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Für Gianna und Mara, die Mailand jeweils
auf ganz unterschiedliche Art lieben

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96773-0

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Coverkonzept: Büro Hamburg

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling

Covermotiv: Hauke Dressler/Look-foto (Auf dem Dach des Mailänder Doms)

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Eine große Drängelei

Menschen in Mailand und der Lombardei, ihre Geschichte(n), ihre Vorzüge und ihre Macken

Mailand. Das hat Flair, Schwung und Geschmack. Mode und Design, Cafés und Restaurants. Teatro alla Scala und Pinacoteca di Brera, moderne Kunst und alte Kirchen. AC Milan, FC Inter und das San-Siro-Stadion. Italien eben. Und ich höre oft: Toll, dass du da lebst. Na ja, die Stadt der Expo 2015 ist zwar durch und durch italienisch, aber nicht so, wie viele sich Italien vorstellen. Nicht heimelig mit lauschigen Plätzen, wo man im Straßencafé unter immergrünen Bäumen am Rotweinglas nippt, aus dem geöffneten Fenster des Nachbarhauses Opernmusik klingt und in der Ferne die Grillen zirpen. Aber auch ohne jene Hupkonzerte, die man in Neapel oder Rom erlebt. Ebenso wenig wird man hier von der Antike überwältigt, der Renaissance erschlagen oder dem Barock erdrückt, auch wenn jede Epoche in der Stadt und in der Region Spuren hinterlassen hat, die sich sehen lassen können. Und was die Moderne, etwa die Architektur, angeht, gibt es sowieso keine Alternative in Italien. Nein, das ist kein Ort zum Ausspannen, jedenfalls nicht so, wie man das in Siena oder Taormina – dort jeweils auf ganz unterschiedliche Art – machen kann. In Mailand wird man, ganz im Gegenteil, unter Spannung gesetzt. Wer das lebendige, kreative Italien kennenlernen will, wer Anregungen, neue Gedanken sucht und ein Umfeld, wo er sie umsetzen kann, der ist hier richtig. Um einen Überblick über die Stadt zu bekommen, sollte man dem Dom aufs Dach steigen. Auf dem Weg dahin kann man sich mit Informationen, Geschichte und Geschichten stärken (und vielleicht unterhalten) lassen.

Typen, Stereotype und der »alte Mailänder Charakter«

Mailand ist eine Stadt, die in Bewegung ist, und wer stehen bleibt, wird zum Verkehrshindernis. Einem Bonmot nach verliert der Mailänder auch bei Tisch keine Zeit und instruiert, kaum Platz genommen, den Kellner: »Bringen Sie mir Primo, Secondo, Caffè, Grappa und die Rechnung.« Angeblich kommen Worte wie »vielleicht« und »ich weiß nicht« in seinem Sprachgebrauch nicht vor. »Der« Mailänder weiß eben alles. Zweifel kennt er nicht, nur Handlungen: »Ich arbeite, ich verdiene, ich gebe Geld aus, ich stelle Ansprüche.«

In der Region geht es da vielleicht ein bisschen gemütlicher zu, aber den Einwohnern der Lombardei, zwischen Lago Maggiore und Gardasee, Alpen und Poebene, sagt man ebenso Zielstrebigkeit und Freude an der Arbeit nach. Sie würden gerne Vereine gründen, heißt es, und auf ihren Besitz achten. Den Lombarden ist allerdings die (angebliche) Arroganz der Mailänder fremd. Diese wiederum lächeln, so kann man in einschlägigen Charakterstudien lesen, über die Provinzialität der Hinterländer, über die Art, wie sie sich kleiden – immer einen Tick übertrieben und knapp hinter der angesagten Mode zurück. Wenn sie am Samstag und Sonntag zum Einkaufen nach Mailand fahren, flüchten die Mailänder und fahren aufs Land. Dann geht es rund um den Comer See oder am Lago Maggiore zu wie in der Stadt. Die Mailänder haben einen großen Fehler, sagt Luca Beltrami Gadola, Bauunternehmer, aber auch Publizist, sie würden die wirtschaftliche, aber auch die intellektuelle Bedeutung des Umlands unterschätzen.

Dabei ist es leichter, mit den Menschen hier auszukommen, als man nach solchen Charakterisierungen denken mag. Reibungen zwischen Stadt und Land sind geradezu klassisch und überall auf der Welt zu finden. Und dann stimmt das, was man den Menschen hier nachsagt, höchstens in der Tendenz. Und oft nicht im persönlichen Kontakt. Denn was heißt schon »Lombarde«, »Mailänder«? Während des Wirtschaftsbooms der 1960er- und 1970er-Jahre zogen Zehntausende Familien von Süditalien in den Norden, um Lohn und Brot zu finden. Mein Frau Lidia zum Beispiel stammt aus Sardinien. Als sie zwölf Jahre alt war, ist ihre Familie nach Legnano, einer Kleinstadt zwischen Mailand und Varese, gezogen, wo Lidia auch Abitur gemacht hat. Drei ihrer Brüder haben Lombardinnen geheiratet und leben heute mit ihren Kindern und ersten Enkeln in und um Legnano. Mailand ist ihnen zu hektisch. Da lebt der deutsche Schwager, der ihre jüngste Schwester geheiratet hat, mit den zwei Töchtern Gianna und Mara, die inzwischen ihren eigenen Weg durch das metropole Leben suchen. Zur Mailänder Familie gehören auch zwei schwarze Katzen, Rufus und Coco, die am Lago Maggiore geboren sind. So viel zur Charaktermischung.

