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EINS

Aehre

Matlow, South Yorkshire, März 1984

Annie Howard schrak, von abgrundtiefer Angst gepackt, aus dem Schlaf.

Langsam öffnete sie die Augen und blickte sich um. Alles schien normal. Sie war zu Hause, im ehelichen Schlafzimmer. Den Geräuschen aus dem Zimmer am Ende des Flurs nach zu urteilen, war Ethel, ihre Schwiegermutter, ebenfalls wach, und William war unten in seinem Arbeitszimmer und hörte Vivaldi, was bedeutete, dass er gute Laune hatte.

Ich muss wohl einen bösen Traum gehabt haben, dachte Annie, das ist alles.

Sie schlug die Steppdecke zur Seite, stieg aus dem Bett und ging über den tiefen, weichen Teppich zum Fenster. Sie zog den Vorhang zurück und sah zum Moor, dann wandte sie sich wieder um und ließ den Blick einen Moment auf dem gerahmten Foto an der Wand verweilen. Es war neun Jahre zuvor, im April 1975, an ihrem Hochzeitstag aufgenommen worden. Annie und William posierten vor der Kirche, und seine Kollegen von der Polizei bildeten das Ehrengeleit. William sah großartig aus in seinem Polizeiornat. Zu seiner Linken stand, breit lächelnd, sein Trauzeuge Paul Fleming. Annie, zu seiner Rechten, wirkte sehr jung, und an der Art, wie sie ihren Brautstrauß umklammerte, sah man, wie aufgeregt sie war.

Während sie sich anzog, kam William herein. Er trug einen seiner Lieblingsanzüge, den er so mochte, weil die Farbe besonders gut zu der seines Haars und seiner Augen passte. Er stellte ihr einen Becher Kaffee auf den Nachttisch, dann trat er zu ihr, legte seine Hand an ihren Nacken und zeichnete mit dem Daumen die Linie ihres Kinns nach. Sie schmiegte ihre Wange in seine Hand.

»Musst du schon gehen?«, fragte sie. »Es ist doch noch früh.«

»Ja, leider. Ich habe eine Besprechung mit dem Chief Constable aus Nottinghamshire.«

»Und er ist interessanter als ich?«

»Natürlich nicht, aber was sein muss, muss sein, Annie.«

»Ich weiß, ich weiß.« Annie ging zum Schrank, öffnete ihn und sah hinein. »Was gibt es heute denn Wichtiges zu besprechen? Geht es wieder um den Bergarbeiterstreik?«

»Worum sonst? Ich fürchte, es wird wieder ein langer, anstrengender Tag.« Er seufzte, aber Annie spürte, dass er es kaum erwarten konnte, das Haus zu verlassen und sich in die Arbeit zu stürzen.

»Annie, würdest du bitte mein Hemd aus der Reinigung abholen?«, fuhr er fort. »Ich brauche es für das Tanzdinner morgen Abend.«

»Natürlich. Ich fahre heute sowieso in die Stadt, um Mum zu besuchen.«

»Gut, dann bis heute Abend.«

»Ja, bis dann.« Sie hielt ihm das Gesicht hin, und er küsste sie auf die Stirn.

»Und du vergisst das Hemd bestimmt nicht?«

»Nein, versprochen.«

Annie lauschte Williams Schritten auf der Treppe und verfolgte im Geiste, wie er im Arbeitszimmer die Musik ausmachte, die Tür abschloss, in die Küche ging und seine Kaffeetasse in die Spüle stellte, seine Brieftasche nahm, den Flur durchquerte, sein Aussehen im Spiegel überprüfte, dann die Haustür öffnete und hinter sich zuzog. Schließlich hörte sie seine Schritte draußen auf dem Kies, dann war es kurz still, während er in den Wagen stieg, sich anschnallte und sich wie immer vergewisserte, dass er auch nichts vergessen hatte. Kurz darauf sprang der Motor des Jaguars an, gefolgt von dem leisen Knirschen der Räder, als der Wagen die gekieste Auffahrt hinunterfuhr. Sie lauschte, bis er in die Landstraße eingebogen war und sich entfernt hatte. Dann zog sie sich fertig an und ging ihre siebenjährige Tochter wecken. Lizzies Zimmer lag neben dem ihrer Großmutter. Annie schob die Tür auf, betrat den Raum und stieg über Spielzeug und Bücher hinweg zum Bett. Sie beugte sich über ihre Tochter und strich ihr das blonde Haar aus der Stirn.

»Hey, kleine Schlafmütze«, sagte sie leise. »Aufwachen!«

Elizabeth kuschelte sich tiefer unter ihre Bettdecke. »Nein«, brummte sie. »Ich will nicht.«

»Du musst aber, du Küken, sonst kommst du zu spät in die Schule.«

»Ich will heute nicht in die Schule.«

»Wie dumm, es bleibt dir nämlich nichts anderes übrig.«

Annie hob Scooby hoch, den Spielzeughund, der Elizabeth auf Schritt und Tritt begleitete, und kitzelte sie mit seiner Schnauze am Hals.

Die Kleine kicherte und setzte sich auf. Dann legte sie den Kopf schief und lauschte auf ein herannahendes Geräusch.

»Was ist das?«

»Was ist was?«

»Ein Motorrad kommt! Es ist Johnnie! Warum besucht er uns so früh?«

Mutter und Tochter huschten zum Fenster und spähten hinaus. Ein Motorrad holperte die Auffahrt herauf. Elizabeth winkte mit beiden Armen, und Annie sah zu, wie ihr jüngerer Bruder die Yamaha vor das Haus schob, mit der Stiefelspitze den Motorradständer heruntertrat und den Helm vom Kopf zog. Dann ging er mit knirschenden Schritten auf die Haustür zu.

»Ich laufe rasch hinunter, um ihn zu fragen, was ihn so früh am Morgen zu uns führt«, sagte Annie. »Zieh du dich inzwischen an, Lizzie.«

»Aber ich will auch zu Johnnie!«

»Zuerst anziehen.«

Annie eilte die Treppe hinab in den großen, luftigen Flur, in dessen Mitte ein indischer Läufer mit üppigem Rankenmuster lag. Sie öffnete die Haustür. Ihr jüngerer Bruder stand mit dem Helm unter dem Arm da und ließ seinen Schlüsselanhänger in Form des A-Team-Vans um den Zeigefinger kreisen. Hinter ihm stand die Sonne schon hoch über dem Moor und tauchte den noch winterlich braunen Farn in ein rotes Licht, sodass man meinte, die Berge stünden in Flammen.

Annie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihren Bruder von oben bis unten an.

»Du bist seit letzter Woche schon wieder ein Stück größer geworden«, meinte sie.

»Ach, lass den Quatsch«, sagte Johnnie.

