Theodor Fontane


Meine Kinderjahre

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-945667-24-8


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Kapitel 18 - Das letzte Halbjahr



Inzwischen war der Herbst herangekommen, ohne daß sich mein Gemüth, in der Zwischenzeit, sonderlich beruhigt hätte. Wohl hatte ich Stunden, in denen ich's leichter nahm, aber die Furcht kam immer wieder und da sich Waffenniederlegung und ähnlich Muthloses nicht empfahl, weil es mir den ersehnten Straßenfrieden doch nicht eingetragen haben würde, so war ich, wider meinen Willen gezwungen, mich mit neuen Plänen zu beschäftigen, um in ihnen vielleicht Hilfe zu finden. Ich sann hin und her und fand schließlich zu meiner Beschämung, daß ich, wenn ich mich halten wollte, gezwungen sein würde, die Fortdauer meiner Herrschaft in einer außerhalb meiner Truppe liegenden Hilfsmacht zu suchen, also nach dem Beispiele meiner proletarischen Feinde zu verfahren, die ganz ersichtlich begonnen hatten, sich auf die großen Schiffsjungen mit ihren rothweißblaugeränderten Matrosenmützen zu stützen. Ich ging diesem Gedanken eine ganze Weile nach und weil mir solch Kraftmaterial in meinem Schul- und Freundeskreise nicht zuwuchs, so half nur eines: Anwerbung, Gründung eines Söldnerheers. Das erforderte natürlich Geld. Aber davor erschrak ich nicht; die gute Schröder, so sehr sie den "Unsinn" mißbilligte, wäre doch schließlich gütig genug gewesen, aus ihren eignen Mitteln alles Nöthige herzugeben, und wenn mein Plan trotzdem unausgeführt blieb, so lag dies nur daran, daß mir seine Durchführung, als ich dicht davor stand, doch auch wieder gegen die Soldatenehre war. Ich hatte durch Jahr und Tag hin geglaubt, in erster Reihe durch mich selbst und zum zweiten durch allerlei kleine Künste, denen ich die stolzesten Namen gab, eine Machtstellung einnehmen zu können. Das erschien mir als etwas Besonderes. Blieb mir dies aber in alle Zukunft hin versagt, so hatte das Andre keinen Werth mehr für mich und war auf die Dauer voraussichtlich auch nutzlos. Jedes von der andern Seite her bewilligte Glas Wacholder konnte mich sofort wieder übertrumpfen und die Frage zum zweiten Mal zu meinen Ungunsten entscheiden. So ließ ich denn, nur noch sehr selten von einem Hoffnungsschimmer neu belebt, die Dinge gehen, wie sie gehen wollten, bis ein kleines Ereigniß auch den letzten Rest von Zuversicht in mir tilgte.

November war da und die kleinen Wasserlachen, die sich um ein Wäldchen, das die "Plantage" hieß, herumzogen, waren schon überfroren. Jeden Nachmittag, gegen Sonnenuntergang, gingen wir hinaus, um auf diesen Tümpeln Schlittschuh zu laufen. Es war ein herrliches Vergnügen, das Eis blink und blank und wenn dann der Mond wie eine kupferne Scheibe aufging und sein seltsames Licht durch die Erlen und Binsen warf, die den Tümpel einfaßten, so wurde ich jedesmal von einem geheimen Schauer erfaßt. Ich gab dann das Holländern und das Buchstabenmachen (immer ein lateinisches E) auf etliche Minuten auf und sah in den Mond. Einmal, als wir zu Dreien oder Vieren auch wieder diese Stelle besuchten, trafen wir schon ein paar andere Jungen da, Schifferjungen, etwas älter als wir, aber nicht viel. Alle trugen hohe Stiefel, drin die Hosen steckten, dazu dicke Friesjacke und Pelzmütze. Wir waren sehr unzufrieden mit der vorgefundenen Gesellschaft und schon während wir die Schlittschuhe anschnallten, fielen anzügliche Worte. Besonders der Führer der Gegenpartei war ein muffliger Junge, häßlich und stubsnäsig, und seine trotzige Art ärgerte mich so, daß ich auf ihn zufuhr und ihn in einen dicht neben uns anfragenden Erlenbusch werfen wollte. Aber es mißglückte. Entweder ich glitt aus oder er war stärker als ich, kurzum ich kam zu Fall und lag nun zu seinen Füßen. Er nahm weiter keine Notiz davon, sah nur sehr überlegen auf mich 'runter und setzte dann seinen Eislauf ruhig fort, immer in meiner Nähe bleibend. Ich war wieder aufgesprungen und "meine heilige Schar" rieth mir zum zweiten Mal auf den Jungen loszugehen und die Scharte auszuwetzen; ich wagte es aber nicht mehr, - in dem Riedgras, neben dem Erlenbusch, wo ich zu Fall gekommen war, lag der letzte Rest vom Stolz meiner Jugend begraben. Ich war, vielleicht in kluger Wahl meiner Gegner, bis dahin immer Sieger geblieben; hier hatte mich zum ersten Mal eine Niederlage getroffen und so getroffen, daß an eine Wiederaufnahme des Kampfes gar nicht zu denken war. Ich schnallte meine Schlittschuh ab und ging still vom Eise fort, selbst den Racheblick unterlassend, mit dem sonst wohl solche Rencontres zu enden pflegten.