Ein Schmelztiegel mit 155 Sprachen

Noch heute kommen Menschen aus Sizilien, Kalabrien oder Kampanien in die Lombardei, die ökonomisch wichtigste Region, in der 10 Prozent der Einwohner Italiens leben, die ganze 20 Prozent des italienischen Bruttoinlandproduktes erwirtschaften. Hier gibt es die besten Ausbildungsstätten (neun Universitäten plus eine Kette von privaten Ausbildungsstätten etwa für Design und Mode allein in Mailand) und die interessantesten Jobs. Großzügig und offen sei die Regionalhauptstadt, schrieb einmal der bekannte Journalist und Publizist Indro Montanelli, sie würde jeden aufnehmen, der hier arbeiten oder lernen wolle. Montanelli, der in der Lombardei heimisch geworden war, stammte aus der Toskana. Zur Großzügigkeit gehört auch, dass sich viele Einwohner hier in sozialen Freiwilligen- und Hilfsorganisationen engagieren. Der Lyriker Eugenio Montale, der in Genua geboren wurde und seine letzten Lebensjahrzehnte bis zum Tod 1981 in Mailand verbrachte, nannte die Stadt »eine enorme Ansammlung von Eremiten«, weil hier jeder denken und glauben kann, was er für richtig hält, und niemand den anderen von etwas überzeugen möchte.

Die Stadt ist ein Schmelztiegel verschiedenster Charaktere nicht nur Italiens geworden. Keine andere Stadt des Landes beherbergt so viele Ausländer. Auf 100 gemeldete Einwohner kommen 20 Nichtitaliener (in der Lombardei sind es 13 Ausländer auf 100 Einwohner). Angeblich werden in Mailand 155 Sprachen gesprochen. Da verbieten sich allgemeine Aussagen über den typischen Charakter »der« Mailänder eigentlich von selbst. Zumal Traditionen heute mehr denn je infrage gestellt werden. Und Angst vor Überfremdung vor allem im Hinterland hat einer kleinbürgerlichen und fremdenfeindlichen Partei wie der Lega Nord viele Wählerstimmen zugeführt.

Dennoch, kann man Charakter sehen? Oder kann man sehen, wenn er fehlt? Nachdenklich macht, was der Architekt Fabio Pravettoni, der aus dem Dorf Nerviano westlich von Mailand stammt, kürzlich in seinem Blog beschrieb. Wer durch die Straßen von Nerviano geht, dem fallen sofort die Unterschiede zwischen dem Inneren des Ortes, das noch nach den traditionellen Regeln und einem historisch gewachsenen Stilempfinden gebaut wurde, und der jüngsten Entwicklung am Ortsrand auf. Im Inneren findet man alte Höfe, ernst und verschlossen und mit geraden, schnörkellosen Mauern. Am Rand dagegen postmoderne Einfamilien- oder Reihenhäuser, zufällig im Gebiet verstreut, mit Walmdächern, überdachten Vor- und Anbauten, Balkonen, Holzjalousien und gelben Mauern. »Schneewittchen und die sieben Zwerge« nennt der Architekt jenen Stil, der sich hier breitmacht. Er zeige den Unterschied »zwischen einem lombardischen Gehöft und einer Pagode«, den Unterschied »zwischen dem tiefen und alten Charakter eines Ortes und dem Gefühl der Entwurzelung, dem Verlust von Erinnerung«, den man in diesen Jahrzehnten spüre.

Das Wesen der Lombarden, schreibt Fabio Pravettoni, sei verschlossen, streng, würdevoll, geradeheraus – »so, wie unsere Väter und Großväter waren« – und zugleich gemütlich, gastfreundlich, sogar warm, wenn man will, »aber mit einer eigenwilligen, eben lombardischen Wärme«. Was sei jedoch von dem »alten Mailänder Charakter« noch in den gelben Einfamilienhäusern zu spüren, in »den Pagoden mit tausend Dächelein«, die seit einigen Jahren die Orte um Nerviano bevölkern? Das Problem, das der Architekt hier beschreibt, lässt sich nicht nur im Großraum Mailand wiederfinden. Es stellt sich auch außerhalb Italiens, ebenso im deutschen Sprachraum. Wir leben in Umbruchzeiten, verlieren Sicherheiten, und nostalgische Architekturformen bieten in einer europäischen Union des schlechten Geschmacks grenzüberschreitend ihren Trost an.

Es geht eng zu – ein paar Fakten

In Mailand leben rund 1,35 Millionen Menschen (Stand Ende 2013). Die Hauptstadt der Lombardei ist der Einwohnerzahl nach die zweitgrößte Stadt Italiens hinter Rom. In Europa nimmt sie die 13. Stelle ein. In der Provinz Mailand, die demnächst verwaltungstechnisch in eine einzige Stadtregion umgewandelt werden soll, leben zur Zeit etwas über 3 Millionen Menschen. Der Einzugsbereich um Mailand zählt mit 7,5 Millionen zu den am dichtesten besiedelten Gebieten Europas. Die Stadt selbst weist eine Einwohnerdichte von 7500 Menschen pro Quadratkilometer auf und wird darin in Italien nur von Neapel übertroffen. Zum Vergleich: In München, das etwa ebenso viele Einwohner hat, leben nur 4500 pro Quadratkilometer. In Rom, wo fast doppelt so viele Menschen wohnen, sind es sogar nur knapp 2000 pro Quadratkilometer. Es geht also eng zu in Mailand. Und wenn zur Weltausstellung, der Expo 2015, gut 20 Millionen Besucher erwartet werden, kann man sich auf manche Drängelei gefasst machen.

Die Lombardei ist der Fläche nach die viertgrößte der 20 italienischen Regionen (hinter Sizilien, Piemont, Sardinien). Der Bevölkerung nach liegt sie mit 9,9 Millionen Einwohnern aber einsam an der Spitze – das sind mehr Menschen, als in ganz Österreich leben (8,5 Millionen). Die wichtigsten Orte neben Mailand sind Brescia (mit 193 000 Einwohnern), Monza (123 000), Bergamo (115 000) und Como (85 000), die zugleich Hauptorte der gleichnamigen Provinzen (Kreise) sind. Dazu kommen noch die Provinzen Cremona, Lecco, Lodi, Mantua, Pavia, Sondrio und Varese. Die Lombardei grenzt im Norden an die Schweizer Kantone Tessin und Graubünden, im Osten an die italienischen Regionen Südtirol/Trentino und Venetien, im Süden an die Emilia-Romagna und im Westen an das Piemont.