»Aber schöner geworden bist du nicht. Was willst du so früh hier? Möchtest du nicht reinkommen? Soll ich dir eine Tasse Tee machen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich muss weiter zur Zeche«, sagte er. »Ich wollte dir nur erzählen …«

»Johnnie!« Elizabeth kam die Treppe herabgepoltert. Ihre Bluse war noch nicht zugeknöpft, der Reißverschluss ihres Schulrocks war noch offen, und die Strümpfe hatte sie in der Hand. Sie warf sich ihrem Onkel in die Arme, und er hob sie hoch, woraufhin sie Arme und Beine um ihn schlang. »Du musst reinkommen und mit uns frühstücken«, sagte sie. »Das ist ein Befehl.«

»Von wem?«

»Von mir. Und ich bin der Chef!«

Johnnie grinste. »Nun, wenn Miss Elizabeth Howarth das sagt, kann ich wohl kaum widersprechen.«

Sie gingen zusammen in die Küche. Den Helm ihres Onkels auf dem Kopf, schlang Elizabeth ihre Haferflocken hinunter. Annie machte derweil Tee und Toast. Sie füllte einen Becher und stellte ihn vor Johnnie hin.

»Also?«, fragte sie. »Was gibt es? Was führt dich so früh zu uns?«

Johnnie nahm einen tiefen Atemzug. Er warf einen verstohlenen Blick auf Elizabeth und sagte dann leise: »Tom Greenaway ist wieder da.«

Annie glitt das Messer aus der Hand. »Ich dachte, er wäre noch im Gefängnis.«

»Nein, er ist wieder draußen. Ich habe vor zehn Minuten mit ihm gesprochen. An der Tankstelle. Er hat an der Säule vor mir seinen Pick-up vollgetankt.«

Annie strich Honig auf die Toastscheiben. Sie war so nervös, dass sie sich die Finger und den Tisch bekleckerte. Dann stellte sie den Teller vor Johnnie hin.

»Zuerst hab ich ihn nicht erkannt. Aber dann ist er zu mir gekommen, hat ganz freundlich getan und gesagt: ›Du bist doch Johnnie Jackson, nicht wahr?‹ Und ich hab Ja gesagt, worauf er meinte: ›Nun, du wirst dich nicht an mich erinnern, du warst noch ein Kind, als ich von hier wegging, aber ich war einmal mit deiner Schwester zusammen.‹ Und da hat es bei mir klick gemacht.« Johnnie nahm den Toast und schob sich die ganze Scheibe in den Mund. Annie legte noch eine auf seinen Teller.

»Wer ist Tom Greenaway?«, fragte Lizzie.

»Niemand«, sagten Annie und Johnnie gleichzeitig. Lizzie zuckte mit den Schultern. Dann ließ sie Johnnies Schlüsselanhänger auf dem Tisch kreisen, aber Annie wusste, dass sie die Ohren spitzte.

Johnnie fuhr fort: »Er hat gefragt, was ich so mache und warum ich nicht bei den Streikposten bin, und ich hab gesagt, dass ich in der Kantine der Zeche arbeite und nur die Kumpels streiken, die übrige Belegschaft nicht.«

»Das dürfte ja wohl allgemein bekannt sein.«

»Mhm.« Johnnie nahm einen Schluck Tee. »Dann hat er mich gefragt, ob ich mir seinen Truck anschauen will.« Zu seiner Nichte gewandt, sagte er: »Schieb mir bitte den Zucker rüber, Lizzie. Danke. Nicht schlecht, sein Wagen. Ein Ford Pick-up. Mit Firmenlogo auf beiden Seiten und so. Und ich hab gesagt: ›Es scheint ja gut zu laufen bei dir‹, worauf er nur Ja sagte. Anscheinend ist er schon eine Zeit lang aus dem Knast heraus und hat seinen eigenen Betrieb gegründet; er legt Hecken an und fällt Bäume und solche Sachen. Greenaway Garden Services nennt er sich.«

»Er war schon immer am liebsten im Freien«, sagte Annie leise.

»Er hat sich nach dir erkundigt – wie es dir geht und was du so machst.«

»Hast du ihm etwas erzählt?«

»Das wär dir doch bestimmt nicht recht gewesen.«

»Nein.«

»Ich bin ja nicht blöd, Annie.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Doch, du bist blöd«, sagte Lizzie im Flüsterton.

»Und du bist ein freches Gör.«

»Geh nach oben, Liebes, und putz dir die Zähne«, sagte Annie zu ihr.

Johnnie wartete, bis das Kind verschwunden war, dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf.

»Tom hat mich gebeten, dir das hier zu geben.« Er fischte ein gefaltetes Blatt aus seiner Jackentasche. »Ich wollte es eigentlich wegschmeißen, aber er hat gemeint, es wär wichtig. Und ich musste ihm hoch und heilig versprechen, dass ich es dir gebe.«

Annie nahm den Brief, schloss ihre Finger darum und knüllte ihn zusammen.

»Ich hab ihm gesagt, dass du ihn bestimmt nicht liest. Und dass du nichts mehr mit ihm zu tun haben willst. Das stimmt doch, oder, Annie?«

»Ja«, sagte sie. »Das hast du gut gemacht.« Sie lächelte ihren Bruder an und reckte sich, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Dann ging sie, gefolgt von seinem Blick, zu dem alten Kohleofen, öffnete die Tür und warf das zerknüllte Blatt in die Flammen.

ZWEI

Aehre

So wie jeden Morgen richtete Annie ein Frühstückstablett für Williams Mutter her. Als sie das gekochte Ei mit einem Löffel aus dem Topf fischte, kam Mrs Miller, die private Pflegerin, durch die Hintertür herein.

»Guten Morgen!«, sagte sie fröhlich. »Und was für ein schöner Morgen es ist! Endlich fühlt es sich wie Frühling an.« Sie schlüpfte aus ihrem Mantel. Annie stellte das Ei in den Eierbecher, der auf dem Tablett stand.

»Wurde auch allmählich Zeit«, erwiderte sie. »So, das hier können Sie mit nach oben nehmen, Mrs Miller. In der Kanne ist frischer Tee, und hier ist Toast mit Ethels geliebter Aprikosenmarmelade.«

»Wunderbar«, sagte Mrs Miller. Sie hievte ihre voluminöse Handtasche auf den Küchentisch, öffnete sie und kramte darin herum. Elizabeth, fertig für die Schule angezogen, trat neugierig näher. »Oh, sieh mal, was ich gefunden habe«, sagte Mrs Miller. »Eine Karamellstange. Kennst du jemanden, der so was vielleicht mag, Lizzie?«

Elizabeth lächelte schüchtern. »Ich?«, sagte sie.

»Ach so? Du magst das? Wer hätte das gedacht! Dann nimm sie dir.« Mrs Miller reichte dem Kind die Karamellstange. »Heb sie für die Pause auf«, fügte sie hinzu.

»Danke, Mrs Miller.«

»Gern geschehen, Mäuschen.«

»Nun komm, Lizzie, wir sind spät dran«, sagte Annie. Sie öffnete die Hintertür, ließ Lizzie vorbei und rief Mrs Miller einen Abschiedsgruß zu. Sie folgten dem Plattenweg ums Haus herum zum Vorgarten, wo Elizabeth zu der Stelle auf dem Rasen huschte, von wo aus sie ihrer Großmutter jeden Morgen zum Abschied zuwinkte. Ethel Howard sah für gewöhnlich aus dem kleinen Fenster ihres Zimmers an der Stirnseite des Hauses. An manchen Tagen vergaß sie, dass sie eine Enkelin hatte, und ließ sich nicht am Fenster blicken. Aber als Annie und Elizabeth an diesem Morgen hinaufsahen, war Ethel da, ihr Gesicht ein Schatten hinter der Fensterscheibe.

