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AKIRA IRIYE UND JÜRGEN OSTERHAMMEL (HG.)

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1350–1750

WELTREICHE
UND WELTMEERE

GESCHICHTE DER WELT

Herausgegeben von Akira Iriye und Jürgen Osterhammel

 

 

Frühe Zivilisationen
Die Welt vor 600
Herausgegeben von Hans-Joachim Gehrke

Agrarische und nomadische Herausforderungen
600–1350
Herausgegeben von Cemal Kafadar

Weltreiche und Weltmeere
1350–1750
Herausgegeben von Wolfgang Reinhard

Wege zur modernen Welt
1750–1870
Herausgegeben von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel

Weltmärkte und Weltkriege
1870–1945
Herausgegeben von Emily S. Rosenberg

Die globalisierte Welt
1945 bis heute
Herausgegeben von Akira Iriye

1350–1750

WELTREICHE
UND WELTMEERE

Herausgegeben von WOLFGANG REINHARD

Mit Beiträgen von

Peter C. Perdue
Suraiya Faroqhi
Stephan Conermann
Reinhard Wendt und Jürgen G. Nagel
Wolfgang Reinhard

ZUM BUCH

«Weltgeschichte ist lange Zeit als eine Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs einer kleinen Zahl von ‚Hochkulturen‘ geschrieben worden. Unter diesen Kulturen schienen Europa oder der atlantische ‚Westen‘ während der letzten Jahrhunderte nach den Kriterien Macht, Wohlstand und kulturelle Kreativität zu dominieren.

Das neue sechsbändige Werk zur Weltgeschichte, das von einem Team von Historikerinnen und Historikern vorwiegend aus den USA und Deutschland erarbeitet wird und das gleichzeitig bei C.H.Beck und Harvard University Press erscheint, verabschiedet sich von diesen Traditionen. Es leugnet die Errungenschaften des Westens nicht, stellt sie aber in den größeren Zusammenhang gleichzeitiger Entwicklungen in anderen Teilen der Welt. Dadurch wird das allmähliche, dabei aber krisenhafte Entstehen des heutigen dicht integrierten und pluralistischen Weltzusammenhangs sichtbar.

Erstmals werden in diesen Bänden die Ergebnisse von mehreren Jahrzehnten internationaler Forschung zur Vorgeschichte der Globalisierung und zur Entwicklung von Gesellschaften und politischen Ordnungen auf allen Kontinenten von führenden Experten zusammenfassend dargestellt. Weltgeschichte erscheint hier nicht als Aneinanderreihung einzelner Spezialgeschichten. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf bisher wenig beachtete Querbeziehungen und Wechselwirkungen: auf Migrationen von Einzelnen und Gruppen und die Gründung neuer Gesellschaften, auf die interkontinentale Ausbreitung von Technologien, Religionen oder politischen Ideen, auf globale Kommunikationsnetze, Handelsströme und Konsummuster, auf Imperialismus, Kolonialismus und großräumige Kriege.»

Akira Iriye und Jürgen Osterhammel

In den Jahrhunderten zwischen 1350 und 1750 wird die Geschichte der Welt endgültig zu einer zusammenhängenden Weltgeschichte. Auf allen Kontinenten expandieren neue Großreiche, während westeuropäische Seefahrer den Atlantik in ein Binnenmeer verwandeln und der Islam die Handelssysteme vom Mittelmeer bis nach Südostasien beherrscht. Mit dem Band Weltreiche und Weltmeere liegt nun der dritte Band der großen, auf insgesamt sechs Bände angelegten Geschichte der Welt vor.

Pressestimmen zur «Geschichte der Welt»:

«Was für ein Meilenstein: Einige der besten Historiker schreiben eine Geschichte der Welt.» Dirk van Laak, DIE ZEIT

«Die Beiträge funkeln vor originellen Beobachtungen, präzisen Analysen und pointierten Urteilen – und vor allem: Sie sind offen für die Widersprüchlichkeiten der Welt.»

Dietmar Suess, Süddeutsche Zeitung

AUTOREN UND HERAUSGEBER

Stephan Conermann ist Professor für Islamwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Geschichte und Gesellschaft des Mogulreiches und der Mamlukenherrschaft in Ägypten und Syrien im Rahmen von narratologischen, historiographischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Das Mogulreich. Geschichte und Kultur des muslimischen Indien (2006), Mamlukica – Studien zu Geschichte und Gesellschaft der Mamlukenzeit (2013) und Narrative Pattern and Genre in Hagiographic Life Writing. Comparative Perspectives from Asia to Europe (hg. zusammen mit Jim Rheingans, 2014).

Suraiya Faroqhi hat an der Middle East Technical University in Ankara und der LudwigMaximilians-Universität in München gelehrt. Seit ihrer Pensionierung in München ist sie an der Istanbul Bilgi University tätig. Neuere Publikationen: The Ottoman Empire and the World Around It, 1540s to 1774 (2004), Artisans of Empire. Crafts and Craftspeople under the Ottomans (2009), Travel and Arti sans in the Ottoman Empire. Employment and Mobility in the Early Modern Era (2014). Zusammen mit Kate Fleet und Repat Kasaba ist sie Mitherausgeberin der Cambridge History of Turkey (4 Bde., 2006–13).

Akira Iriye hatte bis zu seiner Emeritierung die Charles Warren Professur für Amerikanische Geschichte an der Harvard University inne. 1988 war er Präsident der American Historical Association. Er ist Träger hoher amerikanischer und japanischer Auszeichnungen und hat zahlreiche Bücher vor allem zur Geschichte der internationalen Beziehungen und zur transnationalen Geschichte veröffentlicht, darunter: After Imperialism. The Search for a New Order in the Far East, 1921–1931 (1965), Cultural Internationalism and World Order (1997), Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World (2002) und Global and Transnational History. The Past, Present, and Future (2012).

Jürgen G. Nagel ist Privatdozent im Arbeitsbereich Neuere Europäische und Außereuropäische Geschichte an der FernUniversität in Hagen. Seine regionalen Forschungsschwerpunkte liegen im maritimen Südostasien, im Indischen Ozean und in Afrika südlich der Sahara. Seine Forschungen befassen sich mit der Wirtschaftsgeschichte der europäischen Expansion, mit Wissen und Wissenschaft im Kolonialismus, mit der Geschichte moderner Kolonialherrschaft sowie mit Fragen der «Glokalisierung» im globalhistorischen Kontext. An Veröffentlichungen hat er u.a. vorgelegt: Der Schlüssel zu den Molukken. Makassar und die Handelsstrukturen des Malaiischen Archipels im 17. und 18. Jahrhundert (2003) sowie Abenteuer Fernhandel. Die Ostindien-Kompanien (22011).

