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ICH BIN ZU GAST HIER, ein Journalist, der über ein Sportereignis berichtet, von dem bisher kaum jemand gehört hat: die Weltmeisterschaft im Freitauchen. Ich sitze an einem kleinen Schreibtisch in einem Hotelzimmer am Meer mit Blick auf die Strandpromenade des griechischen Urlaubsorts Kalamata. Das Hotel ist alt, man sieht es an den feinen Rissen im Putz der Wände, am fadenscheinigen Teppich und den Schmutzschatten von Bildern, die einst in den halbdunklen Gängen hingen.

Hierher geschickt wurde ich von der Zeitschrift Outside, weil die AIDA Individual Depth World Championship 2011 ein Meilenstein für das Freitauchen ist – das größte Athletentreffen in der Geschichte dieses kaum bekannten Sports. Da ich mein ganzes Leben in der Nähe des Meeres zugebracht habe, schon immer einen großen Teil meiner Freizeit darin verbracht habe und oft darüber schreibe, fand der Herausgeber, dass der Auftrag wie gemacht für mich sei. Er wusste nicht, dass ich vom Freitauchen kaum eine Ahnung hatte. Ich hatte es nie selbst ausprobiert, kannte niemanden, der freitauchte, und hatte bei dieser Art des Tauchens noch nicht einmal zugesehen.

Meinen ersten Tag in Kalamata verbringe ich also damit, mich über die Wettbewerbsregeln und die Stars des Sports zu informieren. Was ich da sehe, beeindruckt mich überhaupt nicht. Ich klicke mich durch Fotos von Freitaucherinnen im Meerjungfrauen-Look, die mit dem Kopf nach unten im Wasser schweben und per Handzeichen signalisieren, dass alles in Ordnung ist, oder raffinierte Luftblasenringe am Grund eines Swimmingpools ins Wasser pusten. Offenbar wieder so ein seltsames Hobby wie Charleston-Tanzen, dem die Leute nachgehen, um auf Cocktailpartys damit anzugeben und in ihrem Facebook-Profil darauf zu verweisen.

Aber Auftrag ist Auftrag. Um halb sechs am nächsten Morgen überrede ich im Jachthafen von Kalamata einen etwas abgerissen wirkenden Kanadier, den es von Quebec nach Griechenland verschlagen hat, mich auf seinem 8-Meter-Segelboot mitzunehmen. Es ist das einzige Boot für Zuschauer, das da draußen, etwa 16 Kilometer vor Kalamata im tiefen offenen Meer, beim Wettbewerb zugelassen ist. Ich bin der einzige Journalist an Bord. Um acht Uhr erreichen wir eine Flottille aus Motorbooten, Plattformen und Ausrüstungsträgern, die den Teilnehmern als Basis dient. Die Taucher der ersten Gruppe nehmen nach ihrer Ankunft ihre Positionen neben drei gelben Seilen ein, die von einer Plattform ganz in der Nähe herabhängen. Ein Kampfrichter zählt von zehn herunter. Der Wettbewerb beginnt.

Was ich dann sehe, ist ebenso verblüffend wie erschreckend für mich.

Ich schaue zu, wie ein bleistiftdünner Neuseeländer namens William Trubridge tief Atem holt, seinen Körper spannt und mit nackten Füßen in das kristallklare Wasser eintaucht. Mit weiten Schwimmzügen kämpft er sich die ersten drei Meter hinunter. Dann, in etwa sechs Metern Tiefe, legt er die Arme wie ein Fallschirmspringer an den Körper und sinkt immer tiefer, bis er verschwindet. Ein Kampfrichter, der einen Sonarschirm an der Oberfläche beobachtet, verfolgt seinen Abstieg und sagt die Tiefen an: »Dreißig Meter … vierzig Meter … fünfzig Meter.«

Trubridge erreicht das Ende des 100-Meter-Seils, wendet und schwimmt wieder Richtung Oberfläche. Nach drei quälenden Minuten taucht seine winzige Gestalt im tiefen Wasser auf wie ein Scheinwerfer im Nebel. Er streckt den Kopf aus dem Meer, atmet aus, holt noch einmal tief Atem, zeigt einem Kampfrichter an, dass alles okay ist, und macht dann Platz für den nächsten Teilnehmer. Trubridge ist gerade dreißig Stockwerke tief hinuntergetaucht und wieder hochgekommen, alles mit nur einer Lunge voll Luft – ohne Taucherausrüstung, Luftschlauch, Schutzweste, sogar ohne Taucherflossen als Hilfsmittel.

In hundert Metern Tiefe ist der Druck mehr als neunmal höher als auf der Erdoberfläche, stark genug, um eine Cola-Dose zu zerquetschen. Schon in zehn Metern Tiefe werden die Lungen auf die Hälfte ihrer normalen Größe zusammengedrückt; bei hundert Metern schrumpfen sie auf die Größe von zwei Tennisbällen. Und doch tauchen Trubridge und die meisten anderen Freitaucher, denen ich am ersten Tag zusehe, unversehrt wieder auf. Die Tauchgänge wirken auch nicht irgendwie erzwungen, sondern ganz natürlich, als ob die Taucher wirklich dort unten hingehörten. Als ob das bei uns allen so wäre.

Ich bin derart überwältigt von dem Anblick, dass ich es unbedingt sofort jemandem erzählen muss. Also rufe ich meine Mutter in Südkalifornien an. »Das ist unmöglich«, meint sie. Nach unserem Gespräch telefoniert sie mit ein paar Freunden, die seit vierzig Jahren mit Atemgerät tauchen, und ruft dann noch einmal bei mir an. »Da muss am Meeresgrund ein Sauerstofftank oder so etwas sein«, sagt sie. »Und ich würde dir raten, gründlich zu recherchieren, bevor du irgendwas darüber schreibst.«

Aber da war kein Sauerstofftank am Ende des Seils, und wenn einer dort gewesen wäre und Trubridge und die anderen Taucher tatsächlich vor dem Aufstieg dort eingeatmet hätten, wären ihre Lungen geplatzt, sobald die Luft aus dem Tank sich in geringeren Tiefen ausgedehnt hätte; und der Stickstoff in ihrem Blut hätte geschäumt, bevor sie die Oberfläche erreicht hätten. Sie wären gestorben. Der menschliche Körper kann den Druck eines schnellen 100-Meter-Tauchgangs nur aushalten, wenn er keine zusätzliche Luft zugeführt bekommt.

Manche Menschen kommen besser damit zurecht als andere.

In den nächsten vier Tagen beobachte ich verschiedene andere Teilnehmer, die versuchen, hundert Meter tief zu tauchen. Viele schaffen es nicht und kehren um. Sie tauchen mit Nasenbluten, bewusstlos oder mit Herzstillstand wieder auf. Der Wettbewerb geht einfach weiter. Nun, aus irgendeinem Grund ist dieser Sport nicht verboten.

Für die meisten in dieser Gruppe ist der Versuch, tiefer zu tauchen, als es alle – selbst Wissenschaftler – je für möglich hielten, das Risiko wert, gelähmt zu bleiben oder sogar zu sterben. Aber nicht für alle.