»Ich schlag ein Rad für Großmutter«, verkündete Elizabeth und warf ihren Schulranzen auf den Rasen.

»Aber mach schnell«, sagte Annie.

Sie schirmte mit der Hand die Augen ab und betrachtete das Haus. Everwell war ein Jahrhundert zuvor für die Familie erbaut worden, der ursprünglich das Bergwerk von Matlow gehört hatte. Es verdankte seinen Namen dem Quellbrunnen im Garten und hatte zweimal den Besitzer gewechselt, ehe William es 1971 von dem Vermögen gekauft hatte, das sein Vater ihm hinterlassen hatte. Von außen sah das Haus noch genauso aus wie nach der Erbauung. Eine alte Glyzinie ergoss ihre Frühlingsblüten vor den Sprossenfenstern. Der Garten fiel sanft ab, am Rasenrand nickten Narzissen bedächtig in der sanften Brise, und hundertjährige Buchen säumten beidseitig die gekieste Auffahrt. Das ehemalige Cottage des Wildhüters, inzwischen eine baufällige Ruine, die William irgendwann einmal zu renovieren oder aber abzureißen gedachte, stand neben der niedrigen Steinmauer, die den Garten von der dahinterliegenden Kuhweide abtrennte. Und jenseits davon, ungefähr eine Meile entfernt, erstreckte sich unter einem strahlend blauen Himmel das Moor.

Es war schön, hier zu wohnen. Manchmal, so wie in diesem Moment, konnte Annie kaum fassen, dass sie es so weit gebracht hatte.

Nachdem sie Elizabeth bei ihrer Privatschule hatte aussteigen lassen, folgte sie in ihrem VW Golf der Landstraße zur Stadt hinunter. Die Zeche lag an der Bergflanke und überragte mit ihren Minengebäuden, Fördergerüsten, Kehrrädern und Abraumhalden den Ort. Vor dem Mineneingang musste sie anhalten, weil eine Menschenmenge die Straße blockierte. Ein älterer Mann in Jacke und Filzhut sprach über ein Megafon zu den Bergleuten; Annie konnte nicht verstehen, was er sagte, hörte nur seine dröhnende, widerhallende Stimme. Einige Männer hockten auf der Grundstücksmauer oder lehnten daran, andere standen, die Kragen hochgeschlagen, grüppchenweise auf der Straße rauchten und unterhielten sich lachend. Ein paar Polizisten plauderten scherzend mit ihnen und boten ihnen großzügig Zigaretten an. Die älteren Bergmänner waren von zäher, muskulöser Statur, ihre Gesichter unter den Schiebermützen ausgemergelt von der jahrelangen Plackerei unter Tage. Die jüngeren waren langhaarig. Ein paar von ihnen trugen noch immer ausgestellte Jeans. Matlow war in Sachen Mode immer ein paar Jahre zurück im Vergleich zu den größeren Städten Yorkshires.

Annie entdeckte ein paar bekannte Gesichter unter den Männern. Sie war mit ihnen zur Schule gegangen. Während sie den Wagen in dem Gedränge auf der Straße langsam vorrollen ließ, vernahm sie plötzlich raues Gelächter. Lachten die Männer über sie? Machten sie sich über sie lustig? Sie wusste, dass die Leute aus dem Städtchen hinter ihrem Rücken über sie redeten, das hatte Marie, ihre Mutter, ihr gesagt. Vielleicht erinnerten sich einige der Männer, die auf der Mauer saßen, an die Zeit, als sie noch in Matlow gewohnt und als Sekretärin im Rathaus gearbeitet hatte. Vielleicht erinnerten sie sich auch daran, dass sie einmal die Freundin von Tom Greenaway gewesen war.

Annie atmete langsam aus. Sie kam nur im Schneckentempo voran. Plötzlich ertönte irgendwo in der Menge ein Ruf, und die Männer um sie herum warfen ihre Zigaretten zu Boden, rückten von der Straße weg und drängten sich auf dem Vorplatz zusammen, sodass sie endlich weiterfahren konnte. Sie kämpfte mit dem Schaltknüppel, legte den zweiten Gang ein, beschleunigte und setzte erleichtert ihre Fahrt fort.

Annie passierte die neue Wohnsiedlung und gelangte am Gebäude der Heilsarmee und der Ruine des in den 1960ern erbauten Einkaufszentrums mit seinen zerbrochenen Fensterscheiben und graffitibesprühten Mauern vorbei in den älteren Teil der Stadt. Beim Stadtbad bog sie links ab, hielt vor der Reinigung an, um Williams Hemd abzuholen, und fuhr danach wieder zurück in die Vorstadtsiedlung, die sich hangabwärts erstreckte und deren Sträßchen von den Reihenhäusern der Bergarbeiterfamilien gesäumt waren.

Sowohl Annie als auch Johnnie waren in dem nach vorn gelegenen Schlafzimmer in der Rotherham Road 122 geboren worden, im selben Bett, in dem ihre Eltern noch heute schliefen. Als Annie den Wagen vor dem Haus abstellte, öffnete Marie Jackson die Tür. Annie trat in den finsteren, engen Flur und ließ in dem schmalen Raum zwischen der Treppe und der Garderobe, wo Jacken und Mäntel an nackten Haken hingen, die Umarmung ihrer Mutter über sich ergehen. Marie hatte kräftige, sehnige Arme, blond gefärbtes, zu einem Knoten frisiertes Haar, Kreolen an den Ohrläppchen und war wie immer stark geschminkt – dunkel umrandete Augen unter gezupften und mit dünnen Strichen nachgezogenen Brauen. In der Küche war das Teewasser bereits aufgesetzt, und auf dem Tisch stand ein Teller mit selbst gebackenem Parkin – in Rechtecke geschnittenem und mit Butter bestrichenem Kuchen aus Haferflocken und dunklem Zuckersirup –, schwarz und klebrig wie Teer. Annie blickte durchs Fenster in den Hof, wo sich ihr ein Sammelsurium aus Mülltonnen, dem letztjährigen Weihnachtsbaum, Teilen eines Kinderfahrrads, das irgendjemand Johnnie vermacht hatte, und einem Kaninchenstall darbot. Die beiden Whippets von Annies Vater lagen auf einer alten Decke in der Sonne.

»Wo ist Dad?«, fragte sie. »Heute ist doch sein freier Tag.«

»Er ist zur Zeche hochgefahren, um zu hören, was die Gewerkschaft sagt. Sie wollen, dass alle die Arbeit niederlegen.«

»Ich habe die Menschenmenge vor dem Zechentor gesehen. Aber die Kumpel schienen gut gelaunt.«

»Na ja, sie wissen, dass sie nicht verlieren können. Das ganze Land steht hinter ihnen.«

Der Wasserkessel machte einen Hüpfer auf der Herdplatte und begann zu pfeifen.

»Geh doch schon mal ins Wohnzimmer und mach es dir bequem, Annie. Ich komm gleich mit dem Tee nach.«

Annie folgte der Aufforderung ihrer Mutter und setzte sich auf den Sessel ihres Vaters beim Fenster zur Straße. Der braune Überzug der Armlehnen war durch das Aufstützen der Ellbogen speckig geworden, und die schadhaften Sprungfedern drückten durch das Sitzpolster. Im Zimmer roch es nach Kohle, und nach den vielen Jahren war alles mit einer braunen Nikotinschicht bedeckt, die das ganze Zimmer in einen ockerfarbenen Ton tauchte.