In schwermüthiger Verfassung kam ich zu Hause an und nahm hier den oft gehegten und immer wieder verworfenen Gedanken einer Abdikation mit neuer Lebhaftigkeit auf. Es sollte sich aber, so war mein Plan, alles geräuschlos vollziehen, ohne Gespräch darüber und namentlich ohne Vernichtung irgend eines Stücks in der Waffenkammer; nur Spinnweb mochte sich darüber hinziehen. Jeder auf Wiedergewinn meiner Herrschaft abzielende Gedanke war aufgegeben, so ganz und gar, daß ich Begegnungen nach Möglichkeit vermied und mich etwas ängstlich an den Häusern entlang drückte. Schrecklicher Zustand. Ich war mit einem Male ganz klein geworden und fühlte mich geradezu unglücklich. Der mufflige Bengel stand immer vor meinen Augen. Unter gewöhnlichen Verhältnissen wäre solch elendes Leben ganz unerträglich für mich gewesen. Aber glücklicherweise, die Verhältnisse waren inzwischen andere geworden und änderten sich mit jedem Tage mehr. Abgesehen davon, daß Weihnachten vor der Thür stand und mich momentan wenigstens zerstreuen konnte, begann sich auch mehr und mehr Alles um meinen bevorstehenden Abgang zu drehn, an den ich jetzt mit Begierde dachte. Nicht daß es mir zu Hause nicht mehr gefallen hätte, fast im Gegentheil; die Eltern waren von besonderer Güte, aber das Bewußtsein, daß die Zeit hin sei, wo die "Blinden in Genua auf meinen Schritt gehört", hatte mich allmählich um die Möglichkeit jeder echten und rechten Freude gebracht und ich zählte die Stunden, die mich von der Stelle meiner, wenn ich nicht ginge, sich sicherlich immer aussichtsloser gestaltenden Kämpfe hinwegführen sollten.

Am 30. Dezember war mein Geburtstag. Ich erhielt diesmal nicht blos viele, sondern für unsere kleinen Verhältnisse sogar sehr werthvolle Geschenke: Schellers Lexikon, Stielers Atlas, Beckers Weltgeschichte, sämmtlich noch jetzt in meinem Besitz und sehr von mir gehegt. Mein Dank war groß und aufrichtig; aber das Beste war doch, daß mich die diese Geschenke begleitenden Ansprachen auf meinen Abgang von Hause verwiesen. "Das Alles erhältst du wie eine Aussteuer, weil du fort mußt," so etwa hieß es und statt traurig über diese Veranlassung zu sein, war ich froh darüber.

* * *

Tags darauf war Sylvester und Ressourcenball und ich schwelgte während desselben in der Vorstellung, über kurz oder lang auch vielleicht mit schönen großen Damen tanzen zu können. Ich lebte so ganz in dieser Zukunftsvorstellung, daß selbst der um Mitternacht eintretende, mich sonst immer erheiternde Nachtwächter mit seinem Horn und seinem abgesungenen Vers, keinen rechten Eindruck mehr auf mich zu machen im Stande war. Und einen noch geringeren Eindruck machten die Wochen auf mich, die von Neujahr an folgten. Ich erinnere mich erst wieder der Tage kurz vor meiner Abreise, wo meine Habseligkeiten gepackt und überhaupt alle Vorbereitungen für meinen Abgang zur Schule getroffen wurden.

Es hätte dies trotz meiner durchaus auf ein "Hinaus" gerichteten Sehnsucht eine herzbewegliche Zeit sein können, aber sie war so ziemlich das Gegentheil davon, und wie mir das ganze zurückliegende Jahr, mit wenigen Ausnahmetagen, immer nur Fatalitäten, Kränkungen und Niederlagen gebracht hatte, so schloß es auch mit lauter Disharmonien und Aergernissen ab. Ich war freilich an Allem persönlich schuld, aber etwas von Schicksals Tücke spielte doch auch mit hinein.

"Du wirst nun also Abschiedsbesuche bei dem und dem machen," sagte mein Vater und übergab mir einen Zettel, darauf die betreffenden Namen standen; der letzte Name war der eines Fräuleins von Hochwächter, welche Dame mit ihrer alten Mutter im Steuerrath Königk'schen Hause wohnte. Das Fräulein war eine sehr schöne Dame, Ende dreißig, ganz Brunhilde mit Rembrandthut und Straußenfeder und selbstverständlich auch vorzügliche Reiterin. Ich hatte sie ein paar Mal gesehen, aber nie gesprochen. Da sollt' ich nun Abschied nehmen. Es war mir sehr zuwider und kurz und gut, ich unterließ es und sagte nur zu Hause "ich sei dagewesen". Alles in dem Vertrauen, daß es wohl erst herauskommen würde, wenn ich fort wäre. Kam es dann zur Sprache, so hatte das nicht viel mehr zu bedeuten. Es kam jedoch eher heraus und so hatte ich das Vergnügen, zu guterletzt noch als Lügner entlarvt zu werden. Ich schämte mich. Aber freilich wohl nicht genug.

