmen sie Abschied von der dankbaren Frau, drückten der runzeligen Wange des Heiligen Landes einen flüchtigen Höflichkeitskuss auf und stellten entsetzt fest, dass sie die Brettstellung vergessen hatten. Die ganze Nacht saßen sie mit nassen Unterhosen und nackter Brust am Strand und diskutierten die richtige Stellung. Als die Briten am Morgen ankamen und sie so sahen, dachten sie, die beiden seien seit eh und je am Strand. Schließlich brachen sie auf, das Land zu erkunden, jeder in seiner Unterhose. Seev Feinberg wanderte nach Norden, und der künftige Irgun-Vizechef ging nach Tel Aviv, wo er sich in den gegenwärtigen Irgun-Vizechef verwandelte. Bei einem ihrer Treffen fragte Seev Feinberg, wie einer, der eine schwangere illegale Einwanderin um ein Haar zugunsten eines Turms aufgegeben hätte, die ganze illegale zionistische Einwanderung koordinieren könne, und sein Freund antwortete ihm, er habe bloß eine Obsession gegen eine andere eingetauscht. »Auch hier gibt es schwarze und weiße Bauern. Und auch hier hasse ich es, zu verlieren.«

Jakob Markowitz und Seev Feinberg saßen am Tisch des Irgun-Vizechefs. Ersterer geduckt und verschämt, den Körper wie in sich gestülpt. Letzterer selbstgefällig, die Beine übergeschlagen, die Glieder entspannt. Obwohl Jakob Markowitz’ Augen immer wieder wie gebannt zu dem Irgun-Vizechef wanderten, konnte er den enormen Unterschied zwischen seiner und Seev Feinbergs Sitzhaltung nicht übersehen. Jakob Markowitz dachte sich: Es gibt Menschen, die laufen in der Welt herum, als seien sie irrtümlich dorthin geraten, als würde ihnen jeden Augenblick jemand die Hand auf die Schulter legen und ihnen in die Ohren schreien: »Was ist denn hier los? Wer hat dich reingelassen? Bitte schnellstens raus.« Und es gibt Menschen, die laufen gar nicht in der Welt herum. Im Gegenteil, sie segeln darin, teilen das Wasser, wo immer sie durchkommen, wie ein stolzes Schiff. Es war nicht Neid, was Jakob Markowitz Seev Feinberg gegenüber empfand. Es war ein komplizierteres Gefühl. Jakob Markowitz saß im Zimmer des Irgun-Vizechefs, betrachtete Seev Feinbergs ausgestreckte Beine, war verlegen über seine eigenen verkrampften und fragte sich, in wie vielen Zimmern er noch mit eingezogenen Gliedern sitzen würde und ob er wohl jemals seine Beine so locker würde ausstrecken können, wenn er nicht allein war. Diese Überlegungen veranlassten ihn, sich mit einem Ruck gerade aufzusetzen, dem Irgun-Vizechef, der bisher kein Wort an ihn gerichtet hatte, die Hand hinzustrecken und zu sagen: »Jakob Markowitz, zu Diensten.«

An dem folgenden Schweigen erkannte er seinen Fehler. Anscheinend waren die beiden in ein hochwichtiges Gespräch vertieft: in einen kühnen Plan zur Verteidigung des Heiligen Landes, eine besonders vertrackte Liebesstellung, einen genialen Schachzug, den man sich merken musste – Jakob Markowitz’ Deklaration passte zu nichts davon. Der Irgun-Vizechef taxierte Jakob Markowitz etwa so, wie der Arzt der Moschawa eine Stuhlprobe betrachtete, und wandte sich dann wieder Seev Feinberg zu. »Also, wie groß ist ihr Leberfleck?« Der Irgun-Vizechef war ein notorischer Liebhaber von Leberflecken. Seine Gegner behaupteten, sie seien ihm wichtiger als der Körper der Frau selbst. Als Seev Feinberg ihm die Angelegenheit schilderte, die mit Rachel Mandelbaums Brüsten angefangen und mit Abraham Mandelbaums Messer aufgehört hatte, überging der Irgun-Vizechef das Messer – davon hatte er selbst mehr als genug – und konzentrierte sich auf die Brüste. Seev Feinberg war es egal. Im Gegenteil – er schätzte seinen Freund, weil er die Spreu vom Weizen zu trennen wusste, und kam gern wieder auf Rachel Mandelbaums Brüste zu sprechen. Doch nun geschah etwas Eigenartiges: Je länger er Rachels runde Brüste aus der Versenkung hervorholte, desto mehr verwandelten sie sich vor seinen Augen in Sonias Brüste. Und obwohl Rachels Brüste schöner waren als Sonias – so rund und süß und fest – erfüllte ihn bei Sonias Brüsten eine Freude, die er nicht vertreiben wollte. So kam es, dass er dem Irgun-Vizechef Rachels Brüste beschrieb, während er im Geist Sonias vor sich sah, bis er plötzlich fürchtete, durcheinanderzugeraten und seinem Freund Sonias statt Rachels Brüste zu beschreiben, und das wollte er nicht.