Marie kam mit dem Tablett herein und stellte es auf den Tisch.

»Ist bei dir alles okay, Annie?«, fragte sie. »Du siehst ein bisschen blass aus.«

»Nein, nein, alles okay.«

»Komm schon, raus damit! Irgendwas hast du doch auf dem Herzen!«

»Nein, es ist nur … Ach, Mum, wusstest du, dass Tom Greenaway wieder in der Stadt ist?«

»Oh«, sagte Marie. »Wie ich sehe, hat sich die Neuigkeit schon bis zu dir rumgesprochen.« Sie ließ sich schwer auf die Couch fallen und bückte sich nach der Zigarettenpackung und dem Aschenbecher auf dem Boden.

»Du hast es gewusst?«

»Ich bin neulich Sadie Wallace in die Arme gelaufen. Sie hat es mir erzählt.«

»Was hat sie gesagt?«

»Nicht viel. Sie zeigt mir noch immer die kalte Schulter, nach dem, was dein Tom ihrer Großmutter angetan hat.«

»Wenn Sadie sich mehr um ihre Großmutter gekümmert und sie nicht allein in diesem schrecklichen Bungalow gelassen hätte, wäre …«

»Nun reg dich nicht auf«, sagte Marie. »Lass uns nicht wieder davon anfangen.«

Sie bot ihrer Tochter eine Zigarette an, doch Annie schüttelte den Kopf.

»Weiß Dad, dass er zurück ist?«

»Sei nicht albern. Glaubst du, dein Tom hätte …«

»Er ist nicht mein Tom.«

»Glaubst du, er hätte noch einen heilen Knochen im Leib, wenn dein Dad davon Wind bekommen hätte, dass er wieder in der Stadt ist? Es wäre für alle das Beste, wenn Tom Greenaway schleunigst wieder in das Loch zurückkriechen würde, aus dem er herausgekommen ist.«

»Ja, das wäre in der Tat das Beste.«

Marie steckte sich eine Zigarette an. Sie blies den Rauch aus und sagte dann: »Wie auch immer, du solltest auf dich achtgeben, Annie. Pass auf, was du sagst.«

»Ach, lass doch die Leute reden, was sie wollen. Es ist mir egal.«

»Um das Gerede der Leute mache ich mir keine Sorgen.«

»Worum dann?«

»Was glaubst du wohl, warum Tom Greenaway zurückgekommen ist, wenn nicht wegen dir?«

»Er ist in Matlow geboren und aufgewachsen. Wohin sollte er denn sonst gehen?«

»Er weiß, dass er hier nicht willkommen ist. Er hat keine Familie mehr hier. Er erzählt überall rum, dass er seinen Namen wieder reinwaschen will, aber niemand interessiert sich dafür. Ich hab keine Ahnung, was er wirklich will.«

»Er wird schon einen triftigen Grund haben.«

»Ja, zum Beispiel dort wieder anzuknüpfen, wo er aufgehört hat. Mit dir, meine ich.«

Annie blickte auf ihre Hände in ihrem Schoß, die den Teebecher umklammert hielten. Sie betrachtete ihren Ehering und den zierlichen Verlobungsring mit dem von Diamanten eingefassten Saphir. Die Ringe hatten einmal Williams Großmutter gehört und waren für Annie eine Art Talisman. Mit ihnen war sie vor Tom sicher. Sie führte eine stabile Ehe mit einem guten, tüchtigen Mann. Ihr neues Leben war von einem Schutzwall umgeben.

»Wenn es das ist, was er will, hat er sich gehörig geschnitten. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben!«

Marie legte ihre Zigarette auf den Aschenbecherrand und kratzte mit dem Fingernagel an einem Backenzahn, an dem ein Stück Parkin klebte.

»Du warst schon einmal so leichtsinnig, dich mit dem Kerl einzulassen.«

»Das ist lange her. Wie auch immer …« – Annie streckte ihren Rücken – »lass uns nicht weiter Zeit mit Tom Greenaway verschwenden. Ich brauche ein neues Kleid. Ich wollte in die Stadt, hast du Lust mitzukommen?«

»Wozu brauchst du noch einen Fummel? Hast du nicht schon genügend davon?«

»Morgen ist ein Tanzdinner im Haddington Hotel. Für die Führungsebene der Polizei. Alles, was Rang und Namen hat, wird dort sein.«

Marie zog eine Grimasse. »Alles, was Rang und Namen hat, soso«, sagte sie in gespielt hochnäsigem Ton. »Und du glaubst, dass alle sich bei Mrs Annie Howarth abgucken wollen, was der neueste Schrei in Sachen Mode ist?«

»William will halt, dass ich hübsch aussehe.«

Marie stieß ihr kehliges Lachen aus. »William interessiert es nicht die Bohne, was du anhast. Er himmelt dich so oder so an. Man könnte meinen, ein Mann, der dein Vater sein könnte, hätte mehr Sinn und Verstand.«

Marie ließ keine Gelegenheit aus, auf den Altersunterschied zwischen Annie und ihrem Mann anzuspielen. Annie ging nicht darauf ein, sondern trank ihren Tee aus. »Gut, ich muss dann los«, sagte sie. »Und ich wünschte, du hättest ein bisschen mehr Vertrauen in mich. Diesmal werde ich in Bezug auf Tom Greenaway bestimmt das Richtige tun, keine Sorge.«

»Ja, ja«, erwiderte Marie verdrießlich, »dein Wort in Gottes Ohr.«

DREI

Aehre

Als Annie im Wohnzimmer ihren Einkauf auspackte, kam Mrs Miller die Treppe herunter.

»Mrs Howarth schläft wie ein Baby«, sagte sie. »Könnten Sie ein Stündchen nach ihr sehen, während ich meine Mittagspause mache?«

Annie sagte, sie solle ruhig gehen, und begab sich dann nach oben in den ersten Stock. Sie klopfte behutsam an die Tür, und als keine Antwort kam, öffnete sie sie und betrat das Zimmer ihrer Schwiegermutter. Bevor Ethel zu ihnen gezogen war, hatte William die Wand zwischen zwei Schlafzimmern durchbrechen lassen, um ein größeres Zimmer für sie zu schaffen. Jetzt war es ein schöner, sonniger Raum, der in zwei Hälften aufgeteilt war – in der einen befanden sich ein Bett, eine Kommode, ein Waschbecken und ein Schrank und in der anderen eine Sitzecke, bestehend aus mehreren Lehnstühlen, einer kleinen Couch, einem Fernseher und einem Tisch. Die alte Dame schlief in ihrem Armsessel. Mrs Miller hatte ein Kissen in ihren Nacken geschoben und eine Häkeldecke über ihre Beine gebreitet. Ethels Mund stand offen, und sie schnarchte leise. Sie wirkte verletzlich wie ein kleiner Vogel, und durch ihr schütteres weißes Haar schimmerte ihre Kopfhaut durch. Der Elektroheizstrahler war eingeschaltet, sodass es im Zimmer sehr warm war. Annie trat ans Fenster und sah in den Garten hinunter. An der Stelle, von wo aus Elizabeth ihrer Großmutter jeden Morgen zum Abschied zuwinkte, war das Gras flach getreten und leicht bräunlich. Annies Blick wanderte zu den ersten zarten Blütenknospen des Kirschbaums mit seinen violetten Blättern hinüber, der neben dem baufälligen Cottage stand, und weiter zum Moor hinauf. Dort ästen zwei Rehe und hielten Wache, indem sie abwechselnd den Kopf hoben. In der Ferne konnte Annie die Autos auf dem Parkplatz vor der Mine glitzern sehen und die dunklen Silhouetten der Bergwerksanlagen.