Des Schicksals Tücke hatte mir bei dieser Gelegenheit übel genug mitgespielt, ohne sich jedoch dadurch erschöpft zu fühlen. Das Schlimmste kam vielmehr nach und fiel auf den Tag unmittelbar vor der Abreise. Meine Mutter, in unbegreiflicher Verkennung des sonst so gut von ihr gekannten Charakters meines Vaters, hatte diesen beauftragt, mir zum Abschiede noch eine Standrede zu halten und mich zur Sittlichkeit zu ermahnen. An und für sich war dagegen nichts einzuwenden und wenn meine Mutter selber die Standrede gehalten hätte, so hätte diese, wenn auch vielleicht nicht viel geholfen so doch im Augenblicke wenigstens mächtig auf mich gewirkt. Ich hätte ihr die Hände geküßt und unter Thränen ein Festhalten an dem von mir geforderten Gelübde versprochen. Aber statt ihrer trat nun mein Vater an. Er war ein sehr stattlicher und mit seinem schönen Blaubart eigentlich wundervoll aussehender Mann, der typische französische Kürassier-Offizier. All das hätte nun auf einen 12 jährigen Jungen, der sich noch dazu sagen mußte: "das ist Dein Vater", imponirend wirken müssen. Aber dies war nicht der Fall oder doch nur sehr zur Hälfte. Mein Vater, wie oft große, von besonderer Bonhommie getragene Männer, hatte einen unvertilgbar humoristischen Zug in seinem Gesicht, ein eigenthümliches Etwas, das sich gerade dann, wenn er am ernsthaftesten sein wollte, über diesen Ernst zu moquiren schien, wodurch sich das Respekteinflößende der Erscheinung wieder in Frage gestellt sah. Dieser humoristische Zug, sonst seine größte Zierde, wurde mir an diesem Abschiedstage verhängnißvoll, denn mit einem Male, während ich noch so vor ihm stand und die Sittlichkeitsermahnungen gesenkten Auges und eigentlich ohne jedes rechte Verständniß mit anhörte, grinste mich ein mir in meiner kleinen Seele sitzender Kobold, der vorhatte mich à tout prix zum Lachen zu bringen, teuflisch an. Und es gelang ihm auch. Denn mit einem Male barst es krampfhaft aus mir heraus, nicht viel mehr als ein konvulsivisches Zucken, aber doch immerhin von einem leisen Lacheton begleitet.

"Junge, ich will doch nicht glauben, Du lachst …"

"Nein, gewiß nicht, lieber Papa …"

"Nun, darum möcht ich doch auch gebeten haben."

Und nun nahm er seine Rede wieder auf, um sie - weil ihm selber wohl auch unheimlich zu Muthe war - so rasch wie möglich zum Schluß zu bringen. Ein wahres Glück. Denn wiewohl ich, mit höchster Anstrengung gegen mich ankämpfend, vor Angst und Erregung zitterte, so wär ich doch zum zweiten Male zum Opfer gefallen, wenn die Rede auch nur noch eine halbe Minute länger gedauert hätte.

"Nun geh, und vergiß diese Stunde nicht."

Und ich habe sie auch nicht vergessen. Aber nur das Schreckliche der Scene ist mir geblieben, nicht der Inhalt seiner Rede.

* * *

Am andern Tage brachen wir auf, meine Mutter und ich. Es war beschlossen, mich auf das Ruppiner Gymnasium zu bringen; dort hatten wir noch Anhang und gute Freunde, die mich, wie vor allem das Predigerhaus in das ich in Pension kam, in Obhut nehmen sollten.

Eigentlich wäre nun wohl die Reise nicht Sache meiner Mutter, sondern Sache meines Vaters gewesen und das 3tägige Kutschiren, mit Nachtquartiren in Anklam und Neu-Brandenburg, in welch letzterem man immer wundervoll zu Abend aß, würde ihm auch sehr gefallen haben; er wog aber ab zwischen angenehm und unangenehm und kam zu dem Resultat, daß das Unangenehme meiner Ablieferung in ein Prediger-, ja genauer genommen sogar in ein Superintendentenhaus, begleitet von Einführung meiner Person bei dem Direktor des Gymnasiums, doch schwerer in's Gewicht falle, als das Angenehme des Soupers in Neubrandenburg.

Und so fuhr ich denn mit meiner Mutter - die in diesen Tagen, ganz gegen ihre Gewohnheit, ungemein weich und nachsichtig gegen mich war - in die Welt hinein. Ein neuer Lebensabschnitt, der zweite, begann für mich und eh ich auch über ihn, wenn überhaupt, berichte, werf ich noch einen Blick auf das Stück Leben zurück, das mit dem Abreisetag für mich abschloß.

Es war, trotz des letzten Halbjahrs mit seinen vielen kleinen Aergernissen, eine glückliche Zeit gewesen; später - den Spätabend meines Lebens ausgenommen - hatt ich immer nur vereinzelte glückliche Stunden. Damals aber, als ich in Haus und Hof umherspielte und draußen meine Schlachten schlug, damals war ich unschuldigen Herzens und geweckten Geistes gewesen, voll Anlauf und Aufschwung, ein richtiger Junge, guter Leute Kind. Alles war Poesie. Die Prosa kam bald nach, in allen möglichen Gestalten, oft auch durch eigene Schuld.

Am dritten Tage unserer Fahrt trafen wir in Ruppin ein und nahmen, eh ich in der Pension untergebracht wurde, in einem Hause Quartier, das unserer früheren Apotheke gegenüber lag. "Da bist Du geboren" sagte meine Mutter und wies hinüber nach dem hübschen Hause, mit dem Löwen über der Eingangsthür. Und dabei traten ihr Thränen in's Auge. Sie mochte denken, daß alles anders hätte verlaufen müssen, wenn "das und das" anders gewesen wäre. Und dies "das und das" war - er. Sie war nicht gern von dieser Stelle weggegangen und ist als eine Frau von über fünfzig, äußerlich getrennt von ihrem Manne, dahin zurückgekehrt, um dort, wo sie jung und eine kurze Zeit lang auch glücklich gewesen war, zu sterben.

