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Auf der Website bullshitalarm.de können Sie mit den Autoren diskutieren und eigene Bullshit-Erfahrungen dokumentieren.

In den Kapiteln »Esoterik« und »Psychotherapie« wurden Namen und Details von Betroffenen und Seminarteilnehmern verändert.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
2. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96806-5
© Piper Verlag GmbH, München 2014
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Shutterstock.com/file404
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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»Never tell a lie when you can bullshit your way through it.«
ERIC AMBLER

Vorwort

Der Bullshit lauert überall, und meistens bemerkt man ihn zu spät. Diesmal näherte er sich in Gestalt eines stilvoll gekleideten Herrn um die fünfzig, der sich als Christian vorstellte. Der Mann setzte sich mit einem Cappuccino an den Nebentisch und plauderte mit uns über das volle Café, das Münchner Westend, den milden Winter und die globale Erwärmung. Dann wurde es seltsam.

Bis zum Jahr 2040 werde sich die Erde um sechs Grad Celsius erwärmen, sagte Christian, das habe er im Vortrag eines Experten gehört. – Hm, sechs Grad, das liegt jenseits der schlimmsten Szenarien, die von Klimaforschern ernstgenommen werden, aber gut. – Und diese Erwärmung werde die Erde für Menschen so gut wie unbewohnbar machen. – So so. – Doch so weit werde es nicht kommen, fuhr Christian fort, denn das Militär werde, wenn es die Katastrophe kommen sehe, »gentechnisch manipulierte Biowaffen« zum Einsatz bringen. Die würden 90 Prozent der Menschheit töten, damit die restlichen zehn Prozent überleben können. – Wie bitte?

Man hätte jetzt zahlen und gehen können, aber Christian war kein Dummkopf. Er kannte sich aus mit Gentechnik, besser jedenfalls als wir beiden Wissenschaftsjournalisten. Er hatte eine genaue Vorstellung davon, wie man Viren in eine Zellhülle injiziert. Er wusste Bescheid über Mikrochips, Klimaerwärmung und Kampfstoffe. Die gefährlichen Viren bräuchten 20 Tage Inkubationszeit, erklärte er, und das Militär brauche für die eigenen Soldaten einen Impfstoff nur für den Notfall. Denn nach höchstens drei Infektionswellen werde sich das Virus selbst aus der Welt schaffen. Christian hatte auf alles eine Antwort. Ratlos hörten wir ihm weiter zu.

Man könnte es sich leicht machen und Christian als paranoiden Verschwörungstheoretiker abqualifizieren. Aber wäre das fair? Vielleicht liegen wir ja mit unserem hausbackenen Weltbild falsch, und er liegt mit seinem richtig. Hat nicht der NSA-Skandal eindrücklich bewiesen, dass Verschwörungstheoretiker manchmal doch recht haben? Man könnte sich also in Toleranz üben: Na gut, er sieht es halt so, und wir sehen es anders. Doch es bleibt die Ahnung, dass Christian sich in einen Wahn verrannt hat.

Nach ein paar Minuten fragten wir ihn: »Unter welchen Umständen wärst du bereit einzuräumen, dass du dich geirrt hast mit dem, was du uns gerade erzählt hast?« – »Unter gar keinen Umständen«, erwiderte er. »Diese Logik ist völlig zwingend.«

Das war die Schlüsselstelle in diesem merkwürdigen Gespräch. Christian hat es sich mit seiner Theorie bequem gemacht. Er hat sich festgelegt und lässt keinen Widerspruch zu. Er kann sich darauf beschränken, nach Hinweisen zu suchen, die seine Theorie stützen – und Hinweise ignorieren, die sie schwächen. Diese Bequemlichkeit hat ihren Preis: Christian redet Bullshit. So nennen Philosophen – und auch Laien – grammatisch wohlgeformte Sätze, die zwar an der Oberfläche in Ordnung sind, aber keinen fundierten Gedanken ausdrücken. Der »Bulle« darin komme vom französischen boul für Täuschung, vermuten Sprachforscher. Bullshit ist Gerede, bei dem der Redner sich nicht darum schert, ob es stimmt, was er redet. Im Unterschied zum Lügner versucht der Bullshitter nicht, anderen gezielt eine Unwahrheit einzureden. Wahr oder unwahr, das kümmert ihn nicht. Laut dem amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt richtet Bullshit noch mehr Schaden an als Lügen. Schon weil es so viel davon gibt.

Christians Gerede beim Cappuccino ist nicht deshalb bemerkenswert, weil es so außergewöhnlich wäre. Im Gegenteil. Es ist Ausdruck der allgemeinen Bullshit-Epidemie. Wer einmal für das Phänomen Bullshit sensibilisiert ist, wird staunen, wie viel es davon gibt. Die Heilpraktikerin verzapft Blödsinn über Heilmagnetismus; der Autoverkäufer verzapft Blödsinn über den vermeintlich umweltfreundlichen Geländewagen; andere verzapfen Blödsinn über Familienaufstellung, Chiropraktik, probiotische Joghurts oder Hirnforschung. Das ist manchmal lustig, oft nervig und insgesamt schädlich. Denn Bullshitten untergräbt die Grundlagen unserer sprachlichen Verständigung, die nur dann funktioniert, wenn die Gesprächspartner im Großen und Ganzen wahrhaftig sind. Bullshit korrumpiert das Denken. Und die Gesellschaft.

Viele Menschen reden Blödsinn, weil sie andere manipulieren wollen. Manche reden Blödsinn, weil sie unkritisch wiederkäuen, was jemand ihnen vorgekaut hat. Man könnte sich angesichts der Flut von Bullshit genervt abwenden. Doch dafür ist das Phänomen zu wichtig. Besser ist es, sich ihm zu stellen. Woran erkennt man Bullshit? Was unterscheidet harmlosen Bullshit von schädlichem? Wie geht man damit um, und wie vermeidet man, selbst zu viel davon zu produzieren? Und wie produziert man Bullshit, wenn man doch mal welchen braucht? Um diese Fragen geht es in diesem Buch. Ausgangspunkt war eine Titelgeschichte von Tobias Hürter in der Philosophie-Zeitschrift Hohe Luft, die das philosophische Fundament des Themas legte und klärte, was Bullshit überhaupt ist. Aber beim Philosophieren sollte es nicht bleiben. Wir haben uns mit Forschungsfälschern und Esoterik-Gurus getroffen, ein Seminar für Eliteverkäufer besucht und den Grundkurs in Prana-Heilung absolviert. Wir haben uns anderthalb Jahre so intensiv mit Bullshit beschäftigt, dass wir glauben, uns jetzt Bullshit-Experten nennen zu dürfen. Zunächst unternehmen wir eine Rundreise in die Vielfalt des Bullshit und erläutern die philosophische Basis. Danach geht es hinaus in die Welt, wir begeben uns auf die Suche nach dem alltäglichen Bullshit: Wir untersuchen den Bullshit in Werbung und Politik, in Wissenschaft und Medizin, testen gefährliche Psychotherapien und ergründen die Anziehungskraft der Esoterik. Wir geben Tipps zur Früherkennung und Vermeidung von Bullshit. Zum Schluss erörtern wir, welche Haltung zum Phänomen Bullshit grundsätzlich sinnvoll und praktikabel ist. Und wir diskutieren, unter welchen Umständen es legitim sein kann, auch selbst einmal zu bullshitten.

