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1.

Als Kind sagte Dorst die Wahrheit. Wenn die Mutter ihn fragte, schmeckt es, sagte er oft ja. Manchmal auch nein. Dann konnte es passieren, daß sich die Augen der Mutter mit Tränen füllten. Das tat Dorst leid, aber er konnte ja nichts dafür. Er sagte dann, tut mir leid, Mami.

Schlimmer war es, wenn Omi fragte, und hast du denn deine Omi lieb, Spätzchen. Omi hatte eine laute Stimme, jammerte über Wasser in den Beinen und küßte Dorst zum Abschied gern auf die Lippen. Nein, sagte Dorst, nicht so doll. Omi tat so, als hätte sie nicht verstanden, und legte den Kopf schräg. Nein, sagte Dorst laut und deutlich. Omi ließ die Kaffeetasse auf den Tisch fallen und verbrühte sich. Sie rief nach der Mutter, und die Mutter sagte, sicher hat er dich lieb, Kinder können das nicht so ausdrücken. Gell, Schatz, du hast Omi lieb, und sie legte einen Arm um Dorst und führte ihn aus dem Wohnzimmer.

Als Peter in der Schule auf seiner Geige ein Stück vorspielte, fragte die Lehrerin die Kinder, hat er das nicht gut gemacht. Ja, sagte Dorst, aber er machte dabei immer so ein komisches Gesicht. Die anderen Kinder lachten. Peter lachte nicht. Dorst bekam eine Strafarbeit auf und einen Brief für die Mutter mit nach Hause. Darin stand, Ihr Kind ist taktlos und hat wenig Gefühl für andere. Bald merkte Dorst, daß niemand die Wahrheit mochte. Er beschloß, von nun an nicht mehr die Wahrheit zu sagen. Also schwieg er. Seitdem knackte sein Kiefergelenk beim Gähnen.

Später mit Elner versuchte er es noch einmal. Sie saßen zusammen unter ihrer Kamelhaardecke und tranken heißes Kräuterblut. Dorst öffnete und schloß den Mund vorsichtig, um das Knacken zu vermeiden, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ist dir zu heiß, fragte Elner und schlug die Kamelhaardecke zurück. Ich muß los, sagte Dorst. Elner wußte, daß seine Wohnung leer und die Arbeit getan war. Warum denn jetzt noch, sagte sie. Es wird Zeit, sagte Dorst. Er stellte seine Tasse auf einen Bücherstapel. Nicht auf die Bücher, sagte Elner. Er warf sie auf den Boden, nicht heftig, beinahe behutsam. Sie kreiselte hohl über das Parkett, ohne Schaden zu nehmen. Elner richtete sich auf, stellte beide Füße auf den Boden und schloß die Augen. Dann schrie sie. Was willst du eigentlich, schrie sie, du Arschgesicht. Dorst staunte. Ja, guck nur. Du glaubst wohl, du könntest nach Belieben kommen und gehen. Pension Elner, liebevolle Betreuung ohne Aufschlag, Frühstück bis zehn. Gib den Schlüssel her. Der Herr will frische Luft schnappen, und ich sitz dann allein da. Mitkommen darf man auch nicht. Rück sofort den Schlüssel raus. Dann haben wir wenigstens beide unsere Ruhe. Elner, sagte Dorst, hob die Tasse auf und stellte sie auf eine Armlehne. Jetzt bin ich dran, schrie Elner. Du findest das wohl interessant, so rätselhaft. Für mich ist es nur Scheiße, aber daran denkst du ja nicht mal im Traum. Du hast keine Ahnung, was ich träume, sagte Dorst. Es ist mir egal, schrie Elner. Gib den Schlüssel her. Ich könnte genausogut mit einem Kater zusammenleben. Was ich brauche, ist dir egal. Sie hatte jetzt beide Hände auf die Knie gelegt und zu Fäusten geballt.

Egal nicht, sagte Dorst und versuchte die Wahrheit zu sagen. Es ist einfach zu stickig, ich muß los. Stickig, schrie Elner, stickig. Dann hau ab und laß dir den Wind um deine Scheißnase blasen. Dorst ging in den Flur und sagte noch einmal, Elner. Er hörte nichts und ging.