Der Tag nach unserer Ankunft war ein heller Sonnentag, mehr März als April. Wir gingen im Laufe des Vormittags nach dem großen Gymnasialgebäude, das die Inschrift trägt: Civibus aevi futuri. Ein solcher civis sollte ich nun auch werden und vor dem Gymnasium angekommen, stiegen wir die etwas ausgelaufene Treppe hinauf, die zum "alten Thormeyer" führte. Er war vordem Direktor in Stendal gewesen und hatte das Direktorat dort aufgeben müssen, weil er sich an einem Lehrer "vergriffen" hatte. Glücklicherweise wußt' ich damals noch nichts davon, ich hätte mich sonst halbtodt geängstigt. Oben angekommen, trat uns ein mindestens sechs Fuß hoher alter Herr entgegen, gedunsen und roth bis in die Stirn hinauf, die Augen blau unterlaufen, das Bild eines Apoplektikus - er hätte auf der Stelle vom Schlag gerührt werden können.

"Nun, mi fili, laß uns sehn … Ich bitte, daß Sie Platz nehmen, meine verehrte Frau." Und dabei nahm er einen schmudligen kleinen Band von seinem mit Tabaksresten überschütteten Arbeitstisch und sagte: "Nun lies dies und übersetze." Es waren zehn Zeilen mit einem Rothstift links angestrichen, höchst wahrscheinlich die leichteste Stelle im ganzen Buch. Ich that ganz wie er geheißen und es ging auch wie Wasser. "Sehr brav … er ist reif für die Quarta." Damit waren wir entlassen und am nächsten Montag, wo die Schule wieder anfing, setzte ich mich auf die Quartabank.

Was ich dahin mitbrachte, war etwa das folgende:

Lesen, Schreiben, Rechnen; biblische Geschichte, römische und deutsche Kaiser; Entdeckung von Amerika, Cortez, Pizarro; Napoleon und seine Marschälle; die Schlacht bei Navarino, Bombardement von Algier, Grochow und Ostrolenka; Pfeffel's Tabakspfeife, "Nachts um die zwölfte Stunde," Holtei's Mantellied und beinah sämtliche Schillersche Balladen. Das war, einschließlich einiger lateinischer Brocken, so ziemlich alles und im Grunde bin ich nicht recht darüber hinaus gekommen. Einige Lücken wurden wohl zugestopft, aber alles blieb zufällig und ungeordnet, und das berühmte Wort vom "Stückwerk", traf, auf Lebenszeit, buchstäblich und in besonderer Hochgradigkeit bei mir zu.

 

 

Inhalt



Vorwort

Kapitel 1 - Meine Eltern

Kapitel 2 - Gascogne und Cevennen - französische Vettern - unsere Ruppiner Tage

Kapitel 3 - Unsere Übersiedelung nach Swinemünde - Ankunft daselbst

Kapitel 4 - Unser Haus, wie wir’s vorfanden

Kapitel 5 - Unser Haus, wie’s wurde

Kapitel 6 - Die Stadt; ihre Bewohner und ihre Honoratioren

Kapitel 7 - Die Schönebergs und die Scherenbergs

Kapitel 8 - Die Krauses

Kapitel 9 - Wie wir in unserem Hause lebten - Sommer- und Herbsttage - Schlacht- und Backfest

Kapitel 10 - Wie wir in unserem Hause lebten (Fortsetzung) - "Große Gesellschaft"

Kapitel 11 - Was wir in Haus und Stadt erlebten

Kapitel 12 - Was wir in der Welt erlebten

Kapitel 13 - Wie wir in die Schule gingen und lernten

Kapitel 14 - Wie wir erzogen wurden - wie wir spielten in Haus und Hof

Kapitel 15 - Wie wir draußen spielten, an Strom und Strand

Kapitel 16 - Vierzig Jahre später (ein Intermezzo)

Kapitel 17 - Allerlei Gewölk

Kapitel 18 - Das letzte Halbjahr

 

 

Vorwort



Als mir es feststand, mein Leben zu beschreiben, stand es mir auch fest, daß ich bei meiner Vorliebe für Anekdotisches und mehr noch für eine viel Raum in Anspruch nehmende Kleinmalerei mich für einen bestimmten Abschnitt meines Lebens zu beschränken haben würde. Denn mit mehr als einem Bande herauszutreten, wollte mir nicht rätlich erscheinen. Und so blieb denn nur noch die Frage, welchen Abschnitt ich zu bevorzugen hätte.

Nach kurzem Schwanken entschied ich mich, meine Kinderjahre zu beschreiben, also "to begin with the beginning". Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre "stecke der ganze Mensch". Ich habe diesen Satz bestätigt gefunden, und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingültigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten. Entgegengesetzten Falls verbliebe mir immer noch die Hoffnung, in diesen meinen Aufzeichnungen wenigstens etwas Zeitbildliches gegeben zu haben: das Bild einer kleinen Ostseestadt aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts und in ihr die Schilderung einer noch ganz von Refugié-Traditionen erfüllten Franzosen-Colonie-Familie, deren Träger und Repräsentanten meine beiden Eltern waren. Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich trotzdem, vorsichtigerweise, meinem Buche den Nebentitel eines "autobiographischen Romanes" gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, daß ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert werden möchte. Für etwaige Zweifler also sei es Roman!