Schluss mit dem Bullshit! Das ist ein frommer Wunsch. Aber mit diesem Buch erhalten Sie das Rüstzeug für den täglichen Kampf gegen sinnloses Gerede. Für die Christians dieser Welt.

Tobias Hürter und Max Rauner

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Ronald Pofalla beendet Dinge

Im Sommer 2013, als die Deutschen wegen der NSA-Affäre allmählich richtig sauer auf Amerika wurden, hatte der Bullshit mal wieder einen großen Moment. Seit Wochen waren neue Details über die massenhafte Überwachung durch den US-Geheimdienst NSA bekannt geworden, enthüllt durch den Whistleblower Edward Snowden. Die NSA unterhalte in der Nähe von Darmstadt eine Spezialeinheit für Kryptografie, berichtete der Spiegel im August, und die Bild-Zeitung fragte: »Warum eiert die Regierung in der Späh-Affäre so rum?« Dann trat am Nachmittag des 12. August ein sichtlich genervter Kanzleramtsminister vor die Kameras: Ronald Pofalla hatte gerade die Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums hinter sich gebracht. Er sagte: »Die NSA und der britische Geheimdienst haben erklärt, dass sie sich in Deutschland an deutsches Recht halten.« Er sagte noch ein paar solcher Sätze, und machte dann das, wofür sein Auftritt berühmt wurde: Er erklärte die NSA-Affäre für beendet: »Der Vorwurf der vermeintlichen Totalausspähung in Deutschland ist nach den Angaben der NSA, des britischen Dienstes und unserer Nachrichtendienste vom Tisch. Es gibt in Deutschland keine millionenfache Grundrechtsverletzung.«

Kein Satz davon war falsch, alles keine Lügen. Aber auch nicht gerade eine clevere Darstellung der Tatsachen. Ronald Pofalla bewegte sich in der Grauzone zwischen Wahrheit und Lüge. Was er an jenem heißen Sommertag in die Mikrofone sprach, war Bullshit, zu Deutsch: Blödsinn, Bockmist, Humbug. Man könnte auch sagen, aus Pofallas Mund kam an jenem Sommertag nichts als »heiße Luft«.

Blödsinn gedeiht im Niemandsland zwischen Wahrheit, Unwahrheit und Meinung. Jeder hat ein Recht auf eine eigene Meinung. Aber nicht auf eigene Fakten. Wo die Grenze zwischen Meinung und Fakten verschwimmt oder gezielt verwischt wird, kommt Bullshit heraus. Es gibt Bullshit in der Partnerschaft, im Smalltalk, im Gespräch mit dem Chef, beim Einkaufen, beim Arzt, in der Psychotherapie, eigentlich überall dort, wo Menschen reden. Also auch und gerade in der Politik.

Pofalla beugte die Wahrheit allein durch geschicktes Bullshitten. Mag sein, dass die NSA sich auf deutschem Boden an deutsches Recht hält (was damals keineswegs klar war). Aber bei der ganzen Aufregung ging es um Internet-Spionage. Von welchem geografischen Ort aus man sie betreibt, wo genau die ausspionierten Server stehen, wo die angezapften Datenleitungen verlaufen – für den Ausspionierten ist das ziemlich egal. Das Internet ist global. Für die Lektüre deutscher Mails brauchen die Spione der NSA sich nicht aus ihren Sesseln in der Zentrale in Maryland zu erheben, geschweige denn deutschen Boden zu betreten. Und dass die Vorwürfe »nach den Angaben der NSA, des britischen Dienstes und unserer Nachrichtendienste vom Tisch« sind, wird kaum jemanden überraschen, aber auch kaum jemanden davon überzeugen, dass sie wirklich ausgeräumt sind.

Das ist natürlich auch dem Minister bekannt. Aber in jenem Moment ging es ihm nicht darum, die Lage nüchtern zu analysieren, sondern darum, ihr möglichst schnell zu entkommen. Und einige Journalisten halfen ihm dabei. So sagte der ARD-Kommentator Ulrich Deppendorf am selben Abend in der Tagesschau: »Die Bundesregierung sieht den Vorwurf der flächendeckenden Ausspähung Deutscher durch die Geheimdienste der USA und Großbritanniens also vom Tisch.« Das hatte Pofalla nicht gesagt, er hatte nur von der Ausspähung in Deutschland gesprochen, nicht von der Ausspähung Deutscher. Und plötzlich, unmerklich war aus dem Bullshit eine klare Falschaussage geworden. Bei Deppendorf zumindest ging Pofallas Bullshit-Taktik auf. Im Internet allerdings nicht: Der Hashtag #PofallabeendetDinge wurde einen Tag lang zum Twitter-Spaß, mit gefakten CDU-Wahlplakaten und einem verkleideten Pofalla, der mal »die Unendlichkeit«, mal »die Bauarbeiten am Berliner Flughafen« oder auch »Schuberts 8. Sinfonie«, die Unvollendete, für beendet erklärte.

Die Philosophie des Bullshit

»Red keinen Scheiß« – diese Aufforderung wird oft empört geäußert (gerne auch in der Variante »Red keinen Müll« oder »Red keinen Tinnef«). Der Sprecher hat eine starke, aber nicht immer klare Vorstellung davon, was gemeint ist. Was genau ist damit gemeint, wenn jemand Müll redet? Mit dieser Frage befassen sich neuerdings auch Philosophen.

