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Über die Autorin
Martina Wildner, geboren 1968 im Allgäu. Nach einigen Semestern Islamwissenschaften studierte sie an der Fachhochschule Nürnberg Grafikdesign. Als Jugendliche war sie 400-m-Läuferin, jetzt ist Wasserspringen ihr Hobby, aber über einen 202 C von 7,5 m ist sie nie hinausgekommen. Sie lebt als freie Autorin und Malerin mit ihrer Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr unter anderem die Romane Jede Menge Sternschnuppen (Peter-Härtling-Preis) und Das schaurige Haus (Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis).
Königin des Sprungturms wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74578-1)
www.beltz.de
© 2013, 2015 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstr. 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Lektorat: Frank Griesheimer
Einbandgestaltung und Vignetten: Eva Schöffmann-Davidov
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74545-3

Karla springt

Wir nannten es Angeben und es war Angeben.
Oft machten wir das nicht. Ein-, zweimal im Sommer. Dann gingen wir ins Freibad, legten uns auf die warmen Fliesen und sahen den anderen beim Springen zu. Wenn es an der Zeit war, griffen wir ein. Wir trugen stets die gleichen Badeanzüge, wir sprangen stets hintereinander. Erst stieg ich hoch und sprang, dann Karla. Ich beeindruckte die Leute, aber Karla brachte sie zum Verstummen. Selbst dem wildesten Russen und dem aufgeblasensten Bodybuilder blieb der Mund offen stehen.
Zu Beginn der Ferien waren wir zwei Wochen in Bozen gewesen, im Trainingslager. Dort war es toll, wir hatten viel im Freien trainiert. Das war ganz anders als in der Halle: Man spürte die Sonne und den Wind und sah vom Sprungturm aus die Berge. Ich war knallbraun geworden.
Danach war ich mit meiner Familie eine Woche in der Türkei, das war Tradition; viele Russen fuhren dahin und meine Mutter konnte sich eine Woche wie zu Hause fühlen. Ich war noch brauner geworden.
Eigentlich ganz schöne Ferien, aber von meiner tollen Bräune war leider nicht mehr viel übrig, denn in den letzten drei Wochen hatte es fast immer geregnet. Training war noch keines, ich langweilte mich. Am letzten Ferientag aber regnete es mal nicht und ich läutete bei Karla. »Wollen wir ins Freibad gehen?«
»Heute?«, fragte Karla.
»Die Sonne scheint.«
»Ab und zu.«
»Na und? Dann sind wenigstens nicht so viele Leute da.«
Das war ein Argument, auch für Karla. Sie packte ihre Sachen und wir zogen los. Wir mussten fast eine Stunde S- und Straßenbahn fahren, um ins Bad zu gelangen. Es hätte nähere Freibäder gegeben, aber keines mit Sprungturm.
Im Freibad war wirklich nicht viel los und wir gingen sofort zum Becken. Eine Weile tollten wir im Kinderbecken herum, dann rutschten wir ein paarmal von der Riesenrutsche. Als wir genug hatten, legten wir uns auf die Pflastersteine rund ums Becken. Sie waren warm, das war gut, denn es war windig und die Luft kalt. Ich fror, streckte mich auf dem Pflaster aus und machte mich ganz flach. Karla blieb sitzen. Ihr war nie kalt.
Das Pflaster war ein guter Platz. Man hatte von hier alles im Blick: die Rutsche, das Kinderbecken, das Schwimmerbecken und das Wichtigste – das Sprungbecken. Meine Nase berührte meine Unterarme. Sie rochen nach Creme und Chlor. Das mochte ich.
Die Schlange unten am Sprungturm war nicht besonders lang. Es hatten sich zwei dicke Jungs, zwei Türken und ein Vater mit seinem Sohn angestellt. Oben, auf der 5-m-Plattform, stand ein dunkelhaariger Junge, wohl ein Freund der beiden Türken. Er machte Faxen und rief etwas zu seinen Freunden herab. Dann ging er nach vorn, sah nach unten, hüpfte zurück und machte Grimassen. Die Freunde brüllten etwas zu ihm hoch. Ich sah, wie die anderen, die unten warteten, ungeduldig wurden.