Theodor Fontane

Kapitel 1 - Meine Eltern



An einem der letzten Märztage des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der Löwen-Apotheke in Neu-Ruppin und ein junges Paar, von dessen gemeinschaftlichem Vermögen die Apotheke kurz vorher gekauft worden war, entstieg dem Wagen und wurde von dem Hauspersonal empfangen. Der Herr - man heirathete damals (unmittelbar nach dem Kriege) sehr früh, - war erst dreiundzwanzig, die Dame einundzwanzig Jahre alt. Es waren meine Eltern.

Ich gebe zunächst eine biographische Skizze Beider.

* * *

Mein Vater Louis Henri Fontane, geb. am 24. März 1796, war der Sohn des Malers und Zeichenlehrers Pierre Barthélemy Fontane. Was dieser, mein Großvater, als Maler leistete, beschränkte sich vorwiegend auf Pastell-Copieen nach englischen Vorbildern, als Zeichenlehrer aber muß er tüchtig gewesen sein, denn er kam zu Beginn des neuen Jahrhunderts an den Hof und wurde mit dem Zeichenunterricht der ältesten königlichen Prinzen betraut. Dies leitete sein Glück ein. Königin Luise wohnte gelegentlich dem Unterrichte der Kinder bei und alsbald an dem gewandten und ein sehr gutes Französisch sprechenden Manne Gefallen findend, nahm sie denselben als Kabinetssekretär in ihren persönlichen Dienst. Vielleicht geschah es auch auf Vorschlag des um jene Zeit überaus einflußreichen Kabinetsraths Lombard, der dabei den Zweck verfolgen mochte, seine auf ein Bündniß mit Frankreich hinarbeitende Politik, durch bei Hofe verkehrende Persönlichkeiten verstärkt zu sehen. Die Gegner waren von dieser Ernennung wenig erbaut und der national gesinnte Gottfried Schadow, damals noch nicht der "alte Schadow," schrieb in sein Tagebuch: "ein Herr Fontane, seines Zeichens Maler, ist Kabinetssekretär der Königin geworden; er malt schlecht, aber er spricht gut französisch." Ob Pierre Barthélemy, mein Großvater, in seiner Stellung Einfluß geübt oder nicht, entzieht sich meiner Kenntniß, jedenfalls, wenn ein solcher Einfluß da war, war er von kurzer Dauer; denn dem Sturze Lombard’s, der nicht lange mehr auf sich warten ließ, folgte die Katastrophe von Jena, der Hof, flüchtig werdend, ging nach Königsberg, und Pierre Barthélemy, dessen Dienste keine weitere Verwendung mehr finden konnten, erhielt, in Berlin zurückbleibend, wohl als eine Art Abfindung, das Amt eines Kastellans von Schloß Nieder-Schönhausen. Dorthin übersiedelte er nun und von hier aus besuchte mein Vater, drei Jahre lang, also wahrscheinlich bis Herbst 1809, das Gymnasium zum Grauen Kloster. Es waren harte Schuljahre, denn der weite, wenigstens anderthalb Stunden lange Weg nach Berlin erforderte, daß jeden Morgen um spätestens sechs Uhr aufgestanden werden mußte. "Winters froren wir bitterlich, und es wurde erst besser, als wir, mein älterer Bruder und ich, blaue mit postorangefarbenem Kattun gefütterte Mäntel als Weihnachtsgeschenk erhielten. Aber es erwuchs uns daraus keine reine Freude. Jedesmal wenn sich der Wind in den mit einem gleichfarbigen Kattun gefütterten großen Kragen setzte, stand uns der postorangefarbene Kragen wie ein Heiligenschein zu Häupten, und der Spott der Straßenjungen war immer hinter uns her." Es war dies eine Lieblingsgeschichte meines Vaters, der an ihr bis in sein Alter hinein festhielt und nichts davon wissen wollte, wenn ich ihm lachend von meinen eigenen, dem Vorstehenden sehr verwandten Schicksalen erzählte. "Ja, Papa," begann ich dann wohl, "so bin ich, als ich so alt war wie Du damals, auch gequält worden. Mama ließ mir um jene Zeit, ich war eben mit ihr in Berlin angekommen, Rock, Weste und Beinkleid aus einem milchfarbenen Tuchstoff machen, es war ein billiger Rest, und in der Klödenschen Schule hieß ich dann, ein ganzes Jahr lang, der "Antiquar aus der alten Post". Der trug nämlich gerade solchen milchfarbenen Anzug und war überhaupt eine Karikatur." - "Kann schon sein" schmunzelte mein Vater "so ’was ist mitunter erblich; aber Postorange war doch schlimmer, dabei muß ich bleiben. Es schrie förmlich in die Welt hinein."