Jürgen Osterhammel ist Professor für Neuere und neueste Geschichte an der Universität Konstanz und Träger des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises. 2014 erhielt er den Sigmund Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sein Buch Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (52010) hat auch international starke Beachtung gefunden; es erschien 2014 in einer überarbeiteten englischen Fassung unter dem Titel The Transformation of the World. A History of the 19th Century bei Princeton University Press. Im Verlag C.H.Beck veröffentlichte er zuletzt: Dekolonisation (gemeinsam mit Jan C. Jansen, 2013).

Peter C. Perdue ist Professor für Geschichtswissenschaft an der Yale University. Sein erstes Buch, Exhausting Earth. State and Peasant in Hunan, 1500–1850 A. D. (1987), widmete sich dem langfristigen landwirtschaftlichen Wandel in der chinesischen Provinz Hunan. In seinem zweiten Buch, China Marches West. The Qing Conquest of Central Eurasia (2005), behandelt er ökologische und ökonomische Wandlungsprozesse sowie Fragen der Ethnizität und des Militärs im Rahmen einer umfassenden Untersuchung des großen Wettstreits, den Chinesen, Mongolen und Russen im 17. und 18. Jahrhundert um die sibirischen und zentraleurasischen Territorien austrugen. Perdue ist Mitherausgeber zweier Bände über empires: Imperial Formations (2007) sowie Shared Histories of Modernity (2008). Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich chinesischer frontiers, der Umweltgeschichte Chinas und der Geschichte des Genussmittels Tee.

Wolfgang Reinhard ist Professor emeritus für Neuere Geschichte der Universität Freiburg i. Br. und korrespondierender Fellow des Max-Weber-Kollegs Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Europa im 16./17. Jahrhundert, besonders die Religionsgeschichte (Paul V. Borghese, 2009), die Geschichte des modernen Staates (Geschichte der Staatsgewalt, 1999), die Historische Anthropologie (Lebensformen Europas, 2003) und vor allem die Geschichte der europäischen Expansion. Er hat deren vierbändige Gesamtdarstellung von 1415 bis 1989 geschrieben (Geschichte der europäischen Expansion, 1983–1990, Neubearbeitung 2015) und eine ins Englische, Französische und Italienische übersetzte Kleine Geschichte des Kolonialismus (22008) sowie zehn weitere Bücher und zahlreiche Abhandlungen zu diesem Thema veröffentlicht. 2001 erhielt er den Preis des Historischen Kollegs.

Reinhard Wendt leitet seit 1998 den Arbeitsbereich Neuere Europäische und Außereuropäische Geschichte an der FernUniversität in Hagen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen regional in Südostasien und Ozeanien, inhaltlich auf der Geschichte von Interaktionen zwischen westlichen und nichtwestlichen Kulturen: auf europäisch-überseeischen Beziehungen im Spannungsfeld zwischen dem «Reiz der Ferne» und dem «Nutzen des Fremden»; Missionarsphilologie und Verschriftlichung nichtwestlicher Sprachen; Auswanderung und Diasporabildung multikultureller Gesellschaften. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen Fiesta Filipina. Koloniale Kultur zwischen Imperialismus und neuer Identität (1997) sowie Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500 (2007).

INHALT

Einleitung: Weltreiche, Weltmeere – und der Rest der Welt
von Wolfgang Reinhard

1. Welten und Weltgeschichte

2. Reiche und Weltreiche

3. Meere und Weltmeere

4. Kommunikation und Interaktion

5. Unterwelten und Überwelten

Imperien und Grenzregionen in Kontinentaleurasien
von Peter C. Perdue

Einleitung

1. China

2. Russland

3. Zentraleurasien

4. Japan

5. Korea

6. Vietnam

7. Vergleiche, Verbindungen und Konvergenzen

Das Osmanische Reich und die islamische Welt
von Suraiya Faroqhi

1. Das Osmanische Reich

2. Iran

Südasien und der Indische Ozean
von Stephan Conermann

Einleitung

1. Südasien

2. Der Indische Ozean vom 14. bis zum 16. Jahrhundert

3. Der Indische Ozean vom 16. bis zum 18. Jahrhundert

4. Südasien und der Indische Ozean in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

5. Schlussbetrachtung

Südostasien und Ozeanien
von Reinhard Wendt und Jürgen G. Nagel

Einleitung

1. Räume und Kulturen

2. Kontakte und Interaktionen

3. Das südostasiatische Festland

4. Das maritime Südostasien

5. Übergänge und Verbindungen zu Ostasien

6. Ozeanien

Europa und die atlantische Welt
von Wolfgang Reinhard

Einleitung

1. Das atlantische Afrika

2. Das lateinische Europa

3. Die neuen atlantischen Welten

 

Anmerkungen

Bibliographie

Abbildungsnachweis

Register

EINLEITUNG WELTREICHE, WELTMEERE – UND DER REST DER WELT

Wolfgang Reinhard

1. WELTEN UND WELTGESCHICHTE

Alle Geschichtskulturen schrieben schon immer die Geschichte ihrer ‹Welt›, sei es China oder die klassische Antike oder die Christenheit Europas. Die heutigen Geschichtskulturen hingegen sind immer noch diejenigen der alten und neuen Nationalstaaten und bringen demgemäß nationale ‹Weltbilder› hervor, derzeit etwa mit der modischen Produktion von nationalen ‹Erinnerungsorten›. Demgegenüber gibt es zwar schon lange den historiographischen Willen zur weiten Welt, der aber erst heute über ein solides realhistorisches Substrat verfügt, nämlich über eine weit gediehene wirtschaftliche, politische und kulturelle Einheit der Menschheit auf dem gesamten Erdball. Daher bezeichnet sich Weltgeschichte heute gern als ‹Globalgeschichte›.[1] Die historischen ‹Welten› mit ihren verschiedenen Geschichten können also höchst unterschiedlichen Umfang haben – von den Extremfällen eines vorgeschichtlichen Dorfes mit seiner Umwelt einerseits bis zur gesamten Erdoberfläche der Gegenwart andererseits.