»Na, nu spring schon!«, rief einer der dicken Jungs.
»He, mach meinen Kumpel nicht an«, sagte der Türke.
»Mir ist kalt«, sagte der Dicke.
Der Türke ging nicht darauf ein, stupste bloß seinen Freund an, die beiden lachten. Der oben machte weiterhin seltsame Bewegungen. Selbst ich wurde langsam ungeduldig. Die dicken Jungs trippelten vor Kälte unruhig hin und her. Der eine maulte schon wieder. Auch der Vater und der Sohn wurden unruhig.
Da endlich – bevor unten der totale Streit ausbrach – machte es Platsch.
»Na ja«, sagte Karla und rümpfte die Nase. »Für einen solchen Sprung so eine Show.« Ich konnte nichts dazu sagen, ich hatte nicht hingesehen.
Auch andere Mädchen, türkische Mädchen, hatten neben uns Platz genommen. Sie bejubelten den Sprung des Jungen, als er auftauchte und zum Beckenrand kraulte.
Jetzt waren die dicken Jungs dran. Der eine machte Katze mit Anlauf, der andere schrie in der Luft: »Kung Fuuuu!«
Dann kamen der Vater und der Sohn. Sie stiegen beide zugleich auf den 3er. Karla stöhnte. Zwei Leute durften nicht gleichzeitig hinauf. Das war allererstes Turmgesetz in diesem Freibad. Wer es nicht kannte, hatte sowieso keine Ahnung. Prompt wurde der Vater vom Bademeister zurückgepfiffen.
Der Sohn ging also alleine vor und stand ein paar Sekunden einsam und verloren an der Plattformkante. Er war vielleicht sechs Jahre alt. Auf seiner Badehose prangte stolz das Abzeichen mit dem Seepferdchen.
»Er wird nicht springen«, sagte Karla.
»Meinst du?«
Karla antwortete nicht. Doch sie hatte recht. Mit kläglichem Gesicht kletterte der Sohn wieder herunter, der Vater redete aufgeregt auf ihn ein.
Eine ganze Weile lagen wir auf den warmen Pflastersteinen und sahen zu. Dann gingen wir wieder ins Wasser, rutschten, balgten herum, bis wir uns wieder zum Trocknen auf die Pflastersteine legten.
Inzwischen waren ganz andere Springer da. Die Türken waren weg, dafür standen jetzt drei spindeldürre Araber an, außerdem ein paar wilde Russen und ein Bodybuilder. Nur die zwei dicken Jungs waren geblieben. Sie sprangen seit zwei Stunden.
»Speck isoliert«, sagte Karla, als der eine der beiden nach der zwanzigsten Katze auftauchte.
Einer der Araber machte einen Auerbachsalto von 7,5 m. Ein anderer machte einen Sprung, der in diesem Freibad als Tsukahara bezeichnet wurde. Es war eine Art Auerbachbewegung, aber zur Seite und irgendwie mit halber Schraube. Dass der Tsukahara ein Sprung beim Turnen war, nämlich ein seitlicher Überschlag mit anschließendem Rückwärtssalto, interessierte niemand. Aber auch ein nicht korrekter Tsukahara hatte seine Tücken. Der Araber klatschte übel auf den Rücken und blieb ziemlich lange untergetaucht. Mit zusammengekniffenem Mund kam er wieder an die Oberfläche, seine Kumpels machten dumme Bemerkungen. Sein Rücken war knallrot, aber trotzdem stellte er sich tapfer wieder an.
»Jetzt!«, sagte Karla, als sie das Gefühl hatte, dass der Sprungturm lange genug durch schlechte Sprünge entweiht worden war. Wir standen auf, kletterten nach oben, ordentlich hintereinander, und sprangen: Anderthalb Delfin von 3 m, Handstandsalto von 5 m, Zweieinhalb vorwärts von 7,5 m. So ging das! Karla zeigte es allen.