Von guter Schülerschaft konnte bei den zwei Meilen Wegs, die jeden Tag zurückgelegt werden mußten, nach eignem Zeugniß meines Vaters, nicht wohl die Rede sein. Es darf aber aus dem Umstande, daß er zeitlebens selbst von einer mangelhaften Schulbildung sprach, nicht auf eine Trauer über diesen Thatbestand geschlossen werden. Beinah das Gegentheil. Er hielt es nämlich, wie viele zu jener Zeit, mit gesundem Menschenverstand und Lebekunst, oder, wie es in unserer Haussprache hieß, mit "bon sens" und "savoir faire" und war, ganz vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, nie dazu zu bringen, sich zu willfähriger Anerkennung der "homines literati" aufzuraffen. Es gab das, wenn er seinen sogenannten "ehrlichen Tag" hatte, den Tag also, wo er aus seiner sonstigen Politesse herausfiel, mitunter recht verlegene Situationen für uns Kinder, im Großen und Ganzen aber bin ich ihm doch das Zeugnis schuldig, daß er, den ihm persönlich zu Gesichte kommenden Studierten gegenüber, in neunzehn Fällen von zwanzigen immer im Rechte war. Und es konnte dies auch kaum anders sein. Er war - weil er viel Zeit hatte, leider zu viel, was für ihn verhängnisvoll wurde - von Beginn seiner Selbständigkeit an, ein überaus fleißiger Journal- und Zeitungsleser und weil er sich nebenher angewöhnt hatte, wegen jedes ihm unklaren Punktes in den Geschichts- und Geographiebüchern, besonders aber im Conversationslexikon nachzuschlagen, so besaß er, auf gesellschaftliche Conversation hin angesehn, eine offenbare Ueberlegenheit über die meisten damals in kleinen Nestern sich vorfindenden Aerzte, Stadtrichter, Bürgermeister und Syndici, die, weil sie sich tagaus tagein in ihrem Berufe quälen mußten, sehr viel weniger Zeit zum Lesen hatten. Erlitt er ’mal eine Niederlage, so gab er diese freimüthig zu, ja, pries sogar seinen Sieger, blieb aber dabei, daß es ein Ausnahmefall sei.

Und nun zurück zum Herbst 1809, wo mein Vater als Lehrling in die Berliner Elephanten-Apotheke eintrat. Diese Apotheke befand sich schon damals, wie heute noch, am oberen Ende der Leipziger Straße, jedoch nicht genau an gegenwärtiger Stelle, sondern eben dieser Stelle gegenüber, an der durch Leipziger- und Kommandantenstraße gebildeten Ecke. Bis vor wenig Jahren sah man noch den Elephanten, in Höhe des ersten Stocks, aus dem großen Eckpfeiler heraustreten, jetzt ist er fort, und nur die zahlreich über den Parterrefenstern angebrachten und an Elephantenrüsseln hängenden Gaslaternen, erinnern noch an die frühere Geschichte des Hauses.

In eben dieser Elephanten-Apotheke war mein Vater viertehalbjahr lang und verlebte diese Zeit muthmaßlich nicht gut und nicht schlecht, was ich daraus schließe, daß er über diesen Lebensabschnitt nie sprach. Vielleicht hatte dies Schweigen aber auch seinen Grund einfach in den großen Ereignissen, die folgten, so daß ihm für die voraufgegangenen Jahre von Durchschnittscharakter kein rechtes Interesse blieb. Herbst 1813 wäre seine Lehrzeit zu Ende gewesen, indessen König Friedrich Wilhelms des Dritten Aufruf an sein Volk kürzte diese Zeit um ein volles halbes Jahr, denn unter den sich freiwillig zum Eintritt Meldenden war auch mein Vater, damals noch nicht voll siebzehn Jahre alt. Ueber die nun folgende Kriegszeit habe ich ihn oft sprechen hören, meist durch mich veranlaßt der ich nicht genug davon hören konnte. "Du warst also wohl sehr patriotisch, lieber Papa." - "Nein, höchstens Durchschnitt. Offen gestanden, ich machte nur so mit. Wenn man siebzehn Jahr alt ist, erscheint einem ein freies Soldatenleben hübscher, als ein Lehrlingsleben. Und wie’s im Liede heißt "eine jede Kugel trifft ja nicht." Aber wenn ich auch anders hätte denken wollen, ich hatte keine rechte Wahl. In dem Tuchgeschäfte von Köppen und Schier, dessen Du Dich, weil Du ja selber in der Burgstraße gewohnt hast, vielleicht noch entsinnst trat damals eine adlige Dame ein und wurde von einem hübschen jungen Manne mit blondem Schnurrbärtchen bedient. "Ich wundere mich, Sie hier hinter dem Ladentisch zu sehn." - "Ich nicht, meine gnädigste Frau; ich stehe hier lieber als anderswo." - "Das seh ich," antwortete die Dame und dem hübschen Blondin eine Ohrfeige gebend, verließ sie das Lokal. Das war so die Stimmung damals und weil ich dergleichen nicht gern erleben wollte, wurd’ ich als freiwilliger Jäger eingekleidet und empfing eine Büchse." Diese sogenannte "Büchse", die später in den Flurwinkeln unsrer verschiedenen Wohnungen verrostet und verstaubt umherstand, war eine Flinte von allergewöhnlichster Beschaffenheit, was übrigens keine weitre Bedeutung hatte, da mein Vater, seinem eignen Zeugnis nach, auch mit einer gezogenen Büchse nicht getroffen haben würde. Anfang April verließ er mit etwa fünfzig anderen Freiwilligen Berlin und zog auf Sachsen zu, wo sich die kriegerischen Ereignisse bereits vorbereiteten. An Spitze dieser Fünfzig stand ein Hauptmann von Kesteloot, ein vortrefflicher Soldat aus der alten Armee. Ausbildung und Führung waren ihm anvertraut. Am ersten Tage rückte man spät Nachmittags in Trebbin ein; die Meisten waren fußkrank, humpelten und sahen sehr niedergedrückt aus. Kesteloot ließ sie noch einmal antreten und sagte: "Wenn unser allergnädigster König und Herr darauf angewiesen ist, mit Ihnen den Kaiser Napoleon zu schlagen, so thut er mir schon heute leid." Der Zustand der kleinen Truppe verbesserte sich aber und man erreichte die Umgegend von Leipzig in leidlicher Verfassung. Vier Wochen später, am 2. Mai, war die blutige Schlacht bei Groß-Görschen. Die freiwilligen Jäger wurden einem Garde-Bataillon eingereiht und machten in diesem die Schlacht mit. Mein Vater erhielt eine Kugel in den Tornister, die, nach Durchbohrung eines kleinen Wäschevorraths, in den Pergamentblättern einer dicken Brieftasche stecken blieb. Diese Brieftasche, mit der Kugel darin, hab ich mir oft zeigen lassen.