Aus diesem Grund läge es nahe, ältere Weltgeschichte einfach als Weg zur heutigen Globalgeschichte zu schreiben. Denn obwohl zwischen 1350 und 1750 von einer Einheit der Menschheit noch nicht die Rede sein kann, fielen damals doch wichtige Vorentscheidungen für den Weg dorthin. Die ‹Alte Welt› entdeckte für sich eine bisher isoliert existierende ‹Neue Welt› im Westen und richtete einen zwar höchst risikoanfälligen, aber dennoch regelmäßigen Schiffsverkehr von ihrem eigenen Westende in Europa zu ihrem Ostende in Süd- und Ostasien ein. Die fünf verschiedenen ‹Welten›, die unsere Kapitel behandeln, blieben zwar noch getrennt; die ‹Atlantische Welt› entstand sogar erst in diesem Zeitraum. Aber sie begannen zu interagieren und ihre Interaktion steigerte sich in Richtung auf die ‹Eine Welt› von heute. In der Tat sind also die Geschichten unserer fünf Welten ‹Vorgeschichte› des globalen Heute und insofern wie jede Geschichte vom Interesse der jeweiligen Gegenwart an ihrer Vergangenheit getragen. Allerdings ist Geschichte als ‹Vorgeschichte› immer nur halbierte Geschichte, denn vergangene Welten existierten nach ihren eigenen Regeln aus eigenem Recht und wussten nichts davon, dass sie unter anderem auch ‹Vorgeschichte› der unsrigen zu sein hatten. Deswegen müssen Historiker sich einer derartigen einseitigen Reduktion aus der Sicht der Gegenwart versagen und stattdessen versuchen, die jeweiligen Vergangenheiten nach deren eigenen Bedingungen zu rekonstruieren. Denn wenn wir zurückblickend deren Geschichten auf unsere Gegenwart zulaufen sehen, erliegen wir einer perspektivischen Täuschung. Es handelt sich nämlich nicht um Teleologie, sondern um Akkumulation von Kontingenz, die irgendwann irreversibel wird. Aber diese Akkumulation erfolgt nicht linear, sondern in Schüben, wobei Zurückbildungen durchaus vorkommen können. Auf Gründung und Expansion von Reichen folgen Phasen des Niedergangs und Zerfalls, auf Expansion weltweiter Interaktion folgt Kontraktion. Weltreisen wie diejenigen Marco Polos oder Ibn Battutas, der zwischen Marokko und Ostasien 120.000 Kilometer zurückgelegt haben soll,[2] waren offenbar seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nicht mehr möglich, weil sich weltweit Krisen häuften.

Doch wenn von ‹Expansion› die Rede ist, denken wir selbstverständlich an die europäische Expansion und stoßen damit auf ein Zentralproblem jeder heutigen Weltgeschichte, ihre unausweichliche eurozentrische Befangenheit, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. (Dabei identifizieren wir der Einfachheit halber die ‹westliche Welt› mit Europa, indem wir ‹neue Europas› wie die USA oder Australien historiographisch kurzerhand mit dazuschlagen.) Erstens kommen wir nämlich nicht völlig ohne die erwähnte Perspektive der Vorgeschichte der Einen Welt aus. Denn weil sich nicht bestreiten lässt, dass entscheidende Impulse dieser Vorgeschichte von Europa ausgegangen sind, bleibt die Sache unabhängig von der Einstellung der Historiker in sich selbst eurozentrisch.[3] Mit der Offenlegung dieses Umstands beginnt der Eurozentrismus allerdings sich selbstkritisch zu dekonstruieren. In einem zweiten Schritt weist dieser ‹aufgeklärte Eurozentrismus› dann nach, wie viel Europas Entwicklung vor allem der jüdischen und der islamischen Welt zu verdanken hat und dass andere Kulturen auch später noch ihren eigenständigen Beitrag zur modernen Welt geleistet haben. Denn statt mit der reinen Ausbreitung der westlichen Moderne über den Erdball rechnen wir heute mit ‹vielfältiger Moderne›.[4] Schließlich versucht ‹aufgeklärter Eurozentrismus› mit einem dritten Schritt sogar sich selbst zu transzendieren, indem er von der historischen Nabelschau des Westens zu selbstbezüglichen Geschichten der Anderen übergehen möchte, obwohl er weiß, dass bereits die Formel ‹die Anderen› Bestandteil eines unvermeidlich eurozentrischen Diskurses ist.[5]

Zweitens ließe sich zwar bei diesem Schritt das verbleibende Problem des Eurozentrismus auf den ersten Blick dadurch beheben, dass die Geschichten der in unserem Zeitraum immer noch sehr verschiedenen Erdteile von Angehörigen der betreffenden Kulturen selbst geschrieben würden. Das ist offensichtlich derzeit noch nicht ohne weiteres möglich, aber es ist immerhin gelungen, Beiträger zu gewinnen, die durch langjährige intensive Beschäftigung mit den betreffenden Kulturen und dank der Beherrschung von deren Sprachen beinahe als ‹einheimisch› gelten dürfen. Drittens helfen aber weder Selbstkritik noch Perspektivenwechsel über einen basalen Eurozentrismus hinweg, der unserer Sprache und unserem Denken eingeschrieben ist. Viele weltgeschichtliche Phänomene lassen sich nämlich gar nicht anders als aus eurozentrischer Perspektive zur Sprache bringen. Das gilt bereits für den erwähnten Begriff ‹die Anderen› oder ‹die Nichteuropäer›, ebenso für ‹Entdeckung›, für ‹Neue Welt›, für ‹West-Indien›, für ‹Indianer› und erst recht für ‹Amerika›, das den Namen eines Amerigo Vespucci verewigt, der die ‹Neue Welt› als erster literarisch vermarktet hat. Aber auch alte Begriffe wie ‹Indien›, ‹Asien› und ‹Afrika› gehen auf europäische Ausweitung ursprünglich enger gefasster antiker geographischer Bezeichnungen zurück, während ‹Indonesien› und ‹Australien›, ‹Philippinen› und ‹Neuseeland‹ europäische Neuschöpfungen darstellen. Ortsnamen der Alten Welt kehren in der Neuen wieder, und zwar keineswegs immer mit dem Marker ‹Nieuw› Amsterdam oder ‹New› York. Oft sind europäische politische Verhältnisse sprachlich konserviert; auf den Landkarten von Australien und Neuseeland geben sich Fürstlichkeiten wie Victoria und Minister wie Wellington ein Stelldichein. Zwar wurde postkolonial Ceylon in Sri Lanka und Madras in Chennai verwandelt, aber derartige Operationen politischer Kosmetik sind praktisch nur in begrenztem Umfang möglich.

Über den sprachlichen Elementarbereich hinaus ist die Geschichtswissenschaft außerdem nicht nur in ihrer Methode, sondern auch in zentralen Bezugsgrößen westlichen Ursprungs und wird infolge der Übernahme des westlichen Bildungssystems durch die ehemaligen Kolonien dem Denken der Nichteuropäer nach wie vor weltweit verordnet. Während die politische Dekolonisation einigermaßen abgeschlossen und die ökonomische auf gutem Wege ist, habe die mentale oder kulturelle noch nicht einmal begonnen, behaupten postkolonialistische Theoretiker. Ein Europäer oder Amerikaner könnte oder konnte wenigstens bis vor kurzem eigene Geschichte schreiben, ohne den Rest der Welt auch nur zur Kenntnis zu nehmen, ein nichtwestlicher Historiker hingegen lande, was immer er schreiben wolle, unausweichlich beim modernen Nationalstaat europäischer Herkunft als Bezugsgröße, die sich auch in der postkolonialen Welt durchgesetzt habe und sich mittels Bildungssystem und Historiographie ständig neu legitimiere.[6] Vor allem aber ist er fast immer an den westlichen gregorianischen Kalender, an die Zählung der Jahre vor und nach Christi Geburt, allenfalls in einer säkularisierten Variante, und nicht selten sogar an die Epochengliederung der westlichen Historie gefesselt.