Vom Sichten und Schnuppern

Ja, Karla war etwas Besonderes. Aber jetzt keine Angst! Sie ist nicht tot, auch wenn das vielleicht so geklungen hat. Karla lebt, wahrscheinlich ist sie putzmunter. Wir haben uns nur aus den Augen verloren.
Zufällig wohnten wir nebeneinander, zufällig waren wir gleich alt und zufällig kamen wir in dieselbe Klasse. Da hörte die Zufälligkeit aber schon auf. Denn nicht zufällig wurden wir zusammen gesichtet und nicht zufällig entschieden wir uns für dieselbe Sportart.
Gesichtet. Das Wort versteht vielleicht nicht jeder. Gesichtet werden heißt: Eines Tages besucht ein Vereinstrainer den Sportunterricht und schaut sich die Kinder an. Die kleinen, elastischen bekommen dann eine Einladung fürs Geräteturnen oder für RSG, das ist die Abkürzung für Rhythmische Sportgymnastik. Die sehr großen Werfer bekommen eine Einladung für Basketball und linkshändige Werfer eine für Handball. Kinder, die beweglich sind und eine gute Körperspannung haben, bekommen eine Einladung für das Schnuppertraining beim Wasserspringen.
Ich bekam gleich drei Einladungen. Eine für Handball, weil ich Linkshänderin bin, eine für RSG, weil ich Spagat konnte, und aus demselben Grund bekam ich auch eine fürs Wasserspringen.
Meine Mutter war begeistert, vor allem von RSG. Sie ist ja Russin; und alle Russen schicken ihre Kinder zur RSG oder zum Eiskunstlauf. Ich bin aber nicht so der musikalische Typ. Ich mag auch keine Glitzerturnanzüge, keine Hochsteckfrisuren oder Schminke. Das alles braucht man aber für RSG. Ich dachte eigentlich eher an Handball. Meine Mutter fand das schrecklich. Sie hatte ja ohnehin Angst, dass mit mir was nicht stimmt, weil ich nur Jungshosen trug und die Haare kurz geschnitten. Also wie gesagt, ich wäre gern zum Handball gegangen, aber mein Vater – er ist kein Russe, aber dafür Realist – sagte: »Schau dir mal Mama und mich an. Wie groß sind wir?«
Ich hatte keine Ahnung. Mit sechseinhalb hat man einfach noch keine Vorstellung von Körpergröße. Alle Erwachsenen waren riesig.
»Ich bin 1,65 m und deine Mutter ist 1,60 m. Willst du deinen Gegnern zwischen den Beinen rumlaufen?« Er meinte damit, dass Handballspielerinnen meist groß sind. Er fuhr fort: »1,70 m sollte man da schon werden. Und das wirst du nie.«
Also Wasserspringen. Ich konnte mir nichts Genaues darunter vorstellen, aber Wasser klang gut, Springen auch.
Karla hatte nur eine Einladung bekommen, für Wasserspringen, obwohl sie keinen Spagat konnte.
Natürlich hatte auch sie keinen Plan; und von ihren Eltern konnte sie keine Unterstützung erhoffen. Ihre Mutter war allein, von ihrem Vater wusste ich zu der Zeit nichts. Karlas Mutter war Krankenschwester, sie arbeitete im Schichtdienst und hatte immer Ringe unter den Augen.
Karla war erst im Jahr vor unserer Einschulung in die Nachbarwohnung bei uns im dritten Stock gezogen. Im Gegensatz zu unseren alten Nachbarn, die sich ständig gestritten hatten, hörte ich von Karla und ihrer Mutter wenig. Manchmal den Fernseher: Ihr Wohnzimmer grenzte an die Wand, an der mein Bett stand. Karla sah dieselben Sendungen wie ich. Sie selbst hatte ich bis dahin selten gesehen. Sie ging in einen anderen Kindergarten; und dann waren Sommerferien. Wir verreisten.
Richtig kennengelernt habe ich Karla also erst in der Schule. Sie landete auf dem Platz neben mir. Da ich mich immer gern unterhalte, sagte ich: »Wir sind Nachbarn.«
Sie sah mich an, als wäre ich nicht ganz dicht.