Ich lerne einige Teilnehmer kennen, die das Freitauchen mit einer vernünftigeren Einstellung angehen. Sie sind nicht an einer Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit interessiert. Ihnen ist egal, ob sie Rekorde brechen oder besser sind als ihre Rivalen. Sie tauchen ohne Sauerstoffgerät, weil sie auf diese Weise ganz unmittelbar und direkt mit dem Meer in Berührung kommen. In den drei Minuten unter der Oberfläche (so lange dauert es im Durchschnitt, um so tief zu tauchen) ähnelt der Körper in Form und Funktion nur vage seinem Zustand an Land. Das Meer verändert uns körperlich und psychisch.

In einer Welt, auf der sieben Milliarden Menschen leben, auf der jeder Quadratmeter Land vermessen, viele davon bebaut und zu viele zerstört sind, bleibt die Tiefsee die letzte ungesehene, unberührte und unentdeckte Wildnis, die letzte große Herausforderung unseres Planeten. Es gibt dort unten keine Handys, keine E-Mails, kein Twitter und Facebook, keine Autoschlüssel, die man verlieren kann, keine Terrordrohungen, keine vergessenen Geburtstage, keine Überziehungszinsen und keine Hundescheiße, in die man auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch treten könnte. Der ganze Stress und Lärm, die Ablenkungen des Lebens bleiben an der Oberfläche zurück. Die Tiefsee ist der letzte wahrhaft stille Ort auf Erden.

Diese Freitaucher, die den Sport eher philosophisch betrachten, bekommen glasige Augen, wenn sie von ihren Erfahrungen berichten; man sieht diesen Ausdruck auch bei buddhistischen Mönchen oder bei Patienten in der Notaufnahme, die an der Schwelle des Todes standen und Minuten später ins Leben zurückgeholt worden sind. Bei jenen eben, die es auf die andere Seite geschafft haben. Und das Beste daran ist, dass die Taucher immer wieder beteuern: »Diesen Sport kann wirklich jeder ausüben.«

Buchstäblich jeder, unabhängig von Gewicht, Größe, Geschlecht oder Ethnie. Die Athleten, die sich in Griechenland versammelt haben, sind bei Weitem nicht alle straffe, übermenschlich muskulöse Schwimmer vom Typ Ryan Lochte, wie man vielleicht erwarten würde. Es gibt ein paar beeindruckende Erscheinungen wie Trubridge, aber auch stämmige Amerikaner, winzige Russinnen, stiernackige Deutsche und zarte Venezolanerinnen.

Freitauchen widerspricht allem, was ich über das Überleben im Meer weiß; man kehrt der Meeresoberfläche den Rücken zu, schwimmt weg von der einzigen Luftzufuhr und strebt der Kälte, dem Schmerz und der Gefahr der Tiefe entgegen. Manchmal wird man ohnmächtig. Manchmal blutet man aus Nase und Mund. Manchmal schafft man es nicht lebend zurück. Abgesehen vom Basejumping – dem Fallschirmspringen von Gebäuden, Funkmasten, Brücken und Abhängen aus – ist Freitauchen die gefährlichste Abenteuersportart der Welt. Dutzende, vielleicht Hunderte Taucher tragen jedes Jahr Verletzungen davon oder sterben sogar. Man bekommt den Eindruck, dass es etwas mit Todessehnsucht zu tun haben muss.

Und doch musste ich auch nach meiner Heimkehr nach San Francisco immer wieder an meine Erlebnisse in Griechenland denken.

Ich fing an, ausführlich über das Frei- oder Apnoetauchen (Apnoe kommt von dem griechischen Wort ápnoia, »ohne Atmen«) zu recherchieren und darüber, was Sportler als die amphibischen Reflexe des menschlichen Körpers beschreiben. Und obwohl meine Mutter es nicht glauben wollte und die meisten Menschen zumindest daran zweifelten, fand ich schließlich heraus, dass dieses Phänomen wirklich existiert und sogar einen eigenen Namen hat. In der Wissenschaft wird es als Tauchreflex oder lyrischer als »Hauptschalter des Lebens« bezeichnet und seit etwa fünfzig Jahren erforscht.

Den Begriff »Hauptschalter des Lebens« prägte der Physiologe Per Scholander im Jahr 1963. Er bezieht sich auf eine Vielzahl physiologischer Reflexe in Gehirn, Lungen, Herz und anderen Organen, die in dem Moment ausgelöst werden, in dem wir unser Gesicht ins Wasser stecken. Je tiefer wir tauchen, desto ausgeprägter werden die Reflexe, bis sie schließlich eine körperliche Veränderung aktivieren, die unsere Organe vor dem Implodieren unter dem immensen Wasserdruck schützt und uns in Lebewesen der Tiefsee verwandelt. Freitaucher können dieses Umschalten steuern und nutzen, um tiefer und länger zu tauchen.

Schon alte Kulturen kannten diesen Tauchreflex und setzten ihn über Jahrhunderte hinweg ein, um Schwämme, Perlen, Korallen und Nahrung aus dem Meer zu holen. Europäische Besucher der Karibik, des Nahen Ostens, des Indischen Ozeans und des Südpazifiks berichteten im 17. Jahrhundert von Einheimischen, die mehr als dreißig Meter tief tauchten und bis zu 15 Minuten lang im Wasser blieben, ohne Atem zu schöpfen. Leider sind die meisten Berichte mehrere Hundert Jahre alt, und das Wissen über das Freitauchen, das diese Kulturen womöglich besaßen, ist im Dunkel der Geschichte verschwunden.

Ich fragte mich: Wenn wir eine so grundlegende Fähigkeit wie das Tauchen in größere Tiefen verlernt haben, welche anderen Reflexe und Fertigkeiten haben wir sonst noch verloren?

DIE NÄCHSTEN ANDERTHALB JAHRE suchte ich nach Antworten, reiste von Puerto Rico nach Japan, von Sri Lanka nach Honduras. Ich sah zu, wie Menschen fast dreißig Meter tief tauchten und Satellitensender an den Rückenflossen von Haien, die auch Menschen gefährlich werden können, befestigten. Ich ging mit einem selbst gebauten U-Boot mehrere Hundert Meter tief auf Tauchfahrt, um mit leuchtenden Quallen zu kommunizieren.

Ich sprach mit Delfinen. Wale sprachen mit mir. Ich schwamm Auge in Auge mit dem größten Raubtier der Welt. Ich stand nass und halb nackt inmitten einer vom Stickstoff schon ziemlich beduselten Forschergruppe in einem Unterwasserbunker. Ich schwebte in der Schwerelosigkeit. Ich wurde seekrank und von der Sonne völlig verbrannt. Außerdem schmerzte mein Rücken von Zehntausenden Flugkilometern in der Touristenklasse. Und was bekam ich dafür?