Die Mutter, die fand, daß Dorst zuviel alleine war, schickte ihn oft zu Gregor. Manchmal wollte Gregor lieber mit anderen Jungen spielen. Aber er fragte Dorst immer, willst du mit. Wenn Dorst sich traute, schüttelte er den Kopf. Oft ging er allein weg. Er mußte nur lang genug warten, bevor er nach Hause zurückkam, damit die Mutter nicht fragte, habt ihr euch etwa gestritten. Lad doch Gregor auch mal ein.

Während er wartete, drehte Dorst eine Runde. Am Kiosk kaufte er sich drei Sauerstäbchen und zweimal Mäusespeck, die er bis zum Hallenbad unter der Zunge auflöste. Er schaute durch das Sichtfenster mit den aufgeklebten Riesenmöwen auf das Schwimmbecken und zählte die in Gummi verpackten Köpfe im Wasser. Das Wasser sah von außen schwarz aus. Dorst stellte sich vor, es wäre wirklich schwarz, und die Leute wären alle mit einem hauchdünnen schwarzen Film überzogen, wenn sie in die Umkleiden gingen. Der Bademeister war blaß und hatte einmal zu ihm gesagt, du mußt den Kopf richtig eintauchen. Sonst siehst du aus wie eine lahme Ente. Du bist ganz schön blaß, hatte Dorst gesagt. Komm mir bloß nicht dumm, hatte der Bademeister gesagt, ich merk mir dein Gesicht. Seitdem war Dorst nur noch ungern schwimmen gegangen. Der Bademeister tat immer so, als wüßte er nicht, wer Dorst sei, aber Dorst wußte, daß er nur auf eine gute Gelegenheit wartete. Hinter den Heizturbinen schaute Dorst rasch in den Müllcontainer, weil er darin einmal ein Kofferradio gefunden hatte, das noch ging. Er rannte mit geschlossenen Augen über die Hundewiese und wettete mit sich selbst, daß seine Schuhe hinterher nicht beschmiert wären. Meistens waren sie es, und er mußte sie dann mit einem Stöckchen sauberkratzen. Früher, als es auf der Hundewiese noch nicht so viele Hunde gab, hatte er dort mit Gregor Drachen steigen lassen, bis Gregors Stoffdrachen sich fast einmal in der Stromleitung verfing. Danach durften sie nicht mehr.

Er kratzte die Schuhe ab, vor allem die Rillen an den Sohlen, und zählte die Hundebesitzer. Die Doggenfrau war da und wurde von ihrem Tier so kräftig gezogen, daß sich ihr Kreuz durchbog. Die Dogge steuerte auf einen Windhund zu, der abgemagert im Gras herumschnüffelte. Die Pinschertante eilte auf die Doggenfrau zu. Den Pinscher mit einem gehäkelten Mäntelchen hatte sie unter dem Arm. Die Doggenfrau versuchte auszuweichen, aber die Dogge wollte zum Pinscher, der sich aufgeregt unter dem Griff der Pinschertante wand. Dorst ging weiter. Im Neubauviertel probierte er die Affenschaukel auf dem neuen Spielplatz aus, auf dem nie ein Kind spielte. Auch hier traf er oft die Pinschertante. Vielleicht gab es aber auch zwei Pinschertanten, oder noch mehr, und sie sahen alle gleich aus.

Die neue Tiefgarage hatte ein Seitentor, das manchmal angelehnt stand. Dorst ging hinein, stand im Halbdunkeln zwischen den stillen Autos und roch Öl. Er räusperte sich und sang mit sehr hoher Stimme eine Melodie. Dann zählte er die leeren Stellplätze und ging nach Hause. Habt ihr schön gespielt, fragte die Mutter. Ja, sagte er. Wenn du lügst, wackelt deine Nase, hatte die Mutter früher immer gesagt. Deswegen drehte er sich unauffällig zur Seite.

2.

Dorst putzt sich vor dem Spiegel die Zähne. Er fährt sich mit gewachsten Fäden in die Zwischenräume, kratzt das Weiße von der Zunge und bleckt das Gebiß zur Kontrolle. Dann fährt er in die Stadt. Die Straßenbahn füllt sich mit Gerüchen, und im Gang verkeilen sich Buggys. Jemand legt den Sportteil seiner Zeitung auf Dorsts Knie. Von hinten zupft ein Kleinkind. Die Bahn bremst ab, alle nicken mit den Köpfen. Dorst sieht trübe einen Kiosk, einen Kirchplatz, eine Fachbuchhandlung. Er beißt sich in die Knöchel.