Landschaftlich wird sie von den Alpen im Norden (die höchste Erhebung ist der Piz Bernina mit 4000 Metern), im Süden vom Po (auf 260 Kilometer Länge) beziehungsweise von dem Apennin des Oltrepò Pavese begrenzt. 40 Prozent der Oberfläche zählen zum Gebirgsland, 47 Prozent zur Ebene und 13 Prozent zum Hügelland. Dem Po laufen von Norden Flüsse wie Ticino, Lambro, Adda, Serio, Oglio, Chiese oder Mincio zu. Die Lombardei umschließt rund 600 Kilometer Seeufer und bildet damit auch die größte Seenregion Italiens und des Alpenraumes. Zu ihr zählen unter anderem der Lago Maggiore (Ost- und Nordufer grenzen an das Piemont beziehungsweise an die Schweiz), der Lago di Lugano (zusammen mit der Schweiz), der Lago di Varese, der Lago di Como, der Lago d’Iseo und der Lago di Garda (Nord- und Ostufer gehören zum Trentino beziehungsweise zu Venetien). Mailand war jahrhundertelang mit einigen Flüssen und Seen über ein ausgeklügeltes Kanalsystem (Navigli) verbunden, das heute teilweise noch sichtbar ist. Das Klima der Ebene ist kühl und manchmal nebelig im Winter sowie feuchtwarm bis heiß im Sommer. In den Gebirgszonen geht es kalt im Winter und frisch-warm im Sommer zu. Um die Seen hat sich dagegen ein einzigartiges Mikroklima gebildet, das den Lebensraum für eine mediterrane Pflanzenwelt (Oliven, Zitronen) schafft und prächtige Naturanlagen hervorgebracht hat.

Mailand und die Lombardei sind der wirtschaftliche Motor Italiens. Hier hat rund die Hälfte der 200 größten Unternehmen seinen Sitz und finden die wichtigsten Messen statt. Die Mailänder Börse bestimmt das finanzielle Klima des Landes. Bekannte Hersteller der Sparten Mode, Möbelbau und Design (Armani, Cassina, Alessi) prägen das Geschehen und sichern die Existenz einer Kette von Zulieferern. Die meisten Verlage, Werbeagenturen, Marktforschungsinstitute sind wie die wichtigsten Internetfirmen und privaten Fernsehstationen in und um Mailand zu finden. Nach einer Untersuchung der Handelskammer sind ebenso ein Fünftel aller privaten Kulturunternehmen des Landes in der Lombardei angesiedelt, bei denen sogar 30 Prozent aller Beschäftigten des Sektors Arbeit finden. Und – für viele überraschend – die Lombardei ist auch der größte landwirtschaftliche Produzent Italiens und sogar der zweitgrößte unter Europas Regionen.

So viele Aktivitäten schlagen sich in (einem jedenfalls durchschnittlichen) Reichtum nieder: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag im Jahr 2013 bei 33 500 Euro (Italien: 26 000 Euro, EU: 24 500 Euro) und war damit dem von Baden-Württemberg oder Bayern vergleichbar. Die Arbeitslosenzahl betrug im Frühjahr 2014 7,8 Prozent (Italien 12,7 Prozent).

Der Kopf des Ambrosius

So modern und erfolgreich sich die Stadt und die Region auf den ersten Blick geben, sie fußen doch auf einer langen Geschichte. Deren Wechselspiel kann man manchmal gleichsam zusehen – mit ein bisschen Phantasie und wenn man den richtigen Erzähler bei sich hat. Mein Freund Max zum Beispiel, ein Buchantiquar, der blieb mal vor der Ambrosius-Statue am Palazzo dei Giureconsulti an der Piazza Mercanti gegenüber vom mittelalterlichen Rathaus stehen. Ambrosius, der Stadtheilige, wurde 339 in Trier geboren, war römischer Politiker und Bischof von Mailand, wo er 397 starb. Ihm werden wir noch mehrfach begegnen. Aber nie wieder so wie hier als Statue mit einer römischen Toga bekleidet. Auf einem Mosaik in der Kirche Sant’Ambrogio, das noch zu seinen Lebzeiten entstanden sein könnte, sieht man einen kleinen, eher zierlichen Mann. Hier aber verbirgt sich unter der Toga ein mächtiger, wohlgeformter Körper. Max guckt mich spitzbübisch an und sagt im Mailänder Dialekt: »Va’ el Sant’Ambreus coi tett!« Das ist ein volkstümlicher Spruch, frei übersetzt: »Geh zum heiligen Ambrosius mit dem Busen.«

Dann erzählt Max, was es mit der Statue auf sich hat. Sie entstand Ende des 16. Jahrhunderts, als der Palazzo, eine Art juristische Ausbildungsstätte für städtische Beamte, gebaut wurde und der alte kommunale Glockenturm aus dem Mittelalter durch einen Uhrenturm in manieristischen Formen ersetzt wurde. Die Statue an der Fassade stellte ursprünglich eine Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit aus der römischen Antike, dar. Die spanischen Habsburger, die damals in Mailand die Macht übernommen hatten, wollten an dieser prominenten Stelle ein eigenes Zeichen setzen. Sie nahmen deshalb der Justitia den Kopf ab – vielleicht war er auch von Straßenbanden zerstört worden, vermutet Max – und ersetzten ihn durch das Konterfei von Philipp II., dem Sohn von Karl V. (in dessen Reich die Sonne niemals unterging). Der spanische Herrscher berief sich also mit dieser Statue im römischen Gewand auf das Reich der Antike. Das hatte die österreichischen Verwandten, die über hundert Jahre später die Macht in Mailand und der Lombardei übernahmen, nicht weiter gestört. Aber als nach der Revolution in Frankreich französische Truppen auch in die Lombardei einmarschierten, köpfte Volkes Zorn um 1797 das Symbol der alten Herrschaft, und man setzte ihm den Kopf von Lucius Junius Brutus auf, dem angeblichen Gründer der Römischen Republik im 6. Jahrhundert vor Christus. Das wiederum konnten die Habsburger Monarchen nicht hinnehmen, als sie nach 1814 wieder in Mailand die Macht übernahmen. Als treue Anhänger der Kirche und zugleich in einer von Unabhängigkeit gegenüber dem Papst in Rom inspirierten Geste setzten sie 1833 der Statue ein Haupt auf, das sie als das des heiligen Ambrosius deklarierten. Damit wurde ein Zeichen gesetzt, mit dem die Mailänder bis heute leben können.