Seev Feinberg verstummte. Zum ersten Mal seit dem Tag, an dem er den Irgun-Vizechef an Bord des Schiffes kennengelernt hatte, hielt er etwas in Händen, das er nicht mit ihm teilen wollte. Jakob Markowitz schwieg ebenfalls. Er verfluchte sich immer noch wegen seiner Worte von eben. Trotz seiner stürmischen Erregung bemerkte er die Veränderung in Seev Feinbergs Rede: Bisher hatte er seine Eroberungen aufleben lassen wie einer, der wiederkäut, die Mahlzeit vom Vorabend noch einmal ein bisschen genießt. Aber als er jetzt weiterredete, lag echtes Verlangen in seinen Augen: Das war kein satter Mensch, der die Mahlzeit lobt, sondern ein hungriger, verrückt vor Sehnsucht. Das Leuchten, das sich auf Seev Feinbergs Gesicht ausbreitete, als er angeblich Rachel Mandelbaums Brüste schilderte, überstieg seine Freude beim tatsächlichen Zusammensein mit ihr. Wegen seines vorherigen Lapsus musste Jakob Markowitz allen Mut zusammennehmen, um den Mund erneut aufzumachen und zu sagen: »Du wirst noch zu Sonia heimkehren.« Seev Feinberg sah ihn verblüfft an. Dann lächelte er. War er im ersten Moment erschrocken, dass Jakob Markowitz seine geheimsten Gedanken klar erraten hatte, so verwandelte sich der Schreck gleich darauf in Erleichterung – sein Freund konnte die Geheimnisse seiner Seele lesen, die Hieroglyphenschrift, von der er längst nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, dass jemand außer ihm sie je würde entziffern können.

Im ersten Moment hielt der Irgun-Vizechef es für Bauchschmerzen. Dann erst begriff er, dass das scharfe Stechen im Bauch schlichtweg von Eifersucht herrührte. Denn da funkte etwas zwischen den beiden Männern vor ihm, etwas, an dem er selbst keinen Anteil hatte. Und obwohl dieser Jakob Markowitz nichts als ein armseliger Wurm war – Feinberg hatte das sicher erkannt, wie konnte es anders sein? –, so hatte dieser Wurm doch feine Seidenfäden gesponnen, seinen Freund damit umgarnt und ihn selbst außen vor gelassen.