So folgt auch die aus wissenschaftspraktischen Gründen pragmatisch getroffene zeitliche Abgrenzung dieses Bandes – 1350 bis 1750 – zunächst einer Periodisierung der europäischen Historiographie. Sie entscheidet sich dabei für eine engere Spielart des ‹Alteuropa-Konzepts›, das im Extremfall die Zeit von der Verdorfung und Städtegründung des Hochmittelalters bis zur Industrialisierung als die ‹alteuropäische› Epoche der Geschichte betrachtet. Die Alternative wäre die sogenannte ‹Frühe Neuzeit› (1500 bis 1800) gewesen, die aber zur Erfassung weit zurückreichender langfristiger Prozesse in Europa und der Atlantischen Welt weniger geeignet ist. Selbstverständlich haben die beiden Eckdaten wie die meisten Periodisierungen nur Orientierungscharakter und werden in den verschiedenen Kapiteln in der einen oder anderen Richtung überschritten. Dabei zeigt sich, dass in anderen Erdteilen innerhalb dieser Zeitfenster ebenfalls Vorgänge von ‹Epoche machendem› Charakter zu beobachten sind. Hier seien nur genannt das Vordringen der Osmanen nach Europa, der Bruch Moskaus mit den Mongolen, der Aufstieg Timurs in Zentralasien, die Verdrängung der Yuan- durch die Ming-Dynastie in China und die Gründung des Königreichs von Ayutthaya in Südostasien im 14. Jahrhundert, auf der anderen Seite der beginnende Niedergang des Osmanischen Reiches, der Sturz der Safawiden in Iran, die beginnende Krise des Mogulreichs in Indien, der Höhepunkt der chinesischen Expansion unter den Qing und die Gründung eines expandierenden Reiches in Birma im 18. Jahrhundert.

Selbst wenn wir dies wollten, können wir unserer Sprache und Zeitrechnung nicht entkommen. Das ist aber gar nicht nötig. Denn die Aufklärung über ihre eurozentrische Herkunft erweist sich als Bedingung der Möglichkeit ihrer Aneignung und ihres entsprechend unbefangenen Gebrauchs durch ‹die Anderen›. Ohne ihre europäische Herkunft zu ignorieren, macht dieser Aneignungsprozess für uns den Vorwurf des Eurozentrismus obsolet. Englisch war eine europäische Sprache, die ihre Verbreitung der britischen und amerikanischen ökonomischen, politischen und technologischen Hegemonie zu verdanken hat. Inzwischen ist sie Eigentum vieler Völker in Afrika und Asien und als Weltkommunikationsmedium bis zu einem gewissen Grad sogar dasjenige der ganzen Menschheit geworden.

Der moderne Nationalstaat hingegen existierte zwischen 1350 und 1750 noch nicht einmal in Europa selbst. Auch wenn der Begriff ‹Staat› in seiner weit gefassten angelsächsischen Bedeutung in manchen Kapiteln auftaucht, so handelt es sich dabei, genauer besehen, doch um vorstaatliche Gebilde, die besser als größere oder kleinere ‹Reiche› bezeichnet werden. Diese stellen wegen der Allgegenwart von Reichsbildung eine der Bezugsgrößen dieses Bandes dar, für seine Gliederung freilich hätte sich ihre Vielfalt nur als verwirrend erwiesen. Stattdessen haben wir seinem Aufbau fünf kulturgeographische Großregionen zugrunde gelegt, deren Umschreibung allerdings eine gewisse pragmatische Willkür anhaftet. Das heißt, wir haben gute Gründe, diese unsere Gliederung nach dem derzeitigen Stand der Forschung für besonders plausibel zu halten, können und wollen aber nicht bestreiten, dass sich auch Argumente für Alternativen finden lassen. Es handelt sich um eine von uns vorgenommene virtuelle Raumgliederung, der aber eine durch ihre Plausibilität vorgegebene Raumordnung zugrunde liegt.[7]

Diese beruht auf der Verbindung einer interaktionsgeschichtlichen Fragestellung mit einem dynamischen Kulturbegriff. Einerseits betrachten wir Kulturen nicht als sachlich, räumlich und zeitlich geschlossene Monaden, die im Grunde keinem Fremdverstehen zugänglich sind, sondern als offene Gebilde, die sich in ständiger Transformation befinden, nicht zuletzt infolge ständiger Interaktion mit anderen Kulturen. Dabei spielt Migration eine zentrale Rolle. Diese wird demnach nicht mehr als historische Ausnahme, sondern als Regelvorgang begriffen. Demgemäß müssen Phänomene, die traditionell als ‹Invasion› oder ‹Fremdherrschaft› abqualifiziert wurden – wie das Vordringen der Muslime nach Indien oder die Rolle der Steppenvölker des Nordens in der chinesischen Geschichte, also auch das Mogulreich und die Mandschu-Dynastie –, neu eingeschätzt werden. Indien und selbst China, wo gerne dieser Anschein erweckt wird, waren eben gerade keine geschlossenen kulturellen Monaden.

Auf der anderen Seite lässt sich aber trotz aller Dynamisierung und Differenzierung nicht bestreiten, dass es zwischen 1350 und 1750 so etwas wie eine chinesische Kultur, eine Kultur des christlichen Abendlandes, eine Kultur der Swahili Ostafrikas und andere als gemeinsame Nenner für vielerlei Phänomene und als Inbegriff von Gruppenidentitäten gegeben hat. Menschliches Verhalten, das einem bestimmbaren Code von Regeln folgen soll, ist die eine Seite dieser relativen Einheitlichkeit. Die andere besteht in kulturellen Objektivationen, die sich eindeutig zuschreiben lassen wie die Schriften des Konfuzius und die Pagoden oder das Neue Testament und die Kathedralen.

Wenn wir von graduell unterschiedlicher Interaktionsfrequenz in und zwischen Kulturräumen ausgehen, was hoch plausibel, aber nicht exakt nachweisbar ist, dann lässt sich der Widerspruch zwischen der gleichzeitigen Offenheit und Geschlossenheit von Kulturen auf den Begriff bringen. Wir unterscheiden auf diese Weise einen kulturellen Kernbereich, in dem Binnenkommunikation überwiegt und Identitätsstiftung durch Abgrenzung gegen Fremde geübt wird, von Zonen, in denen Außenkommunikation eine größere Rolle spielt und daher interkulturelle Hybride zustande kommen. Die sprachliche und kulturelle ‹Kreolisierung› durch Hybridisierung ist ja längst wissenschaftlich aufgewertet worden. Neben Zonen intensiver Kommunikation gibt es aber auch besonders kommunikationsfreudige Gruppen oder Zeitabschnitte, in denen dieses Verhalten begünstigt war. So waren zum Beispiel die Jesuiten einerseits, bestimmte chinesische Intellektuelle andererseits, bevorzugt am Kaiserhof und während der dynastischen und intellektuellen Krise, die China im 17. Jahrhundert durchlaufen hat, besonders kommunikationsfreudig – eine beschreibbare Interaktion, die sich spezifisch auf Gruppen, Ort und Zeit beziehen lässt. Entscheidend bleibt, dass nicht mehr mit trennscharf abgegrenzten kulturellen Binomen gerechnet wird, sondern mit vielerlei Kontakten, Mischungen und Transformationen.

