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15. Auflage 2021
© 2005 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel The Highly Sensitive Person – How To Thrive When the World Overwhelmes You © 1996 by Elaine N. Aron. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Cornelia Preuß
Redaktion: Pia Gelpke, Berlin
Umschlaggestaltung: Atelier Seidel, Teising
Satz: Manfred Zech, Landsberg am Lech
Druck: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt
Printed in Germany

ISBN Print: 978-3-636-06246-8
ISBN E-Book (PDF): 978-3-86415-328-0
ISBN E-Book (ePub, Mobi): 978-3-86415-329-7

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Für Irene Bernadicou Pettit, Ph.D.,
die sowohl Dichterin als auch Bäuerin war.
Sie wusste, wie man die Saat sät
und wie man sie pflegt, bis sie blüht.

Für die Kunst, die besonders die Blumen liebt – eine Liebe, die wir teilen.

Ich glaube an den Adel – falls dies das richtige Wort ist und ein Demokrat es benutzen darf – nicht an die Macht des Adels ... sondern an die Sensibilität und Rücksichtnahme des Adels ... Seine Mitglieder lassen sich in allen Nationen und Gesellschaftsschichten finden, durch alle Altersstufen hindurch. Wenn sie sich treffen, besteht eine geheimnisvolle Übereinstimmung zwischen ihnen. Sie repräsentieren die wahre menschliche Kultur, den einzigen beständigen Sieg unserer sonderbaren Rasse über Gemeinheit und Chaos. Tausende von ihnen gehen im Ungewissen unter, wenige erlangen Ruhm. Sie sind feinfühlig anderen und sich selbst gegenüber, nehmen Rücksicht ohne viel Aufhebens zu machen und ihr Mut zeichnet sich nicht durch Protzerei aus, sondern ihre Stärke liegt im Ertragen.

E. M. Forster „What I Believe“ in Two Cheers for Democracy

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Sind Sie hochsensibel? Testen Sie sich selbst!

1. Hochgradige Sensibilität und die wichtigsten Fakten:
Von der (falschen) Annahme mit einem Makel behaftet zu sein

2. Den Dingen auf den Grund gehen:
Verstehen Sie Ihren Wesenszug mit allem, was ihn ausmacht

3. Gesundheitliches Wohlbefinden und der Lebensstil hochsensibler Menschen:
Lieben Sie Ihren Körper und lernen Sie von ihm

4. Neubewertung Ihrer Kindheit und Jugend:
Lernen Sie für sich selbst „elterlich“ zu sorgen

5. Soziale Beziehungen:
Die Tendenz zur Schüchternheit

6. Erfolgreiches Arbeiten:
Folgen Sie Ihrer Neigung und zeigen Sie, was Sie wirklich können

7. Enge Beziehungen:
Die Herausforderung sensibler Liebe

8. Tiefe Wunden heilen:
Ein anderer Bewältigungsprozess für Hochsensible

9. Ärzte, Medikamente und hochsensible Menschen:
„Soll ich auf Medikamente vertrauen oder mit meinem Arzt Klartext reden?“

10. Seele und Geist:
Wo der wahre Schatz vergraben liegt

Ratschläge für medizinisches Fachpersonal im Umgang mit Hochsensiblen

Ratschläge für Arbeitgeber hochsensibler Menschen

Ratschläge für Lehrer hochsensibler Schüler

Danksagung

Quellenverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Über die Autorin

VORWORT

„Heulsuse!“

„Angsthase!“

„Sei kein Spielverderber!“

Erinnert Sie das an früher? Und wie wäre es mit dieser wohlgemeinten Warnung: „Du bist eben empfindlicher, als es gut für dich ist.“

Wenn Sie so sind wie ich, dann haben Sie vielleicht auch bereits viele solcher Sätze gehört und es hat Ihnen das Gefühl vermittelt, dass irgendetwas an Ihnen anders ist. Ich selbst war davon überzeugt, dass ich einen verhängnisvollen Makel besitze, den ich verstecken muss und der mich zu einem zweitklassigen Leben verdammt. Ich dachte, dass mit mir etwas nicht stimmt.

Tatsächlich allerdings sind Sie und ich völlig in Ordnung. Wenn Sie allerdings zwölf oder mehr Aussagen des Tests „Sind Sie hochsensibel?“ (Seite 21 ff.) mit „zutreffend“ ankreuzen können oder wenn die Beschreibung in Kapitel 1 auf Sie zutrifft (was noch aussagekräftiger ist), dann sind Sie eine besondere Art von Mensch, nämlich ein hochsensibler* 1, und dieses Buch ist für Sie bestimmt. Alle, die diesen Wesenszug teilen, werde ich von jetzt an als HSM (Hochsensible Menschen) bezeichnen.

Ein empfindsames Nervensystem zu haben, ist normal, und Empfindsamkeit ist eigentlich ein neutrales Merkmal. Das haben Sie wahrscheinlich geerbt. Es kommt bei ungefähr 15–20 Prozent der Bevölkerung vor. Dies bedeutet, dass Sie Feinheiten in Ihrer Umgebung eher wahrnehmen – ein großer Vorteil in manchen Situationen. Dies bedeutet allerdings auch, dass Sie sich viel leichter überfordert fühlen, wenn Sie über einen zu langen Zeitraum starken Reizen ausgesetzt sind, von Geräuschen und visuellen Eindrücken bombardiert werden, bis Ihnen Ihr Nervensystem Erschöpfung signalisiert. Sensibilität hat also sowohl Vorteile als auch Nachteile.

In unserer Kulturgemeinschaft wird es jedoch nicht als Vorzug betrachtet, wenn man diese Eigenschaft besitzt und diese Tatsache hat sich wahrscheinlich besonders stark auf Sie ausgewirkt. Wohlmeinende Eltern und Lehrer haben vermutlich versucht, Ihnen zu helfen, diesen Wesenszug zu überwinden, so als ob er eine Schwäche sei. Andere Kinder konnten auch nicht gerade gut damit umgehen. Als Erwachsene(r) war es wahrscheinlich auch schwierig, den passenden Beruf zu finden, die richtigen zwischenmenschlichen Beziehungen einzugehen und überhaupt ein Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit zu entwickeln.

Was dieses Buch Ihnen bietet

Dieses Buch enthält grundlegende, detaillierte Informationen über diesen Wesenszug, die so nirgendwo sonst existieren. Es ist das Produkt einer fünf Jahre lang andauernden Untersuchungsreihe tiefgründiger Gespräche, klinischer Erfahrung, Kursen und individuellen Beratungen für Hunderte von HSM. Ihm liegt das gründliche Lesen zwischen den Zeilen dessen zugrunde, was die Psychologie zwar schon über dieses Persönlichkeitsmerkmal herausgefunden, aber noch nicht wirklich begriffen hat. In den ersten drei Kapiteln werden Sie alle grundlegenden Tatsachen über Sensibilität kennen und verstehen lernen. Sie werden erfahren, wie Sie mit der Überreizung und Übererregung Ihres Nervensystems umzugehen haben.