Dorst fährt oft mit der Straßenbahn. Manchmal kauft er sich ein Tagesticket für alle Busse und Bahnen in der Stadt. Er packt eine Thermoskanne mit Zitronentee und zwei eingewickelte Schinkenbrötchen in seine Tasche und fährt alle Linien ab. Das dauert vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Er sitzt nahe bei der Tür, die Hände gefaltet auf der Rückenlehne vor ihm, und hört der elektronischen Stimme zu, die nach jedem blechernen Gongschlag nüchtern die Haltestellen verkündet.

An der Haltestelle Stadtmitte steigt er aus. Dort steht ein Mann mit einer Krücke, der um jede Hand die Griffe von zwei prallen Einkaufstüten geschlungen hat. Das Plastik schneidet in sein Handgelenk. Weil die Taschen so schwer sind, kann er die Krücke nicht heben. Er blickt sich um. Entschuldigung, sagt er zu einem dünnen Mädchen. Es dreht sich weg und zündet sich eine Zigarette an. Seine Nasenflügel weiten sich, und einen Moment lang steht er da und saugt die Luft ein. Was haben Sie denn in all den Tüten, fragt Dorst. Der Mann zuckt zusammen und dreht sich zu Dorst um. Dorst sieht, daß sein linkes Auge flüssig wie Eiweiß ist und keine Pupille hat. H-Milch, sagt der Mann. H-Milch, fragt Dorst. Die war im Angebot, sagt der Mann. Ein Liter eins zehn. Ich guck immer alle Prospekte durch. Das macht viel aus. Ja, sagt Dorst. Der Mann blickt sich wieder um. Soll ich Ihnen was tragen, fragt Dorst. Das dünne Mädchen klemmt sich Haarsträhnen hinter die Ohren und bläst Rauch auf den Fahrplan am Wartehäuschen. Nein, sagt der Mann, es muß schon so gehen. Seine Hände sind blutleer. Das wäre ja noch schöner. Er bewegt sich nicht von der Stelle.

Dorst geht durch die Innenstadt, an zwei Straßenmusikanten vorbei, die wild die Köpfe schwenken und mit den Füßen stampfen. Der Junge biegt sich um seine Gitarre, das Mädchen hat eine gelbe Geige unterm Kinn. Ihre Haare sind zu kleinen, festen Rollen gedreht, die sich wie Schwänze in die Luft sträuben. Sie wippen im Takt. Dorst wippt auch. Oft setzt er sich beim Gehen selbst einen Takt und pfeift leise dazu. Im Takt der Geigentöne und des schepprigen Gitarrenschlags bewegt er sich durch die Fußgängerzone.

Elner liebte das Sitzen. Sie konnte es stundenlang, verlagerte nur gelegentlich den Schwerpunkt, indem sie die Beine unter den Leib zog oder die Füße hochlegte. Sie hatte um das Sofa und die alten Sessel alles Nötige so angeordnet, daß sie nur die Hand danach auszustrecken brauchte. Nicht daß sie träge war; wenn sie Dinge erledigen wollte oder wandern ging oder kochte oder durch die Stadt eilte, war sie behende und hatte einen beherzten Schritt. Sagte Dorst. Du hast so einen beherzten Schritt, sagte er zu ihr, wenn sie nebeneinander liefen. Da sie ihre Zehen beim Laufen nicht einrollte wie er, konnte sie mit der ganzen Fußsohle auftreten und sich mit den Zehenspitzen abstoßen.

Aber wenn sie saß, dann saß sie, unverrückbar und behaglich. Dorst mußte irgendwann los und versuchte sie aufzuscheuchen. Du missionierst wieder, sagte sie. Im Namen der Beweglichkeit. Besser als im Namen von sonstwem, sagte er. Komm doch mal zur Ruhe, sagte sie, du brauchst einen ruhenden Pol. Ich muß los, sagte er nur.