Das entspricht dem eingangs angesprochenen Befund, dass Menschen sich zu verschiedenen ‹Welten› zugehörig fühlen können, sogar gleichzeitig, aber ohne diese Zugehörigkeiten immer ausdrücklich zu artikulieren. Wahrscheinlich galt für die meisten Menschen unseres Zeitraums der unausgesprochene Grundsatz ‹mein Dorf – meine Welt›. Viele wussten sich aber bereits weiträumiger zu bewegen, so dass wir im Sinne unserer Hypothese mit einer Hierarchie von verschachtelten ‹Welten› mit jeweils relativ intensiverer Binnenkommunikation und relativ schwächerer Außenkommunikation rechnen müssen. Vorglobale ‹Weltgeschichte› wäre also die Geschichte solcher ‹Welten› und ihrer Interaktion. Die damals mögliche Obergrenze welthafter Kohärenz dürfte mit kulturgeographischen Großregionen wie den von uns vorgeschlagenen erreicht gewesen sein.

Denn auch sie haben wir hypothetisch als Räume definiert, in denen die Binnenkommunikation die Außenkommunikation deutlich überwog und die deswegen zwar nicht unbedingt eine gemeinsame Kultur, aber doch deutliche gemeinsame Eigenschaften aufzuweisen hatten. So waren damals zum Beispiel kaum chinesische Schiffe im Pazifik anzutreffen und überhaupt keine im Atlantik, während die Präsenz der europäischen wie der chinesischen Schifffahrt im Indischen Ozean marginal blieb. Auf der anderen Seite gab es aber auf jedem dieser drei Weltmeere eine ‹einheimische› gemeinsame Seefahrerkultur mit erfahrungsgesättigten Regeln für den Umgang mit Wasser und Wind. Weltmeere als historische Interaktionsräume sind nach dem Muster des Mittelmeers[8] längst zu Gegenständen der Forschung geworden und daher die zweite Bezugsgröße unseres Bandes.

Wir beginnen allerdings im ersten Kapitel mit den Imperien und Grenzregionen in Kontinentaleurasien, das als größter Landblock der Erde auch das größte Gewicht beanspruchen dürfte. Wir sollten uns daran gewöhnen, nicht nur Vorder- und Hinterindien, sondern auch Europa als Halbinseln oder Subkontinente Asiens zu betrachten. Historisch besteht die Einheit dieses Riesenraumes in unserem Untersuchungszeitraum in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Erbe der Mongolenherrschaft, der bisher größten politischen Expansion der Weltgeschichte, und dem damit zusammenhängenden weltweiten Kommunikationssystem des 13. Jahrhunderts. China, das sich seiner mongolischen Dynastie entledigte, und Russland, das sich von seinen mongolischen Herren befreite und diese schließlich selber unterwarf, sollten sich langfristig als Haupterben durchsetzen. Freilich erlagen die Reitervölker Innerasiens erst im 18. Jahrhundert endgültig der konkurrierenden chinesischen und russischen Reichsbildung. Zumindest vorübergehend entstand unter Timur im 14./15. Jahrhundert noch einmal ein von Zentralasien ausgehendes Großreich, das aber keineswegs der letzte derartige Anlauf bleiben sollte. China erlebte seine größte Expansion unter den innerasiatischen Mandschu, deren Dynastie im 17. Jahrhundert dort die Herrschaft übernommen hatte. Auf der anderen Seite war es von einem Kranz kleinerer Länder umgeben, Vietnam, dann Korea und Japan, deren mehr oder weniger unabhängige Reichsbildung deutlich unter chinesischem Einfluss stattfand, so auch in der Mandschurei vor der Übernahme Chinas.

Die Taktik der mongolischen Reiterkrieger spielte auch in Süd- und Westasien eine ausschlaggebende Rolle für die Reichsbildung insbesondere der Osmanen, der Safawiden und der Moguln. Sie konvergierte aber in diesem Raum mit der integrierenden Rolle der islamischen Religion, die ungeachtet des bisweilen heftigen Gegensatzes zwischen Sunniten und Schiiten eine stärkere kulturelle Einheitlichkeit, eine ‹Welt› für sich stiftete als anderswo. Das zweite Kapitel – Das Osmanische Reich und die islamische Welt – stellt die Reiche der Osmanen und Safawiden nebst deren Vorgängern in den Mittelpunkt. Fast mehr noch als das kontinentale Eurasien wurde dieser Raum vom geographischen Gegensatz zwischen Wüsten und Steppen einerseits, Oasen, bewässertem Ackerland und Städten andererseits geprägt, historisch vom Gegensatz zwischen Nomaden, sesshaft gewordenen Nomaden, Ackerbauern und Städtern.

Die islamische Welt blieb aber keineswegs auf diesen Kernraum beschränkt. Muslime sind in allen anderen vier ‹Welten› ebenfalls anzutreffen. Die vergleichsweise wichtigste Rolle spielen sie im dritten Kapitel: Südasien und der Indische Ozean. Denn immer größere Teile Indiens gerieten zwischen 1350 und 1750 von Norden her unter die Herrschaft verschiedener muslimischer Fürsten, bis das Mogulreich um 1700 fast den ganzen Subkontinent unterworfen hatte. Bis ins 16. Jahrhundert hatten sich in Zentral- und Südindien machtvolle nichtmuslimische Reiche behauptet. Allerdings wurde die nichtmuslimische Bevölkerungsmehrheit in der Regel nicht unterdrückt und ihre Religionen, obwohl aus muslimischer Sicht «Götzendienst», halbwegs toleriert. Die Mehrzahl dieser Religionen wurde erst im 19. Jahrhundert unter dem Kunstbegriff ‹Hinduismus› zusammengefasst. Nicht nur religiös bot der indische Subkontinent ein kaum weniger buntes Bild als der europäische. Der offenkundige sprachliche, religiöse und kulturelle Gegensatz zwischen Nord- und Südindien stellt bereits eine grobe Vereinfachung dar. Die ‹Kohabitation› von ‹Hindus› und Moslems erwies sich kulturell als überaus kreativ.[9] Kaum ein indisches Reich, auch nicht dasjenige der Moguln, war aber maritim engagiert. Der Handel im Indischen Ozean lag überwiegend in der Hand von Moslemkaufleuten. Das hing zusätzlich auch mit dem Transport von Mekka-Pilgern zusammen. An der ostafrikanischen Gegenküste brachte diese muslimische Handelswelt die afrikanisch-asiatische Mischkultur der Swahili hervor.