»Wir sitzen nebeneinander, klar«, sagte ich. »Aber wir wohnen auch nebeneinander.«
»Ich weiß.«
Ich sagte: »Aber noch nicht so lange.«
»Ich weiß.«
»Wie heißt du?«
»Karla.« Sie fragte nicht Und du?.
»Ich bin Nadja«, sagte also ich.
»Nadja«, wiederholte Karla.
»Also eigentlich Nadeschda, aber meistens bin ich Nadja.«
»Nadeschda«, sagte Karla. »So ein schöner Name.«
Ich glaube, das meinte sie ernst. Ich freute mich und beschloss, Karlas Freundin sein zu wollen.
Nachdem wir also diese Einladungen von den Sichtern bekommen hatten, fragte mich Karla: »Gehst du dahin?«
»Ja, meine Mutter findet, ich soll Sport machen. Ich werde zum Wasserspringen gehen.«
Karla schwieg und schloss kurz die Augen. Das machte sie immer, wenn sie nachdachte, bestimmt auch heute noch. Ihre Lider sind ganz zart und man sieht die kleinen blauen Äderchen darauf. Dann öffnete sie ihre Augen wieder – hab ich schon erzählt, dass sie sehr hell waren, aber von keiner definierbaren Farbe? – und sie sagte: »Ich auch.«
Damals wusste ich nicht, dass sie mit keinem Menschen darüber gesprochen hatte, weder über die Sichtung noch über die Sportart. Das war nicht wie bei mir: Bei uns wurde alles unzählige Male beredet, und dann suchten alle zusammen das aus, was am erfolgversprechendsten schien. Alle bis auf meinen Bruder Kyrill – Kyrill war wasserscheu oder behauptete, es zu sein – waren für Wasserspringen, was eigentlich auch ohne Diskutieren klar war, denn Handball fiel weg genau wie RSG. Es war auch schon klar, dass ich mit meiner Mutter am Donnerstag um 16 Uhr ins Schwimmbad gehen würde, zum Schnuppertraining. Bei Karla war das alles anders. Aber obwohl sie vom Wasserspringen wahrscheinlich noch weniger Ahnung hatte als ich, war sie sich bei ihrer Wahl ganz sicher.
Wie bei ihren Augen war es auch bei ihren Haaren: Sie waren auf merkwürdige Weise farblos. Manchmal war ich der Meinung, ihr Haar sei blond, dann braun, dann wieder rötlich; insgesamt war es eher hell. Das Hellste an ihr war jedoch ihre Haut. Sie war weiß. Vielleicht erinnerte sie mich an eine Seejungfrau; vielleicht war das auch der Grund, warum sie zum Wasserspringen wollte. Dachte ich damals.
Wir sprachen nicht weiter darüber. Meine Mutter arbeitete halbtags in einem Stoffladen und hatte stets ab 15 Uhr Zeit. Sie würde mit mir zum Schnuppertraining gehen.
Sie holte mich an jenem Donnerstag von der Schule ab. Karla hatte den Hort schon vor zehn Minuten verlassen. Sie war die Einzige aus der ersten Klasse, die vom dritten Schultag an allein nach dem Hort nach Hause ging. Meist war das ein wenig vor mir: Sie schulterte ihren viel zu großen Ranzen und verließ mit gesenktem Kopf das Backsteingebäude. Ohne nach links oder rechts zu gucken, ging sie geradewegs nach Hause. So war sie auch im Unterricht: Mit gesenktem Kopf erledigte sie alles, was man ihr auftrug, schnell und fehlerlos und ohne nach links oder rechts zu sehen.
Nach der Schule gingen wir kurz nach Hause, um die Schultasche loszuwerden und das Schwimmzeug einzupacken. Ich stopfte noch rasch eine übrige Stulle aus meiner Brotbüchse in mich hinein, worauf mich meine Mutter anfuhr: »Spinnst du? Doch nicht vor dem Schwimmen!«
»Ich werde nicht schwimmen, sondern springen«, wandte ich ein.
Meine Mutter winkte nur ab. Manchmal ist es ihr einfach zu anstrengend, schnell eine passende Antwort auf Deutsch parat zu haben.