Ich muss Max wohl etwas ungläubig angesehen haben. Mein »Reclam-Kunstführer« schreibt kurz und knapp: »Ädikula mit klassizist. Statue des hl. Ambrosius (1833); Ersatz des 1797 demolierten urspr. Standbildes Philipps II. von Spanien.« Max aber erwidert nur, wenn Volkes Stimme Geschichte erzähle, lebe die Vergangenheit auf.

Eine Geschichte in Zeitraffer und Stichworten

Ambrosius, der als Verwaltungsbeamter kam und den sie kurzerhand zum Bischof gemacht haben, mit dem hat alles angefangen. Fast alles, denn es gab natürlich auch eine Vorgeschichte: Gründung einer Siedlung durch keltische Insubrer rund 400 vor Christus, Eroberung durch die Römer 222 vor Christus, die die Lombardei als »Gallia cisalpina« mit dem Hauptort Mediolanum in ihr Reich eingliederten. »Mediolanum« kann man etwa wegen der Lage am Schnittpunkt wichtiger Handelswege als »Land in der Mitte« übersetzen; auch intellektueller Wege: Ambrosius, der ja aus Trier kam, traf hier auf Augustinus, der aus Algerien stammte. Wer will, liest aber auch frei übersetzt ein »medio lanum«, also »halb bewollt«, in dem merkwürdigen Namenszug. Und so gibt es die Sage, ein Gallierkönig habe Mailand gegründet, als er nach einem Wink der Götter ein Tier fand, das wie ein Wildschwein aussah, aber das wollige Fell eines Schafes trug. Max würde jetzt auf ein Relief an den Arkaden des Broletto Nuovo, des mittelalterlichen Rathauses der Piazza Mercanti, verweisen, das genau solch ein Fabeltier zeigt. Aber wir wollen erst einmal die Geschichte im Zeitraffer passieren lassen.

Also, die römische Stadt erlebte eine Blütezeit, als der Kaiser des Westreichs, Diokletian, sie 293 nach Christus zu seiner Residenz wählte. 313 wurde das Mailänder Toleranzedikt verkündet, das den Christen (und anderen Religionen) Glaubensfreiheit garantiert. Im 4. Jahrhundert nach Christus entwickelte sich Mailand dann zur größten Stadt Europas mit mehr als 250 000 Einwohnern. 402 nach Christus endete diese stürmische Entwicklung mit der Belagerung durch die Westgoten und der Verlegung der Reichshauptstadt nach Ravenna. Die verkehrsgünstige Lage war auch militärisch gefährlich: Zerstörungen durch Hunnen und Ostgoten folgten. Ab 569 gehörten Mailand und die Lombardei zum Reich der Langobarden, die Monza und Pavia zu ihren Hauptorten erkoren, bis sie 774 den Franken weichen mussten. In der Folge gab es im mittelalterlichen Gemenge ein dauerndes Hin und Her zwischen mehr oder weniger selbstständigen Städten, kirchlichen Ansprüchen der Klöster und kaiserlichen Hoheitsansprüchen. 1162 zerstörte Kaiser Friedrich I. Barbarossa Mailand, 1167 drehte ein Bund norditalienischer Städte, die Lega Lombarda, den Spieß um und besiegte Barbarossa in der Schlacht bei Legnano. Im Frieden von Konstanz bestätigte 1183 der Stauferkaiser die Unabhängigkeit der Städte, die ihm im Gegenzug Treue schworen.

1277 kommen in Mailand die Visconti (zunächst als Bischöfe) an die Macht, die sich ab 1395 Herzöge nennen dürfen. Den Visconti folgt nach einigen Unruhen (und dem Versuch, eine Ambrosianische Republik zu gründen) der Söldnerführer Francesco Sforza, der die Tochter des letzten Visconti-Herrschers geheiratet hat. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstehen unter Ludovico Sforza, wegen seiner dunkleren Hautfarbe »il Moro« genannt, in Mailand und Umgebung zahlreiche Prachtbauten. Das sind die Jahrzehnte, in denen auch Künstler wie Bramante oder Leonardo da Vinci dem Hofleben der Sforza Glanz verleihen.

Um die Wende zum 16. Jahrhundert wird Norditalien wieder Spielball verschiedener Herrschaftsansprüche. Im Konflikt zwischen Frankreich und Spanien setzen sich schließlich die spanischen Habsburger durch (was Max ja bereits beispielhaft demonstriert hat). Madrid kassiert Steuern, Klerus und Inquisition haben das Sagen, Mailand und die Lombardei versinken in Provinzialität. Aus der werden sie erst von den österreichischen Habsburgern geweckt, die nach den Spanischen Erbfolgekriegen 1714 die Lombardei sowie das Herzogtum Mantua übernehmen. Mailand modernisiert sich, prächtige Paläste entstehen entlang breiter Straßen (Via Manzoni, Corso Venezia), repräsentative Stadttore (Porta Garibaldi, Porta Venezia) werden unter Kaiserin Maria Theresia gebaut, bedeutende Kultureinrichtungen (Scala, Brera) gegründet. Der lombardische Adel zeigt sich in herrlichen Villen etwa an den Ufern der oberitalienischen Seen von seiner geschmackvollen Seite. Und in den Salons debattieren Intellektuelle die Thesen der Aufklärung.