Außerdem beleuchtet dieses Buch die Auswirkung Ihrer Sensibilität auf Ihre persönliche Geschichte, Ihre berufliche Laufbahn, zwischenmenschliche Beziehungen und Ihr Innenleben. Es richtet Ihr Augenmerk auf die Vorteile, die Sie vielleicht noch nicht bedacht haben. Zudem gibt es Ratschläge zu einigen typischen Problemen, mit denen HSM zu tun haben, wie zum Beispiel Schüchternheit oder die Schwierigkeit, die richtige Art von Arbeit zu finden.

Wir werden eine ziemlich weite Reise unternehmen. Die meisten der HSM, denen ich mit Informationen aus diesem Buch geholfen habe, haben mir erzählt, dass sich ihr Leben dramatisch verändert hat – und sie haben mir gesagt, dass ich das an Sie weitergeben soll.

Ein Wort an die nicht ganz so Sensiblen

Zunächst einmal sind Sie hier besonders willkommen, wenn Sie zu diesem Buch gegriffen haben, weil Sie Eltern eines HSM sind beziehungsweise mit ihm oder ihr befreundet oder verheiratet sind. Ihre Beziehung zu HSM wird sich entscheidend verbessern.

Zweitens hat eine Telefonumfrage unter dreihundert zufällig ausgewählten Personen aller Altersgruppen ergeben, dass 20 Prozent extrem oder ziemlich sensibel sind, während weitere 22 Prozent sich als mäßig sensibel einschätzen. Diejenigen, die in diese gemäßigt sensible Kategorie fallen, werden ebenso von diesem Buch profitieren wie HSM.

Übrigens meinten 42 Prozent, sie seien überhaupt nicht sensibel, was darauf hindeutet, dass ein HSM das Gefühl haben muss, mit dem größten Teil der Menschheit nicht Schritt halten zu können. Denn es ist natürlich genau dieser Teil der Bevölkerung, der das Radio viel zu laut aufdreht oder ständig auf die Hupe drückt.

Außerdem kann man mit Sicherheit sagen, dass jeder Mensch zuweilen höchst empfindsam werden kann – beispielsweise nach einem Monat Abgeschiedenheit in einer Berghütte. Menschen werden auch mit zunehmendem Alter sensibler. Wahrscheinlich haben die meisten Leute, ob sie es nun zugeben oder nicht, eine Seite, die ungemein feinfühlig sein kann, die aber nur in bestimmten Situationen in Erscheinung tritt.

Einige Mitteilungen für Nichtsensible

Manchmal fühlen sich die Nicht-HSM ausgeschlossen und verletzt durch die Vorstellung, dass wir anders sind als sie und vielleicht so klingen, als glaubten wir irgendwie besser zu sein. Sie sagen dann: „Meinst du, ich wäre nicht sensibel?“ Ein Problem liegt darin, dass sensibel auch bedeutet einfühlsam zu sein und Dinge bewusster wahrzunehmen. Diese Qualitäten können sowohl HSM als auch Nicht-HSM besitzen und sie werden optimiert, wenn wir uns wohl fühlen und aufmerksam gegenüber Feinheiten sind. Wenn sie gelassen sind, können HSM aber noch viel feinere Nuancen wahrnehmen als andere. Wenn ihre Nerven jedoch überreizt sind, was ein häufiger Zustand bei HSM ist, sind sie alles andere als verständnisvoll oder sensibel. Stattdessen fühlen sie sich überfordert, stehen neben sich und wollen allein sein. Im Gegensatz dazu benehmen sich Ihre unsensibleren Freunde in solch chaotischen Situationen anderen gegenüber noch immer verständnisvoll.

Ich habe lange und intensiv darüber nachgedacht, wie ich diese Eigenschaft eigentlich nennen könnte. Ich wollte nicht den Fehler wiederholen, sie mit Introvertiertheit, Schüchternheit, Gehemmtsein oder einer Menge anderer fälschlicher Bezeichnungen zu verwechseln, die andere Psychologen uns auferlegt haben. Keiner der Begriffe drückt nämlich den neutralen und erst recht nicht den positiven Aspekt dieser Eigenschaft aus. Der Begriff „Sensibilität“ macht auf neutrale Weise die größere Empfänglichkeit gegenüber Reizen deutlich. Es schien an der Zeit, mit der Voreingenommenheit gegenüber HSM abzurechnen, indem eine Bezeichnung gewählt wurde, die uns gerecht wird.

Andererseits ist die Tatsache hochsensibel zu sein, für einige alles andere als positiv. Während ich in meinem Haus ganz in Ruhe sitze und dies zu einer Zeit schreibe, da niemand dieses Persönlichkeitsmerkmal thematisiert, gebe ich Folgendes zu bedenken: Dieses Buch wird mehr als genügend verletzende Witze und Bemerkungen über HSM hervorrufen. Denn die Vorstellung, hochsensibel zu sein, besitzt bereits ein enormes Diskussionspotenzial in der Gesellschaft, das fast so stark ist wie die Faszination, die von Fragen rund um die viel diskutierten Geschlechterdifferenzen ausgeht. Diese beiden Themenkomplexe werden übrigens häufig miteinander vermischt: Es gibt genauso viele sensible männliche wie weibliche Neugeborene. Angeblich aber besitzen Männer diese Eigenschaft nicht, sondern nur Frauen. Beide Geschlechter zahlen einen hohen Preis für dieses Missverständnis. Schützen Sie also sowohl Ihre Sensibilität als auch Ihr gerade entwickeltes Verständnis dafür, indem Sie, sofern Ihnen das vielleicht am vernünftigsten erscheint, erst gar nicht darüber reden.

Genießen Sie einfach das Bewusstsein, dass es da draußen viele Gleichgesinnte gibt. Wir haben uns zwar noch nicht kennen gelernt, aber das tun wir jetzt und sowohl wir als auch die Gesellschaft wird davon profitieren. In den Kapiteln 1, 6 und 10 werde ich dazu Stellung nehmen, wie wichtig HSM für die Gesellschaft sind.

Was Sie brauchen

Ich habe herausgefunden, dass HSM von einer Vorgehensweise in vier Schritten profitieren und habe diese deshalb auch für dieses Buch übernommen:

1. Selbsterkenntnis: Sie müssen verstehen, was es bedeutet, ein HSM zu sein, wie dies mit Ihren anderen Persönlichkeitsmerkmalen zusammenpasst und wie sich die negative Haltung der Gesellschaft auf Sie ausgewirkt hat. Außerdem sollten Sie Ihren empfindlichen Körper sehr gut kennen. Ignorieren Sie die Signale Ihres Körpers nicht länger, nur weil er anscheinend zu schwach beziehungsweise wenig kooperativ ist.