Sie setzte sich ans Fenster, nahm eine von Mrs Millers Zeitschriften zur Hand und blätterte darin. Ein Artikel über einen amerikanischen Popstar namens Madonna erregte ihre Aufmerksamkeit. Annie besah sich die Fotos. Ihr gefiel der Kleidungsstil der jungen Frau und ihr schwungvoll nach einer Seite frisiertes Haar, ihre stark geschminkten Augen und ihre Ohrringe, die Maries Kreolen ähnelten. Annie fragte sich, wo sie solche langen Spitzenhandschuhe finden könnte, die gut zu ihrem Kleid passen würden. Madonna trug Armketten und Armreifen über den Handschuhen und um den Hals ein Dutzend Halsketten. Es wäre nicht schwer, diesen Stil zu kopieren – nur dass es William nicht gefallen würde. Er mochte es nicht, wenn sich Annie nach der neuesten Mode kleidete. Er bevorzugte einen klassischen Stil. Auf der nächsten Seite waren Fotos von Prinzessin Diana zu sehen – wie derzeit in jeder Zeitschrift; es war, als könnte sich die Welt nicht an ihren Fotos sattsehen. Manchmal verglich sich Annie mit Diana. Die Prinzessin war natürlich jünger als sie, aber beide hatten sie ältere und wohlhabende Männer geheiratet, beide sahen sich großer öffentlicher Aufmerksamkeit und dem Gerede der Leute ausgesetzt, und sowohl Diana als auch ihr fiel es manchmal schwer, ihren Rollen gerecht zu werden.

Annie schloss die Augen und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Natürlich würde sie diesen Vergleich mit Lady Di niemals jemand anderem gegenüber erwähnen, Gott bewahre! Die Leute würden denken, dass sie allmählich größenwahnsinnig wurde. Sie ließ sich die Worte ihrer Mutter noch einmal durch den Kopf gehen und versuchte, sich ihre ständigen Sticheleien nicht zu Herzen zu nehmen. Marie war nun einmal in ihrem winzigen, nach Zigarettenqualm riechenden Häuschen gefangen, zusammen mit ihrem Mann, für den gute Manieren ein Fremdwort waren. Da war es doch nur verständlich, dass sie eifersüchtig auf sie war. Die Wärme im Zimmer machte Annie schläfrig, und sie musste eingedöst sein, jedenfalls hörte sie nicht, dass ein Wagen die Auffahrt herauffuhr, und auch nicht, dass an die Tür geklopft wurde. Die Blumen vor der Haustür fand sie erst, nachdem Mrs Miller zurückgekommen war und Annie sich auf den Weg machte, um Elizabeth von der Schule abzuholen. Es waren keine Blumen aus dem Laden, sondern Frühlingswiesenblumen, Moorblumen in zarten Gelb- und Blautönen – Vergissmeinnicht, Scharbockskraut, Grasnelken, gelbe Schlüsselblumen, Primeln und Veilchen. Annie hob den kleinen Umschlag auf, der neben dem Einweckglas mit den Blumen lag, und riss ihn mit dem Daumen auf. Darin befand sich eine Karte mit einer Bleistiftskizze von einem Zaunkönig. Darunter standen sechs Worte.

Wann kann ich dich sehen? Tom.

»Oh nein«, sagte Annie im Flüsterton. »Nein, spar dir die Mühe, du wirst mich nicht mehr rumkriegen!«

Sie nahm die Blumen aus dem Glas, packte sie an den Stängeln, sodass sie mit den Köpfen nach unten baumelten und einige Blütenblätter wie Konfetti auf die Erde rieselten, und lief damit über den Rasen zu der niedrigen Mauer, die den Garten von der Wiese trennte, auf der Jim Friels kleine Milchkuhherde graste. Sie lockte die Kühe mit einem Pfeifen, und als sie angetrottet kamen, schleuderte sie ihnen die Blumen entgegen und die Karte hinterher. Die ranghöchste Kuh schnüffelte an den Blumen, rupfte mit dem Maul eine der struppigen, geschmackvollen Blüten heraus und begann, genüsslich zu kauen.

»Danke, Kuh«, sagte Annie. Sie rieb sich die Pollen von den Händen, drehte sich um und ging zum Haus zurück.

VIER

Aehre

Am Abend des nächsten Tages, als sich William im Schlafzimmer für das Tanzdinner umzog, goss sich Annie ein Glas Wein ein und nahm es mit hinauf. Auf dem Treppenabsatz begegnete sie Ethel, die am Arm von Mrs Miller langsam zum Badezimmer schlurfte.

»Wer ist das?«, fragte Ethel die Pflegerin. »Was macht sie in meinem Haus?«

»Das ist Ihre Schwiegertochter, Mrs Howarth.«

»Ich habe diese Frau noch nie gesehen. Was macht sie hier? Wer ist sie?«

Mrs Miller lächelte entschuldigend. »Kommen Sie, Mrs Howarth«, sagte sie.

»Ich mag ihren Blick nicht!«, sagte Ethel. »Sie ist keine Howarth.« Sie wich ängstlich vor Annie zurück. »Ich traue Ihnen nicht! Sie bringen bestimmt Ärger in dieses Haus.«

Annie wusste um Ethels zunehmenden Gedächtnisverlust und war es gewohnt, dass sie hin und wieder verletzende Dinge sagte. Dennoch wünschte sie, die alte Dame würde instinktiv spüren, dass sie es gut mit ihr meinte.

»Na, na, Mrs Howarth, nun regen Sie sich doch nicht so auf«, sagte Mrs Miller, wobei sie Annie zuzwinkerte und die alte Dame weiterschob.

Annie trat in ihr Schlafzimmer und ging zum Fenster hinüber, wo sie an ihrem Wein nippte und die Finger gegen die Schläfe presste. In ihrem Rücken stand William vor dem Spiegel und band sich die Fliege. Sie spürte, wie er sie im Spiegel ansah.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte er.

»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.«

William trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. Er küsste sie auf den Kopf.

»Hast du ein Aspirin genommen?«

Sie nickte.

»Dann wird es dir gleich besser gehen.«

»Ja, bestimmt.«

Sie wünschte, er würde das Zimmer verlassen. Sie wollte ein paar Minuten lang allein sein. Wollte in Ruhe am Fenster stehen und zusehen, wie die Sonne hinter dem Moor unterging. In den eleganten Duft von Williams Eau de Cologne mischte sich der Geruch der medizinischen Seife, mit der er sich nach jedem Arbeitstag die Hände wusch. Er benutzte sie, um Keime abzutöten, sich den Schmutz der Menschen wegzuschrubben, mit denen er es zu tun hatte, die Verbrechen, die sie begangen hatten, die Hässlichkeit, die Armut, kurzum, die Misere, die eine Minenstadt in South Yorkshire prägte. William legte in jedem Bereich seines persönlichen Lebens Wert auf Ordnung und Sauberkeit und verstand nicht, warum andere Menschen das nicht auch taten. In seinen Augen war alles ganz einfach: Die Menschen mussten nur die gesellschaftlichen Regeln und Gesetze beachten.