In den vergangenen 2500 Jahren haben Philosophen über alles Mögliche nachgedacht, vom Ursprung aller Dinge bis zu den Bedingungen von Erkenntnis. Besonders gerne analysierten sie auch Begriffe, die weithin gebraucht, aber schlecht verstanden wurden. Vernunft und Moral zum Beispiel, freier Wille, Bewusstsein, Raum und Zeit. Den Blödsinn hingegen ließen sie lange unbeachtet. Das ist erstaunlich, denn Blödsinn ist alles andere als ein Randphänomen. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unserer Gesellschaft, dass sie so viel Bullshit produziert. Die meisten Menschen nehmen das als selbstverständlich hin. Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt gehört nicht dazu. Den Grundstein zu einer systematischen Philosophie des Bullshit legte er im Jahr 1986 in seinem Essay On Bullshit (auf Deutsch unter dem Titel Bullshit 2006 erschienen). »Ich erkannte eines Tages, dass ich mich mein Leben lang sehr freizügig des Begriffs Bullshit bedient hatte«, erklärte er später in einem Interview, »aber nie zu klären versucht hatte, was ich darunter verstand.« Also machte Frankfurt sich daran, dem Bullshit auf den Grund zu gehen. Bullshit skizziert das Programm für eine Philosophie des Blödsinns. Deren systematische Ausarbeitung überließ sein Autor allerdings anderen.

Am Anfang der Recherchen für dieses Buch stand folgende Arbeitshypothese: Bullshit kann harmlos und sogar unterhaltsam sein, aber in großen Mengen ist er schädlich und sollte enttarnt werden. Das Ausmaß und die Vielfalt des Blödsinns scheinen unermesslich. Vermutlich hat die Menschheit noch nie so viel Bullshit produziert wie heute. Politiker, Medien, Verkäufer, Esoteriker, sie alle scheinen sich verbündet zu haben, um uns zuzutexten und verbal zu vermüllen. Da gibt es Geschichten über energetisiertes Wasser, Chemtrails, die Hohlerdentheorie und Engeltherapien, glutenfreies Brot, Familienaufstellungen, Druiden, Neurolinguistische Programmierung, Warzen-Besprechen und Neuromarketing – und schon hat man sich verzettelt. Bevor man Bullshit bekämpft, sollte man ihn besser verstehen. Im Deutschen ist auch von Firlefanz, Käse, Kokolores, Mist, Bockmist, Quatsch, Scheiße, Schmarrn, Stuss, Unfug, Unsinn die Rede – aber nichts davon trifft die Sache richtig. Am ehesten noch »Humbug«. Im Englischen ist das Wort seit 1751 belegt, um 1835 fand es Eingang ins Deutsche. »Humbug, wie der Engländer sagt«, schrieb Annette von Droste-Hülshoff in einem Brief. In diesem Buch verwenden wir »Humbug« synonym mit »Bullshit« oder »Blödsinn«.

Wenn es stimmt, dass die Menschheit dabei ist, in eine Ära des Bullshit einzutreten, dann wäre das eine Tragödie. Von den sokratischen Philosophen über die mittelalterlichen Scholastiker wie Thomas von Aquin, die Renaissance-Denker wie Galileo Galilei und Leonardo da Vinci, die wissenschaftlichen Pioniere der Royal Society in London bis zu den großen Philosophen und Naturforschern der Aufklärung, allen voran Immanuel Kant, erkennt man eine über die Jahrtausende anhaltende Bemühung, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Sollten all diese Bemühungen vergeblich gewesen sein? Gewinnt zum Schluss doch der Blödsinn? Wird die Epoche der Aufklärung eines fernen Tages nur noch eine Fußnote in der europäischen Kulturgeschichte sein? Eine kurze Erwärmung des Verstandes zwischen zwei Eiszeiten?

Klatsch ist kriminell, sagt der Papst

Es wäre naiv, ein Goldenes Zeitalter der Klarheit zu fordern, in dem jeder nur noch sagt, was er meint, und meint, was er sagt. Eine radikale Strictly-no-bullshit-Doktrin ist weder realistisch noch wünschenswert. Humbug erfüllt wichtige soziale Funktionen. Höflichkeit zum Beispiel ist im guten Fall eine raffinierte Form von Humbug für Situationen, in denen es für alle Beteiligten besser ist, nicht zu sagen, was sie meinen. Höflichkeit kaschiert die plumpe Wahrheit, ohne dass der Betreffende lügen muss.

Eine spezielle Form von Humbug ist Klatsch. »Haben Sie schon gehört, bei den Neumaiers von schräg gegenüber muss es einen üblen Ehekrach geben. Er hat sie wohl betrogen. Oder sie ihn. Jedenfalls reden die beiden seit Tagen kein Wort mehr miteinander.« Es ist mit ziemlicher Sicherheit nicht ganz richtig. Egal, geht es doch nur darum, eine spannende Geschichte zu erzählen, die das vielleicht nur in der Phantasie des Betrachters etwas seltsame Verhalten der Neumaiers erklärt. Egal? Harmlos? Nicht, wenn es nach Papst Franziskus geht. Es gebe keinen »unschuldigen Klatsch«, erklärte der Pontifex im Sommer 2013. Wer schlecht über seinen Nächsten rede, sei ein Heuchler, »der nicht den Mut hat, seine eigenen Defizite zu sehen«, so der Stellvertreter Gottes auf Erden (siehe dazu auch Kapitel »Beziehungen«).

Aber gibt es nicht doch auch unschuldigen Klatsch, etwa wenn sich zwei Menschen über einen Dritten unterhalten und dabei auch ins Spekulieren geraten. Und wer entscheidet, wo das wahrhaftige Reden aufhört und der Humbug anfängt? Eine der Grundfragen in der philosophischen Humbug-Analyse lautet: Ist die Zuschreibung von Blödsinnigkeit eine rein subjektive, wie »Köstlich!« oder »Beeindruckend!«, oder wohnt ihr ein objektiver Gehalt inne? Anders gefragt: Ist Blödsinn reine Ansichtssache? Harry G. Frankfurt hat die erkenntnistheoretischen Merkmale des Blödsinns herausgearbeitet: Ob eine Äußerung blödsinnig sei, hänge weder davon ab, ob sie wahr oder falsch sei, noch davon, ob der Sprecher sie gestammelt oder geschliffen formuliert habe, sondern vom Dreiecksverhältnis zwischen der Äußerung, dem Sprecher und der Welt. Wenn der Sprecher die Absicht hat, wahr über die Welt zu sprechen, dann redet er keinen Blödsinn im technischen Sinne. Auch dann nicht, wenn seine Äußerung nicht die klügste ist. Vielleicht ist er eben nicht der Klügste und hat sich in bester Absicht geirrt. Wenn er aber in anderer Absicht spricht und darüber den Wahrheitsgehalt seiner Äußerungen vernachlässigt, dann redet er Blödsinn.