2. Neubewertung: Sie müssen viele Teile Ihrer Vergangenheit in einem neuen Licht sehen und zwar in dem Bewusstsein, dass Sie hochsensibel geboren wurden. Dadurch waren viele Ihrer scheinbaren Misserfolge unvermeidbar, weil weder Ihre Eltern, Lehrer, Freunde und Kollegen noch Sie selbst sich verstanden haben. Zu begreifen, wie Sie Ihre Vergangenheit erlebt haben, kann Ihre Selbstachtung fördern. Selbstachtung ist besonders wichtig für HSM, denn sie vermindert Reaktionen der Überreizung in ungewohnten (und daher höchst stimulierenden) Situationen. Aber diese Neubewertung geschieht nicht automatisch. Deswegen beziehe ich die praktische Umsetzung am Ende jedes Kapitels mit ein, wenn es nötig ist.

3. Heilung: Falls Sie es noch nicht getan haben, müssen Sie jetzt damit beginnen, Ihre tieferen Wunden zu heilen. Sie waren schon als Kind sehr sensibel, Familien- und Schulprobleme, Kinderkrankheiten und dergleichen haben Sie mehr als andere betroffen. Darüber hinaus haben Sie sich von anderen Kindern unterschieden und sicherlich auch deswegen gelitten. Gerade HSM schrecken vor der notwendigen inneren Arbeit zurück, die Wunden der Vergangenheit zu heilen, weil sie ahnen, welche intensiven Gefühle dabei geweckt werden. Vorsicht und eine langsame Vorgehensweise sind gerechtfertigt, aber Sie betrügen sich selbst, wenn Sie diese Arbeit aufschieben.

4. Hilfe: Sie lernen, wie Sie sich draußen in der Welt wohl fühlen und wann Sie sich eher zurückziehen sollten: Sie können, sollen und müssen sich am Leben in der Welt beteiligen. Sie werden wirklich gebraucht, aber Sie müssen die Fertigkeit erwerben, dabei jedes zu viel oder zu wenig zu vermeiden.

Dieses Buch enthält keine verwirrenden Mitteilungen einer wenig sensiblen Gesellschaft, sondern handelt davon, einen neuen Weg zu entdecken.

Ich werde Ihnen auch die Auswirkungen Ihres Persönlichkeitsmerkmals auf Ihre engsten Beziehungen nahe bringen. Und ich werde das Thema Psychotherapie behandeln und der Frage nachgehen, welche HSM eine Therapie machen sollten und warum, welche Therapieform geeignet ist, von wem sie durchgeführt werden sollte und insbesondere, inwiefern die Therapie für HSM anders ausfallen muss. Außerdem werde ich die medizinische Behandlung von HSM betrachten und über Medikamente wie Beruhigungsmittel und Antidepressiva informieren. Am Ende dieses Buches werde ich außerdem auf die hohe spirituelle Empfänglichkeit von HSM eingehen.

Über mich selbst

Ich bin als Psychologin in der Forschung tätig und arbeite als Universitätsprofessorin, Psychotherapeutin und Romanschriftstellerin. Am bedeutsamsten ist jedoch die Tatsache, dass ich wie Sie hochsensibel bin. Ganz bestimmt schreibe ich nicht vom hohen Sockel aus um Sie, arme Seele, zu belehren und Ratschläge zu geben, wie Sie Ihr Syndrom loswerden können. Ich kenne unsere besondere Eigenschaft ganz persönlich, einschließlich ihrer Vorzüge und Herausforderungen.

Als Kind habe ich mich zu Hause vor dem Chaos meiner Familie versteckt. In der Schule bin ich dem Sport, dem Spiel im Freien und anderen Kindern im Allgemeinen aus dem Weg gegangen. Ich erlebte eine Mischung aus Erleichterung und Demütigung, wenn meine Strategie erfolgreich war und man mich einfach ignorierte.

In der High School nahm mich eine Extravertierte unter ihre Fittiche. Während der Schulzeit hielt diese Beziehung an, und außerdem habe ich die meiste Zeit mit Lernen verbracht. Im College wurde mein Leben viel schwieriger. Nach vielen Anfängen und Abbrüchen, inklusive einer nur vier Jahre andauernden Ehe, die ich viel zu früh eingegangen war, graduierte ich schließlich mit Auszeichnung an der Universität in Berkeley, Kalifornien. Aber ich habe genügend Zeit heulend auf Toiletten zugebracht und gedacht, ich würde durchdrehen. Meine Untersuchung hat ergeben, dass es typisch für HSM ist sich zurückzuziehen. Oft passiert das sehr tränenreich.

Bei meinem ersten Anlauf höhere akademische Grade zu erreichen, erhielt ich ein Büro, in das ich mich auch zurückziehen, wo ich weinen und versuchen konnte, meine innere Ruhe zurückzugewinnen. Solche Reaktionen trugen dazu bei, dass ich mein Studium als Magistra beendet habe, obwohl ich hochmotiviert war, bis zum Doktortitel weiterzumachen. Ich habe fünfundzwanzig Jahre gebraucht, bis ich die notwendige Informationen über mein Persönlichkeitsmerkmal erhielt, die es mir ermöglichten, meine Reaktionen zu verstehen und infolge dessen auch zu promovieren.

Als ich dreiundzwanzig war, traf ich meinen jetzigen Mann, ich führte dann ein sehr behütetes Leben und widmete mich dem Schreiben und der Erziehung unseres Sohnes. Ich war begeistert und gleichzeitig schämte ich mich dafür, nicht da draußen zu sein. Ich war mir nur vage bewusst, welche Gelegenheiten ich verpasste, um dazuzulernen, um öffentliche Anerkennung für meine Fähigkeiten zu genießen und Kontakt zu Menschen unterschiedlichster Art zu knüpfen. Aber aufgrund bitterer Erfahrungen dachte ich, ich hätte keine andere Wahl.