Du hast Ameisen im Hintern, hatte seine Mutter immer gesagt. Ganz schlimm ist das. Mädchen sind da ganz anders. Die widmen sich einer Sache ganz und gar. Sie konnte nicht wissen, daß er stundenlang in der Tiefgarage stand und sang. Oder wie geduldig er den anderen aus seinem Versteck beim Fußballplatz zusehen konnte. Nur wenn seine Mutter sagte, jetzt machen wir beide es uns mal richtig gemütlich, dann hielt er es nicht lange neben ihr aus. Er versuchte es, setzte sich so dicht neben sie, wie sie wollte, und ließ sie ihre Nase in sein Haar stecken. Aber nach einer Zeit wollte er zu Gregor oder seine Runde drehen. Du willst doch immer, daß ich zu Gregor gehe, sagte er in die Stille hinein. Dann ließ sie sofort ihren Arm sinken, den sie um seine Schultern gelegt hatte, und sagte, na los. Sie sagte es munter, aber Dorst bemerkte das Zittern in ihrer Stimme.

Der einzige ruhende Pol in der Stadtmitte ist die Honigfrau. Ihr kleiner Laden liegt in einer Seitengasse und ist unglaublich altmodisch. Als Dorst noch als Stadtführer arbeitete, führte er ganze Horden von Amerikanern, Japanern oder Berlinern in den Honigladen, und sie kauften alles leer. Die Honigfrau hielt den Überfällen mit Gelassenheit stand. Für das Geschäft waren sie gut. Niemand weiß, wie lange der Laden noch bestehen wird. Die Honigfrau macht keine Werbung. Man kennt sie, oder man kennt sie nicht. Außen am Laden hängt ein kleines, handgeschriebenes Schild, das man nur sieht, wenn man danach Ausschau hält.

Als Dorst eintritt, wird ihm für den Bruchteil einer Sekunde schwindelig in der Wärme des bittersüßen Wachsgeruchs. Er schließt kurz die Augen und wartet darauf, den Schritt der Honigfrau auf dem Linoleumboden zu hören. Wenn keine Kunden da sind, sitzt sie im hinteren Teil des Ladens, der durch einen gewürfelten Vorhang abgeschirmt ist. Dorst weiß nicht, was sie dort tut. Er stellt sich vor, daß sie Tee trinkt oder Honigwaben auskratzt. Vielleicht liest sie aber auch einfach nur Zeitung oder guckt vor sich hin. Als er die Augen öffnet, steht sie schon hinter der Theke. Sie ist eine zähe kleine Person mit ledrigem Gesicht und blanken Augen. Dorst weiß nicht, wie alt sie ist, und glaubt nicht, daß sie jemals ein junges Mädchen gewesen ist. Sie sagt nie mehr als nötig, und ihre Stimme ist ausgetrocknet.

Morgen, sagt Dorst. Ebenso, sagt sie, nicht überrascht, da sind Sie ja. Es gibt keine Auslage und keine Dekoration. Lange Reihen mit Honiggläsern stehen auf beschichteten Spanbrettern, darüber Honiglikör, in drei großen Glasbehältern neben der Kasse die Bienenwachskerzen. Sonst nichts. Die Honigfrau holt die geriffelten Holzstäbe, die Dorst für die Honigprobe braucht. Den Rapshonig hatten Sie letztes Mal, sagt sie und gibt ihm ein Stäbchen. Sonnenblume? Vielleicht Schwarzwaldtanne, sagt Dorst und reicht ihr ein Glas. Sie öffnet langsam den Schraubverschluß, der sich schmatzend vom Gewinde löst, und hält ihm das Glas hin. Er taucht den Stab in den leuchtenden Honig, zwirbelt ihn zwischen Zeigefinger und Daumen und schiebt ihn in den Mund. Wunderbar, sagt er. Etwas bitter. Die Honigfrau versteht den Befund so, wie er gemeint ist, und legt stolz den Kopf zur Seite. Sie wissen schon, sagt Dorst. Zweimal, sagt die Honigfrau, nimmt das Glas und schwingt es leicht, bis der Honig zähe Wellen schlägt. Dann stellt sie es wieder zurück. Im Frühling hab ich wieder den Flieder, sagt sie. Da müssen wir wohl noch warten, sagt Dorst und schaut auf ihre Hände, die zwei Gläser mit Tannenhonig in Papier einschlagen, erst einen Bogen, dann noch einen Bogen quer. So ist es, sagt sie, stellt das Paket neben die Kasse, schaut durch das ungeputzte Fenster auf die Gasse und streicht sich das Hauskleid glatt. Was sie wohl nach Feierabend trägt? Oder am Wochenende. Dorst stellt sie sich in einem alten Frottee-Bademantel vor. Hosen sind undenkbar, Jogginganzüge erst recht.