Ich entdeckte, dass wir enger mit dem Meer verbunden sind, als die meisten Menschen glauben. Wir werden im Meer geboren. Jeder von uns beginnt sein Leben schwebend im Fruchtwasser, das dem Meerwasser erstaunlich ähnelt. Unsere frühesten Körpermerkmale sind fischähnlich. Einem Embryo wachsen im ersten Monat Flossen, keine Füße; ein einziger genetischer Defekt, und wir entwickeln Flossen anstelle von Händen. In der fünften Woche hat das Herz des Fötus zwei Kammern – wie bei Fischen.

Das menschliche Blut hat in seiner chemischen Zusammensetzung verblüffende Ähnlichkeiten mit Meerwasser. Ein Kleinkind macht reflexartig Brustschwimmzüge, wenn es unter Wasser gerät, und kann problemlos etwa vierzig Sekunden den Atem anhalten, länger als viele Erwachsene. Wir verlieren diese Fähigkeit erst, wenn wir laufen lernen.

Wenn wir älter werden, entwickeln wir amphibische Reflexe, die es uns ermöglichen, in unglaubliche Tiefen zu tauchen. Die dort herrschenden Bedingungen würden uns an Land verletzen oder töten. Im Meer aber ist das anders. Das Meer ist eine andere Welt mit anderen Regeln. Und man braucht oft eine andere Denkweise, um diesen Ort zu verstehen.

Je tiefer wir vordringen, desto seltsamer wird es.

Auf den ersten ein-, zweihundert Metern ist die Verbindung des Menschen zum Meer eine physische – man kann sie im salzigen Blut schmecken, an den kiemenähnlichen Schlitzen eines acht Wochen alten Fötus ablesen und in den amphibischen Reflexen erleben, die die Menschen mit den Meeressäugern teilen.

Jenseits der Grenze, bis zu der der menschliche Körper frei tauchen und überleben kann, ab etwa zweihundert Metern, wird die Verbindung zum Meer sensorisch. Sie spiegelt sich in den Tieren wider, die in diese Tiefen hinabtauchen.

Um in dieser lichtlosen und kalten Umgebung unter hohem Druck zu überleben, haben Tiere wie Haie, Delfine und Wale zusätzliche Sinne entwickelt, mit deren Hilfe sie sich orientieren, kommunizieren und sehen. Auch wir besitzen Fähigkeiten, die über das normale Sehen, Hören und Riechen hinausgehen; wie der Tauchreflex sind sie Überreste unserer gemeinsamen Vergangenheit im Meer. Diese Sinne und Reflexe schlummern weitgehend ungenutzt in uns, aber sie sind nicht verschwunden. Und sie kommen offenbar wieder zum Vorschein, wenn wir sie unbedingt brauchen.

Genau diese Verbindung – zwischen dem Meer und uns, zwischen uns und den Meerestieren, mit denen wir einen Großteil unserer DNA teilen – zog mich immer tiefer und tiefer hinein.

AUF HÖHE DES MEERESSPIEGELS sind wir wir selbst. Das Blut fließt vom Herz zu den Organen und Extremitäten. Die Lungen atmen Luft ein und stoßen Kohlendioxid aus. Die Synapsen im Gehirn arbeiten mit einer Frequenz von etwa acht Takten pro Sekunde. Das Herz pumpt zwischen sechzig- und hundertmal in der Minute. Wir sehen, berühren, fühlen, schmecken und riechen. Unsere Körper sind an das Leben auf oder über dem Meeresspiegel angepasst.

In zwanzig Metern Tiefe sind wir hingegen nicht mehr ganz wir selbst. Das Herz schlägt nur noch halb so oft. Das Blut strömt allmählich aus den Extremitäten in die wichtigeren Regionen des Körperkerns. Die Lungen schrumpfen auf die Hälfte ihrer gewöhnlichen Größe. Die Sinne stumpfen ab, die Synapsen feuern langsamer. Das Gehirn verfällt in einen Zustand tiefer Meditation. Die meisten Menschen können es bis in diese Tiefe schaffen und diese Veränderungen in ihrem Körper spüren. Manche entschließen sich sogar, noch tiefer zu tauchen.

Bei hundert Metern ist unser Körper ein ganz anderer. Der Druck in dieser Tiefe ist neunmal so hoch wie an der Oberfläche. Die Organe kollabieren. Das Herz schlägt nur noch mit einem Viertel der normalen Taktfrequenz, langsamer als bei einem Menschen im Koma. Die sinnliche Wahrnehmung schwindet. Das Gehirn tritt in einen traumartigen Zustand ein.

Bei zweihundert Metern ist der Druck des Meeres so hoch – etwa achtzehnmal so hoch wie auf der Erdoberfläche –, dass die meisten Menschen ihm körperlich nicht standhalten können. Nur wenige Freitaucher haben je versucht, in diese Tiefe zu tauchen; noch weniger haben es überlebt. Andere Säugetiere gelangen dorthin, wohin wir Menschen nicht mehr kommen. Haie, die noch weitaus tiefer als zweihundert Meter tauchen können, verlassen sich auf Sinne, die jenseits unserer Fähigkeiten liegen. Dazu zählt die Magnetorezeption, die Fähigkeit, das Magnetfeld der Erde wahrzunehmen. Die Forschung dazu lässt vermuten, dass auch die Menschen diese Fähigkeit besitzen und sie möglicherweise jahrtausendelang nutzten, um über die Meere zu segeln und durch weglose Wüsten zu wandern.

Die absolute Grenze für den menschlichen Körper scheint bei etwa zweihundertfünfzig Metern zu liegen. Ein österreichischer Freitaucher hat bei dem Versuch, sich dieser Grenze anzunähern, im Jahr 2012 sein Leben aufs Spiel gesetzt.

In dreihundert Metern Tiefe ist das Wasser kälter, und es gibt praktisch kein Licht. Ein anderer Sinn erwacht zum Leben: Tiere nehmen ihre Umgebung nicht durch Sehen, sondern durch Hören wahr. Mit diesem zusätzlichen Sinn, der Echoortung, auch Biosonar genannt, können Delfine und andere Meeressäuger gut genug »sehen«, um etwa ein Metallpellet von der Größe eines Reiskorns aus einer Entfernung von siebzig Metern wahrzunehmen. Und aus noch größerer Distanz von etwa hundert Metern sind sie in der Lage, zwischen einem Tischtennis- und einem Golfball zu unterscheiden. An Land setzen manche Blinde die Fähigkeit der Echoortung ein, um mit dem Rad durch belebte Straßen in der Stadt zu fahren, durch den Wald zu laufen und aus einer Entfernung von dreihundert Metern ein Gebäude wahrzunehmen. Diese Menschen haben keine besonderen Veranlagungen; mit dem richtigen Training können wir alle sehen, ohne die Augen zu öffnen.

In einer Tiefe von achthundert Metern ist das Wasser völlig schwarz, und der Druck ist fünfundsiebzigmal so hoch wie an der Oberfläche. Den Tieren, die in diesen Tiefen leben, droht Gefahr aus allen Richtungen. Zitterrochen haben sich angepasst, indem sie Nervenimpulse in ihrem Körper nutzen, um Beutetiere mithilfe von Elektroschocks zu töten und Räuber abzuwehren. Wissenschaftler haben festgestellt, dass auch die menschlichen Körperzellen elektrisch aufgeladen sind. Tibetanische buddhistische Mönche, die die Bön-Tradition der Tummo-Meditation praktizieren, haben gelernt, diese Zellladung zu lenken, um ihre Körper in kalten Wintern zu wärmen. In England haben Forscher entdeckt, dass Menschen, denen es gelingt, die elektrische Ladung in ihren Körperzellen zu kontrollieren, nicht nur Wärme produzieren, sondern auch viele chronische Krankheiten behandeln können.