Plötzlich läutete es an der Tür. Ich lief hin und öffnete. Da stand Karla. Sie trug einen Baumwollbeutel, aus dem ein Frotteehandtuch herauslugte. »Könnte ich vielleicht mit euch mitgehen?«
Meine Mutter kam neugierig hinzu: »Gehst du auch zum Schnuppertraining? Hat mir Nadja gar nicht erzählt.« Sie sah mich vorwurfsvoll an, als ob ich was dafür könnte, dass Karlas Mutter nicht da war. Doch meine Mutter fragte schon weiter: »Kann denn deine Mutti nicht?«
Karla schüttelte den Kopf. »Ich glaub, sie hat’s vergessen.«
Natürlich wurde meine Mutter sofort von einer Riesenwelle Mitleid erfasst, denn sie ist ein sehr gefühlvoller Mensch. »Natürlich, kein Problem. Wir nehmen dich mit. Aber sollten wir nicht vorher deine Mutti anrufen?«
»Hab ich schon. Sie sagt, es ist okay.«
Wir glaubten ihr – oder wir wollten ihr glauben – und nahmen sie mit.
Das Schwimmbad war riesig. Es bestand aus unzähligen Ebenen, die teils durch Aufzüge, teils durch Treppen miteinander verbunden waren, und durch das ganze völlig unüberschaubare Gebäude, das nicht nach oben, sondern in die Erde hineingebaut war, zogen sich unendlich lange, mit türkisfarbenem PVC ausgelegte Gänge. Alles war neu, zweckmäßig und kahl. Zunächst gab es da den öffentlichen Bereich mit 50-m-Bahn, Kinderbecken, Plansche und Therapiebecken, über eine Treppe nach unten erreichte man das große 50-m-Wettkampfbecken und das quadratische Sprungbecken mit der Sprunganlage. Alle Höhen – also 3 m, 5 m, 7,5 m und 10 m – gab es mindestens zweimal, auf der anderen Seite des Beckens gab es sechs 1-m-Bretter. Sie waren türkis wie der PVC-Boden in den Gängen.
Ich weiß, Beschreibungen sind langweilig. Aber es muss sein. Das Bad war dann schließlich all die folgenden Jahre unser Lebensmittelpunkt.
Damals verstand ich nichts. Ich verstand weder, welches Becken wo war, noch wie das alles zusammenhing, also architektonisch. Aber immerhin fand ich nach drei Besuchen den Weg von der Umkleide in die Trockenhalle.
Doch halt, so weit sind wir noch nicht. Karla, meine Mutter und ich waren gerade dabei, eine Umkleidekabine zu finden. Auch davon gab es unzählige, genauer gesagt 18. Auch die Sammelumkleiden für Sportvereine waren mit einem türkisfarbenen Gang verbunden. Man hatte uns gesagt, wir sollten in die 12. Aber die 12 war voll, genau wie die 11 und die 10. Schließlich landeten wir in der 9. Auch hier waren Mädchen in Badeanzügen, aber nicht ganz so viele; es waren ein paar Schränke frei. Wir zogen uns um. Karla machte alles allein, ohne zu trödeln, so, als besuchte sie jeden Tag das Schwimmbad. Aber natürlich hatte sie kein 2-Euro-Stück für den Schrank. Meine Mutter verschloss ihre Sachen in unserem. So sollte es bis zum Schluss bleiben: Karla und ich teilten uns einen Schrank. Wir nahmen, wenn es ging, auch immer denselben, die 1293. Dieser Schrank war in der Ecke; man stand da nicht ganz so im Weg, obwohl man als sechseinhalbjähriges Mädchen natürlich überall im Weg steht. Die großen Mädchen in der Kabine, die sich vor dem Schwimmen deodorierten, was ich nicht verstand, beeindruckten mich. Am meisten aber beeindruckte mich, dass sie zwei Badeanzüge übereinander anzogen. Auch das verstand ich nicht.