Einige aufwühlende Ereignisse ließen sich jedoch nicht vermeiden. Ich musste mich eines medizinischen Eingriffs unterziehen, von dem ich dachte, mich in ein paar Wochen zu erholen. Stattdessen schien mein Körper monatelang sowohl physisch als auch emotional auf diesen Eingriff zu reagieren. Ich wurde wieder einmal gezwungen, mich mit meinem geheimnis- und gar verhängnisvollen Makel, der mich so anders sein ließ, auseinander zu setzen. Also versuchte ich es mit Psychotherapie und hatte Glück. Nachdem mir meine Therapeutin einige Sitzungen lang zugehört hatte, sagte sie: „Es ist völlig klar, dass Sie aus der Fassung gerieten – Sie sind ja auch äußerst sensibel.“

Was denn das für eine Entschuldigung sei, meinte ich. Sie antwortete, dass sie noch nicht viel darüber nachgedacht hätte, aber ihre Erfahrung habe ihr gezeigt, dass die Toleranz gegenüber Reizen sowie die Bereitschaft schönen und schlimmen Erlebnissen eine tiefere Bedeutung beizumessen von Fall zu Fall wohl sehr unterschiedlich sei. Solch eine Empfindsamkeit sei für sie kein Zeichen einer Geistesstörung oder einer mentalen Desorientierung. Zumindest hoffe sie das nicht, denn schließlich sei sie selbst sehr sensibel. Ich erinnere mich an ihr Grinsen, als sie sagte: „Das trifft übrigens auf die meisten Leute zu, deren Bekanntschaft ich schätze.“

Ich verbrachte mehrere, nicht vergeudete Jahre in Therapie, in der ich diverse Probleme meiner Kindheit aufarbeitete. Aber meine Sensibilität entwickelte sich zum zentralen Thema. Da war mein Gefühl mit einem Makel behaftet zu sein. Dann gab es die Bereitschaft anderer, mich zu beschützen als Gegenleistung dafür, dass ich sie durch meine Fantasie, Kreativität, Weitsicht und mein Mitgefühl bereicherte – Eigenschaften, die ich selbst kaum zu schätzen wusste. Und dann war da noch die Isolation, in die ich mich aufgrund meiner Empfindsamkeit zurückzog. Aber als ich Einsicht in alles gewann, war ich in der Lage ins Leben zurückzukehren. Heute freue ich mich sehr, dass ich an vielen Dingen teilhabe, eine Fachfrau auf meinem Gebiet bin und die besonderen Gaben meiner Sensibilität mit anderen teilen kann.

Forschungen, die dem Buch vorausgehen

Da das Wissen um meinen Wesenszug mein Leben veränderte, entschloss ich mich, mehr darüber zu lesen. Es war aber kaum Literatur erhältlich. Bei genauerem Hinsehen erschien mir Introvertiertheit als die Eigenschaft, die vielleicht am engsten mit der Sensibilität verwandt ist. Der Psychiater C. G. Jung hat sehr viel Kluges zu diesem Thema geschrieben und sprach von der Neigung, sich nach innen zu wenden. Die Arbeit von Jung, der übrigens selbst ein HSM war, hat mir sehr geholfen. Wissenschaftlichere Arbeiten zum Thema Introvertiertheit konzentrierten sich aber vor allem auf die Feststellung, dass Menschen mit dieser Eigenschaft nicht gesellig seien und gerade diese Vorstellung ließ mich darüber nachdenken, ob Sensibilität nicht fälschlicherweise mit Introvertiertheit gleichgesetzt wurde.

Es stand mir nur wenig Informationsmaterial für meine weitere Arbeit zur Verfügung. Also entschloss ich mich, eine Anzeige in den Rundbrief für die Mitarbeiter der Universität zu setzen, an dem ich zur damaligen Zeit mitarbeitete. Ich bat darin um ein Interview mit allen, die sich als äußerst empfänglich für Reize bezeichneten, die sich für introvertiert hielten oder gefühlsmäßig schnell reagierten. Ich hatte bald mehr Freiwillige als ich brauchte.

Die Lokalzeitung veröffentlichte einen Artikel über diese Untersuchungsreihe. Obwohl in dem Artikel nicht gesagt wurde, wie ich zu erreichen sei, meldeten sich mehr als hundert Leute telefonisch oder schriftlich bei mir, um mir entweder zu danken, ihre Hilfe anzubieten oder bloß um „ich auch“ zu sagen. Zwei Jahre später kontaktierte man mich immer noch. HSM müssen manchmal länger über etwas nachdenken bevor sie handeln!

Ich erstellte einen Fragenkatalog, der sich auf die Interviews bezog (vierzig Gespräche, die jeweils zwischen zwei und drei Stunden dauerten) und verteilte ihn an 1.000 Leute in ganz Nordamerika. Ich leitete eine Telefonstudie, für die dreihundert Leute per Zufallsgenerator ausgewählt wurden. Was für Sie wichtig sein wird, ist die Tatsache, dass dieses Buch auf gründlicher Forschungsarbeit – meiner eigenen und der von anderen – basiert. Außerdem spreche ich über meine wiederholten Beobachtungen hochsensibler Menschen, von meinen Kursen, Gesprächen, individuellen Beratungen beziehungsweise der Psychotherapie mit HSM. Es sind mehr als tausend Aufzeichnungen, die sich mit dem persönlichen Leben von HSM beschäftigen. Trotz alledem werde ich die Wörter „wahrscheinlich“ und „vielleicht“ öfter benutzen, als Sie es im Allgemeinen von anderen Büchern gewohnt sind, aber ich denke, HSM werden das wertschätzen.

Der Entschluss, diese Untersuchungen durchzuführen, darüber zu schreiben und zu lehren hat mich zu einer Art Pionierin auf diesem Gebiet gemacht. Aber auch das ist irgendwie typisch für HSM. Oft sind wir die ersten, die spüren, was getan werden muss. Wenn das Vertrauen in unsere eigenen Tugenden wächst, werden vielleicht mehr und mehr von uns mit der Sprache herausrücken – auf unsere sensible Art und Weise.

Hinweise für den Leser

1. Nochmals erwähne ich, dass ich den Leser mit HSM anreden werde, aber dieses Buch ist gleichermaßen für solche geschrieben, die einen HSM zu verstehen versuchen, ob als Freund, Verwandter, Arbeitgeber, Ausbilder, Erzieher oder Arzt.

2. Dieses Buch berücksichtigt, dass der Wesenszug, mit dem Sie ausgestattet sind, zwar viele betrifft, dass er Sie aber dennoch auszeichnet und in seiner Ausprägung jeweils einzigartig ist. Sie können sich normal fühlen und von der Erfahrung und Forschung anderer profitieren, ohne dass Ihnen Ihre Einzigartigkeit genommen wird. Jeder HSM unterscheidet sich wesentlich von anderen HSM – trotz der gemeinsamen Eigenschaft. Denken Sie immer daran, wenn Sie weiterlesen.

3. Während Sie dieses Buch lesen, werden Sie wahrscheinlich alles in Ihrem Leben im Lichte dieser hochgradigen Sensibilität betrachten. Das ist zumindest zu erwarten und das ist ja gerade beabsichtigt. Auch wenn man eine neue Sprache lernt, hilft es, sich vollkommen in sie zu versenken – das ist auch sinnvoll, wenn Sie lernen sich selbst neu zu verstehen. Wenn sich andere dabei ein wenig unwohl, ausgeschlossen oder verärgert fühlen, bitten Sie diese um Geduld. Eines Tages wird das Konzept verinnerlicht sein und Sie werden weniger darüber sprechen.

4. Dieses Buch enthält auch einige Übungen für HSM, die ich für sinnvoll halte. Aber ich sage damit nicht, dass man diese durchführen muss, um etwas zu lernen. Vertrauen Sie Ihrer eigenen Intuition und tun Sie, was Sie für richtig halten.