Bei 3000 Metern, in einer schwarzen, gnadenlosen Tiefe, finden wir Pottwale – deren Verhalten überaschenderweise unserem Sozialverhalten und Intellekt stärker ähnelt als das jedes anderen Lebewesens auf diesem Planeten. Die Kommunikation der Pottwale ist womöglich komplexer als jede Form der menschlichen Sprache.

In einer Tiefe von 6000 Metern und mehr findet man die lebensfeindlichste Umgebung der Erde. Der Druck ist zwischen sechshundert- und tausendmal so hoch wie auf der Oberfläche; die Temperaturen liegen knapp über dem Gefrierpunkt. Es gibt kein Licht und sehr wenig Nahrung. Und doch hält sich dort Leben. Vielleicht sind diese krassen Tiefen sogar die Geburtsstätte allen Lebens auf der Erde.

ZWEI MILLIONEN JAHRE MENSCHHEITSGESCHICHTE, 2000 Jahre wissenschaftliche Experimente, ein paar Hundert Jahre Tiefseeabenteuer, 100 000 Meeresbiologen, zahllose Fernsehdokumentationen, die jährliche Shark Week des Discovery Channel, und immer noch haben wir nur einen Bruchteil der Meere erkundet. Sicher sind gelegentlich Menschen sehr tief hinuntergekommen, aber haben sie wirklich etwas gesehen? Wenn man den Ozean mit einem menschlichen Körper vergleicht, kann man die Erkundung der Meere nach dem gegenwärtigen Stand mit einem Schnappschuss von einem Finger vergleichen, anhand dessen man herausfinden soll, wie der ganze Körper funktioniert. Leber, Magen, Blut, Gehirn und Herz der Ozeane – was sie beherbergen, wie sie funktionieren, wie wir in ihnen funktionieren –, das alles bleibt ein Geheimnis, das großteils in den dunklen Reichen verborgen ist, in die nie ein Lichtstrahl dringt.

Um das noch einmal deutlich festzuhalten: Dieses Buch hat eine Stoßrichtung hinab in die Tiefe. Mit jedem Kapitel steigt es weiter hinunter, von der Oberfläche bis auf den Grund des schwärzesten Meeres. Ich werde so tief tauchen, wie mein Körper es zulässt, und dann für jene Tiefen, die ich nicht erreichen kann, einen Stellvertreter einsetzen – eines jener vielen tief tauchenden Tiere, mit denen Menschen unerwartete und verblüffende Ähnlichkeiten haben.

Die Forschungsergebnisse und Geschichten, die jetzt folgen, decken nur einen kleinen Teil der gegenwärtigen Meeresforschung ab und konzentrieren sich auf die Beziehungen des Menschen zum Meer. Die hier vorgestellten Wissenschaftler, Abenteurer und Athleten sind nur ein paar jener Tausenden von Menschen, die jetzt gerade die Geheimnisse der Ozeane zu ergründen suchen.

Es ist kein Zufall, dass viele der Forscher auch Freitaucher sind. Ich lernte sehr bald, dass Freitauchen mehr ist als nur ein Sport; es ist auch ein schneller und effizienter Weg, sich einigen der geheimnisvollsten Tiere des Meeres zu nähern und sie zu erforschen. Haie, Delfine und Wale können zum Beispiel dreihundert Meter und tiefer tauchen, doch wir haben keine Möglichkeit, sie in solchen Tiefen zu beobachten. Eine Handvoll Wissenschaftler hat kürzlich entdeckt, dass sie diese Tiere weitaus genauer studieren können als jeder Gerätetaucher, jeder Roboter oder Seemann, wenn sie an der Meeresoberfläche warten, bis die Tiere zum Fressen und Atmen nach oben kommen, und sich ihnen dann unter gleichen Bedingungen – frei tauchend – nähern.

»Gerätetauchen ist so, als würdest du mit einem Allrad-Jeep durch den Wald fahren, die Fenster geschlossen, die Klimaanlage aufgedreht und die Musik auf Discolautstärke«, erklärte mir ein Forscher und Freitaucher. »Du bist nicht nur weiter weg von der Umgebung, du störst sie auch enorm. Tiere haben Angst vor dir. Du bist eine Bedrohung!«

Je mehr ich mich auf diese Gruppe einließ, desto dringender wollte ich auch an den intensiven Zusammentreffen teilhaben, die sie mit ihren Forschungsobjekten erlebten. Ich begann selbst mit dem Freitauchen. Ich wurde Lehrling. Ich tauchte ganz tief ein.

Und so ist auch mein Training im Freitauchen Teil der Abwärtsspirale dieses Buches – ein persönliches Bemühen, die Instinkte des Landlebewesens (also das Atmen) zu überwinden, den Hauptschalter umzulegen und meinen Körper in eine Tauchmaschine zu verwandeln. Nur mithilfe des Freitauchens konnte ich so nahe wie körperlich möglich an die Tiere herankommen, die uns so viel über uns selbst lehren.

Allerdings war mir klar, dass auch das Freitauchen seine Grenzen hatte. Selbst erfahrene Taucher kommen für gewöhnlich ohne Anstrengung nicht mehr als fünfzig Meter tief, und selbst wenn, können sie sich nicht lange dort aufhalten. Der durchschnittliche Anfänger – ich zum Beispiel – schafft es über lange frustrierende Monate hinweg nicht tiefer als etwa fünf bis zehn Meter. Um in größere Tiefen vorzudringen und Tiere der Tiefsee zu sehen, die nie auch nur in die Nähe der Oberfläche kommen, schloss ich mich einer anderen Gruppe von Freitauchern an – einer Art Subkultur von Do-it-yourself-Ozeanografen, die gerade den Zugang zu den Weltmeeren revolutionieren und demokratisieren. Während andere, von Regierungs- und akademischen Institutionen bezahlte Wissenschaftler Anträge schreiben und von Finanzierungsengpässen ausgebremst werden, bauen diese zupackenden Forscher ihre eigenen Unterseeboote aus dem, was der Sanitärfachhandel so zu bieten hat, verfolgen Haie mit iPhones und knacken die geheime Sprache der Wale mit verrückten Apparaturen aus Nudelsieben, Besenstielen und ein paar handelsüblichen GoPro-Kameras.