Annie trat einen Schritt nach vorn, weg von seinen nach Seife riechenden Händen, seinem Pfefferminzatem, dem Geruch nach Sauberkeit.

»Ich brauche nicht lange«, sagte sie. »Ein paar Minuten und ich bin fertig.«

»Natürlich«, sagte er. »Ich warte unten.«

Nachdem William gegangen war, zog Annie ihr neues Kleid an und setzte sich an den Frisiertisch, um ihr Haar zu richten. Elizabeth kam, den Saum ihres Bademantels hinter sich herziehend, herein und legte sich quer aufs Bett, sodass sie zusehen konnte, wie Annie sich Heißlockenwickler ins Haar drehte. Sie ahmte die Grimassen ihrer Mutter nach, während diese Lidschatten, Lippenstift und Mascara auftrug.

»Warum schminken sich schöne Frauen, hässliche Männer aber nicht?«

»Hm, keine Ahnung.«

»Ruthie Thorogood sagt, weil Frauen mit viel Make-up die reichsten Männer kriegen.«

Annie seufzte. »So ungefähr. Aber dich betrifft das ja nicht, denn du wirst …«

»… eine gute Ausbildung bekommen und Karriere machen!«, beendete Elizabeth den von ihrer Mutter begonnenen Satz. »Aber vielleicht werde ich ja ein Popstar.«

»Gut, aber diese Neuigkeit darfst du deinem Vater dann selbst verkünden.«

Annie stand auf, nahm ein Paar Schuhe vom Boden ihres Schranks, von denen sie wusste, dass ihre Füße darin schmerzen würden, und schlüpfte hinein. Sie setzte sich aufs Bett und strich Elizabeth übers Haar.

»Ich wünschte, ich könnte heute Abend bei dir bleiben«, sagte sie leise.

»Warum denn? Ich dachte, du tanzt gern.«

»Früher, ja.« Annie schloss die Augen und rief sich die heißen Nächte im Locarno in Erinnerung, vor einem Jahrzehnt, und wie Tom sie hinterher immer nach Hause gebracht hatte. An das Prickeln in ihrem Bauch, daran, dass ihr ganz schwindlig gewesen war vor Liebe. »Heute Abend wird altmodische Musik gespielt, und wahrscheinlich muss ich mit einem Haufen langweiliger Männer tanzen«, sagte sie.

»Daddy ist nicht langweilig!«

»Nein, aber dein Daddy tanzt nicht gern.«

»Warum musst du mit langweiligen Männern tanzen? Warum kannst du nicht einfach sagen, dass du nicht willst?«

»Das geht nicht«, sagte Annie. »Man nennt das Etikette. Die muss man befolgen, wenn man weiterhin zu solchen Veranstaltungen eingeladen werden will. So, und nun schlüpf unter die Decke, du kannst in unserem Bett schlafen, bis wir zurückkommen. Mrs Miller übernachtet heute hier und passt auf dich auf.« Sie beugte sich zu Elizabeth hinab und küsste sie. »Sei schön brav.«

»Das bin ich doch immer.«

»Ja, ja, wer’s glaubt, wird selig.«

William hatte im Wohnzimmer auf sie gewartet. Da es sich für die kurze Zeit nicht gelohnt hatte, den Kamin anzumachen, war es kalt im Raum. Als Annie hereinkam, stand er auf, und sie stellte wieder einmal befriedigt fest, welch stattliche Erscheinung er in seinem Smoking abgab. Er strahlte eine natürliche Präsenz aus – eine Mischung aus ernstem, aber klassisch gutem Aussehen und einem festen Charakter. Und das machte ihn attraktiv.

»Ist es der Streik?«, fragte Annie.

»Was ist mit dem Streik?«

»Ist er der Grund für dein finsteres Gesicht?« Sie wischte mit der Hand ein Paar Flusen von seiner Schulter.

»Die Lage ist ziemlich ernst«, sagte er. »Alle sind sich einig, dass sich der Streik gut und gern bis in den Sommer hinziehen könnte.«

»So lange? Oje!« Annie drehte sich anmutig um sich selbst. »Und? Wie sehe ich aus? Das Kleid ist neu. Und die Handschuhe habe ich mir von meiner Mutter geborgt.«

Er streckte die Hand nach ihr aus. »Du siehst perfekt aus. Ich mag, wie du dein Haar frisiert hast. Es ist sehr …«

»Modern?«, schlug Annie neckend vor.

Sie reichte ihm ihre Stola, und er legte sie ihr über die Schultern. Dann geleitete er sie nach draußen zum wartenden Wagen. Er öffnete die Autotür für seine Frau und setzte sich neben sie in den Fond, wobei er dem Fahrer das Ziel nannte. Annie liebte den Luxus des großen Wagens, genoss es, darin zu dieser hochkarätigen Abendveranstaltung chauffiert zu werden. Keine Frage, sie hatte es weit gebracht. Wer hätte je gedacht, dass Annie Jackson – das Mädchen aus der Rotherham Road, das noch vor gar nicht so langer Zeit als schwarzes Schaf des Städtchens gegolten hatte, nachdem sein Freund wegen Totschlags verurteilt worden war – eines Tages im Fond einer Luxuslimousine sitzen würde, an der Seite eines Gatten, der einer der ranghöchsten Polizeioffiziere von South Yorkshire war und allseits bewundert und respektiert wurde? Ihre Mutter brauchte sich keine Sorgen zu machen, dachte Annie. Nie würde jemand sich zwischen sie und William stellen können, und schon gar nicht Tom Greenaway, selbst wenn er der letzte Mann auf Erden wäre.

FÜNF

Aehre

Im Ballsaal des Haddington Hotel herrschte bereits lebhaftes Gedränge. Die Frauen trugen Abendkleider in leuchtenden Farben, die Männer Smoking oder die Ausgehuniform der Polizei. Lautes Stimmengewirr hallte von der hohen Decke mit der Kuppel in der Mitte des prächtigen Raums wider, der mit den eleganten Schabracken über den Fenstern, den Kronleuchtern und dem üppigen Blumenschmuck äußerst festlich wirkte. Annie ließ sich an Williams Arm durch die Reihen der Gäste führen.

»Du bist wirklich gut darin«, sagte sie.

»Worin? Im Small Talk? Darin, den Frauen meiner Kollegen Komplimente zu machen, von denen dir keine das Wasser reichen kann?«

»Du bist gut darin, würdevoll aufzutreten«, flüsterte Annie ihm zu. »Und du strahlst Autorität aus. Die Männer haben Respekt vor dir, und die Frauen himmeln dich an.«

William gab sich unbeeindruckt von ihrer Bemerkung, aber Annie wusste, dass er sich geschmeichelt fühlte, denn er reckte unwillkürlich die Brust vor und zog sie enger an sich.