Napoleon und die Moderne

1796 wird es wieder unruhig, Napoleon kommt und macht Mailand zur richtigen Hauptstadt. Zuerst von der Repubblica Italiana (bis 1805) und schließlich von seinem italienischen Reich (Regno d’Italia), für das er sich im Dom selbst zum König krönt. Der Wiener Kongress dreht 1814 die Geschichte zurück, die Österreicher kommen wieder, Mailand wird jetzt Hauptstadt eines neuen lombardisch-venetischen Königreiches, und der Kaiser in Wien trägt auch diese Krone. Im März 1848 kommt es zum Aufstand. Der Gouverneur Josef Radetzky muss nach einem fünftägigen Kampf die Stadt räumen, im August hat er sie allerdings wieder im Griff. Doch das Ende der Fremdherrschaft naht mit der italienischen Einheitsbewegung. Verdi komponiert seine Opern, von den Rängen der Scala regnet es Flugblätter, und ab 1861 gehört die Lombardei (dank französischer Militärhilfe) zum unabhängigen Königreich Italien unter den Savoyern. Nach dem Ersten Weltkrieg werden in Mailand 1919 die faschistischen Kampfbünde gegründet, 1922 marschiert Mussolini von Mailand nach Rom (das heißt, er selbst fährt mit dem Zug), 1945 ist der Spuk und auch die deutsche Besatzung vorbei. Am 25. April – heute Nationalfeiertag – rücken Partisaneneinheiten in die von Hitlers Soldaten verlassene Stadt ein.

Von Mailand und der Lombardei aus entwickelt sich Italien in der Nachkriegszeit zu einem modernen Industriestaat (allerdings mit unterschiedlichen Entwicklungsphasen zwischen Nord und Süd). 1970 wird im Zuge der Regionalisierung Italiens die Region Lombardei mit dem Hauptort Mailand eingerichtet. Ende der 1960er-Jahre und in den 1970ern kommt es in Mailand, Brescia und anderen Orten zu politischen Auseinandersetzungen mit gewalttätigen Demonstrationen und Bombenattentaten vor allem rechtsgerichteter Gruppen, was wiederum den linken Terrorismus der Roten Brigaden anfacht. Nach einem Jahrzehnt der Ruhe wird in Mailand 1992 ein Korruptionsfall aufgedeckt, der sich als Spitze eines Eisberges erweist und die gesamte politische und wirtschaftliche Klasse des Landes erschüttert. Mailänder Staatsanwälte versuchen, unter dem Schlagwort »mani pulite«, saubere Hände, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen und die Korruptionsnetze zu zerreißen (was nur teilweise gelingt, wie neue Fälle kurz vor der Expo-Eröffnung belegen). Von Mailand aus startet der Medienunternehmer Silvio Berlusconi 1994 mit seiner neu gegründeten Partei Forza Italia eine politische Kampagne, die ihn an die Spitze der italienischen Regierung bringt. Die Stadt, die seit Kriegsende von sozialdemokratischen oder sozialistischen Bürgermeistern regiert wurde, wählt 1993 einen Kandidaten der Lega Nord, dem ab 1997 Vertreter der Berlusconi-Partei folgen. Erst ab Juni 2011 regiert mit Giuliano Pisapia wieder der Bürgermeister einer Linkskoalition die Stadt. 2015 wird in Mailand die Weltausstellung unter dem Thema »Feeding the Planet, Energy for Life« (Den Planeten ernähren, Energie fürs Leben) veranstaltet.

Mailand – Rom, eine Beziehung voller Stolz und Vorurteile

»Moralische Hauptstadt« wurde Mailand früher genannt, weil man – so ein Ausspruch – hier das Geld verdiente, das in Rom ausgegeben wurde. Politisch, etwa in einem alten Slogan der Lega Nord, drückte sich das in dummen Reimen wie »Roma ladrona« aus. Das »diebische Rom«, das die fleißigen Lombarden mit Steuern ausbeutet und nicht im Norden investiert. Nach nicht enden wollenden Finanz- und Korruptionsskandalen musste sich Mailand den Titel der moralischen Hauptstadt allerdings abschminken. Geblieben ist jedoch eine Art Dauerkonkurrenz zwischen der Hauptstadt Italiens und der Kapitale des Nordens.

Da spielt viel Folklore mit: Sonne gegen Nebel, Farbigkeit gegen Grautöne, Muße gegen Gehetztsein. Von der Seite gesehen, hat Mailand wenig Chancen. Andererseits wird gefragt, ob nicht in Rom bereits Afrika anfangen würde? Es gibt einen ganz typischen Dialog, den man im Fahrstuhl wie in der Eisenbahn oder im Wartesaal eines Krankenhauses immer wieder hören kann. »Rom ist meiner Meinung nach die schönste Stadt überhaupt.« – »Ja, wunderschön.« – »Und dieses Licht.« – »Einfach großartig!« Dann, nach einer kurzen Pause: »Aber keine Stadt, um zu arbeiten.« – »Nein, absolut unmöglich.«

Den Mailänder Lokalpatriotismus schmerzt allerdings, dass aller Fleiß nichts nützt, dass die lombardische Metropole zwar in einigen Sektoren »Hauptstadt« ist – in Sachen Finanzen und Kommunikation, Mode und Design, Musik und Verlagswesen –, die Schriftsteller ziehen allerdings die Stadt am Tiber vor, und Rom, caput mundi, wird von der Geschichte als politische Hauptstadt und als Zentrum Italiens legitimiert. Die Schauspielerin und Drehbuchautorin Franca Valeri, die in Mailand geboren wurde, aber in Rom lebt, glaubt, dass Mailänder und Römer sich unterscheiden wie Engländer und Franzosen, »aber nur wegen des Gewichts der Geschichte«. Der Rest seien vulgäre Verallgemeinerungen, das Ergebnis von »Stolz und Vorurteilen«.