5. Jede dieser praktischen Umsetzungen kann starke Gefühle hervorrufen. Falls das passiert, bitte ich Sie dringend darum, professionelle Hilfe aufzusuchen. Wenn Sie sich bereits in Therapie befinden, wird dieses Buch die Arbeit noch unterstützen. Die Ausführungen werden vielleicht sogar die notwendige Zeit in der Therapie verkürzen, weil Sie eine neue Vorstellung von Ihrem Selbst bekommen, die nicht der Idealvorstellung unserer Kulturgesellschaft entsprechen muss. Bedenken Sie jedoch, dass dieses Buch einen guten Therapeuten nicht ersetzen kann, wenn Ihre Empfindungen zu intensiv oder verwirrend sein sollten.

Dies ist ein spannender Moment für mich, da ich mir vorstelle, wie Sie die Seite umblättern und sich eine neue Welt erschließen – meine, Ihre, unsere! Nachdem Sie so lange geglaubt haben, Sie wären der/die Einzige, ist es doch nett sich in Gesellschaft zu befinden, oder?

SIND SIE HOCHSENSIBEL? TESTEN SIE SICH SELBST!

EINGANGSTEST

Beantworten Sie diesen Fragebogen nach Ihrem persönlichen Empfinden. Kreuzen Sie „Zutreffend“ an, wenn die Aussage zumindest irgendwie auf Sie zutrifft. Falls die Aussage nicht oder überhaupt nicht auf Sie zutrifft, kreuzen Sie „Nicht zutreffend“ an!

Mir scheint, dass ich Feinheiten um mich herum wahrnehme.

 Z

 N

Die Launen anderer machen mir etwas aus.

 Z

 N

Ich neige zu Schmerzempfindlichkeit.

 Z

 N

Koffein wirkt sich besonders stark auf mich aus.

 Z

 N

Ich habe ein reiches, komplexes Innenleben.

 Z

 N

Laute Geräusche rufen ein Gefühl des Unwohlseins in mir hervor.

 Z

 N

Kunst und Musik können mich tief bewegen.

 Z

 N

Ich bin gewissenhaft.

 Z

 N

Ich erschrecke leicht.

 Z

 N

Veränderungen in meinem Leben lassen mich aufschrecken und beunruhigen mich.

 Z

 N

Wenn viel um mich herum los ist, reagiere ich schnell gereizt.

 Z

 N

Ich bin sehr darum bemüht, Fehler zu vermeiden beziehungsweise nichts zu vergessen.

 Z

 N

Es nervt mich sehr, wenn man von mir verlangt, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen.

 Z

 N

Ich werde fahrig, wenn ich in kurzer Zeit viel zu erledigen habe.

 Z

 N

Ich achte darauf, mir keine Filme und TV-Serien mit Gewaltszenen anzuschauen.

 Z

 N

An stressigen Tagen muss ich mich zurückziehen können – ins Bett oder in einen abgedunkelten Raum beziehungsweise an irgendeinen Ort, an dem ich meine Ruhe habe und keinen Reizen ausgesetzt bin.

 Z

 N

Helles Licht, unangenehme Gerüche, laute Geräusche oder kratzige Stoffe beeinträchtigen mein Wohlbefinden.

 Z

 N

Wenn Menschen sich in ihrer Umgebung unwohl fühlen, meine ich zu wissen, was getan werden müsste, damit sie sich wohl fühlen (wie zum Beispiel das Licht oder die Sitzposition verändern).

 Z

 N

Ein starkes Hungergefühl verursacht heftige Reaktionen, es beeinträchtigt meine Laune und meine Konzentration.

 Z

 N

Ich bemerke und genieße feine und angenehme Gerüche, Geschmacksrichtungen, Musik und Kunstgegenstände.

 Z

 N

Als ich ein Kind war, schienen meine Eltern und Lehrer mich für sensibel und schüchtern zu halten.

 Z

 N

Es zählt zu meinen absoluten Prioritäten, mein tägliches Leben so einzurichten, dass ich aufregenden Situationen oder solchen, die mich überfordern, aus dem Weg gehe.

 Z

 N

Wenn ich mich mit jemandem messen muss oder man mich bei der Ausübung einer Arbeit beobachtet, werde ich so nervös und fahrig, dass ich viel schlechter abschneide als unter normalen Umständen.

 Z

 N

AUSWERTUNG

Wenn Sie zwölf oder mehr Aussagen mit „zutreffend“ angekreuzt haben, sind Sie wahrscheinlich hochsensibel.

Aber, offen gestanden, ist kein psychologischer Test so genau, dass Sie Ihr Leben danach ausrichten sollten. Falls nur eine oder zwei Aussagen auf Sie zutreffen, aber dafür umso stärker, so ist es vielleicht gerechtfertigt, Sie dennoch als hochsensibel zu bezeichnen.

Lesen Sie weiter, und wenn Sie sich in der detaillierteren Beschreibung der HSM in Kapitel 1 wiedererkennen, betrachten Sie sich als solchen. Der Rest des Buches wird Ihnen helfen sich selbst besser zu verstehen und Ihnen beibringen, sich in der heutigen, wenig sensiblen Welt wohlzufühlen.

HOCHGRADIGE SENSIBILITÄT UND DIE WICHTIGSTEN FAKTEN

VON DER (FALSCHEN) ANNAHME MIT EINEM MAKEL BEHAFTET ZU SEIN

In diesem Kapitel werden Sie die wichtigsten Fakten über Ihr Naturell erfahren und lernen, inwiefern Sie sich dadurch von anderen Menschen unterscheiden. Sie werden auch andere Züge Ihrer Persönlichkeit entdecken und Sie werden verstehen, wie unsere Kulturgesellschaft Sie sieht. Aber zuerst sollten Sie Kristen kennen lernen:

Sie dachte, sie sei verrückt

Mit Kristen führte ich das dreiundzwanzigste Interview meiner HSM-Untersuchungsreihe. Sie war eine intelligente College-Studentin mit einem klaren Blick. Doch schon bald während des Gesprächs fing ihre Stimme an zu zittern. „Es tut mir leid“, flüsterte sie, „aber ich habe mich eigentlich nur in die Liste eingetragen, um Sie zu treffen, weil Sie Psychologin sind und ich mit jemandem reden muss, der es mir sagen kann ...“ Hier versagte ihre Stimme. „Bin ich verrückt?“ Ich betrachtete sie mit Mitgefühl. Sie war offensichtlich verzweifelt, aber nichts, was sie bis dahin gesagt hatte, vermittelte mir den Eindruck irgendeiner Geisteskrankheit. Doch zu jenem Zeitpunkt hörte ich Menschen wie Kristen ja schon anders zu.