Auch im vierten Kapitel – Südostasien und Ozeanien – sind Muslime auf der Malaiischen Halbinsel, auf Sumatra und Java, auf den Molukken und Philippinen präsent und in weiterer Expansion begriffen. Daneben gibt es Anhänger von ‹Hindureligionen›, Buddhisten, sogenannte Naturreligionen und schließlich auch Christen. Überall scheint hier auf den ersten Blick Nichtzusammenhängendes künstlich zusammengezwungen zu sein. Es gibt vier verschiedene Großregionen: das festländische Südostasien, das seinerseits aus Ländern unter dem kulturellen Einfluss Indiens (Burma, Thailand, Kambodscha) und solchen unter chinesischem Einfluss (Vietnam) besteht, die südostasiatische Inselwelt zwischen Sumatra und den Philippinen, die maritime Seite der eurasischen Reiche China, Japan und Korea, schließlich die endlosen Weiten Ozeaniens zwischen Australien, Hawaii und der Osterinsel. Ein zweiter Blick lässt aber strukturelle Gemeinsamkeiten erkennen: In kleinen Gemeinschaften lebende Bergvölker, zum Teil noch Wildbeuter, lassen sich Trocken- und Nassreisbauern gegenüberstellen, die größere oder kleinere Reiche bevölkern. Die zahlreichen Städte konnten freilich auch Sitze unabhängiger Kleinfürsten sein. Vor allem aber waren sie Handelszentren, denn Südostasien war ein Raum intensivster wirtschaftlicher und damit auch kultureller Kommunikation. Vom Islam heißt es, er sei hier durch Kaufleute verbreitet worden, und auch bei den Christen gingen Handel und Glaubensverbreitung Hand in Hand. Doch wenn diese Großregion damals vor allem durch maritime Kommunikation geprägt war, dann handelte es sich doch eher um zwei Kommunikationsräume, denn Ozeanien blieb weitgehend für sich und Australien ohne Schifffahrt sogar unbekannt.

Ähnlich unzusammenhängend lebten die Menschen ursprünglich auf den drei Kontinenten, die im fünften Kapitel, Europa und die atlantische Welt, zusammenfassend behandelt werden. Bis Mitte bzw. Ende des 15. Jahrhunderts wussten ‹Afrikaner›, ‹Amerikaner› und ›Europäer› so gut wie nichts von der Existenz der jeweils anderen zwei ‹Welten› und deren Bewohnern. Allenfalls gelangten damals etliche schwarze Sklaven und vage Nachrichten von den Reichen des Sudan durch Juden und nordafrikanische Moslems ins Mittelmeergebiet. Dann aber setzten Ketten von kontingenten Aktivitäten und Entwicklungen die jahrhundertelange Expansion Europas in Gang. Die fünf westlichen Länder der ‹Alten Welt‹ unterwarfen sich die ‹Neue Welt› und banden den Westen Afrikas in ein Handelssystem ein, das vor allem der Belieferung Amerikas mit afrikanischen Sklaven diente. Bis ins 19. Jahrhundert sind mehr Afrikaner in Amerika eingewandert als Europäer, allerdings nicht freiwillig. Bezeichnenderweise war Angola als Sklavenlieferant zeitweise auch politisch stärker vom Abnehmer Brasilien abhängig als von der eigentlichen Kolonialmacht Portugal. Heute ist Amerika vor allem eine Welt der ‹Weißen› und der ‹Schwarzen› geworden; die ‹Rothäute›, seine ursprünglichen Herren, sind in den meisten Ländern ausgestorben oder marginalisiert. Der Atlantik wurde in eine Art Binnenmeer zwischen dem alten und den ‹neuen Europas› sowie dem gemeinsamen Handelspartner Westafrika verwandelt.

2. REICHE UND WELTREICHE

Begriffsbildung

Die gegenwärtige, politisch motivierte Konjunktur von Veröffentlichungen über ‹Empires›, was auf Deutsch früher ‹Reiche› geheißen hätte, heute aber im Zeichen anglophoner Dominanz lieber mit ‹Imperien› wiedergegeben wird,[10] führt genauer besehen im Deutschen wie im Englischen zu einer historiographischen Begriffsverwirrung. ‹Empire› wird definiert als «a political unit of large extent controlling a number of territories and peoples under a single sovereign authority», wobei ‹Ausdehnung› relativ ist und vom Entwicklungsstand der Nachrichten- und Verkehrsverhältnisse abhängt.[11] Gegenbegriff ist der ‹nation state›: «Imperien sind große politische Einheiten, expansionistisch oder mit einer Erinnerung an räumlich ausgedehnte Macht; sie sind Gemeinwesen, die Unterschiede und Hierarchien aufrechterhalten, wenn sie neue Bürger eingliedern. Im Gegensatz dazu beruht der Nationalstaat auf der Vorstellung von einem Volk, das sich in einem Hoheitsgebiet als einzigartige politische Gemeinschaft konstituiert.»[12] Der Nationalstaat gilt als wichtigstes Alternativmodell und bisweilen sogar als Produkt eines getrennten Entwicklungspfades. Kritische Studien über Reiche betonen die Brutalität ihrer Entstehung durch Eroberung und ihrer Herrschaft durch Diskriminierung,[13] Empire-Nostalgiker schwärmen stattdessen von ihrem wohltätigen Wirken,[14] während andere durch differenzierende Untersuchung herauszufinden versuchen, wie sie ihr Grundproblem der Herrschaft über unterschiedliche Menschengruppen gelöst haben.[15] Dahinter steckt die Hoffnung auf ein humaneres Politikmodell als dasjenige des Nationalstaates. Denn letzterer ist zwar in der Wirklichkeit nur in seltenen Fällen ethnisch und sprachlich geschlossen, neigt aber kraft seines Selbstverständnisses als Nation dazu, solche Einheitlichkeit zu erzwingen, gegebenenfalls durch ‹ethnische Säuberung›. Ein ‹Staatsvolk› wie die nachrevolutionären Franzosen strebt nach totaler Integration von Minderheiten, die ihre Sprachen und Identitäten aufgeben müssen, ein ‹Reichsvolk› wie die Kastilier des 16. Jahrhunderts begnügt sich demgegenüber mit Hegemonie, die ihm Herrschaftsrollen und andere Privilegien reserviert, und mit der Zweisprachigkeit von Minderheiten; mehrfache Identitäten sind hier ebenso möglich wie individueller Aufstieg ins ‹Reichsvolk›.