Die 1978 geborene Schriftstellerin Micol Beltramini war in einem Mailand aufgewachsen, das ihr fremd und unfreundlich schien. Mit 28 Jahren floh sie in eine Stadt, die ihr immer paradiesisch vorgekommen war: nach Rom. Zwei Jahre später kam sie reumütig zurück. Schönheit allein, so ihr Fazit, genüge nicht, wenn Konfusion und Unzuverlässigkeit die Tagesordnung bestimmen. Ihre Gründe hat sie in einem Buch dargelegt mit dem Titel »Warum Mailand besser ist als Rom (wenn man dort leben muss)«. Daraus ein ganz aktueller Grund: Mailand habe sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich entwickelt und sei lebenswerter geworden, Rom sei dagegen nicht nur stehen geblieben, sondern habe sich verschlechtert. Stimmt das wirklich?

Wer als Ausländer diese lokalpolitischen Debatten verfolgt, fühlt sich teils amüsiert, teils an seine Herkunftsländer erinnert. Wie ist das Verhältnis von Berlin zu Hamburg, Stuttgart oder München? Ich habe am Ende meiner Studienzeit fast sieben Jahre in Rom gelebt und mich dort sehr wohlgefühlt. Inzwischen lebe ich (mit einer kurzen Unterbrechung in Hamburg) seit über 20 Jahren in Mailand. Dass ich heute die Lombardei der Region Latium vorziehe, hat vor allem damit zu tun, dass ich hier im Norden auch durch die Familie Wurzeln geschlagen habe. Italien kann sich freuen, dass es zwei so große, unterschiedliche, eigentlich unvergleichbare Städte wie Rom und Mailand hat, die menschliche Vielfalt und kulturellen Reichtum repräsentieren. Es wäre dumm, sie gegeneinander auszuspielen. Und es gibt genügend Gründe, sich über Mailand zu ärgern. Das fängt bei vollgeparkten Plätzen an, wie der bezaubernden Piazza Mentana im alten Zentrum, die, so von Blechkarossen entstellt, jeden Zauber verliert. Die Skala ist nach oben offen.

Wenn Mailand sich unbedingt messen will, sollte es zum kleineren Turin blicken, das sich in den vergangenen Jahrzehnten derart herausgeputzt hat, dass es eine Freude ist. So war etwa die Gründung des Musikfestivals MITO, das jedes Jahr im September für drei Wochen ein hochklassiges internationales Programm parallel in beiden Städten (häufig mit Gratiseintritten) bietet, ein Geniestreich, dem die Hauptstadt am Tiber bislang nur neidisch zuguckt. Dass Konzerte dabei auch im Dom und manchmal auf der großen Piazza davor stattfinden, ist eigentlich selbstverständlich.

Jetzt geht’s los: auf zum Dom

Kann man sich Mailand ohne die Scala vorstellen, ohne Mode- und Designzirkus und mit Inter und Milan in der zweiten oder gar dritten Liga? Mit viel (zugegeben, ganz viel) Phantasie ist das möglich. Aber Mailand ohne Dom – das ist unmöglich. Mailand ohne Dom wäre nicht Mailand, sondern »Ambrosianetta sul Lambro«, Klein-Ambrosiusstadt am Fluss Lambro. Und weil das so ist, erhebt sich die stolze fünfschiffige Basilika, der drittgrößte Kirchenbau des Abendlandes nach denen in Rom und Sevilla, wie ein Gebirge aus Marmor genau im Mittelpunkt der Stadt, und alles andere dreht sich darum herum. Wer in Mailand den Dom nicht gesehen hat, hat nichts gesehen. Und wer ihm nicht aufs Dach gestiegen ist, hat das Schönste versäumt.

Denn wie ein Gebirge kann man den Dom auch besteigen. 250 Stufen und der Besucher steht auf dem Dach unterhalb der Madonnina, der vergoldeten Mutter-Gottes-Statue, die, fünf Zentner schwer, 108 Meter hoch, über Mailand thront, während unten auf der Piazza Duomo, auf der neuerdings auch Bäume wachsen, vor der Galleria und dem Rinascente-Kaufhaus die Menschen klein wie Ameisen ihrer Wege gehen. Rund ums Dach streben 135 Heiligenstatuen auf schlanken Säulen, auf sogenannten Fialen, über den Giebel der Basilika hinaus.

Es gibt wohl kaum eine Kirche auf der Welt, die so bevölkert ist. Insgesamt 3400 Figuren und Reliefdarstellungen tummeln sich an ihren Außenwänden und dem Dach. Dieses »steinerne Volk verwirrt einem fast die Sinne«, schrieb Heinrich Heine beim ersten Anblick der Kathedrale, als er in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts von München nach Italien reiste. Unter den Heiligen in ihrer »wimmelnden Höhe« gibt es auch einen San Napoleone, einen heiligen Napoleon, und zwar exakt auf der Fiale mit der Bezeichnung »G65« (die fünfte hinter der Fassade auf der südlichen Seite des Hauptschiffes). Es findet sich sowieso allerlei Merkwürdiges hier oben: Boxkämpfer im Relief oder ein kleiner Mussolini-Kopf. Weil die Veneranda Fabbrica del Duomo, die ehrwürdige Dombauhütte, dringend Geld braucht, um den Riesenbau in Schuss und das steinerne Volk bei Laune zu halten, kann man jetzt eine Fiale »adoptieren«. Der Mindesteinsatz beträgt 50 Euro, wer sogar seinen Namen etwa auf den Sockel eines Heiligen meißeln lassen möchte, muss aber mindestens 100 000 Euro spenden. Geld bringen auch die großen Videoflächen, über die an der Nordseite Werbespots eines koreanischen Herstellers von Elektrogeräten flimmern. Das Schöne am Dom ist, dass er keine Berührungsängste kennt.