Sie versuchte es noch einmal – so, als ob sie sich vor meiner Antwort fürchtete: „Ich fühle mich so anders. Das habe ich immer schon getan. Ich meine nicht ... Also, meine Familie war großartig. Meine Kindheit war fast idyllisch, bis ich zur Schule gehen musste. Obwohl meine Mutter sagt, dass ich auch schon als Kleinkind leicht reizbar gewesen bin.“

Sie holte Luft, ich sagte etwas Beschwichtigendes, und sie fuhr fort: „Im Kindergarten hatte ich vor allem Angst, sogar vor den Zeiten mit Musik. Wenn man die Teller und Tassen mit lautem Geschepper verteilte, habe ich die Hände auf die Ohren gepresst und geweint.“

Jetzt hatte sie Tränen in den Augen und schaute zur Seite. „In der Grundschule war ich der Liebling meiner Lehrer. Dennoch hielten sie mich wohl für verdreht“.

Diese Verdrehtheit gab den Ausschlag für eine Serie von enervierenden medizinischen und psychologischen Tests. Zunächst einmal folgte eine Untersuchung auf geistige Retardiertheit. Das Resultat war, dass man sie in einem Programm für Begabte unterbrachte, was mich nicht überraschte.

Aber das Urteil: „Mit diesem Kind stimmt etwas nicht.“, blieb weiterhin bestehen. Ihre Hörfähigkeit wurde überprüft. Normal. In der vierten Klasse wurde eine Aufnahme ihres Gehirns gemacht, um die Theorie zu belegen, dass ihre Unpässlichkeiten wohl auf eine Funktionsstörung zurückzuführen seien. Ihre Gehirnfunktionen waren aber völlig in Ordnung.

Die abschließende Diagnose? Sie habe „Schwierigkeiten Reize zu verarbeiten“. Das Ergebnis des Ganzen war aber ein Kind, das glaubte, nicht normal zu sein.

Einzigartig, aber völlig missverstanden

An sich war die Diagnose ja richtig. HSM nehmen eben viel mehr in sich auf, nämlich all die Feinheiten, die andere gar nicht bemerken. Doch was anderen völlig normal vorkommt, wie zum Beispiel laute Musik oder Menschenansammlungen, kann auf HSM so starke Reize ausüben, dass es als Stress empfunden wird.

Die meisten Menschen ignorieren Sirenen, grelles Licht, unangenehme Gerüche und Unordnung. HSM fühlen sich dadurch sichtlich beeinträchtigt.

Nach einem langen Einkaufsbummel oder einem Museumsbesuch schmerzen vielleicht die Füße der meisten Menschen, aber sie sagen sofort begeistert zu, wenn man ihnen danach einen Partybesuch vorschlägt. HSM müssen nach so einem Tag allein sein, weil sie sich nervlich übererregt und aufgedreht fühlen.

Die meisten Leute bemerken vielleicht die Möbel und die anderen Menschen, wenn sie ein Zimmer betreten, mehr aber auch nicht. HSM können, ob sie es nun wollen oder nicht, sofort auch die frische oder verbrauchte Luft im Raum wahrnehmen, die vorherrschende Stimmung, die Freundschaften und Feindschaften sowie die Persönlichkeit desjenigen erahnen, der die Blumen arrangiert hat.

Wenn Sie ein HSM sind, ist es jedoch schwer, diese bemerkenswerte Fähigkeit zu verstehen. Wie vergleicht man innere Erlebnisse miteinander? Das ist nicht einfach. Meistens stellen Sie fest, dass Sie nicht in der Lage sind, so viel zu ertragen wie andere. Dabei vergessen Sie, dass Sie zu denjenigen zählen, die oftmals große Kreativität, Leidenschaft, Erkenntnis und Anteilnahme an den Tag legen – alles Eigenschaften, die von der Gesellschaft überaus geschätzt werden.

Unsere Eigenschaft hat viele Vorteile, aber auch Nachteile. Hochsensibel zu sein, bedeutet oft auch, dass man sich lieber zurückhält, dass man häufig in sich gekehrt ist und dass man das Bedürfnis verspürt, eine gewisse Zeit allein zu verbringen. Da die Mehrheit der Menschen diesen Wesenszug nicht teilt, versteht sie unser Verhalten auch nicht. Sie schätzt uns als ängstlich, schüchtern, schwach oder – die größte Sünde überhaupt – als nicht gesellig ein. Da wir diese Stigmatisierung fürchten, versuchen wir so zu sein wie die anderen. Das führt aber nur dazu, dass wir uns überdreht oder ausgelaugt fühlen. Und damit bekommen wir wieder einen Stempel aufgedrückt (zuerst von anderen und später von uns selbst): Wir werden als neurotisch oder verrückt bezeichnet.

Ein gefährliches Jahr für Kristen

Früher oder später durchlebt jeder einmal stressige Lebenssituationen, HSM reagieren aber verstärkt auf solche Reize. Wenn man diese Reaktion dann auch noch als Makel seiner Persönlichkeit auffasst, wird der ohnehin in jeder Lebenskrise vorhandene Stress noch intensiviert. Später gesellen sich Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Wertlosigkeit hinzu.

Kristen erlitt beispielsweise solch eine Krise, als sie mit dem Studium begann. Sie hatte zuvor eine private High School besucht und war noch nie von zu Hause fort gewesen. Plötzlich lebte sie unter Fremden und riss sich in der Menschenmenge um Kurse und Bücher – sie befand sich in einem Zustand ständiger Überreizung. Dann verliebte sie sich und zwar Hals über Kopf bis über beide Ohren (wie es HSM gut können). Kurz darauf flog sie nach Japan, um die Familie ihres Freundes kennen zu lernen. Vor diesem Moment hatte sie sich aus guten Gründen schon im Vorfeld gefürchtet. Während ihres Aufenthalts in Japan „flippte sie aus“ – so ihre eigenen Worte.

Kristen hatte sich selbst nie als ängstlich eingeschätzt, aber in Japan überkamen sie plötzlich alle möglichen Ängste und sie konnte nicht schlafen. Dann wurde sie depressiv. Ihre eigenen Gefühle verstörten sie vollkommen und ihr Selbstbewusstsein litt darunter. Ihr junger Freund konnte mit diesem verrückten Verhalten nicht umgehen und wollte die Beziehung beenden. Als ich mit ihr sprach, hatte sie ihr Studium mittlerweile wieder aufgenommen, befürchtete aber, dass sie es nicht schaffen würde. Kristen fühlte sich am Ende.

Sie schaute mich an, nachdem sie beim Rest ihrer Geschichte nur noch geschluchzt hatte: „Ich hörte von dieser Untersuchungsreihe über sensible Menschen und fragte mich, ob ich hochsensibel sein könnte. Aber das bin ich nicht, oder?“

Ich sagte ihr, dass ich dies nach einer so kurzen Unterhaltung nicht mit Sicherheit sagen könnte, aber dass ich doch glaubte, dem zustimmen zu können. Eine hohe Sensibilität in Kombination mit all den Stressfaktoren würde ihre Verfassung gut erklären. Auf diese Weise hatte ich den Vorzug, Kristen ihr eigenes Wesen zu erklären – was offensichtlich schon lange überfällig war.