Und Herr Hubert, sagt er. Ach Sie wissen ja, sagt sie. Er will nicht mehr. Und kann’s nicht lassen. Dorst hat Herrn Hubert noch nie gesehen. Vielleicht liegt er hinter dem gewürfelten Vorhang und tut keinen Mucks. Spricht er, fragt Dorst. Nur, wenn ich mit der Jahresabrechnung komme, sagt die Honigfrau, die zeige ich ihm. Dann sagt er was. Sie wissen ja. Im Rechnen war ich noch nie gut. Dorst nickt, und beide lächeln. Aber Ihre zwei Honig, die krieg ich noch gerechnet, sagt sie. Dorst schaut in die blanken Augen und bezahlt. Den Honig packt er in die Tasche. Und wenn Sie ein Geschenk für Ihre Verlobte brauchen, sagt die Honigfrau. Dorst will ihr fast von Elner erzählen, wie jedesmal, und tut es nicht. Bis zum nächsten Mal, sagen beide gleichzeitig. Dorst stößt die Tür auf, die immer schabt, und tritt auf die Straße.

3.

Als Dorst sieben war, hungerte sich sein Vater zu Tode. Er war lange im Krankenhaus gewesen, kam endlich nach Hause, sehr blaß und mit unbeweglichem Gesicht, und ging am Arm der Mutter in sein Arbeitszimmer, wo sie das Gästebett für ihn gerichtet hatte. In diesem Zimmer blieb er. Aber wo soll dann der Besuch schlafen, fragte Dorst, als der Vater sich auf dem Bett ausgestreckt hatte. Es kommt kein Besuch, sagte die Mutter. Tante Lollo soll kommen, sagte Dorst. Tante Lollo kommt nicht, und Omi auch nicht. Die soll auch nicht kommen, sagte Dorst. Wann kommt denn Tante Lollo wieder, fragte er. Später, sagte die Mutter, und jetzt ist Schluß, hör auf. Tante Lollo brachte Dorst Lieder bei, die er in der Tiefgarage singen konnte, und fragte nie, ob er sie lieb hatte.

Die Tür zum Arbeitszimmer war immer geschlossen. In den ersten Tagen durfte Dorst manchmal hinein und stellte sich neben das Gästebett, auf dem sein Vater unbeweglich lag. Die Luft war stickig. Der Vater sprach nie als erster, er sah Dorst nicht einmal richtig an. Soll ich dir was vorsingen, fragte Dorst. Oder ich hole was zum Spielen. Der Vater sagte, du mußt nicht hier herumstehen, geh ruhig zu deinen Sachen. Bist du bald wieder gesund, sagte Dorst. Nein, sagte der Vater. Er sagte jedesmal nein auf diese Frage, und jedesmal fing Dorst an zu weinen. Ich sag dir nur die Wahrheit, sagte der Vater, das muß ein großer Junge schon ertragen können. Ich will aber, weinte Dorst, daß du jetzt mit mir spielst. Tante Lollo soll kommen. Du kannst nicht immer auf dem Gästebett liegen. Einmal rief er, du bist faul. Jedesmal kam seine Mutter dazu und schickte ihn aus dem Zimmer. Bald war die Tür abgeschlossen. Dorst hörte Würgen, es ging durch die Wände. Er wollte es gar nicht hören, er preßte sich Kissen gegen die Ohren. Nachts wachte er davon auf. Wenn er aus der Schule kam, war das Mittagessen oft noch nicht fertig. Ißt Vati auf dem Bett, fragte er. Er ißt gar nicht, sagte die Mutter, er ist zu krank. Hat er nicht riesigen Hunger, ich bringe ihm was. Du bringst ihm nichts, sagte die Mutter, komm mal her, und sie wollte ihn umarmen. Er wich aus, ich geh zu Gregor. Sei bitte zum Abendessen wieder da, sagte die Mutter, bitte. Wenn Vati nichts ißt, will ich auch nichts, sagte Dorst.