In der Kirche selbst taucht der Besucher, nachdem er die Taschenkontrolle am Eingang überwunden hat, in ein mysteriöses Halbdunkel ein. Die Gegenwart bleibt draußen, und man bewegt sich zwischen den Zeiten, zwischen mittelalterlichen Grabmälern der alten Visconti-Bischöfe, den herrlichen Glasmalereien der Fenster im Apsisrund und der manieristischen Statue des heiligen Bartholomäus, der seine abgezogene Haut wie einen Schal über die Schulter gelegt hat. Der Grundstein zum Bau wurde unter den Visconti im Jahr 1386 gelegt. Anders etwa als die Peterskirche in Rom, die von einzelnen namhaften italienischen Künstlern geprägt wurde, entstand der Mailänder Dom als ein Gemeinschaftswerk von internationalen Handwerkern und Künstlern. Hier verschmolzen lombardische Bautraditionen mit Einflüssen französischer Kathedralgotik und deutscher Münsterarchitektur. Ein »Spielzeug für Riesenkinder« nannte ihn Heine. Er bezog sich damit auf Napoleon, der nach jahrhundertelangen Auseinandersetzungen um die Fassade kurzerhand ihre Errichtung angeordnet hatte, die dann unter den Österreichern ( jedenfalls vorläufig) vollendet wurde. Das wundervolle, mehrere Meter hohe Holzmodell der Fassade ist im gerade neu eingerichteten Dommuseum auf der Südseite, gegenüber im Palazzo Reale, zu bewundern. Und mit ihm eine europäische (Bau-)Geschichte, in der Mailand als Kunst- und Machtzentrum eine Hauptrolle gespielt hat, die Modeschöpfer und Designer heute auf ihre Art interpretieren.

Es ist noch gar nicht so lange her, da war die Madonnina über der Altarkuppel ein absolutes Maß, da durfte in der Stadt nicht höher gebaut werden. Wenn man jetzt aber vom Dach nach Norden Richtung Mitteleuropa guckt, dann sieht man eine neue Skyline mit über 200 Meter hohen Bürotürmen. Doch davon im nächsten Kapitel mehr.

Wolkenkratzer, Parks und grüne Strahlen

Die urbane Entwicklung zwischen Zentrum und Vorstädten

Wer lange nicht in Mailand war und auf das Dach des Doms steigt, wird sich die Augen reiben. Zwar ist mit Blick nach Süden alles – mehr oder weniger – gleich geblieben: Ein von vielen Besuchern als hässlich empfundener Wohn- und Büroturm (Torre Velasca) aus der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre, der historischen Stadttürmen nachempfunden wurde und den die Mailänder wegen der Stützstreben zum pilzartig breiten Oberbau auch den »Turm mit Hosenträgern« nennen, überragt 106 Meter hoch die Stadtlandschaft. Mit geübtem Auge kann man dahinter etwa alte Kirchen wie Sant’Ambrogio und Sant’Eustorgio oder ein paar moderne Hochhäuser am Stadtrand bei der Via Lorenteggio ausmachen. Dann verschwimmt die urbane Landschaft im Dunst der Poebene, über dem am Horizont der Apennin als fernes Versprechen ländlicher Ruhe schwebt.

Nach Norden und Westen jedoch, wo an klaren Tagen der Alpenkranz majestätisch leuchtet, fällt der Blick auf eine völlig neue Skyline. Früher ragte das 1960 von Gio Ponti erbaute Pirelli-Hochhaus mit 127 Metern als einst höchstes Gebäude Italiens elegant, aber relativ einsam aus der Dächerlandschaft, heute reiht sich hier ein Turm an den anderen. Vor einigen Jahren war zunächst der neue Verwaltungssitz der Region Lombardei dazugekommen, der Palazzo Lombardia, bei dem sich mehrere Gebäudeteile wellenförmig um ein Hochhaus von 161 Metern gruppieren. Direkt daneben kommt langsam Europas größte Baustelle zur Ruhe. Auf einer Gesamtfläche von 290 000 Quadratmetern und mit einer Investition von 2,5 Milliarden Euro ist das Mammutprojekt Porta Nuova der amerikanischen Hines-Gruppe mit 30 Gebäuden in die Höhe gewachsen. Teile der Büro- und Geschäftsflächen sowie einige Wohnbereiche sind bereits bezogen, Hotels und Kultureinrichtungen (unter anderem ein Museum der Geschichte und ein »Inkubator« für junge Gegenwartskünstler) werden folgen. In den kommenden Jahren sollen auch Gärten, Fußgängerbereiche, Fahrradwege und ein großer Park als Verbindung zum alten Stadtviertel Isola dazukommen.

Ein Wald, der in den Himmel wächst

Kernstück der Anlage sind die Gebäude neben dem Garibaldi-Bahnhof an der neuen, hoch über dem Straßenniveau gelegenen Piazza Gae Aulenti. Hier sticht die Torre Unicredit hervor, die zurzeit mit 231 Metern einschließlich des spiralförmigen Antennenaufbaus das höchste Gebäude Italiens ist, wenn auch das oberste Dachgeschoss »nur« bei 146 Metern liegt. Nebenan sind in einem weiteren Abschnitt mehrere weit über 100 Meter hohe Büro- und Wohntürme sowie kleinere, luxuriös ausgestattete Mehrfamilienhäuser entstanden. Die Torre Solaria ist mit 144 Metern das höchste Wohnhaus Italiens. Unweit der Piazza Gae Aulenti hat der Mailänder Architekt Stefano Boeri zwei »grüne« Wohntürme (110 und 80 Meter hoch) entworfen, deren Terrassen und Balkons mit Bäumen und Sträuchern bepflanzt sind, als würde sich ein Wald an den Türmen hochranken. »Bosco verticale«, vertikaler Wald, werden sie folgerichtig genannt. Für Lebendigkeit auf der Piazza Gae Aulenti sorgen derweil Geschäfte, Eisbars und auch eine Kombination von Buchhandel und Restaurant der Feltrinelli-Gruppe unter dem Kürzel RED (Read, Eat, Dream). Aber da wird man unweit der Vergnügungsstraßen Corso Como und Corso Garibaldi demnächst noch mehr Leben erwarten können.