So lässt sich hochgradige Sensibilität erklären

FAKT 1: Jeder Mensch, ob HSM oder nicht, fühlt sich am wohlsten, wenn er weder gelangweilt noch überbeansprucht ist.

Jedes Individuum wird seine anstehenden Aufgaben, sei es nun die Teilnahme an einem Gespräch oder am Pokalendspiel, am besten ausführen, wenn sein Nervensystem einer optimalen Reizstärke ausgesetzt ist. Wenn der Reiz zu schwach ist, fühlen wir uns teilnahmslos oder schwerfällig. Um unsere körperliche Verfassung zu ändern, trinken wir dann Kaffee, drehen das Radio auf, rufen einen Bekannten an, fangen eine Unterhaltung mit einem Wildfremden an oder wechseln den Beruf – alles ist möglich!

Im anderen Extrem, wenn unser Nervensystem übererregt ist, reagieren wir ungeschickt, genervt und überanstrengt. Wir können nicht mehr klar denken oder Handlungen des Körpers koordinieren – wir fühlen uns nicht mehr Herr unserer selbst. Aus dieser misslichen Lage gibt es wiederum verschiedene Auswege. Manchmal ruhen wir uns aus oder schalten mental ab. Einige von uns trinken dann Alkohol oder nehmen Beruhigungstabletten.

Das gesunde Maß an emotionaler Erregung liegt irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Und tatsächlich ist der Wunsch und das Verlangen nach einer optimalen Reizschwelle ein wichtiger Basisgedanke in der Psychologie. Das trifft auf jeden zu, sogar auf Säuglinge: Auch sie hassen sowohl Langeweile als auch Überbeanspruchung.

FAKT 2: In der gleichen Situation und bei ein und demselben Reiz ist das Erregungsniveau des Nervensystems individuell unterschiedlich.1

Dieser Unterschied wird hauptsächlich vererbt und ist ganz normal. Man kann ihn sogar bei allen höheren Tierarten wie etwa Mäusen, Katzen, Hunden, Pferden und Affen feststellen – und eben auch beim Menschen. Innerhalb der Arten ist die Zahl der, die gegenüber Reizen sehr empfänglich reagieren, übrigens fast gleich hoch: 15–20 Prozent. Genauso wie innerhalb einer Spezies Unterschiede im Wuchs und in der Größe der Individuen bestehen, existieren diese auch in Bezug auf Sensibilität. Bei sorgfältiger Züchtung von Tieren, bei der man die sensiblen unter ihnen miteinander kreuzt, kann man bereits nach ein paar Generationen eine sensible Linie erkennen. Kurz gesagt: Von allen angeborenen Temperamentsmerkmalen sind die Unterschiede hier am deutlichsten zu beobachten.2

Gute und nicht so gute Nachrichten

Aufgrund dieser unterschiedlich ausgeprägten Erregbarkeit können Sie Stimulationsgrade wahrnehmen, die anderen gar nicht auffallen.3 Das bezieht sich sowohl auf feine Geräuschunterschiede, visuelle Eindrücke und körperliche Empfindungen als auch auf Schmerzen. Dies liegt nicht etwa daran, dass Ihr Hör-, Seh- oder irgendein anderer Sinn besser ausgeprägt ist (viele HSM tragen Brillen). Der Unterschied liegt irgendwo auf dem Weg zwischen Nerv und Gehirn oder im Gehirn selbst, in der Verarbeitung von Informationen.4 Wir HSM denken genauer über alles nach und machen bei allem feine Unterschiede. Ähnlich wie Maschinen, die Früchte nach ihrer Größe sortieren, besitzen wir die Fähigkeit ganz genau zu differenzieren, während vielleicht andere nur zwei oder drei Differenzierungsmerkmale wahrnehmen können.

Ihr größeres Wahrnehmungsvermögen gegenüber Feinheiten trägt auch zu einer ausgeprägten Intuition bei, was ganz einfach bedeutet, dass Sie Informationen unbewusst beziehungsweise halbbewusst aufnehmen und weiterverarbeiten. Das Ergebnis ist, dass Sie oft etwas einfach so wissen, ohne dass Ihnen klar ist wieso. Darüber hinaus bewirkt diese Fähigkeit, dass Sie über Vergangenes und Zukünftiges mehr als andere nachdenken. Sie wissen einfach, wie die Dinge sein sollten, damit sie ihre Richtigkeit haben, oder wie etwas enden wird. Das ist wohl der sechste Sinn, von dem man spricht. Dieser muss nicht immer stimmen, genauso wie unsere Augen und Ohren getäuscht werden können, aber Ihre Intuition gibt Ihnen oft genug recht. So gibt es zum Beispiel unter den HSM Hellseher, begabte Künstler oder Erfinder, ebenso wie besonders gewissenhafte, vorsichtige und gebildete Menschen.

Die Kehrseite der Sensibilität zeigt sich erst bei intensiveren Reizen. Was bei den meisten Menschen zu einem mittleren Erregungsniveau führt, bewirkt bei HSM eine hochgradige Erregung des Nervensystems. Was die Nerven der meisten Leute sehr erregt, führt bei HSM dazu, dass sie so überdreht reagieren, bis schließlich eine so genannte transmarginale Hemmung* 2 ausgelöst wird. Diese wurde erstmals von dem russischen Physiologen Iwan Pawlow Anfang des 20. Jahrhunderts thematisiert. Er war davon überzeugt, dass der grundlegendste, vererbbare Unterschied zwischen Menschen darin besteht, wie schnell bei dem Einzelnen diese Schwelle erreicht wird, und dass das Nervensystem derjenigen, die sie schnell erreichen, ganz anders funktioniert.

Niemand, ob HSM oder nicht, mag es, wenn seine Nerven stark gereizt werden. Man gerät außer Kontrolle und der ganze Körper sendet Warnsignale, die anzeigen, dass etwas nicht stimmt. So eine Übererregung bedeutet oft, dass man seine Aufgaben nicht mehr so gut wie sonst erledigen kann. Sie kann auch auf eine Gefahr hinweisen und Furcht auslösen. Weil Neugeborene weder weglaufen noch kämpfen noch überhaupt Gefahren erkennen können, ist es für sie am besten, in jeder ungewohnten Situation zu schreien, damit die Großen kommen, um sie zu retten.

Wie die Feuerwehr reagieren wir HSM auf jeden ausgelösten Alarm – meistens also auf Fehlalarm. Wenn aber mithilfe unserer Sensibilität auch nur ein Menschenleben gerettet werden kann, dann ist dies ein Wesenszug, der sich genetisch auszahlt. Sicherlich, wenn diese Eigenschaft dazu führt, unsere Nerven zu sehr zu erregen, ist das lästig. Aber wie jede andere Charaktereigenschaft auch birgt hochgradige Sensibilität sowohl Vorteile als auch Nachteile in sich.