Nach der Schule ging er nun manchmal gleich zu Gregor, oder er drehte seine Runde. Jeden Morgen vor der Schule brachte er für den Vater ein Opfergeschenk an den Geheimplatz hinter der großen Alutonne. Manchmal saure Stäbchen, ein Wunderei, einmal sogar ein altes Spielzeugauto und ein Playmobilpferd ohne Sattel. Er legte das Opfergeschenk zwischen den Löwenzahn, faltete die Hände und drückte die Augen so fest zu, daß er orangene Striche sehen konnte. Das war ein Zeichen, daß er gehört wurde und seine Wünsche sagen durfte. Einmal durchzog ein Flugzeug, ganz hoch oben, langsam und lautlos den Himmel und zeichnete einen weißen Streifen. Da sagte Dorst deutlich, mach, daß Vati weg ist. Sofort erschrak er. Ich meine, aus dem Gästezimmer weg, sagte er schnell. Er schaute sich um, wußte aber nicht, bei wem er sich entschuldigen sollte.

Als er mittags nach Hause kam, war alles wie immer. Die Wohnung roch säuerlich, er hörte würgendes Husten. Du fährst bald zur Omi, sagte seine Mutter beim Mittagessen, das wässrig schmeckte, und ihr macht schöne Sachen zusammen. Zur Omi, sagte Dorst, nein, will ich nicht. Ich hab doch Schule. Frau Bries weiß Bescheid, sagte die Mutter. Wieder versuchte sie ihren Arm um ihn zu legen. Über Vati, er ist so krank. Du sollst lieber mit Omi etwas Schönes erleben. Ich will nicht zur Omi, sagte Dorst, ich will hierbleiben und Vati gesund machen. Die Mutter bekam zittrige Lippen. Dorst wollte auf ihrem Schoß sitzen, aber er lief in sein Zimmer und kippte alle Playmobilkisten auf dem Boden aus. Als das Würgen wieder anfing, haute er mit beiden Händen auf sein Bett und schrie, so laut er konnte.

Am nächsten Tag hatte die Mutter seinen Koffer und den kleinen Rucksack mit dem Bären gepackt, den er nicht mehr mochte. Ihre Lippen zitterten, und das Weiße in ihren Augen war rötlich. Ich fahr dich zur Omi, sagte sie. Mein Playmobil, sagte Dorst. Die Mutter bückte sich, raffte einen ganzen Armvoll Playmobil zusammen und stopfte alles in den kleinen Rucksack. Dann nahm sie Dorsts Kopfkissen, riß den Kissenbezug herunter und schaufelte noch mehr Playmobil hinein. Dorst stand an der Heizung und wartete. Ich sage Vati tschüß von dir, sagte die Mutter mit einer fremden, gepreßten Stimme, klemmte sich Koffer, Rucksack und Kissenbezug unter den Arm und nahm Dorst am Handgelenk.

4.

Tante Lollo war dick und wohnte in England. Sie trug weite Kleider, aus denen ihr Kopf herausragte wie ein fröhlicher Kürbis, und Holzklotschen, die den Schritt auf dem Fliesenboden hallen ließen wie Hufeklappern. Sie kam selten zu Besuch, aber Dorst wohnte zwei Sommer bei ihr. Seine Eltern brachten ihn hin und fuhren weiter, um gotische Kathedralen zu fotografieren. Dorst durfte bleiben, schüttete sich morgens Schokoladenstreusel auf den Toast und ging jeden zweiten Tag, ohne ein Wort zu verstehen, ins Kinderkino. Tante Lollo fragte ihn nie, was er später werden wollte. Wenn er sie fragte, Tante Lollo, was hast du für einen Beruf, dann sagte sie, welchen Beruf findest du denn gut. Dann sagte er, Lokführer oder Tierarzt oder Dschungelarzt oder Orgelspieler, und sie sagte, genau, das bin ich. Sie erzählte ihm Geschichten von todesmutigen Lokführern oder von dem Tierarzt, der sich mit einem Löwen anfreundete. Wenn er für die Playmobilmenschen Burgen baute, ließ sie sich auf ihre ballförmigen Knie nieder und saß wie ein freundliches Zelt neben ihm auf dem Teppich. Sie konnte kleine Teigzylinder mit Rosinen backen und holte an verregneten Tagen Plastiktüten mit feuchtem Sand aus dem Park. Die Tüten leerte sie in der Küche aus, und Dorst baute daraus Landschaften. Wenn das Telefon klingelte, meldete sie sich mit einer hohen, aufgeregten Stimme und kicherte viel. Sie ging fast nie aus dem Haus, aber ihre Backen waren immer rot.