Heute schon lohnt ein kleiner Spaziergang auf ihnen, etwa von dem Platz Largo La Foppa (Metrostation Moscova) aus. Es geht über die Piazza 25 Aprile mit dem neoklassizistischen Torbogen der Porta Garibaldi und nebenan dem Eataly-Foodtempel hoch zur Piazza Gae Aulenti und wieder hinunter ins Isola-Viertel. Eataly, von dem Turiner Unternehmer Oscar Farinetti mit Filialen in ganz Italien (und teilweise auch im Ausland) gegründet, bietet in einer Mischung aus Lebensmittel- und Restaurantkette ausgesuchte und hochwertige öko-gastronomische Produkte Italiens in einem mall-ähnlichen Ambiente.

Die Isola wiederum, von manchen Reiseführern noch als »Geheimtipp« gepriesen, zeigt ein gelungenes Nebeneinander von Alternativszene, volkstümlichem Treiben und Vergnügungsareal für junge Manager – auch wenn die Schickeria zunehmend Raum gewinnt. Dienstags (bis 14 Uhr) und samstags (bis 18 Uhr) belegen Marktstände die Straßen. Die Einwohner kann man nicht dafür haftbar machen, dass hier in der Via Volturno im Jahr 1936 ein gewisser Silvio Berlusconi das Licht der Welt erblickte.

Auf dem Weg dorthin streift man, wie so oft in Mailand, vergangene Zeiten. Kurz vor der Piazza 25 Aprile sieht man rechts eine merkwürdige kleine Doppelkirche, der zwei fast identische Fassaden vorgeblendet sind. Eine Kurzbesichtigung lohnt sich. Die Kirche der Augustiner Santa Maria Incoronata belegt im Stil den Übergang von der Gotik zur Renaissance. Und verdeutlicht politisch den Wechsel von der Visconti-Herrschaft zu der der Sforza. Ursprünglich gab es hier eine ganz kleine Kirche (Santa Maria di Garegnano), etwa an der Stelle, wo sich heute die zwei mittleren Kapellen auf der linken Seite befinden. Bianca Maria Visconti, einziges Kind und damit Erbin des letzten Visconti-Herzogs, ließ anno 1450 rechts davon (heute das rechte Seitenschiff ) die Kirche San Nicola da Tolentino errichten. Kurz darauf schenkte ihr Mann, der Heerführer Francesco Sforza, der gerade auch die Herzogswürde übernommen hatte, den Augustinern weiteren Boden für einen Klosterbau und ordnete an, direkt neben die Kirche seiner Frau eine zweite zu setzen und beide miteinander zu verbinden, so wie sich die beiden Herrschergeschlechter verbunden haben. Auf diese Weise entstand die Zwillingskirche. Noch heute sind Reste von Fresken im Stil der Frührenaissance zu sehen. In manchen Reiseführern wird die Entstehung noch andersherum erzählt (zuerst links der Mann, dann rechts die Frau), aber das geht auf eine Erinnerungstafel zurück, die an der linken Fassade angebracht ist und eine falsche Jahreszahl enthält. Man darf nicht alles glauben, was an alten Kirchen geschrieben steht.

Aber zurück zu unserem Aussichtspunkt: Wer vom Dach noch weiter nach Westen guckt, der wird auf dem alten Messegelände das neue Stadtviertel des CityLife-Projektes auf einer Grundfläche von 255 000 Quadratmetern langsam wachsen sehen. Die rund 2 Milliarden schwere Investition soll 15 000 Einwohnern Wohnraum bieten. In der Mitte einer Parkanlage werden auch hier drei Bürohochhäuser, die Zaha Hadid, Daniel Libeskind und Arata Isozaki projektiert haben, die Skyline verändern. Die Mailänder haben sie wegen ihrer eigenwilligen Formen bereits »den Krummen, den Buckligen und den Geraden« getauft. Während die Wohnanlagen – weitgehend ebenso von Hadid und Libeskind projektiert – fertiggestellt sind und der Verkauf schleppend begonnen hat, konnte der Investor erst spät Mieter für die Türme finden, von denen bislang Isozakis »Gerader« rund 200 Meter aus der Baustelle ragt. In ein paar Jahren, wenn hier auch eine neue Metrolinie mit dem Bahnhof Tre Torri in Betrieb ist und die Bäume des Parks gepflanzt sind, soll das Viertel anfangen zu leben.

Doch die Dachbesucher des Doms müssen sich nicht fürchten: Auch hinter der neuen Skyline bleiben die Alpen sichtbar – jedenfalls wenn ein frischer Wind die Smogglocke über Mailand weggeblasen hat.

Mailand schlägt weite Kreise

Max hält nichts von dieser neuen Skyline. Man stopfe urbane Löcher mit nichtssagenden Kopien einer internationalen, ortlosen Architektur, schnaubt er wütend. An der Peripherie könne man so etwas bauen, aber nicht mitten in der Stadt. Ich erwidere, dass das doch aber eine völlig heruntergekommene Gegend war, in der Kriminalität, Prostitution und Drogenhandel herrschten. Die Brachflächen hätte man auch zu einem Stadtpark des 21. Jahrhunderts zusammenfassen können, sagt Max. So wie die Giardini Pubblici im 19. und den Parco Sempione am Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber man wollte unbedingt Profit aus dem freien Boden schlagen. Das danè