Fairerweise muss man sagen, dass viele Institutionen diese Art von Forschung nicht betreiben, weil sie es nicht dürfen. Was diese DIY-Forscher da tun, ist gefährlich – und oft völlig illegal. Keine Universität würde ihren Doktoranden je erlauben, kilometerweit mit einem klapprigen Motorboot aufs Meer hinauszufahren und mit Haien und Pottwalen (die zwanzig Zentimeter lange Zähne haben und die größten Raubtiere der Erde sind) zu schwimmen oder mit einem nicht zugelassenen und nicht versicherten selbst gebauten Tauchboot Tausende Kilometer zurückzulegen. Diese rebellischen Forscher jedoch tun so etwas ständig und finanzieren ihre Abenteuer oft noch aus eigener Tasche. Mit ihrer zusammengestoppelten Ausrüstung und minimalen finanziellen Mitteln verbringen sie mehr Zeit mit den Bewohnern der Meerestiefen als irgendjemand vor ihnen.

»Jane Goodall hat die Menschenaffen auch nicht vom Flugzeug aus erforscht«, erklärte es mir einer dieser freischaffenden Forscher einmal. Er beschäftigte sich mit der Kommunikation der Wale untereinander und hatte sein Labor im Obergeschoss des Restaurants eingerichtet, das seine Frau betrieb. »Und ebenso kann man auch nicht erwarten, dass etwas dabei herauskommt, wenn man die Meere und ihre Tiere im Hörsaal erforscht. Man muss da reingehen. Man muss nass werden.«

Und das wurde ich.

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EIN TÜRKISFARBENES ZWEISTÖCKIGES REIHENHAUS in Key Largo beherbergt die Einsatzzentrale der Aquarius, der weltweit einzigen verbliebenen Unterwasserstation. Der Briefkasten vor dem Haus lehnt an einem Betonstein und ist mit Kabelbindern an einen Stapel verrottendes Holz gebunden. Die Zufahrt aus weißem Kies steht voller schmuddeliger, uralter Autos. Wenn man an einem bedrohlich schiefen Maschendrahtzaun vorbei- und eine Holztreppe hinaufgeht, steht man vor einer Glasschiebetür, die sich auf einen im Stil der Siebzigerjahre getäfelten Raum hin öffnet. Rechterhand geht’s zur Einsatzleitung.

Die Aquarius wird im Grunde aus einem Schlafsaal heraus kontrolliert. Der Gang ist mit Eichenschränken zugestellt, durchgesessene Sofas stehen kreuz und quer im Wohnzimmer herum, und sonnenverbrannte Jungs in Shorts und mit nach hinten gedrehten Baseballkappen auf dem Kopf essen in der Küche Nudeln aus der Mikrowelle.

Der Einsatzleiter Saul Rosser bittet mich auf das Beobachtungsdeck. Rosser, 32 Jahre alt und seit zwei Jahren bei der Aquarius beschäftigt, trägt ein schwarzes Poloshirt, braune weite Hosen, weiße Socken und schwarze Schuhe – die Freizeituniform eines Ingenieurs eben. Vor ihm auf einem Schreibtisch stehen drei Computerbildschirme, ein rotes Telefon und ein Logbuch. Rosser gibt mir die Hand und entschuldigt sich. Er muss einen Anruf annehmen.

»Salbe«, krächzt eine Frauenstimme durch den Lautsprecher.

»Bestätige Salbe«, sagt Rosser.

»Salbenauftrag«, erwidert die Stimme.

»Bestätige Salbenauftrag«, kommt es wieder von Rosser.

Eine Videoübertragung – eines der zehn Bilder auf den Monitoren vor Rosser – zeigt das körnige Bild einer Hand, die Salbe auf ein Knie schmiert.

»Salbe aufgetragen«, sagt die Stimme.

»Bestätige, Salbe aufgetragen«, sagt Rosser.

Er dokumentiert jedes Wort handschriftlich im Logbuch. Der Lautsprecher verstummt. Rosser starrt auf den Videobildschirm und beobachtet, wie die Frau die Salbentube zuschraubt. Einen Augenblick später zeigt eine andere Videoübertragung aus einem anderen Winkel eine Frau von hinten, die durch einen winzigen Raum geht und die Salbe in eine schmale weiße Schublade legt. Das Video ist pixelig, und es wirkt, als würde das Bild aus dem Weltraum übertragen. Allerdings ist die Frau jung, blond und trägt Bikini und T-Shirt, was die Einsatzleitung irgendwie noch mehr wie einen Schlafsaal wirken lässt.

»Over«, knackt die Stimme der Frau durch den Lautsprecher.

»Over«, antwortet Rosser.

Die Frau, Lindsey Deignan, beschäftigt sich an der University of North Carolina, Wilmington, mit Schwämmen. Seit acht Tagen lebt sie in der Aquarius und wird erst in zwei Tagen wieder auftauchen. Sie hat einen Kratzer am Knie, der medizinisch versorgt werden und an der Sonne heilen muss, aber in nächster Zeit wird beides nicht möglich sein. Es gibt keine Sonne in der Aquarius und keinen Arzt. Die Einstiegsluke zu öffnen und Richtung Wasseroberfläche zu schwimmen würde Deignan wahrscheinlich umbringen; ihr Blut würde brodeln und ihr höchstwahrscheinlich aus Augen, Ohren und anderen Körperöffnungen schießen.

Im Namen der Wissenschaft haben sich Deignan und fünf andere Forscher, die sich Aquanauten nennen, dazu bereit erklärt, ihren Körper dem Überdruck von etwa 2,5 bar anzupassen –, sodass sie tauchen können, solange sie wollen, ohne sich Gedanken um die Dekompressions- oder Taucherkrankheit machen zu müssen. Bedingung ist, dass die Aquanauten, sobald sie einmal zur Aquarius, die elf Kilometer vor der Küste liegt, hinuntergetaucht sind, dort auch anderthalb Wochen bleiben müssen, bis die Mission beendet ist. Dann müssen sie dekomprimieren, eine Prozedur, die 17 Stunden dauert, ihre Körper wieder an den geringeren Druck der Oberfläche gewöhnt und dafür sorgt, dass der Stickstoff sicher ausgeschieden wird.

Im Namen der Wissenschaft bin auch ich hierhergekommen, um zu sehen, was diese Forscher davon haben, dass sie zehn Tage in einer Art versenktem Wohnmobil leben. Zudem kann ich noch nicht freitauchen, also ist dies für mich die beste Möglichkeit, den »eintauchenden« Ansatz der Meeresforschung kennenzulernen.

Ein Arzt, der die Aquarius vor ein paar Jahren besuchte, hat demonstriert, was mit Deignan und den anderen Aquanauten passieren würde, wenn sie plötzlich Platzangst bekommen und ohne Dekompression ihren Posten verlassen würden. Er tauchte hinunter und nahm einem Aquanauten am Ende einer langen Mission Blut ab, füllte es in eine Phiole und stieg dann wieder zur Oberfläche auf. Als der Arzt aus dem Meer auftauchte, schäumte das Blut so heftig, dass es den Gummipfropfen aus der Phiole drückte.