Humbug wird nicht in der Absicht geäußert, etwas zu erklären. Er soll seine Adressaten nicht informieren, sondern Eindrücke in ihnen wecken, die wahr sein können oder nicht – darauf kommt es seinem Urheber nicht an. Humbug ist ein Affront gegen die Adressaten, die ja meistens zuhören, um etwas zu erfahren, und nicht nur, um bequatscht zu werden. Doch der angerichtete Schaden ist noch viel größer: Der Bullshitter untergräbt die Grundlagen der zivilisierten Kommunikation überhaupt. Verständigung zwischen Menschen funktioniert nämlich nur, wenn diese sich – zumindest meistens – um die Wahrheit über die Welt bemühen, in der wir leben. Würden wir dauernd Blödsinn reden, dann würde die Bedeutung der Wörter und Sätze, die wir sprechen, erodieren. Würden wir uns zum Beispiel nicht mehr darum kümmern, ob das, was wir als »grün« bezeichnen, wirklich grün ist, dann würde das Adjektiv »grün« nichts mehr aussagen. Es könnte grüne Dinge benennen und rote und farblose – alle Dinge. Ein einzelner Mensch, der noch Wert legte auf die richtige Verwendung des Attributs »grün«, wäre verloren in der allgemeinen Beliebigkeit. Humbug ist also ansteckend, er ist nicht nur selbst nichtssagend, sondern raubt auch Äußerungen, die eigentlich sinnvoll wären, ihre Aussagekraft.

Bullshitter, wie Frankfurt sie versteht, gerieren sich selbst als Überbringer der Wahrheit, obwohl gerade das nicht ihr Ansinnen ist. Vielmehr sind sie ihrem Wesen nach Fälscher und Schwindler, die mit ihrer Rede die Meinungen und Haltungen derer manipulieren wollen, zu denen sie sprechen. Ob das, was Ronald Pofalla damals sagte, wirklich Bullshit war, hängt nach Frankfurts Definition also von der Absicht ab, mit der er redete: ob er sein Publikum mit Wissen bereichern oder lediglich beschwichtigen wollte. Ob seine Intention also war, seinen Zuhörern die ihm genehme Sicht der Lage unterzuschieben – egal ob sie nun zutraf oder nicht. Im Großen und Ganzen stimmen wir Harry Frankfurt zu: Bullshit entsteht aus einem Mangel an Wahrhaftigkeit. Aber in einem Punkt möchten wir Frankfurts Definition aufgrund unserer eigenen Erfahrungen mit Bullshit erweitern. Planvolle Täuschung ist nach unserem Verständnis keine Bedingung für Bullshit. Fahrlässige Täuschung genügt. Schon eine laxe Haltung zur Übereinstimmung zwischen der Welt und dem Gesagten, wo Sorgfalt angebracht wäre, bringt Bullshit hervor.

Nach dieser erweiterten Definition hat Pofalla damals zweifelsfrei Bullshit geredet, denn es spielt keine Rolle, welche Absicht er damit verfolgt hat. Bemerkenswert an seiner Stellungnahme ist, dass er nur haarscharf an der Wahrheit vorbeiredete, ohne sie komplett zu verfehlen.

Bullshitten ist nicht gleich Lügen

Zu den bisher ungenügend untersuchten Aspekten des Humbugs gehört die Abgrenzung zum Lügen. Beides, Humbug und Lügen, sind unwahrhaftige Formen der schriftlichen oder mündlichen Rede. Sachlich falsche Aussagen ein und desselben Wortlauts, geäußert von ein und demselben Sprecher am selben Ort zur selben Zeit, können Irrtümer, Lügen oder Bullshit sein, je nach Wissensstand und Absichten des Sprechers.

Bullshit ist in der Regel sozial schwächer sanktioniert als Lügen. Man lässt sich eher belabern als belügen. Wer entdeckt, dass man ihn belügt, wird wütend. Er fühlt sich hintergangen. Unter Lügenverdacht zu geraten ist der Schrecken jedes Politikers. Humbug reden dürfen Politiker hingegen meist ungestraft. Es wird sogar weithin von ihnen erwartet, dass sie Phrasen dreschen und Fragen ausweichen. Man stelle sich vor, ein Politiker würde plötzlich hundert Prozent Klartext reden. Er geriete schnell ins Abseits.

Humbug ist also risikoarm, und er wirkt: Wenn zum Beispiel in der Fernsehwerbung für einen Brotaufstrich eine junge Französin in Tracht versonnen Kräuter in einen Bottich rührt, dann glauben auch unbedarfte Zuschauer nicht, dass der Aufstrich wirklich auf diese altertümliche Weise hergestellt wird. Dennoch verbindet er sich in unseren Köpfen mit der rustikalen Idylle. Ebenso erfüllen blödsinnige Wahlkampfreden auch dann ihren Zweck, wenn der Blödsinn offensichtlich ist.

Aus philosophischer Sicht allerdings ist die Milde gegen Humbug fragwürdig. Einem Lügner liegt an der Wahrheit. Er nimmt sie wichtig, deshalb will er sie verbergen. Zum Lügen gehört es, die Wahrheit genau zu kennen. Oft muss ein Lügner die Wahrheit sogar genauer kennen als jemand, der sie ausspricht. Denn ein Lügner muss seine Lüge in die Wahrheit einpassen und dafür sorgen, dass sie dem Weltbild seines Gegenübers so weit entspricht, dass der oder die Betreffende die Lüge als Wahrheit akzeptieren kann. Ein Bullshitter hingegen schert sich nicht um die Wahrheit. Die Welt und sein Bild von ihr sind ihm egal. Er will seine Agenda durchsetzen. »Der Lügner und der Wahrhaftige spielen dasselbe Spiel auf verschiedenen Seiten«, sagt Harry Frankfurt. »Der Bullshitter spielt ein völlig anderes Spiel. Er ist weder für die Wahrheit noch gegen sie, er schert sich nicht um sie.« Frankfurt hält Bullshit für eine noch größere Bedrohung unserer Zivilisation als das Lügen. »Es ist wichtig für uns, die Wahrheit zu respektieren«, sagt er. »Der Lügner untergräbt nicht unseren Respekt für die Wahrheit, sondern unsere Kenntnis von ihr. Das ist schlecht, aber es unterscheidet ihn vom Bullshitter, der unseren Respekt für die Wahrheit untergräbt.« Auf diese Weise zersetzt Bullshit den Wert der Wahrhaftigkeit noch tiefgreifender als Lügen.

Der Ausdruck »Bullshit« ist vor allem in Amerika in intensivem Gebrauch, und das ist kein Zufall. Die Amerikaner sind weltweit führend auf dem Gebiet des Bullshit. Schon beim ersten Wortwechsel mit Amerikanern kann man das feststellen: »How are you?« – »Very well! How are you?« – »Great!« Für deutsche Ohren kommt in diesen Floskeln geheucheltes Interesse zum Ausdruck. Technisch gesehen ist es Bullshit, als Höflichkeitsfloskel dennoch unverzichtbar, soll zwischenmenschliche Kommunikation nicht zum nackten Informationsaustausch verkommen.