Dann versuchten wir, das Sprungbecken zu finden. Das dauerte und war mit einem langen Marsch durch mehrere türkisfarbene Gänge verbunden. Endlich am Becken angekommen, erklärte uns eine junge, blonde Trainerin, dass Eltern auf der Tribüne bleiben müssten. Meine Mutter war ganz nassgeschwitzt, denn in der Umkleide wie in den Gängen war es warm gewesen. »Was? Jetzt wieder rauf?«, fragte sie völlig verzweifelt. Die junge, blonde Trainerin blieb hart. »Keine Eltern am Wasser.«
Dann näherte sich eine andere blonde Frau. Sie war älter und sie war hier die Chefin. Das sah man gleich, woran, weiß ich nicht. Sie beugte sich zu mir hinunter und schüttelte mir die Hand. »Wie heißt du?«
»Nadja.«
Meine Mutter hielt der Trainerin pflichtschuldig die Einladung von der Sichtung hin. »Also eigentlich Nadeschda, aber alle nennen sie Nadja«, erklärte meine Mutter eifrig.
Die Trainerin sah mich an: »Ja, also gut, Nadja, und das ist …?« Sie beugte sich nun zu Karla.
»Karla«, sagte ich für Karla. Sie hatte keinen Zettel.
»Ach ja!« Ein Leuchten ging durch die Augen der Trainerin, was ich seltsam fand. Karla hatte doch nicht einmal Spagat gekonnt.
Dann erschien noch eine weitere blonde Trainerin. Sie waren wohl alle blond, dachte ich. Später erklärte ich mir das mit dem vielen Chlorwasser, noch später verwarf ich diese Theorie: Die Trainerinnen gingen ja gar nicht ins Wasser. Wir folgten den anderen Kindern, die auch zum Schnuppertraining gekommen waren. Meine Mutter winkte uns nach. »Viel Spaß!«, rief sie uns hinterher. Dann verschwand sie und tauchte nach wenigen Minuten oben auf der Tribüne wieder auf. Sie winkte uns zu. Ich sah mich in der Sprunghalle um. Auf den Brettern trainierten Kinder; sie waren etwas älter als wir und machten Kopfsprünge. Auf dem Turm trainierten noch größere Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Aber eigentlich nahm ich das damals gar nicht wahr. Ich weiß nur, dass es so gewesen sein muss, denn es war immer so.
Das Schnuppertraining sah so aus: Erst mussten wir eine Bahn schwimmen. Fürs Wasserspringen ist es von Vorteil, wenn man einigermaßen schwimmen kann. Dann setzten wir uns auf die flachen Stufen unter dem Turm und die Trainerin zeigte uns die richtige Handhaltung fürs Eintauchen. Man umfasst dabei die eine Hand mit der anderen und streckt die Arme über dem Kopf. Die Arme müssen hinter den Ohren sein. Das sei ganz wichtig, erklärte die Trainerin. Schließlich mussten wir alle ein paarmal vom 1-m-Brett springen. Ein Mädchen traute sich nicht, aber Karla fiel da schon auf. Sie sprang kerzengerade ins Wasser und tauchte fast ohne Spritzer ein. Sie bewies, dass dieser Sprung kein Zufall gewesen war. Auch die anderen Sprünge machte sie so. Einer gelang ihr wie der andere. Ich selber sprang irgendwie, aber auch mit mir war die Cheftrainerin – sie hieß Frau Schenck – zufrieden.
»Schön, schön«, sagte sie und nahm 15 Kinder beiseite, sechs ließ sie stehen. »Ihr könnt kommen«, sagte sie zu den 15 Kindern. »Training ist dienstags und donnerstags von 16 bis 18 Uhr.«
Das war alles. Frau Schenck gab uns noch Zettel mit, die die Eltern ausfüllen sollten.
Karla war zufrieden, und weil sie es war, war ich es auch. Wir waren auserwählt.
Das alles lag jetzt sechs Jahre zurück. Wir hatten viel gelernt und gingen seit zwei Jahren auf die Sportschule. Die Sportschule zu besuchen, war eine wichtige Entscheidung gewesen damals, entscheidend für das Leben, denn wir hatten dadurch bereits mit zehn Jahren einen Beruf. Für meine Mutter war die Sache klar gewesen, denn die Sportschule klang solide für ihre russischen Ohren. Sie misstraute dem deutschen Bildungssystem zutiefst und fand eine Eliteschule des Sports gerade angemessen für mich. Mein Vater war da weniger leidenschaftlich.