»Stellen Sie sich vor, das würde in Ihrem Kopf passieren«, sagt Rosser und gibt dabei seinen schwarzen Gesundheitsschuhen einen Tritt, dass sie unter dem Schreibtisch hervorschießen. Dazu fällt mir Sissy Spacek in Carrie ein.1

Und die Aussicht auf kochendes Blut ist nur eine der Unannehmlichkeiten, die das Leben in einer Stahlkiste unter Wasser so mit sich bringt. Selbst wenn die Klimaanlage auf höchster Stufe läuft, trocknet dort unten einfach nichts richtig. Deshalb sind die Aquanauten der Aquarius gewöhnlich halb nackt, und deshalb versorgte Deignan einen winzigen Kratzer auf dem Knie mit Salbe. Bei einer alles durchdringenden Luftfeuchtigkeit zwischen 70 und 100 Prozent greifen Infektionen schnell um sich. Gleiches gilt für Schimmel und Ohrenkrankheiten. Manche Taucher leiden ständig an einem trockenen Husten.

Im Jahr 2007 versuchte der 29-jährige Australier Lloyd Godson, einen Monat lang in nur vier Metern Tiefe in einer autarken Station namens BioSUB zu leben. Es war nicht die Einsamkeit, die ihn schließlich fertigmachte, sondern vor allem die Feuchtigkeit. Innerhalb weniger Tage lag die Feuchtigkeit in der BioSUB bei 100 Prozent, Wasser tropfte von der Decke, Godsons Kleidung war triefnass und schimmelte. Ihm wurde schwindlig bis zur Ohnmacht, er geriet in Panik und wurde paranoid. Er hielt es nicht einmal zwei Wochen aus. Crews in der Aquarius haben unter ähnlichen Bedingungen bis zu 17 Tage lang dort gelebt. Fabien Cousteau, der Enkel des berühmten französischen Meeresforschers, plant für 2014 eine 31-Tage-Mission in der Aquarius.

Wenn die Feuchtigkeit in der Aquarius einem nicht zusetzt, dann vielleicht der Druck. Ständig lasten 112 Tonnen Wasser auf der Station. Um das Wasser draußenzuhalten, muss die Aquarius unter hohem Druck gehalten werden, der sich etwa zwanzig Meter unter der Oberfläche auf etwa das Zweieinhalbfache des Drucks am Meeresspiegel beläuft. In der Aquarius passiert das Gegenteil von dem, was wir in 4000 Meter Höhe erleben. Chipstüten werden flach wie Pfannkuchen. Brot wird fest und hart. Man kann nur noch mit heißem Wasser und einer Mikrowelle kochen, und das meiste Essen ist vakuumverpackte Campingnahrung. Vor Jahren brachte ein Taucher den Aquanauten einmal eine Zitronenbaisertorte in einem luftdichten Behälter hinunter. Der Druck hatte den Kuchen zu einer flachen weiß-gelben Masse zusammengepresst, als sie die Box öffneten.

ROSSER BEOBACHTET GERADE DIE VIDEOAUFNAHME der Aquanauten, die alle Vorbereitungen für die Nacht treffen. (Er schreibt ins Logbuch, dass die Aquanauten die Vorbereitungen für die Nacht treffen.) Einer prüft den Sauerstoffgehalt an einer Rückwand. (Rosser schreibt ins Logbuch, dass ein Aquanaut den Sauerstoffgehalt an einer Rückwand prüft.) So geht das zwanzig Minuten lang.

Die Aquarius wird rund um die Uhr überwacht. Mikrofone zeichnen die Gespräche in allen Räumen auf. Jede Bewegung, jeder Handgriff wird festgehalten. Ein Computer prüft alle paar Sekunden Luftdruck, Temperatur, Feuchtigkeit, Kohlendioxid- und Sauerstoffgehalt. Jede Stunde werden die Ventile überprüft. Der kleinste Fehler im System könnte einen Dominoeffekt haben und zur Flutung der Wohnkammer führen – die Aquanauten würden ertrinken. Rosser und die anderen Mitarbeiter sind da, damit das nicht passiert. Bisher haben sie gute Arbeit geleistet.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Aquarius mehr als 115 Missionen durchgeführt, und dabei hat es nur einen Todesfall gegeben. Er war auf eine Fehlfunktion eines Kreislauftauchgeräts zurückzuführen und hatte mit dem Labor selbst nichts zu tun.

Allerdings hatten die Teammitglieder der Aquarius durchaus einige Beinahekatastrophen zu verzeichnen. 1994 fing ein Generator während eines Hurrikans Feuer, sodass die Aquanauten direkt nach dem Dekomprimieren in fünf Meter hohe Wellen hinaus evakuiert werden mussten. Vier Jahre später wurde die Aquarius in einem weiteren Sturm mit Windstärken von 110 Stundenkilometern aus ihren Verankerungen gerissen und fast zerstört. Im Jahr 2005 war die See so rau, dass die Station – die immerhin dreihundert Tonnen wiegt – mehrere Meter über den Meeresboden geschleift wurde.

Für die Aquanauten sind solche Gefahren, die Enge, das Schlafen in flachen Kojen, das Verspeisen von platten Kartoffelchips und das halb nackte Herumsitzen in ewig feuchter Umgebung nur ein geringer Preis für den ungehinderten Zugang zu den ersten sechs Stockwerken des Ozeans, zu einer Tiefe, die die Forscher als euphotische Zone bezeichnen.

DAS LEBEN AUF DEN ERSTEN PAAR DUTZEND Metern des Meeres ähnelt in Vielem dem Leben an Land, nur gibt es weitaus mehr davon. Die Weltmeere bedecken 71 Prozent der Erdoberfläche und beherbergen etwa 50 Prozent aller bekannten Lebewesen. Sie sind – soweit bisher bekannt – das größte bewohnte Gebiet des Universums.

Die Tiefe der euphotischen, von der Sonne durchleuchteten Zone hängt von verschiedenen Bedingungen ab. Im trüben Wasser von Buchten in der Nähe von Flussmündungen sind es manchmal nur zwölf Meter; in klarem, tropischem Wasser können es bis zu etwa zweihundert Meter sein.

Wo Licht ist, ist Leben. Die euphotische Zone ist der einzige Ort im Ozean, an dem es genügend Licht für Fotosynthese gibt. Obwohl sie nur 2 Prozent des gesamten Ozeans umfasst, beherbergt sie etwa 90 Prozent des bekannten Lebens im Meer. Fische, Robben, Krustentiere und vieles mehr sind dort beheimatet. Meeresalgen, die 98 Prozent der Biomasse im Ozean bilden und nur in der euphotischen Zone wachsen, sind unersetzlich für alles Leben an Land und im Meer. Diese Meeresalgen liefern 70 Prozent des Sauerstoffs auf der Erde. Ohne sie könnten wir nicht atmen.

Wie die Algen so viel Sauerstoff produzieren und wie der Klimawandel sich womöglich auf diese Produktion auswirkt, weiß niemand. Auch das wollen die Aquanauten in der Aquarius herausfinden. Und sie versuchen, geheimnisvolle Rätsel des Meeres zu knacken, etwa das Geheimnis der »telepathischen« Kommunikation der Korallen.