Amerikanische Politiker bestreiten ganze Wahlkampfreden mit Bullshit. Deutsche Politiker bullshitten anders als amerikanische, aber nicht wesentlich weniger. Ein Beispiel unter vielen: Als der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung nicht die Zahlen enthielt, die FDP-Wähler gerne hören, sprach der damalige FDP-Wirtschaftsminister Philip Rösler von einer »vorübergehenden Wachstumsdelle«. Es ist unwahrscheinlich, dass er im Bemühen um eine ungeschminkte Analyse der Situation auf diese ungewöhnliche Formulierung kam. Eher dürfte sie Ausdruck einer Hoffnung gewesen sein, die Situation möge sich von selbst bereinigen. Eine Delle ist ein unwesentlicher Makel in einer ansonsten intakten Oberfläche. Im Allgemeinen sind Dellen nicht vorübergehend. Da jedoch die Gesamtsituation so gut war (»Wachstum«), hätte diese Delle eine Ausnahme sein können, hoffte Rösler. Er hielt es daher auch nicht für nötig, tätig zu werden. Es steckt also ziemlich viel in dieser Formulierung. Nur nicht viel Wahrheit.

Menschen glauben alles Mögliche aus allen möglichen Gründen. Manche glauben, dass Elvis Presley noch lebt. Manche glauben, dass Kondensstreifen von Flugzeugen ein Zeichen dafür sind, dass eine geheime Weltregierung die Bürger mit Chemikalien manipuliert. Manche glauben, dass die Erde nicht älter als 10 000 Jahre ist und dass Gott die ganzen Fossilien vergraben hat, um unseren Glauben zu prüfen. Manche glauben, dass homöopathische Globuli Krankheiten heilen. Nicht immer wägen sie dabei sorgfältig das Beweismaterial ab. Sie glauben es aus Gründen, die mehr mit ihnen selbst zu tun haben als mit dem, was sie glauben. Manchmal ist das harmlos. Manchmal ist es eine Katastrophe. Ronald Reagan bat bei wichtigen politischen Entscheidungen einen Astrologen ins Weiße Haus. George W. Bush berief sich beim Einmarsch in den Irak auf »göttliche Intuition«. Humbug regiert die Welt.

Gehört Bullshit zur Demokratie?

Die meisten Menschen verlassen sich beim Entdecken von Humbug auf ihr Bauchgefühl – also ihre Intuition. Doch diese kann trügen und schlimmstenfalls selbst Humbug hervorbringen. Wer dies vermeiden will, der sollte die Sache systematisch angehen. Aufhorchen sollte man zum Beispiel bei Anzeichen für Pseudo-Tiefgründigkeit: bei Berufung auf nicht näher definierte »Kräfte«, »Energien« oder sonstiges Geheimwissen; bei Sätzen, die jede Diskussion ersticken, wie etwa »Das kannst du nicht wissen«, »Ich weiß es halt« oder »Ich bin fest davon überzeugt«.

Allerdings kommt Humbug selten so offensichtlich daher. Meist muss man nachforschen. Das große Vorbild aller Bullshit-Jäger ist der Urphilosoph Sokrates, wie er in den Dialogen Platons auftritt. Sokrates sah sich als gottgesandte »Stechfliege« (Myops), mit der Mission, die Athener Bürger zu pieksen und zu nerven – stets im Dienst der Wahrheit. Er sprach Menschen auf der Straße an, fragte sie nach ihrem Verständnis von Liebe, Sterblichkeit, Gerechtigkeit, Bedeutung oder Wahrheit, erhielt oft eine überzeugte, aber irrige Antwort, fragte freundlich nach und dirigierte sie mit sanftem Druck in die Richtung, in der er die Wahrheit sah. Am Ende waren die Gesprächspartner wacher als zuvor und misstrauischer gegenüber geläufigen, aber haltlosen Reden.

Die Athener dankten Sokrates seinen Dienst an der Wahrheit nicht, im Gegenteil, sie verurteilten ihn zum Tode. »Ihr werdet für den Rest eures Lebens schlafen«, warnte Sokrates sie in seiner Verteidigungsrede, »außer wenn Gott in seiner Weisheit euch eine andere Stechmücke schickt.« Bei aller intellektuellen Demut rühmte sich Sokrates einer seltenen Art von Weisheit: Er kannte und respektierte die Grenzen seines Wissens. »Damit habe ich mich noch nicht gründlich befasst« – dieser Satz scheint im Sprachschatz vieler Politiker zu fehlen. Dabei liegt auf der Hand, dass sie sich nicht über alles schlau gemacht haben können, über das sie schlau daherreden.

Die Athener entschieden sich gegen Sokrates und die Wahrheit – für den Schlaf der Dummen. Heute sind die meisten von ihnen vergessen, und Sokrates ist der berühmteste Philosoph aller Zeiten. Das mag ein Ansporn sein, den Kampf gegen den Humbug aufzunehmen. Nur wie? Viele hängen am Humbug wie einst die Athener. Sie wehren sich hartnäckig, wenn jemand ausmisten will. Wenn Humbug sich einmal im Kopf festgesetzt hat, ist er schwer wieder herauszubekommen. Sachliche Aufklärung allein hilft selten. Im Gegenteil, sie kann den Humbug noch verfestigen. Denn um etwas zu widerlegen, muss man es wiederholen. Zum Beispiel die falsche Behauptung, dass die Nebenwirkungen einer Grippeschutzimpfung schlimmer seien als die Grippe selbst. Psychologen haben in einer Studie beobachtet, dass den Probanden zwar kurzfristig die Widerlegung der Behauptung im Gedächtnis bleibt, langfristig jedoch die zu widerlegende Desinformation. (Auch wir haben nun dazu beigetragen, den Mythos zu verbreiten.)

In einer entwickelten Gesellschaft ist ein gewisses Maß an Bullshit vermutlich nicht zu vermeiden, so wie zu menschlichem Leben unweigerlich körperliche Ausscheidungen gehören. Die Frage ist allerdings, warum Bullshit in solchen Mengen und mit solcher Beharrlichkeit produziert wird, wie wir es heute beobachten. Das Fernsehen und andere Medien sind voll davon. Wahlkämpfe basieren fast vollständig auf Humbug. Sogar die Wissenschaft, die vermeintliche Hüterin aufgeklärten Denkens, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als überraschend blödsinnsfreundlich. So scheuen Wissenschaftler sich nicht, das Hormon Oxytocin als »Kuschelhormon« zu verkaufen oder zu verkünden, die Genmutation für Internetsucht gefunden zu haben. In der Pressemitteilung ihrer Universität heißt es dann meist weiter unten: Es sind noch weitere Studien mit mehr Probanden erforderlich.