"Du mußt wissen, mein lieber Sohn, es war kein Schuß von hinten; wir stürmten einen Hohlweg, auf dessen Rändern, rechts und links, französische Voltigeurs standen. Also Seitenschuß." Das unterließ er nie zu sagen; er war vollkommen unrenommistisch, aber darauf, daß dies ein "Seitenschuß" gewesen sei, legte er doch Gewicht.

Der Schlacht bei Groß-Görschen folgte die bei Bautzen und dieser wiederum eine Reihe kleinerer Scharmützel und Gefechte. "Die waren Dir nun wohl vollkommen gleichgültig?" fragte ich. - "Kann ich durchaus nicht sagen." - "Ich dachte, daß die Macht der Gewohnheit…" - "Diese Macht der Gewohnheit ist im Kriege, wenigstens nach meiner persönlichen Erfahrung, von keinerlei Trost und Bedeutung. Eher das Gegenteil. Man sagt sich, wer drei oder viermal heil durchgekommen ist, hat Anspruch, das fünfte Mal dran glauben zu müssen. Eine Karte, die viermal gewonnen, hat immer Chance, das fünfte Mal zu verlieren."

Nach dem Waffenstillstande, bei Wiederausbruch der Feindseligkeiten, hatte sich meines Vaters Stellung erheblich geändert; er war inzwischen, ich weiß nicht, ob auf seinen Betrieb oder auf Antrag seines Vaters, aus dem Heere zurückgezogen und einer Feldlazareth-Apotheke zugewiesen worden. In dieser machte er nun den Rest des Krieges mit, sprach aber nie davon.

Sommer 1814 war er wieder in Berlin und begann nun in verschiedene Stellungen einzutreten, oder wie der Fachausdruck lautet, zu "conditionieren". Zuerst in Danzig, das er, mit der damaligen Fahrpost, wie er gern erzählte, in sechs Tagen und sechs Nächten erreichte. Die dort zugebrachte Zeit blieb ihm, durchs Leben, eine besonders liebe Erinnerung. Seinem Danziger Engagement folgten ähnliche Stellungen in Berlin selbst, bis 1818 die Zeit für ihn da war, sich zum Staatsexamen zu melden. Als er in den Vorbereitungen dazu war, lernte er, unter Verhältnissen, über die ich auf den nächsten Seiten berichten werde, meine Mutter kennen und verlobte sich mit ihr.

* * *

Meine Mutter, Emilie Labry, wurde den 21. September 1797 als älteste Tochter des Seidenkaufmanns Labry, Firma Humbert u. Labry, geboren. Handelsobjekt der Firma waren nicht gewebte Seidenstoffe, sondern Seidendocken, worauf meine Mutter Gewicht legte. Sie hielt die Docken für vornehmer, als Zeug nach der Elle. Ob und wie weit sie darin Recht hatte, kann ich nicht sagen, aber dessen entsinne ich mich deutlich, daß sie, vielleicht weil sie in hohem Maße den Sinn für Repräsentation hatte, von den Lebensgewohnheiten ihres Vaters, und zwar viel viel mehr als von seinem Charakter oder sonstigem Thun, mit einem gewissen freudigen Respekte sprach. Wenn wir als Kinder, und auch später noch als Halberwachsene, mit ihr bei Josty Chokolade tranken und dabei die kleinen, bräunlich gerösteten Corianderbisquits, die so leicht zerkrümeln und abbrechen, vorsichtig eintunkten, unterließ sie nie, uns zu sagen: "Ja, seht Kinder, solche Corianderbisquits, daran hing auch euer Großvater Labry. Aber aus Chokolade machte er sich nichts. Er trank vielmehr jeden Tag um elf und um sechs ein Glas französischen Rothwein und aß dazu nichts als zwei solcher Bisquits, immer mit den zierlichsten Handbewegungen und war überhaupt sehr mäßig. Ihr habt nichts davon geerbt, weder die Handbewegungen noch die Mäßigkeit." Letzteres war nun allerdings sehr richtig, denn ich berechnete, während sie so sprach, wie viele Tassen ich wohl würde trinken können.