Auf der anderen Seite gilt aber ‹Staat› (state) als Allgemeinbegriff für jedes Gemeinwesen (polity), das eine nicht näher definierte Größe überschritten hat. Unterhalb des Staates und oberhalb der primordialen akephalen Kleingruppen gäbe es dann Stämme (tribes), Häuptlingsherrschaften (chiefdoms), Fürstentümer (principalities) und Stadtstaaten (city states), besser Stadtrepubliken (urban republics). ‹Reiche› hingegen wären dann nichts anderes als eine besondere Form von Staaten. Allerdings gab es Staaten, die sich zusätzlich Reiche geschaffen haben. Der historisch wichtigste Fall sind die Nationalstaaten des 19./20. Jahrhunderts mit ihren Kolonialreichen. Dieser Höhepunkt des westlichen ‹Imperialismus› wurde nur dadurch möglich, dass der Rest der Welt damals dem modernen europäischen Nationalstaat, dem machtvollsten politischen Gebilde, das Menschen jemals geschaffen haben, nichts Vergleichbares entgegenzusetzen hatte, sondern nach wie vor nur seine ‹Reiche›.

Derselbe Fall trat allerdings schon in der europäischen Frühen Neuzeit auf, als der kastilische Protostaat sich ebenfalls als machtvoller erwies als die Reiche der Inka und der Azteken mit ihrer Steinzeittechnologie und sich ein zusätzliches Kolonialreich schaffen konnte. In Asien hingegen waren europäische Protostaaten wie Portugal und selbst England noch lange nicht in der Lage, mit den chinesischen, indischen und japanischen Reichen auch nur auf gleicher Augenhöhe umzugehen. Denn entwicklungsgeschichtlich waren England und Frankeich, Portugal und Spanien damals auch nur ‹Reiche› im oben genannten Sinne, aber eben Reiche, die bereits ein größeres Stück Wegs zum modernen Staat zurückgelegt hatten. Worauf es dabei ankam, legte der spanische Günstling-Premierminister Olivares seinem König Philipp IV. 1625 mit aller Deutlichkeit dar: «Eure Majestät sollten es für die wichtigste Aufgabe dieser Monarchie ansehen, sich zum König von Spanien zu machen. Damit möchte ich sagen, dass Eure Majestät sich nicht damit begnüge, König von Portugal, von Aragon, von Valencia und Graf von Barcelona zu sein, sondern heimlich und stetig daran arbeite, diese Königreiche so zu reduzieren, dass ganz Spanien dem Stil und den Gesetzen Kastiliens folge, ohne irgendeinen Unterschied.»[16] Entscheidende Schritte in dieser Richtung fanden in Spanien und England im 18. Jahrhundert statt. Erst damals war übrigens auch von ‹Kolonien› die Rede. Bis dahin hatte man im Rahmen des Reichsbegriffs auch für Kolonialherrschaft die Fiktion von halbselbstständigen Nebenländern analog zu Neapel oder Irland aufrechterhalten. Deutschland hingegen blieb ein ‹Reich›, bis 1945 dem Namen, bis 1918 ebenso wie Österreich-Ungarn auch der Struktur nach, denn das ‹Deutsche Reich› war ein heterogener Fürstenbund, Österreich-Ungarn ein kompliziertes Gefüge aus Ländern mit ungleichem Status.

Das heißt aber, ‹Reich› und ‹Staat› sind nur aus der nationalstaatlichen Perspektive des 19./20. Jahrhunderts synchrone Alternativen, die sich unter dem Oberbegriff ‹Staat› versammeln lassen. Mit der diachronen historischen Tiefendimension der europäischen oder gar der Weltgeschichte erweist sich diese binäre Typologie als unzulänglich und muss durch eine komplexere Entwicklungsgeschichte ersetzt werden. Dann erscheint das ‹Reich› weltweit als das Standardmodell eines größeren ‹Gemeinwesens› (polity[17]) von uneinheitlicher Zusammensetzung, der ‹Staat› aber als eine Sonderform von geballter Einheitlichkeit, die zuerst in Europa aus dem ‹Reich› hervorgegangen ist. Bereits diese nachgewiesene zeitliche Abfolge macht ‹Staat› als übergeordneten Sammelbegriff untauglich.

Hinzu kommt, dass sich bereits die Vorformen des modernen Staates – in europäischer Perspektive und im Hinblick auf den Zeitraum 1350 bis 1750 – zunehmend vom ‹Reich› abzuheben begannen. Allerdings erreichte der moderne Staat seine Reifestufe erst in der Französischen Revolution und im 19. Jahrhundert.[18] Dieser Sachverhalt erspart uns eine Auseinandersetzung mit der sachlich zutreffenden, aber eben deswegen Ärgernis erregenden Feststellung: «Europa hat den Staat erfunden.»[19] Denn zwischen 1350 und 1750 gibt es weltweit nur ‹Reiche›. Paradoxerweise ist deswegen die synonyme Verwendung der Bezeichnung ‹Staaten› (states) für ‹Reiche› in diesem Band deswegen historiographisch unschädlich – notabene solange wir in diesem Zeitraum verbleiben.

Allerdings gab es große und kleine ‹Reiche›, wobei die Bezeichnung ‹Imperium› (empire) für die ersteren reserviert bleibt, auch wenn keine Strukturunterschiede zwischen beiden bestanden. Der englische Parlamentsbeschluss von 1533 «that this realm of England is an empire»[20] will nur besagen, dass dem König kaisergleiche Befugnisse zukommen – ein früher Schritt zur Staatsbildung, aber keine prophetische Vorwegnahme des Britischen Empire. Er weist aber den Weg zu einem englischen Dachbegriff für große und kleine Reiche: realm; besser, weil verbreiteter: kingdom; am besten, weil am abstraktesten: monarchy. Denn zumindest zwischen 1350 und 1750 waren weltweit alle Reiche Monarchien.

Was aber soll mit ‹Weltreichen› gemeint sein? Nachdem nie jemand den ganzen Erdball beherrschte, könnte man schlicht die jeweils größten mit mehr oder weniger ‹weltweitem› Einfluss so bezeichnen. Im Hinblick auf unsere Darstellung lässt sich die Anwendung und zugleich die Berechtigung des Begriffs in zweifacher Hinsicht aber noch genauer fassen. Erstens gibt es von 1350 bis 1750 oder zumindest während eines Teils dieser vierhundert Jahre – etisch (von den vorliegenden Sachverhalten her) gesehen – Reiche, die eine ganze Kulturwelt oder zumindest wesentliche Teile einer solchen beherrschten: die Kaiserreiche China und Japan; das Safawidenreich im zentralen persischen Kulturraum, der mehr und mehr auch zum Herzland der Schia wurde; das Osmanische Reich im Kernbereich des sunnitischen Islam; das Russländische Reich als erfolgreicher Sammler der russischen Erde und des orthodoxen Christentums; die Inka als Herren des ganzen südamerikanischen Hochkulturraums außer dem Hochland des heutigen Kolumbien.