Die meisten Menschen fühlen sich von der Flut an Humbug, die unaufhörlich über sie schwappt, beeinträchtigt, aber viele tragen auch ihren Teil dazu bei. Manche sozialen Situationen, zum Beispiel Partygespräche, sind ohne Blödsinn kaum zu meistern. Eine Ursache dafür mag in der für unsere Kultur charakteristischen Meinungsfreudigkeit liegen. Die Vorstellung ist verbreitet, jeder Mensch müsse zu jeder Angelegenheit eine Meinung haben. Natürlich ist es unmöglich, sich zu jeder Angelegenheit eine fundierte Meinung zu bilden. Dazu fehlen uns allen die Zeit und das Wissen. Daher bilden wir uns einen erheblichen Teil unserer Meinungen voreilig und unwissend, aus einem dumpfen Gefühl der »Wahrheitigkeit« heraus. Im Niemandsland zwischen allem, zu dem wir uns eine begründete Meinung bilden können, und dem, wozu wir eine Meinung haben wollen, gedeiht der Blödsinn.

Harry G. Frankfurt wagt sogar die Vermutung, dass Bullshit der Preis ist, den wir für die freiheitlich-demokratische Grundordnung bezahlen müssen: »Gesellschaften, die großen Wert auf öffentliche Meinungsbildung legen, neigen dazu, mehr Bullshit zu produzieren.« Dem kann man entgegnen, dass totalitäre Gesellschaften nicht weniger Blödsinn hervorbringen. In Nordkorea etwa dient ein wesentlicher Teil des Staatswesens der Humbug-Produktion. Totalitäre Regime gründen auf Humbug. Sie sind darauf angewiesen, um sich die Menschen gefügig zu machen. Im Dritten Reich war die Sprache ein wichtiges Werkzeug der nationalsozialistischen Führung, um die Wahrheit zu verschleiern. Der Philologe Victor Klemperer hat sie in seinem Buch LTI. Notizbuch eines Philologen analysiert, das 1947 erschien und auf Aufzeichnungen Klemperers aus der Zeit des Nationalsozialismus beruht. Der Titel parodiert die Versessenheit der Nationalsozialisten auf Kürzel. LTI steht für »Lingua Tertii Imperii«, die Sprache des Dritten Reiches. Eine von den Nationalsozialisten gern benutzte, in vielen Fällen völlig unsinnige Sprachfigur war der Superlativ. Adolf Hitler wurde als »größter Feldherr aller Zeiten« bezeichnet, was von seinen kommandierenden Generälen zu »Gröfaz« verballhornt wurde (Superlativ und Kürzel in einem), und der Völkische Beobachter hatte das »größte Verlagshaus der Welt«. Kaum eine Gelegenheit wurde ausgelassen, die vermeintliche eigene Überlegenheit zu betonen.

Besonders bedrückend in Klemperers Buch sind jene Kapitel, die zeigen, wie die unseligen Sprachmuster der NS-Propaganda in den allgemeinen Gebrauch einsickerten, beispielsweise in Familienanzeigen. Klemperer zitiert eine Geburtsanzeige aus dem Dresdner Anzeiger vom 27. Juli 1942. Dort geben ein SS-Untersturmführer und seine Frau »in stolzer Freude« die Geburt ihres kleinen Volker »in Deutschlands größter Zeit« bekannt. Vor Volkers Geburtsdatum findet sich statt des Sterns eine Lebensrune. »Deutschlands größte Zeit« – das war unmittelbar vor der Schlacht von Stalingrad. Und »stolze Freude« von einem SS-Mann, der zu dieser Zeit nicht »im Felde« war, das sei, genau genommen, sogar ein Verstoß gegen den nationalsozialistischen Sittenkodex gewesen, wie Klemperer notiert. Hohle Floskeln sollten das ganz und gar unideologische Ereignis der Geburt in einen ideologischen Kontext zwängen.

Einige nationalsozialistische Wortprägungen der unscheinbareren Art sind noch heute gängig, zum Beispiel die »Entpflichtung« als eingedeutschte »Emeritierung«. Die Sprache der Nationalsozialisten war so erschreckend in ihrer Menschenverachtung, dass es schwerfällt, sie in die harmlos klingende Kategorie Bullshit einzuordnen. Doch technisch gesehen gehört sie hinein. Sie zeigt, dass es Bullshit gibt, der das Gegenteil von harmlos und lustig ist. Bullshit kann ein Machtinstrument sein – und er ist nie ein gutartiges Machtinstrument. Deshalb gehört das Bemühen um eine bullshitfreie Rede notwendig zur Demokratie.

Wittgenstein, die Spaßbremse

Es gäbe nicht so viel Bullshit auf der Welt, wenn die Menschen nicht so empfänglich dafür wären. Psychologen und Ökonomen haben inzwischen zweifelsfrei nachgewiesen, dass der Homo oeconomicus in Wahrheit ein völlig unvernünftiges Wesen ist. Es ist derzeit unter Forschern groß in Mode, den Artgenossen ihre systematischen Denkfehler nachzuweisen. Von den 2500 bis 10 000 Entscheidungen, vor denen ein Mensch tagtäglich steht (»Bus oder Fahrrad?« – »Sind drei Euro zu viel für einen Kaffee?« – »Soll ich ihn heiraten?«), fällt er die meisten aus den dunklen Tiefen seines Unbewussten heraus. Und das Unbewusste hält sich nun mal nicht an den Satz vom Widerspruch, den Grundstein logischen Denkens. Dieser Satz besagt, dass zwei einander widersprechende Aussagen nicht beide zugleich wahr sein können.

Das wäre halb so schlimm, wenn wir uns nicht für so vernünftig hielten. Humbug hat die verblüffende Eigenschaft, stets von anderen geredet zu werden, nie von einem selbst. »Die Leute« mögen blöd sein, man selbst ist schlau. Dabei redet jeder Mensch, sofern sprachbegabt, gelegentlich Humbug. Jeder von uns hat seine individuelle Blödsinnsquote, und oft kommt sie einem selbst niedriger vor als den anderen. Es muss nicht immer Astrologie, Telepathie oder Homöopathie sein. Auch Menschen, die sich für aufgeklärter als die anderen halten, sind davon überzeugt, dass Rotwein für den richtigen Geschmack »atmen« müsse, und machen ihren Kindern weis, dass keine zwei Schneeflocken gleich seien. Beides ist zwar irgendwie einleuchtend, hält aber einer Nachprüfung nicht stand. Dennoch wird es kolportiert, weil man es oft gehört hat.