SCHÄTZEN SIE IHRE SENSIBILITÄT

Denken Sie an ein oder zwei Gelegenheiten, bei denen Ihre Feinfühligkeit Sie oder jemand anderen vor Leid, Verlust oder sogar vor dem Tod bewahrt hat. In meinem eigenen Fall wären meine ganze Familie und ich umgekommen, wenn ich damals nicht schon beim geringsten Flackern von Feuer im Dach unseres alten Holzhauses wach geworden wäre.

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Eine Stimulation (ein Reiz) kann alles sein, was das Nervensystem wachrüttelt, seine Aufmerksamkeit fordert und die Nerven dazu bewegt, elektrische Signale zu senden. Normalerweise denken wir bei einem Reiz an etwas, das von außen kommt, aber natürlich kann er auch aus unserem Körper kommen (wie zum Beispiel verursacht durch Schmerzen, Muskelanspannung, Hunger, Durst oder sexuelle Bedürfnisse). Genauso kann er auch durch Erinnerungen, Vorstellungen, Gedanken oder Absichten ausgelöst werden.

Ein Reiz kann in seiner Dauer oder Stärke (wie etwa unterschiedliche Lautstärken) ganz verschieden sein. Er kann sehr intensiv sein, wenn er überraschend erfolgt, zum Beispiel wenn man sich durch eine Hupe oder einen Schrei erschreckt, oder wenn der Reiz sehr komplex ist, beispielsweise wenn man auf einer Party vier Gesprächen gleichzeitig zuhört und nebenher noch Musik läuft.

Oft gewöhnen wir uns an Stimuli, aber manchmal meinen wir das auch nur und denken, sie würden uns nichts mehr ausmachen, doch dann fühlen wir uns plötzlich erschöpft und es wird uns klar warum: Wir waren unbewusst einer Sache ausgesetzt, die uns in Wirklichkeit stark zugesetzt hat. Selbst ein mittelmäßiger oder bekannter Reiz wie ein Arbeitstag kann für HSM Ruhe am Abend erfordern. An diesem Punkt könnte ein weiterer, vielleicht nur kleiner Stimulus der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Das Reizreaktionsschema ist aber noch komplizierter, weil derselbe Reiz bei verschiedenen Personen unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. Eine mit Menschen überfüllte Einkaufsstraße zur Weihnachtszeit mag den einen an fröhliche Einkäufe mit der Familie erinnern und verursacht ein zufriedenes Urlaubsgefühl. Eine andere Person ist vielleicht immer zum Einkaufen mit anderen gezwungen worden, sie musste Geschenke besorgen, ohne genug Geld zur Verfügung zu haben oder ohne zu wissen, was man kaufen könnte. Sie besitzt keine schönen Erinnerungen und leidet deswegen schrecklich unter den obligatorischen Weihnachtseinkäufen.

Eine allgemeine Regel lautet, dass uns ein Reiz viel mehr ausmacht, wenn wir ihn nicht kontrollieren können und wenn wir das Gefühl haben ihm ausgeliefert zu sein. Während uns Musik, die wir selbst auflegen, angenehm erscheint, kann sie uns nerven, wenn wir sie von nebenan hören. Falls wir die Nachbarn noch vor kurzem darum gebeten haben, die Lautstärke zu drosseln, wird das Ganze für uns zum feindlichen Übergriff.

Sogar dieses Buch kann Sie verärgern, da Sie anfangen zu begreifen, dass Sie zu einer Minderheit gehören, deren Forderung, der Reizüberflutung Einhalt zu gebieten, im Allgemeinen ignoriert wird.

Unterscheidet sich nervliche Erregung wirklich von Angst und Furcht?

Es ist wichtig, eine Erregung der Nerven nicht mit Angst zu verwechseln. Angst kann zwar verantwortlich sein für diese Erregung, aber diese kann auch von anderen Empfindungen wie Freude, Neugier oder Ärger ausgelöst werden. Unsere Nerven können aber auch durch Gedanken erregt werden, die uns nur halbbewusst sind, oder durch ein geringes Maß an Aufregung, das zunächst einmal keine sichtbaren Empfindungen erzeugt. Oft merken wir gar nicht, was unsere Nerven erregt, wie zum Beispiel eine neue Situation, ein ungewohntes Geräusch oder ein Übermaß an visuellen Eindrücken.

Genauer gesagt, gibt es mehrere Möglichkeiten, wodurch unsere Nerven erregt werden und nochmals andere, wie wir diesen Reiz empfinden. Beides unterscheidet sich von Fall zu Fall und von Mensch zu Mensch. Die Erregung kann sich bemerkbar machen durch Erröten, Zittern, Denkblockaden, Magenkrämpfe, Herzklopfen, Muskelverspannungen und Schwitzen der Hände oder anderer Körperteile. Der meisten dieser körperlichen Reaktionen ist man sich in solchen Situationen oft gar nicht bewusst. Anderseits gibt es auch Menschen, die sagen, dass sie sich nervlich angespannt fühlen, obwohl sie kaum eines der genannten Symptome aufweisen. Dennoch beschreibt der Ausdruck „Erregung“ etwas, das die genannten Zustände und körperlichen Reaktionen gemeinsam haben. Wie der Begriff „Stress“ vermittelt uns auch „Erregung“ die Vorstellung eines Zustands, den wir alle kennen, selbst wenn dieser unterschiedlich bewertet wird. Natürlich ist auch Stress eng damit verbunden: Unsere Reaktion auf Stress ist nämlich durchaus eine Erregung der Nerven.

Sobald wir eine Reizung der Nerven verspüren, wollen wir sie bestimmen und den Grund dafür wissen, um eine mögliche Gefahr auszumachen. Oft denken wir auch, dass diese Erregung einer Angst entspringt. Wir erkennen dann nicht, dass unser Herz vielleicht nur deswegen rast, weil es sich bemüht, zusätzliche Stimuli zu verarbeiten. Oder wir glauben anderen, die annehmen, wir hätten Angst, da sie unsere offensichtliche nervliche Anspannung feststellen. Nachdem wir nunmehr überzeugt sind Angst zu haben, werden unsere Nerven noch stärker gereizt. In Zukunft werden wir deshalb vermeiden in eine entsprechende Situation zu geraten, dabei hätten wir uns vielleicht beruhigt, wenn wir die Situation ausgehalten oder uns an sie gewöhnt hätten. Wir werden in Kapitel 5, wenn es um das Thema „Schüchternheit“ geht, noch einmal darauf zurückkommen, wie wichtig es ist, Angst und nervliche Erregung nicht miteinander zu verwechseln.