Obwohl an sich kein großer Freund von Schmerzen, und gewiss nicht von solchen in seinem Bauch, freute sich der Irgun-Vizechef über den Schmerz der Eifersucht, wie einer, der etwas Verlorenes wiederfindet. Schon seit Jahren hatte er diesen Schmerz nicht mehr gespürt. Zwar war er kraft seines Amtes bestens vertraut mit allen Schmerzen, die ein Mensch seinem Nächsten zufügen kann – ein Schlag ins Zwerchfell und eine Nasenbein zersplitternde Faust und ausgerissene Fingernägel und ein höchst unangenehmer Schnitt neben dem Glied –, aber die anderen Schmerzen hatte er nahezu vergessen. Die Schmerzen der Erfüllung. Nur wer von etwas anderem als sich selbst erfüllt ist, kann Schmerz bei dessen Verlust empfinden. Als er die Jeschiwa in Polen verlassen und sich in die große Stadt aufgemacht hatte, hatten die Schmerzen der Erfüllung ihn schier umgebracht. Er ging die Hauptstraße entlang, und alles war gottlos. Gereinigt von Gott. Besudelt von Weltlichkeit. Ein Brotlaib war nichts als ein Brotlaib. Das Glas Wein enthielt keinen einzigen Tropfen der göttlichen Gegenwart. Die Welt stand so vor ihm, wie sie war, aller Engel entkleidet, zitternd vor Kälte ohne die Verheißung der künftigen Welt, mit der sie sich hätte bedecken können. In der ersten Nacht in der großen Stadt hatte der Irgun-Vizechef sich mit ganzer Seele nach Gott gesehnt. In seinem Kopf dröhnten Pauken und Trommeln, wie bei den Feiern der Heiden. In seinem Herbergszimmer rasierte er sich im Dunkel der Nacht den Bart ab. Er sah nichts. Das Blut aus den Schnitten klebte an den Haaren, die büschelweise zu Boden fielen. Er hätte bis zum Morgen warten sollen, wusste jedoch, dass die Sehnsucht seine Füße dann zurückgelenkt hätte, geradewegs zum Morgengebet. Deshalb schor er sich weiter den Bart ab, und als er damit fertig war, nahm er sich mit zitternden Händen, den Händen Dalilas, den Schädel vor, und dann die Augenbrauen, und auch die Körperbehaarung. Bei Anbruch des Tages stand er nackt und bloß vor der Leere.

Die Jahre vergingen. Das Haar des Irgun-Vizechefs wuchs nach, und sein Herz verhärtete sich mehr und mehr. Während er in seinem Zimmer den beiden Männern gegenübersaß, befingerte er unwillkürlich eine dichte, drahtige Haarsträhne. Als er es merkte, ließ er sie sofort los. Eine so weichliche, so sentimentale Gebärde gehörte sich nicht für einen Irgun-Vizechef. Um die Scharte auszuwetzen, wählte er eine ausgesprochen männliche Geste, die stellvertretende Organisationschefs jeglicher Art auszeichnet, und haute kräftig auf den Tisch. Seev Feinberg und Jakob Markowitz wandten ihm die Augen zu, Ersterer neugierig, Letzterer ehrfürchtig. Nachdem der Irgun-Vizechef ohne triftigen Grund auf den Tisch gehauen hatte, musste er sich nun rasch etwas zu sagen einfallen lassen. »Also, dann sitzt ihr jetzt ja wohl ordentlich in der Patsche.« Jakob Markowitz und Seev Feinberg nickten zustimmend. Dieser Irgun-Vizechef hatte die seltene Fähigkeit, selbstverständliche Dinge so zu benennen, dass sie taufrisch klangen. »Dieser Mandelbaum, wird der euch bis nach Tel Aviv nachjagen?«

»Bis Tel Aviv?«, dröhnte Seev Feinberg. »Er würde uns bis ans Rote Meer verfolgen, wenn nötig!« Der Irgun-Vizechef und Seev Feinberg brachen in Gelächter aus. Jakob Markowitz seufzte leise.

»Hau mich da raus, Freuke«, sagte Seev Feinberg. »Ich liebe das, was ich da zwischen den Beinen hab, einfach zu sehr, um es dem Messer eines Schächters zu überlassen.«

»Klar hau ich dich da raus, Feinberg. Wozu sind Freunde denn da, wenn nicht, um einander die Eier zu retten. Obwohl ich hinsichtlich des Kameraden hier nicht so sicher bin. Er scheint mir ohnehin kaum Gebrauch von ihnen zu machen.« Der Irgun-Vizechef fing wieder an zu lachen. Seev Feinberg schloss sich ihm an, was der Irgun-Vizechef als begeisterte Zustimmung und Jakob Markowitz als Höflichkeitsgeste wertete. Als sie den begrenzten Gebrauch, den Jakob Markowitz von seinen Hoden machte, ausreichend erörtert hatten, wurde der Irgun-Vizechef ernst und beugte sich über den Tisch zu ihnen vor: »Feinberg, ich schick dich nach Europa.«