Jedes Jahr am gleichen Tag, zur gleichen Stunde, gewöhnlich sogar in derselben Minute, laichen Korallen derselben Art, auch wenn sie Tausende Kilometer voneinander entfernt sind, völlig synchron. Die Daten und Zeiten variieren von Jahr zu Jahr – aus Gründen, die nur die Korallen kennen. Seltsamer noch ist, dass eine Korallenart laicht, eine andere aber, die direkt daneben lebt, auf eine andere Stunde oder einen anderen Tag oder eine andere Woche wartet, bis sie synchron mit ihrer eigenen Art laicht. Entfernung scheint keine Rolle zu spielen; wenn man ein Stück Koralle herausbricht und es in London in einen Wassereimer unter eine Spüle legt, wird dieses Stück in den meisten Fällen zur selben Zeit laichen wie andere Korallen derselben Art überall auf der Welt.

Dieses synchrone Laichen ist für das Überleben der Korallen von entscheidender Bedeutung. Korallenkolonien müssen ständig nach außen wachsen, um zu gedeihen. Um gesund und kräftig zu bleiben, müssen sie außerhalb ihres eigenen Genpools mit benachbarten Kolonien Nachkommen zeugen. Sobald das Sperma und die Eier der Korallen an der Oberfläche angekommen sind, haben sie nur etwa dreißig Minuten, um miteinander zu verschmelzen. Danach lösen sie sich auf oder sterben ab. Forscher haben festgestellt, dass die Überlebenschancen von Korallenkolonien rapide sinken, wenn das Laichen auch nur 15 Minuten versetzt stattfindet.

Korallen sind das größte biologische Gebilde auf dem Planeten und bedecken etwa 450 000 Quadratkilometer Meeresboden. Sie können auf weitaus raffiniertere Weise miteinander kommunizieren, als wir uns je hätten träumen lassen, obwohl sie zu den primitivsten Lebewesen auf Erden gehören. Korallen haben keine Augen, keine Ohren und kein Gehirn.2

Und es wird bald nicht mehr viele geben. Überall auf der Welt sind Korallenkolonien im Rekordtempo ausgestorben. Fünfzig Prozent der Korallen am australischen Great Barrier Reef sind tot. In manchen Gebieten der Karibik, etwa um Jamaika, schrumpften die Korallenpopulationen um mehr als 95 Prozent. Etwa 90 Prozent der Kolonien vor der Küste Floridas gingen im letzten Jahrzehnt ein. Die Ursachen sind unklar, doch Wissenschaftler geben der Meeresverschmutzung und dem Klimawandel die Schuld. In fünfzig Jahren sind die Korallen vielleicht verschwunden, und mit ihnen eines der vielen ungelösten Rätsel der Natur.

Für die Aquanauten, die in der Aquarius Korallen erforschen, ist ihre Arbeit ein Rennen gegen die Zeit – in den nächsten Monaten sollte ich noch auf viele solche Rennen stoßen.

SEIT ARISTOTELES VORSCHLUG, einen riesigen Krug über einen Mann zu stülpen und das Ganze im Meer zu versenken, haben die Menschen sich alle möglichen großartigen Projekte ausgedacht, um die relativ flache euphotische Zone zu erkunden. Die meisten führten zum Tod oder zur Verstümmelung derjenigen, die es genauer wissen wollten und sich ganz tief hinunterwagten.

Im 16. Jahrhundert zeichnete Leonardo da Vinci einen Taucheranzug: Er bestand aus Schweinsleder, hatte einen Beutel vor der Brust, um Luft zu speichern, und eine Flasche an der Hüfte für den Urin. (Die Zeichnung wurde nie umgesetzt.) Jahre später wollte sich ein anderer Italiener ein Gefäß mit verglasten Fenstern über den Kopf ziehen und damit sechs Meter tief tauchen. (Er scheiterte wiederholt bei diesem Versuch.) Im Jahr 1691 machte der englische Astronom Edmond Halley, der später einem Kometen seinen Namen gab, den Vorschlag, einen Mann in einem riesigen hölzernen Behälter ins Meer hinabzulassen und ihn mithilfe von ebenfalls versenkten Weinfässern mit Luft zu versorgen.

Die erste Tauchapparatur, mit der man etwa die Tiefe der Aquarius erreichen konnte, wurde um 1715 von John Lethbridge erfunden, einem Wollhändler, der mit seinen 17 Kindern im englischen Devon lebte. Seine über Schlauch und Blasebalg mit Luft vollgepumpte »Tauchtonne« bestand aus einem zwei Meter langen Zylinder aus Eichenholz mit einem verglasten Bullauge in Kopfhöhe und verschließbaren Armlöchern mit Lederdichtungen an beiden Seiten. Das Ganze wirkte extrem primitiv und zerbrechlich, doch Lethbridge schaffte es, damit jeweils eine halbe Stunde lang bis auf etwa zwanzig Meter zu tauchen – obwohl dies, wie er schrieb, »mit großer Schwierigkeit« verbunden war.

Anfang der 1830er-Jahre schließlich stellte ein Maschinist aus Brooklyn namens Charles Condert ein beweglicheres und »sichereres« Gerät vor, um den Meeresboden zu erkunden – den ersten self-contained underwater breathing apparatus, kurz scuba, eine Abkürzung, die auch heute noch für Drucklufttauchgeräte verwendet wird. Der Apparat bestand aus einer 1,20 Meter langen gekrümmten Kupferröhre, die Condert auf dem Rücken trug, und einer aus einem Gewehrlauf gefertigten Pumpe, die Luft in eine Gummimaske über Conderts Gesicht schickte. Jedes Mal, wenn Condert atmen wollte, musste er am Hahn der Konstruktion ziehen, und schon erhielt er einen Schwall frische Luft. Im Jahr 1832 probierte Condert das Gerät im East River in New York City aus und wurde zum ersten erfolgreichen Gerätetaucher der Welt. Am selben Tag noch, als sich die Kupferröhre in sechs Metern Tiefe löste, wurde Condert zum ersten Gerätetaucher, der seinem Sport zum Opfer fiel.

Bald folgten weitere Erfindungen. In England befestigte John Deane einen rauchdichten Feuerwehrhelm an einem Gummianzug und schuf damit den ersten Taucheranzug, der in größeren Stückzahlen produziert wurde. Eine Pumpe an Deck lieferte Luft durch einen Schlauch, der mit der Rückseite des Helms verbunden war. Diese Konstruktion ermöglichte einem Taucher erstmals, etwa eine Stunde lang knapp 25 Meter tief zu tauchen. Der Deane-Helm war ein großer Erfolg, aber er war gefährlich. Die in den Anzug gepumpte komprimierte Luft machte ihn anfällig für plötzliche und extreme Druckschwankungen während des Tauchgangs. Wenn der Helm oder der Luftschlauch einen Riss bekam, ließ der starke Wasserdruck ein Vakuum im Anzug entstehen, das den Körper des Tauchers quasi von innen nach außen presste und Blut aus Nase, Augen und Ohren treten ließ. Dieses sogenannte Blaukommen passierte beinahe schon regelmäßig, und manchmal war das Vakuum so stark, dass es dem Taucher das Fleisch von den Knochen fetzte. In einem Fall wurde so viel vom Körper eines Tauchers weggerissen, dass man nur den mit seinen blutigen Überresten verschmierten Helm bestatten konnte.