Auch die knochigsten No-nonsense-Typen fanden sich in einer kontroversen Diskussion schon mal an einem Punkt wieder, an dem sie innerlich ins Schwanken gerieten: Au weia, liege ich etwa daneben? Aber nur wenige haben dann die Größe, ihre Zweifel freimütig zu äußern: Nachgeben? Nicht ich, nicht jetzt! In solchen Situationen herrscht erhöhte Humbug-Gefahr. Dann geht es nicht mehr darum, der diskutierten Angelegenheit auf den Grund zu gehen, sondern ums Rechthaben. Wir sind nicht nur Rezipienten, wir sind auch selbst Produzenten. Jeder von uns hat eine nicht eliminierbare Humbug-Restquote – auch ihr müssen wir nachspüren. Viele ansonsten nicht Humbug-affine Menschen haben schon mal über »Unruhen« in einer Weltgegend schwadroniert, die sie auf einem Globus gar nicht verorten könnten. Es sind solche Situationen, in denen sich in Sachen Humbug die Spreu vom Weizen trennt. Wem es gelingt, auch in diesen Fällen konsequent der Wahrheit auf der Spur zu bleiben, der darf sich zu Recht als Bullshit-Killer fühlen.

Ein klassischer Testfall für den Bullshit-Killerinstinkt ist die Spinat-Legende: Man hört oft, dieses eigenwillig schmeckende Blattgemüse habe einen hohen Eisengehalt. Etwas seltener hört man die »Richtigstellung«, der hohe Eisengehalt des Spinats sei eine Legende, in die Welt gesetzt von Forschern, die sich um eine Nachkommastelle vertan hätten. Sogar Elzie Segar, der Schöpfer des Comic-Matrosen Popeye, habe sich täuschen lassen und seiner Figur irrtümlich eine Spinat-Diät verordnet. Aber zum Glück gibt es ja gut informierte Zeitgenossen, die den Irrtum aufklären können. Von wegen. Keine der obigen Aussagen stimmt. Zwar bezifferten Forscher den Eisengehalt von Spinat im 19. Jahrhundert tatsächlich falsch, jedoch nicht wegen eines Rechen-, sondern wegen eines Messfehlers. Aber um Tatsachen geht es sowieso nicht. Kaum jemand macht sich die Mühe, sie nachzuprüfen. Was man oft genug hört, erzählt man bei Gelegenheit weiter. Dies ist die Dynamik des Bullshit.

In der Geschichte der Philosophie gab es immer wieder Versuche, mit dem Humbug aufzuräumen. Man könnte sogar behaupten, dass die Bekämpfung des Blödsinns zu den ursprünglichen Beweggründen der Philosophie gehört. Nicht nur Sokrates, sondern auch viele andere große Denker verstanden sich als Kreuzritter gegen den Blödsinn. Ludwig Wittgenstein unterschied in seinem Tractatus logico-philosophicus drei Arten von Sätzen: sinnvolle, sinnlose und unsinnige. Ein sinnvoller Satz sagt etwas Neues über die Welt, zum Beispiel: »Es regnet.« Ein sinnloser Satz ist bereits von seiner Struktur her wahr oder falsch: »Es regnet, oder es regnet nicht« oder »Es regnet, und es regnet nicht.« Ein unsinniger Satz sagt gar nichts. Nach Wittgenstein sind unsinnige Sätze beispielsweise die Sätze der Ethik, denn »Sätze können nichts Höheres ausdrücken. Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. Die Ethik ist transcendental« (6.24-6.241). Auch die Sätze der Philosophie, inklusive jener des Tractatus, betrachtete Wittgenstein als unsinnig. Die wirklich Weisen würden den Mund halten.

Wittgenstein philosophierte nicht nur gegen Humbug, er bekämpfte ihn auch praktisch. So erkundigte er sich eines Tages telefonisch nach dem Befinden seiner Freundin Fania Pascal, der soeben die Mandeln operativ entfernt worden waren. »Wie ein überfahrener Hund« fühle sie sich, klagte Pascal. »Du weißt nicht, wie sich ein überfahrener Hund fühlt«, antwortete Wittgenstein. Mit dieser Anekdote, die hoffentlich selbst kein Blödsinn ist, illustriert Harry G. Frankfurt, wie wenig Verständnis Wittgenstein für Blödsinn hatte. Wohlmeinende Menschen hätten Pascals Klage vielleicht als Gleichnis durchgehen lassen. Für Wittgenstein jedoch hatte ein solches Gleichnis, dessen Vergleichsbild nicht auf eigenem Erleben beruhte, keinen Sinn. Seine Erwiderung war nicht charmant, aber konsequent. Natürlich konnte Pascal nicht wissen, wie ein überfahrener Hund sich fühlt, und trotzdem sprach sie darüber. »Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen«, heißt es in der Einleitung zum Tractatus. Und genau deshalb redete Pascal Bullshit im technischen Sinne.

Noch radikaler sprangen in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die logischen Positivisten um Rudolf Carnap und Moritz Schlick mit dem Blödsinn um. Sie hielten ausschließlich für sinnvoll, was sich wissenschaftlich messen oder beobachten oder aus Messungen oder Beobachtungen logisch ableiten ließ. Ein logischer Positivist könnte in einem Gespräch mit seiner Partnerin einen Satz wie »Unsere Beziehung ist mir zu wenig prickelnd« nicht ohne Weiteres durchgehen lassen. Denn die Beziehung ist kein Etwas, das unabhängig von den Partnern existiert. Jener Satz sei ein »Pseudoobjektsatz«, würden logische Positivisten sagen. Auf den ersten Blick scheint er sich auf die Beziehung zu beziehen, aber eigentlich sagt er etwas über die beiden Partner. Der logische Positivist würde also seine Partnerin auffordern, ihre Aussage korrekt als Objektsatz neu zu formulieren, etwa als »Ich erlebe mit dir zu wenige prickelnde Momente«, und darauf wahrscheinlich explizit zu hören bekommen, er sei ein Langweiler.