Meine Großmutter mütterlicherseits, also die Mutter meiner Mutter, war eine geborene Mumme, von deren Familie ich nicht weiß, ob sie nicht, trotz ihres deutschklingenden Namens, doch vielleicht mit zur Colonie gehörte. Jedenfalls bildeten die Beziehungen zu den Mummes einen besonderen Stolz meiner Mutter, vielleicht nur deshalb, weil "Onkel Mumme" Rittergutsbesitzer auf Klein-Beeren war und unter anscheinend glänzenden Verhältnissen lebte. Ich entsinne mich, daß er, neben allerhand Chaisen und Halbchaisen, auch einen Char à banc mit langen, kirschrothen Sammetpolstern besaß und in diesem weithin leuchtenden Prachtstück, wenn wir in Berlin zu Besuch waren, nach Klein-Beeren hinaus abgeholt zu werden, bedeutete uns allen, aber am meisten meiner Mutter, ein hohes Fest, nicht viel anders, wie wenn wir zu Hofe gefahren wären. Später schlief das alles ein. Ich glaube, Onkel Mumme’s Stern verblaßte.

Das erwähnte Seidendocken-Geschäft befand sich, wenn ich recht berichtet bin, in der Brüderstraße, und hier verblieb auch die Labrysche Familie, als das Haupt derselben, mein Großvater Labry, bei sehr jungen Jahren (kaum vierzig Jahre alt) gestorben war. Die Wittwe bezog ein in der Nähe des Petriplatzes gelegenes Haus, darin sie mehrere Jahre lang die erste Etage bewohnte, denn ihre Mittel waren für damalige Zeit nicht unbedeutend. In eben dieser Wohnung erlebte meine Mutter den Brand der Petrikirche, ein Ereigniß, das einen großen Eindruck auf sie machte und bis in ihre letzten Lebensjahre hinein, einen bevorzugten Gesprächsstoff für sie bildete. Sie entsann sich jedes Kleinsten, das dabei vorgekommen war. Ihre damals schon kränkelnde Mutter starb wenige Jahre später und da die von vieler Noth begleiteten Kriegszeiten nicht Zeiten waren, in denen Familienangehörige sich der Verwaisten annehmen konnten, so kamen die jüngeren Kinder in das französische Waisenhaus und nur meine Mutter in ein Pensionat, wozu die Zinsen ihres Vermögens vollkommen ausreichten. Sie wurde bald ein Liebling des Kreises, den sie vorfand und hatte den vollsten Anspruch darauf, denn sie war jederzeit gütig und hilfebereit. Erst in meinen alten Tagen ist mir der Sinn für ihre Superiorität aufgegangen. Als ich selber noch jung war, erschien mir vieles in ihrer Haltung, besonders meinem Vater gegenüber, zu hart und zu herbe, später indeß habe ich einsehen gelernt, wie richtig Alles war, was sie that, vor Allem auch, was sie nicht that, und beklage jetzt jeden gegen sie gehegten Zweifel. Sie war dem ganzen Rest der Familie, der damaligen wie der jetzigen, weit überlegen, nicht an sogenannten Gaben, aber an Charakter, auf den doch immer Alles ankommt. Ihre ganz südfranzösische Heftigkeit, die mitunter geradezu ängstliche Formen annahm, war vielleicht nicht immer zu billigen, aber doch schließlich nichts Andres, als eine beneidenswerthe Kraft, sich über Pflichtverletzung und unsinnige Lebensführung tief empören zu können und ich muß es als ein großes Unglück ansehen, daß diese mir jetzt klar zu Tage liegenden Vorzüge von uns allen zwar immer gewürdigt, aber in ihrem vollen Werth und Recht nie ganz erkannt wurden. Ich werde in Weiterem Vieles zu berichten haben, das diese Worte bestätigt.

Das schon erwähnte Pensionat, in das meine Mutter, achtzehn Jahre alt, eintrat, war das der Madam Liounet und unter den verschiedenen Freundinnen, die sie hier fand, stand Louise Rogée obenan, damals eine sehr beliebte, fast gefeierte Schauspielerin, aber wie’s scheint, in der Pension verblieben. Eines Tages hieß es, Louise Rogée habe sich verlobt und zwar mit einem jungen Architekten, dem ältesten Sohne des Kabinetssekretairs Pierre Barthélemy Fontane. Die Nachricht bestätigte sich und auf einem der gelegentlichen Besuche, die Louise Rogée, jedesmal von einer Pensionsfreundin begleitet, im Hause ihres künftigen Schwiegervaters machte, lernte meine Mutter den zweiten Sohn Pierre Barthélemys kennen, - meinen Vater. Man fand rasch Gefallen an einander und da die Verhältnisse glücklich lagen, kam es sehr bald zur Verlobung und das Haus meines Großvaters sah auf kurze Zeit zwei Brautpaare unter seinem Dache.

Der Verlobung meines Vaters folgte das Staatsexamen, damals nicht viel mehr als eine Form, und an das glücklich bestandene Examen schloß sich, beinah unmittelbar, der Ankauf der Neu-Ruppiner Apotheke. Am 24. März, dem Geburtstage meines Vaters, war Hochzeit und drei Tage später traf das junge Paar in seiner neuen Heimath ein.

Kapitel 2 - Gascogne und Cevennen - französische Vettern - unsere Ruppiner Tage



In ihrer Ruppiner Apotheke verlebten meine Eltern die ersten sieben Jahre ihrer Ehe, vorwiegend glückliche Jahre, trotzdem sich schon damals das zeigte, was dieses Glück früher oder später gefährden mußte. Von diesen sieben Jahren werde ich hier zu berichten haben; aber ehe ich zur Darstellung des Wenigen übergehe, was ich aus jener Zeit noch weiß, möchte ich, wozu mir das vorige Kapitel nicht Gelegenheit bot, hier noch Einiges über den französischen Ursprung meiner Eltern, über ihre Heimath und Abstammung sagen dürfen.