Je tiefer die Menschen ins Meer vordrangen, desto grotesker und brutaler waren die Folgen. In den 1840er-Jahren setzten Bauarbeiter wasserdichte Behälter, Senkkästen, sogenannte Caissons ein, um unter Wasser Fundamente für Brücken und Piers zu bauen. Um das Wasser draußenzuhalten, wurden diese druckfesten Kästen von der Oberfläche aus mit Druckluft gefüllt. Nach nur wenigen Tagen Aufenthalt berichteten Arbeiter in den Caissons gewöhnlich von Erkrankungen wie Ausschlägen, fleckiger Haut, Atemproblemen, Krampfanfällen und extremen Gelenkschmerzen. Dann starben die ersten.

Das Leiden wurde als Kasten- oder Taucherkrankheit bekannt. Wissenschaftler entdeckten später, dass der Wechsel aus der Druckluft in den Caissons zur normalen Luft an der Oberfläche den in Blut und Gelenken der Arbeiter angereicherten Stickstoff schäumen ließ.

Es sollte noch einmal vierzig Jahre dauern, bis den Ingenieuren klar war, dass nicht das tiefe Wasser den Erkundern der Meere Schaden zufügte, sondern ihre Tauchmaschinen. Es war seltsam: Während in der westlichen Welt Taucher in einer Tiefe von etwa zwanzig Metern in sorgfältig konstruierten Anzügen oder Caissons ertranken, ihnen das Gesicht abgesogen wurde oder sie der Taucherkrankheit zum Opfer fielen, wagten sich 1500 Kilometer weiter südlich persische Perlentaucher mit nichts als einem Messer und einer einzigen Lunge voll Luft doppelt so tief hinunter. Sie litten nicht an diesen Krankheiten, und sie tauchten schon seit Jahrtausenden in diese Tiefen.

Schließlich entwickelten westliche Ingenieure ausgeklügelte Systeme, um den Körper vor den unter Wasser wirkenden Kräften zu schützen. Sie fanden heraus, wie sich der Druck mit der Tiefe verändert und unter welchen Bedingungen Sauerstoff giftig werden kann. Die primitiven Erfindungen von Lethbridge und Deane führten schließlich zu Panzertauchanzügen mit Druckluft, zu Unterseebooten und zu Dekompressionstabellen für Gerätetaucher.

Im Jahr 1960 steuerten Don Walsh, ein Leutnant der US-amerikanischen Kriegsmarine, und Jacques Piccard, ein Schweizer Ingenieur, eine Stahlkammer, die sie auf den Namen Trieste getauft hatten, 10 910 Meter tief in den Marianengraben im Pazifischen Ozean – auf den Grund des tiefsten Meeres. Zwei Jahre später lebten Menschen unter Wasser.

Die erste Unterwasserstation errichtete Jacques Cousteau zehn Meter unter der Meeresoberfläche vor der Küste von Marseille. Die sogenannte Conshelf war etwa so groß wie ein VW-Bus und genauso kalt und feucht. »Noch größer als die Herausforderungen sind die Risiken«, sagte Cousteau über die Conshelf. Vielleicht war das der Grund, weshalb Cousteau an seiner Stelle zwei Stellvertreter hinabschickte. Sie hielten es eine Woche aus.

Ein Jahr später stellte Cousteau ein luxuriöseres Modell mit fünf Zimmern – Wohnzimmer, Dusche und Schlafquartiere – auf den Meeresboden vor der sudanesischen Küste. Filmaufnahmen der Expedition, die später in Cousteaus oscargekröntem Dokumentarfilm Welt ohne Sonne zu sehen waren, zeigen eine Art futuristisch-französisches Paradies, in dem Aquanauten sich tagsüber die Zeit damit vertreiben, durch Meeresgärten in Technicolor zu schweben, um abends dann zu rauchen, Wein zu trinken, hervorragend zubereitete französische Mahlzeiten zu sich zu nehmen und fernzusehen. Die Aquanauten blieben einen Monat. Sie beklagten nur das Fehlen von Frauen am Meeresgrund, die ihnen »Gesellschaft leisten« sollten.3

Ende der Sechzigerjahre gab es schon über fünfzig Unterwasserstationen rund um die Welt, und viele andere waren in Planung. Australien, Japan, Deutschland, Kanada und Italien – sie alle gingen in die Tiefe. Cousteau sagte voraus, dass zukünftige Generationen von Menschen in Unterwasserdörfern zur Welt kommen würden und »sich so an die Umgebung [anpassen], dass keine Operation nötig sein wird, damit sie im Wasser leben und atmen können. Dann werden wir den Fischmenschen geschaffen haben.« Das Rennen um den Raum tief unten hatte begonnen.

Und dann war es schon wieder vorbei. Nach nur ein paar Jahren wurden fast alle Unterwasserhabitate abgewrackt. Das Leben unter Wasser hatte sich als aufwändiger und als weit teurer erwiesen, als man sich hatte vorstellen können. Salzwasser fraß die Metallbauten an; Stürme rissen Verankerungen aus dem Meeresboden; Aquanauten lebten in ständiger Angst vor Dekompressionskrankheit und Infektionen.

Man lebte schließlich im Zeitalter der Raumfahrt; Menschen landeten auf dem Mond und richteten sich häuslich in der Umlaufbahn ein, also erschien der wochenlange Aufenthalt in einer kalten, feuchten Kiste – in einer Umgebung, in der man nicht einmal etwas sehen, geschweige denn gesehen werden kann – irgendwie sinnlos. Und nur wenige Landbewohner hatten etwas für die Forschungen zur Mikrobiologie und zu den Ursachen der Sauerstoffvergiftung übrig, die dort unten stattfanden. Wissenschaftler hatten bewiesen, dass Menschen bis in die tiefsten Meerestiefen gelangen und unter Wasser leben konnten – na und?

HEUTE FINDET FAST DIE GESAMTE MEERESFORSCHUNG von oben statt, mithilfe von Robotern, die von Schiffen aus ins Wasser gelassen werden. Die Menschen wissen mehr über die chemische Zusammensetzung des Meerwassers, über Temperaturen und Bathymetrie (die Topografie der Meeresböden), aber sie haben sich gleichzeitig auch körperlich wie spirituell weiter vom Meer entfernt.

Die meisten Meeresforscher (zumindest die, die ich in der Anfangsphase interviewte) werden nie nass. Die Aquarius, eine der letzten Institutionen im Ozean, in der die Forscher nass wurden und zehn Tage lang nass blieben, stand kurz vor der Stilllegung.

Ich wollte es sehen, dieses letzte Stück des institutionellen Erbes der Meereserkundung, bevor es auch auf dem Müllhaufen der Erfindungen landete, die da am Meeresboden vor sich hin rosten. Ich wollte sehen, wie die behördlich anerkannten Fachleute den Ozean erforschten, bevor ich loszog, um ein Jahr mit den Rebellen zu verbringen.

ELF KILOMETER VOR KEY LARGO,AquariusAquariusAquarius