Das klingt weltfremd, und das war es auch. Nicht nur mit ihren Partnern drohen logischen Positivisten Konflikte. Auch mit Naturwissenschaftlern. Die Anti-Bullshit-Regeln der logischen Positivisten waren so streng, dass sie auch einen wesentlichen Teil unserer akzeptierten wissenschaftlichen Theorien eliminiert hätten, wie das anschauliche Beispiel mit den schwarzen Schwänen, das von Karl Popper stammt, klarmacht: Auch aus noch so vielen Beobachtungen weißer Schwäne lasse sich nicht ableiten, dass alle Schwäne weiß sind. Die Gesetzmäßigkeit »Alle Schwäne sind weiß« ist also streng positivistisch nicht fundiert. Denn schon der nächste beobachtete Schwan könnte schwarz sein. (In der Philosophiegeschichte dient der schwarze Schwan als Metapher für ein sehr unwahrscheinliches, aber mögliches Ereignis.) Und tatsächlich gibt es schwarze Schwäne. In der Physik jedoch wurden viele Naturgesetze auf ähnliche Weise abgeleitet wie die Aussage »Alle Schwäne sind weiß«. So formulierte Isaac Newton, gestützt auf die Beobachtung der Planetenbahnen und die Fallgesetze auf der Erde, das Gravitationsgesetz. Die logischen Positivisten mussten einsehen, dass ihre Definition von Unsinn zu großzügig war – sie disqualifizierte weite Bereiche der Naturwissenschaften und hatte keine realistische Chance auf Akzeptanz. Eine passendere Definition fiel Carnap & Co. allerdings nicht ein. Vielleicht hat das Scheitern der logischen Positivisten dazu beigetragen, dass die Philosophie des Bullshit jahrzehntelang brachlag – bis Harry Frankfurt sich ihrer annahm.

Mehr Respekt vor der Wahrheit, bitte

Frankfurts Geniestreich bestand in der Einsicht, dass zur Unterscheidung zwischen sinnvollen und blödsinnigen Aussagen auch die Absicht des Sprechers herangezogen werden müsse. Allein der Wortlaut einer Aussage mache sie noch nicht zu Humbug. Es gehöre stets ein bewusster Akt der Täuschung dazu: Der Bullshitter spiegele ein Bemühen um Wahrheit vor, vernachlässige die Wahrheit jedoch insgeheim. Das bedeutet, dass man nach Frankfurt nicht versehentlich Humbug reden kann. Blödsinn ist stets schuldhaft.

Allerdings lässt Frankfurts Definition von Bullshit eine wichtige Frage offen: Warum liegt uns so viel an der Wahrheit? In seinem Essay Bullshit drückte der Autor sich um eine Antwort, was ihm harsche Kritik einbrachte. Er sah sich gezwungen, einen weiteren Essay nachzulegen: On Truth, erschienen 2006, 20 Jahre nach Bullshit (die deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel Über die Wahrheit). Wahrheit, das sei ein dickes Brett. Vermutlich würden mehr Philosophen die Existenz von Wahrheit bestreiten als die Existenz von Bullshit. Postmoderne Denker hielten sie für nichts weiter als ein großes Gesellschaftsspiel, weshalb sie auch weniger Angst vor Bullshit hätten.

Frankfurt hingegen verteidigt vehement den objektiven Gehalt von Wahrheit. »Wir können wirklich nicht ohne Wahrheit leben«, schreibt er. »Wir brauchen Wahrheit nicht nur, um zu verstehen, wie man gut lebt, sondern um zu wissen, wie man überhaupt überleben kann.« Es sei nicht Ansichtssache für einen Jäger, wo er einen Hirsch aufspürt, und die Statik eines Hauses liege nicht im Ermessen des Architekten, sondern sie liege da draußen in der Welt. Jeder Mensch halte Dinge für wahr oder falsch. Auf dem Respekt vor der Wahrheit gründe die Kommunikation zwischen Menschen. Wer Humbug rede, untergrabe diesen Respekt.

Doch das Verhältnis der Philosophen zum Humbug ist zwiespältig. Einerseits bekämpfen sie ihn. Andererseits sind sie selbst nicht immer frei davon. Bullshitten ist ein beliebter Vorwurf, den Philosophen sich gegenseitig machen. Deutsche und französische Vertreter der Zunft trifft er besonders oft, während die Denker der angloamerikanischen Tradition sich Knappheit und Klarheit zugute halten. Der amerikanische Sprachphilosoph John Searle fragte einmal seinen französischen Freund und Kollegen Michel Foucault, warum er »so schlecht« schreibe. »Wenn ich so klar schreiben würde wie du«, antwortete Foucault, »dann würden die Leute in Frankreich mich nicht ernst nehmen.« Ein gewisses Maß an Bullshit sei eben unerlässlich, bekannte er: »Mindestens zehn Prozent müssen unverständlich sein.«

Offenbar kennen und beherzigen auch manche deutschen Feuilleton-Autoren diese Quotenregel. Auch ihre Artikel enthalten fast immer eine uneliminierbare Restquote Bullshit. »Mindestens ein unverständlicher Artikel pro Ausgabe« – so formulierte Rudolf Augstein, der Gründungsherausgeber des Spiegel, seine Version der Foucault’schen Regel. Welche Kräfte stabilisieren diese Restquote? Die Antwort Foucaults auf Searles Frage deutet darauf hin, dass des Rätsels Lösung nicht im Dreiecksverhältnis zwischen Welt, Text und Autor zu suchen ist. Offenbar spielen die Rezipienten eine wesentliche Rolle. Möglicherweise versprechen sie sich von der Lektüre eines Artikels, der eine gewisse Portion Bullshit enthält, einen Distinktionsgewinn. Wer etwas liest, das er nicht versteht, kann davon ausgehen, dass auch andere Leser es nicht verstehen. Er hat also Teil an etwas, das den meisten Menschen verschlossen bleibt, was ihm das Gefühl gibt, aus der Masse herauszuragen. Wenn alle so denken, hat die Sache allerdings einen paradoxen Effekt, wie er auch in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern zu beobachten ist: Als der Kaiser nackt herumstolziert, wagt niemand zu sagen: »Der hat ja gar nichts an.« Um des Distinktionsgewinns durch Bullshit willen traut sich niemand auszusprechen: »Da steht ja gar nichts.«

Bei aller Besorgnis wegen der Humbug-Epidemie sollte man aber nicht vergessen, dass Humbug auch Spaß machen kann. Blödsinn, der speziell auf die Aufheiterung seiner Adressaten zielt, wird Humor genannt. Die Aufheiterung resultiert aus dem Erfolgserlebnis, eine auf den ersten Blick sinnvolle Aussage als unsinnig zu erkennen. Dass uns dies solche Freude bereitet, weist darauf hin, wie tief die Abneigung gegen Humbug im Menschen verwurzelt ist. Nun ist Humbug, der zum Zweck der Aufheiterung verbreitet wird, im Allgemeinen kein Humbug im streng technischen Sinne, denn er ist meist deutlich als solcher erkennbar. Humor will seine Adressaten nicht manipulieren, sondern zum Lachen bringen. Damit gibt er einen Hinweis auf eine gute Strategie zur Enttarnung von Bullshittern: Lacht sie aus! Zeigt, dass ihr sie nicht ernst nehmt! Damit durchkreuzt man ihre Absichten – und hat gleichzeitig Spaß an ihrem Humbug. Auch das soll dieses Buch demonstrieren: Humbug hat Unterhaltungswert. Und das nicht zu knapp.

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