Nach und nach nahmen die Gäste an den langen Tischen Platz, die hufeisenförmig um die Tanzfläche herum gruppiert waren. Auf der Bühne an der hinteren Seite der Tanzfläche hatte die Band ihre Instrumente aufgebaut. Die Tische waren mit Stoffservietten und feinem Porzellangeschirr eingedeckt, und Dutzende Weinflaschen und Brotkörbe standen bereit. Annie war neben William platziert, und sie war froh, dass sie Paul Fleming gegenübersaß. Er schenkte ihr ein breites Lächeln und deutete eine Verbeugung an.

»Wie geht es Ihnen, Mrs Howarth?«, fragte er in gespielt formellem Ton.

»Gut, danke, Mr Fleming, und Ihnen?«

»Ich kann mich nicht beschweren. Auch wenn man es heutzutage nicht leicht hat als Polizist.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Der Beruf wäre wesentlich einfacher, wenn es keine Kriminellen gäbe. Ein rücksichtsloses Pack.«

»Ja, immerzu müssen sie die Gesetze brechen, nicht wahr?«

»Ja!«, sagte Paul. »Und immer wieder lassen sie sich etwas Neues einfallen!«

»Nun, wenigstens sorgen sie dafür, dass euch die Arbeit nicht ausgeht.«

»Stimmt auch wieder.« Paul hielt Annie den Brotkorb hin. Sie nahm ein Brötchen, brach es über ihrem Brotteller und bestrich die beiden Hälften mit Butter. Zu ihrer Rechten unterhielt sich William mit Lady Mayoress. Er hatte Annie halb den Rücken zugedreht.

»Warum ist Janine nicht mitgekommen?«, fragte sie Paul.

»Sie ist zu Hause beim Baby geblieben. Die Kleine ist erkältet, und Jan wollte sie nicht bei einem Babysitter lassen. Schau.« Er nahm ein Foto aus seiner Brieftasche und reichte es Annie. Darauf war seine junge Frau zu sehen, die, ein pummeliges Baby im rosa Kleidchen in den schlanken Armen, stolz in die Kamera lächelte.

Annie betrachtete das Bild lächelnd und gab es ihm zurück. »Chloe ist wirklich ein prächtiges Kind.«

»Ganz der Vater, was?«

In diesem Moment wurde die Beleuchtung im Raum gedämpft, und im Scheinwerferlicht betrat der Chief Constable die Bühne, ein stattlicher Mann mit breiten Schultern und kurz geschorenem Haar. Er tippte ans Mikrofon, worauf ein lautes Pfeifen zu hören war, bis es ihm gelang, es richtig einzustellen. Dann begann er seine Rede. Er lobte den Einsatz der Polizeikräfte während der letzten zwölf Monate und beschrieb kurz die Höhepunkte und kritischen Phasen. »Die größten Herausforderungen stehen uns jedoch erst noch bevor«, warnte er. »Unsere vorrangige Aufgabe wird es sein, den Fortgang des Minenbetriebs zu gewährleisten, sodass die gesetzestreue Minderheit, diese tüchtigen Männer, die arbeiten wollen, dies tun können, ohne eingeschüchtert oder bedroht zu werden. Genauso wichtig ist es, der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass die Polizei die Lage unter Kontrolle hat, denn die Stimmung ist so aufgeheizt, dass jederzeit Gewalt ausbrechen kann.«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich.

»Wir müssen damit rechnen, dass sich der Streik in den nächsten Wochen ausbreiten wird wie eine ansteckende Krankheit«, fuhr er fort. »Je länger er andauert, desto schwieriger wird unsere Aufgabe sein. Wir bereiten uns zwar schon seit Monaten auf diese Situation vor, aber unsere Gegner sind wild entschlossen. Sie sind auf Konfrontation aus. Sie wollen die Regierung in die Knie zwingen. Unsere wirklichen Gegner sind ihre Anführer, aber die verstecken sich hinter den ungebildeten Horden, die wie Schafe hinter ihnen herrennen.«

»Ungebildete Horden?«, sagte Annie leise. »Schafe? Wie redet er da über meinen Vater, schließlich ist er auch einer der Kumpel!«

Paul beugte sich zu ihr herüber. »Hör nicht auf diesen Trottel«, murmelte er.

Annie unterdrückte nur mit Mühe ihren Ärger, während der Chief Constable fortfuhr.

»Wir rechnen mit Streikposten aus Wales und anderen Regionen. Diese Gangster …« Er machte eine Kunstpause, um seine Worte wirken zu lassen. »Sie kommen angereist, um die Zahl der Streikenden zu erhöhen, die die Minen in Yorkshire lahmlegen wollen. Das sind gefährliche Männer, professionelle Agitatoren. Sie sind auf Streit aus, und wir sind aufs Schlimmste gefasst.«

Am Ende seiner Rede neigte er kurz den Kopf, und die Anwesenden spendeten begeistert Applaus. Als Nächstes trat ein Vertreter des staatlichen Kohleunternehmens National Coal Board ans Mikrofon. Mit wenig Überzeugungskraft sprach er von den sozialen Folgen des Arbeitskampfs und davon, wie wichtig es sei, sich angesichts dieser zu allem entschlossenen Gegner vereint zu zeigen. Er beendete seine Rede mit einem Witz über einen Engländer, einen Iren und einen Schotten.

Auch während des Dinners war William eine gefragte Person. Immer wieder wollte jemand mit ihm reden, und zwischen den einzelnen Gängen saß er nur selten an seinem Platz. Paul bemühte sich zwar, Annie zu unterhalten, aber auch er musste seine Aufmerksamkeit immer wieder anderen zuwenden. Annie stocherte lustlos in ihrem Essen herum und nippte an ihrem Wein. Die Kellner schenkten unentwegt nach, sodass sie irgendwann den Überblick verlor, wie viel sie getrunken hatte. Sie hatte das Gefühl, als befände sie sich in einer Luftblase, gefangen im Zeitlupenmodus, während um sie herum hektische Betriebsamkeit herrschte.

Die Leute sprachen so schnell, dass sie ihnen nicht mehr folgen konnte. Immer wieder tauchte ein anderes Gesicht vor ihr auf, dessen Mund sich bewegte, und verschwand wieder. Benommen lächelte sie unzählige Menschen an, deren Namen und Gesichter sie sogleich wieder vergaß. Ein seltsames Gefühl der Einsamkeit befiel sie.

Als die Kellner nach dem Dinner die Tische abräumten und die Gäste grüppchenweise zusammenstanden und rauchten, betrat die Band die Bühne und begann zu spielen. Annie tanzte zuerst mit William, dann mit einem alten Mann mit silbrigem Haar, der nach Zigarren roch, und schließlich mit einem dickbauchigen Mann, der sie so dicht an sich drückte, dass sie seinen ranzigen Atem roch. Als der Chief Constable sie um den nächsten Tanz bat, gab Annie ihm glattweg einen Korb. Sie ging durch die Doppeltür in das mit Marmor ausgestattete Hotelfoyer, um sich auf der Toilette den Geruch ihrer Tanzpartner von den Händen zu waschen. Anstatt anschließend wieder in den Ballsaal zurückzukehren, folgte sie den metallenen Hinweisschildern in Form kleiner Hände, die an der Wand angebracht waren und den Weg zur Bar wiesen. Ihr war schwindelig, und sie war unsicher auf den Beinen. Ein-, zweimal stieß sie mit der Schulter gegen die Wand und musste sich mit der Hand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie wollte ein großes Glas Wasser mit Eiswürfeln bestellen und sich damit in eine ruhige Ecke setzen, wo sie sich eine Weile ungestört ausruhen konnte, bis sich der Schwindel und das Getöse in ihrem Kopf wieder gelegt hätten.