Zweitens scheint – emisch (aus der Sicht der Beteiligten) betrachtet – mehr oder weniger jede ältere Reichsbildung zu mehr oder weniger vollmundigen Weltherrschafts- oder vergleichbaren Ansprüchen zu neigen, nicht selten im Kontext religiöser oder mythischer Legitimationsdiskurse der Herrschenden. Möglicherweise handelt es sich sogar um ein Universalphänomen der politischen Anthropologie, denn im 20./21. Jahrhundert haben politische Ideologien wie der Rassismus, der Marxismus oder die ‹Freiheit› mit Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechten dieselbe Aufgabe der Universalisierung übernommen.

Der chinesische Kaiser war als Zentrum des Reiches der Mitte der zeremonielle Kontaktpunkt von Himmel und Erde. In den Reichen Südostasiens, die unter dem Einfluss der indischen Kultur einschließlich des Buddhismus standen, war der König devaraja («Gottkönig») oder zumindest ein Chakravartin, der das Rad des Gesetzes oder der Lehre in Bewegung hält und gütig über die Welt herrscht. Bei den Moguln bedeuteten die Herrschernamen Jahangir (reg. 1605–1627) «Welteroberer», Shah Jahan (reg. 1627–1658) «Herrscher der Welt»; die kulturelle Produktion ihrer Umgebung ist voll von Weltherrschaftssymbolik.[21] Ihre genealogische Legitimation konnte ja an Timur und Dschingis Khan und damit an deren unverblümte Weltherrschaftsansprüche anknüpfen. Die osmanischen Sultane legitimierten sich zunächst durch ihre Erfolge als Vorkämpfer des Glaubens, bis sie nach der Eroberung Ägyptens mit seinen arabischen Nebenländern 1517 als Hüter der Heiligen Stätten und Nachfolger der Kalifen ins Zentrum des islamischen Anspruchs auf Weltherrschaft rückten. Andere muslimische Reichsgründer beriefen sich wie die Safawiden auf einen Auftrag zur Erneuerung des Islam, knüpften an die Vorstellung vom eschatologischen rechtgeleiteten Führer, dem Mahdi, an und begannen einen jihad zwecks Errichtung eines religiös ‹reinen› Gemeinwesens.

Die Osmanen griffen nach der Eroberung Konstantinopels 1453 aber auch die byzantinische Kaisertradition auf,[22] die ihrerseits auf den sachlich unzutreffenden, mental aber selbstverständlichen Anspruch des Imperium Romanum zurückging, die ganze bewohnte (Kultur-)Welt zu regieren. In Russland wurde gleichzeitig die Idee von Moskau als einem dritten Rom ausgebildet, das nach Rom und Konstantinopel bis zum Ende der Welt herrschen werde. Auch das erneuerte westliche Kaisertum war ursprünglich von seiner eschatologischen Rolle ausgegangen, nach der das römische als das letzte der vier biblischen Weltreiche bis zum Weltende bestehen sollte. Doch nach einem letzten gescheiterten universalistischen Anlauf unter Kaiser Karl V. verkam das Kaisertum zu einem bloßen Ehrentitel des deutschen Königs. Mit einer für die europäischen Verhältnisse kennzeichnenden Inversion wurde das Streben nach der Universalmonarchie zu einem politischen Standardvorwurf umgedreht, mit dem sich der jeweils mächtigste europäische Herrscher diskreditieren lassen musste.[23] Das Inkareich hingegen konnte sich unangefochten als Tawantinsuyu, das Reich der vier Himmelsrichtungen, bezeichnen. Ob und wieweit aus dem südlich der Sahara verbreiteten, spezifisch afrikanischen Sakralkönigtum universale Ansprüche abgeleitet wurden, können wir nicht sagen, aber dennoch mit nur mäßiger Übertreibung behaupten, dass es zwischen 1350 und 1750 auf der Erde nicht nur etisch diverse Riesenreiche, sondern darüber hinaus emisch zahllose ‹Weltreiche› gegeben hat.

Reichsbildung

Die Begriffsarbeit war notwendig, weil Reichsbildung weltweit zu den maßgebenden Prozessen unseres Zeitabschnitts gehört. Selbstverständlich ließen sich auch frühere Zeiten durch sie charakterisieren. Jetzt aber erfasste sie auch den ‹Rest der Welt› in Afrika und Amerika, während in Eurasien die krisenbedingten Interregna in den meisten Reichen immer kürzer und die Reiche immer größer wurden.[24] Abstrakt gesprochen, erreicht das ‹Reich› als politische Lebensform jetzt den Höhepunkt seiner Entwicklung, um bald danach seine Rolle als politisches Leitmotiv der Weltgeschichte an den modernen ‹Staat› abzugeben, der damals aus europäischen ‹Reichen› hervorging.

Konkret heißt das selbstverständlich nicht, dass wir parallele lineare und einheitliche Geschichtsverläufe vor uns hätten. Eher das Gegenteil ist richtig; die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist auch hier selbstverständlich. Es handelt sich, wie gesagt, um eine ungleichmäßige Akkumulation von Kontingenz über Krisen und Rückbildungen hinweg. Manche Reiche dürften den angesprochenen Höhepunkt ihrer Entwicklung lange vor 1750 erreicht und sich im 18. Jahrhundert bereits im Niedergang befunden haben. Allerdings wird der u.a. aus nationaltürkischer und nationalindischer Sicht beklagte ‹Niedergang› des Osmanischen und des Mogulreichs von der Forschung heute viel zurückhaltender beurteilt und eher als politischer Gestaltwandel betrachtet.

Zur ‹Reichsbildung› als Prozess politischer Formierung gehört im weiteren Sinn auch die Neugestaltung eines Reiches. Nicht umsonst gibt es im an sich durchaus linearen chinesischen Geschichtsbild die Vorstellung von der zyklischen Neuvergabe des «Mandats des Himmels» an eine neue Dynastie. Dabei kam der «Zorn des Himmels» zunächst in vorübergehender Klimaverschlechterung wie Extremphasen der sogenannten Kleinen Eiszeit oder der weiträumig verminderten Sonneneinstrahlung infolge von Vulkanausbrüchen zum Ausdruck. Kälte- oder Dürreperioden oder auch Überschwemmungen, Missernten und Hungersnöte waren die Folge. Häufig gingen sie mit Seuchen einher. Die Bevölkerung reagierte mit Unruhen, die zu folgenreichen Bürgerkriegen führen konnten. Die Krisen Chinas im 14. und im 17. Jahrhundert haben ihre Parallelen in anderen Erdteilen, vor allem in Europa, das im 14. Jahrhundert vom ‹Schwarzen Tod› heimgesucht wurde und keine dreihundert Jahre später die verschiedenen Krisen des 17. Jahrhunderts erleben musste.

Allerdings haben diese Krisen in China wie in Europa den Prozess der Reichsbildung nur kurzfristig geschwächt, langfristig hingegen deutlich verstärkt, in China durch zweimaligen erfolgreichen Neubeginn, in Europa eher durch Selbstbehauptung der bestehenden Mächte, so dass die Kriege des 17. Jahrhunderts geradezu als ‹Staatsbildungskriege› bezeichnet werden können.[25