Die Bar befand sich im hinteren Teil des Hotels. In dem länglichen Raum herrschte ein gedämpfteres Licht als im Ballsaal. An der einen Seite zog sich der Tresen die komplette Wand entlang. Dahinter stand ein junger Barmann, die Ellbogen aufgestützt, das Kinn in den Händen. An der gegenüberliegenden Seite führte eine Tür auf einen Balkon hinaus, der von Hunderten kleinen Glühbirnen erleuchtet war und auf den Garten und das Tal blickte, das sich unterhalb des Moors ausbreitete. An die Lehnen der Stühle im Raum, die um die Tische standen, waren Luftballons gebunden. Da beide Flügel der Balkontür geöffnet waren, war es kühl in der Bar. Ungefähr vierzig Gäste waren anwesend und lauschten dem Gesang einer jungen Frau mit Rastalocken in Jeans und T-Shirt, die, über ihre Gitarre gebeugt, auf der winzigen Bühne saß.

Annie blieb neben dem Eingang stehen und hörte nun ebenfalls der Sängerin zu, die eine Liebesballade sang. Sie fühlte sich müde, so schrecklich müde, dass sie wünschte, sie könnte sich einfach auf den Boden sinken lassen und einschlafen. Sie lehnte sich an die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Sie war sich sicher, dass es nur für einen Moment war, aber als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie geradewegs in das Gesicht von Tom Greenaway.

»Annie«, sagte Tom und wirkte ebenso erschrocken wie sie.

»Du!«, rief sie aus und hob die Hand, als wollte sie ihn schlagen, doch er hielt sie am Handgelenk fest.

»Sei nicht albern«, sagte er, »und mach keine Szene.«

»Sag du mir nicht, was ich tun soll!«, entgegnete sie, und die Leute am nächstgelegenen Tisch sahen zu ihnen herüber. »Und wage es nicht noch einmal, mir Blumen zu schicken oder Briefe oder dir sonst irgendwelche Tricks einfallen zu lassen!«

»Komm, wir setzen uns an einen Tisch und reden.«

»Ich will nicht mit dir reden. Nimm deine Hände weg von mir!«

Sie wollte zurückweichen, verlor aber auf ihren hohen Absätzen das Gleichgewicht und wäre beinah hingefallen, hätte er sie nicht gehalten.

»Wenn du so weitermachst, werfen sie uns noch raus«, meinte Tom.

»Ich wundere mich, dass man dich überhaupt reingelassen hat! Weiß man hier, wer du bist?«

»Annie, beruhige dich, sei einfach …«

»Ich habe gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen!«, schrie sie.

»Alles in Ordnung, Miss?« Ein junger Kellner trat zu ihnen.

Annie öffnete den Mund, um ihn aufzufordern, Tom hinauszuwerfen, doch im selben Moment stiegen all die Emotionen, die in ihr tobten, ihre Wut, der Schmerz und die Enttäuschung, in einer Welle der Übelkeit in ihr hoch.

Sie bedeckte ihren Mund mit beiden Händen.

Mit panischem Blick sah sie zu Tom auf, der auf der Stelle begriff, was mit ihr los war.

»Ich kümmere mich um sie«, sagte er zu dem Kellner, und der junge Mann entfernte sich schnell.

Tom legte den Arm um ihre Taille – sie war zu schwach, um sich dagegen zu wehren – und führte sie, sie halb ziehend, halb tragend, quer durch die Bar und auf den Balkon hinaus. Kalte Nachtluft schlug ihr entgegen. Mit beiden Händen umklammerte sie das Balkongeländer, beugte sich vor und übergab sich. Sie hörte, wie das Erbrochene unten auf die Büsche klatschte.

»Oh Gott!«, wimmerte sie.

»Ist schon gut.« Mit der einen Hand hielt Tom ihr das Haar im Nacken zurück, während er sie mit der anderen stützte.

Als er merkte, dass ihr noch immer schlecht war, führte er sie die schmiedeeiserne Wendeltreppe in den Hotelgarten hinab. Unten beugte sie sich erneut nach vorn und übergab sich in ein Blumenbeet. Tom hielt sie noch immer. Er rieb ihr sanft den Rücken, aber sie stieß seine Hand weg. Als die Übelkeit allmählich nachließ, überkamen sie ein Gefühl der Schwäche und der Drang, hemmungslos zu weinen. Doch Annie war entschlossen, sich keine weitere Blöße zu geben.

»Geht es dir ein bisschen besser?«, fragte Tom.

Annie nickte. Er reichte ihr eine Papierserviette, und sie wischte sich damit über den Mund. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, legte er ihr seine Jacke um die Schultern.

»Lass dir Zeit. Atme die frische Luft ein.«

»Hör auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln.«

»Ich wollte dir nur helfen.«

»Die Zeiten sind vorbei.« Sie warf einen besorgten Blick zum Hotel zurück. »Hat es jemand gesehen?«

»Ich glaube nicht. Komm, gehen wir aus dem Licht, bis du dich wieder erholt hast.«

Sie ließ sich von dem Blumenbeet wegführen. Der Gartenweg war von hohen Rhododendronbüschen gesäumt, deren Blätter im Wind raschelten. Annie zitterte wie Espenlaub. Weiße Atemwolken bildeten sich vor ihrem Mund. Frierend zog sie die Jacke enger um sich. Sie war weich, abgetragen und roch nach einem Leben in freier Natur. Sie roch nach Tom.

Sie gelangten zu einer verschnörkelten schmiedeeisernen Bank, und sie setzte sich. Er blieb neben ihr stehen.

»Was machst du hier? Verfolgst du mich?«, fragte sie.

»Natürlich nicht.«

»Woher wusstest du dann, dass ich hier bin?«

»Ich wusste es nicht. Ich war bereits in der Bar, als du hereingekommen bist. Die Sängerin ist eine Bekannte von mir. Sie wohnt in der Wohnung unter meiner in der Occupation Road.«

»Oh.« Annie atmete langsam aus. »Weiß sie, wer du bist? Was du getan hast?«

»Sie kennt die Wahrheit.«

»Dass du eine alte Frau getötet hast?«

»Ich habe niemals jemandem etwas zuleide getan. Ich weiß, dass es dir schwerfällt, das zu glauben, aber …«

»Wie sollte ich dir glauben, Tom Greenaway, wo doch jedes Wort aus deinem Mund gelogen ist.« Annies Stimme war zusehends lauter geworden, doch nun sank sie fröstelnd in sich zusammen. »Geh weg!«, sagt sie. »Lass mich allein.«

»Ich kann dich in diesem Zustand nicht allein lassen.«

»Ich bin in den letzten zehn Jahren sehr gut ohne dich zurechtgekommen.«