Ich selber hatte kaum darüber nachgedacht. Die Sportschule war der logische Schritt nach vier Jahren. Ich kannte kein Leben ohne Wasserspringen und kein Leben ohne Karla. Und eins war klar: Wir waren gut, besser als fast alle in unserem Alter.
Bevor man in die Sportschule gehen konnte, erhielt man eine vierjährige Springausbildung, an deren Ende man, neben den vier Grundsprungarten, einen zweieinhalbfachen Salto vom 3-m-Brett und einen soliden Schweizer Handstand hinbekommen sollte. Zu Beginn waren wir 15 Kinder und einige hatten schon Mühe mit einem Fußsprung gestreckt vom 1-m-Brett. Nach einem Jahr waren wir nur noch acht und konnten Salto. Die Kinder hörten aus den unterschiedlichsten Gründen auf. Eines Tages kamen sie nicht mehr zum Training, und wenn es uns auffiel – das war oft erst nach ein paar Wochen – hieß es: Die oder der hat sich abgemeldet. Zum Schluss waren wir nur noch drei Mädchen: Karla, Isabel und ich. Rosi war später dazugekommen.

Springen drei Irre vom Zehner

Jetzt waren wir in der siebten Klasse und der erste Schultag war fast vorbei.
Wir fuhren von der Schule zur Schwimmhalle, Karla und ich wie immer zusammen auf unseren Rollern. Der Weg war nicht wirklich weit, aber mit den Rollern ging es schneller. Sie waren auch praktisch: In den langen Gängen des Schwimmbads rollten sie geräuschlos, sie passten zusammengeklappt in den Spind und man konnte sie in die S-Bahn mitnehmen. Karla fuhr immer ein Stück hinter mir, ihr Roller war klappriger als meiner. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust auf Training.
Wir erreichten das Bad. Ich bremste, Karla fuhr hinten auf. Sie sprang ab. »Pass doch auf!«, schnauzte sie mich an. Mein Vater hat mir erklärt, dass bei Auffahrunfällen fast immer der Hintere schuld ist. »Wieso ich?«, blaffte ich zurück und drückte den Türöffner.
Karla zuckte nur mit den Schultern, schob ihren Roller hinein, blieb dann aber stehen und sah sich verunsichert um.
»Was ist?«, fragte ich. Unseren kleinen Unfall hatte ich vergessen – schon allein deswegen, weil ihn Karla ebenfalls vergessen zu haben schien.
»Irgendwas ist anders als sonst«, antwortete sie.
Ich schüttelte den Kopf. Alles war gleich. Wir gingen durch das Foyer der Schwimmhalle zum Süßigkeitenautomaten. Das tat ich immer, und Karla bekam immer was ab, denn sie hatte kein Geld für so etwas. Ich warf ein 1-Euro-Stück ein und tippte die 53. Der Automat begann zu brummen. Hinter der Glasscheibe setzte sich eine Spirale in Bewegung. Ich hatte mich für Kitkat entschieden. Das konnte man gut teilen.
Aber das Kitkat blieb in der Spirale hängen. Ich schlug gegen die Scheibe und fluchte. »Geht ja schon prima los!«, fauchte ich den Automat an. Ich schlug noch mal gegen die Scheibe und griff dann ins Geldrückgabefach. Nichts. Natürlich. Ich hätte jetzt zu dem Mann in der Cafeteria gehen und ihm sagen sollen, dass der Automat klemmt. Das tat ich aber nicht, das tat ich nie. Der Automat hatte zu mir gesagt: Nein, heute nicht, und das akzeptierte ich.
»Siehst du«, sagte Karla, die natürlich enttäuscht war, dass unser Kitkat hängen geblieben war. »Irgendwas stimmt heute nicht.«
So einen Schluss konnte man, bloß weil der Automat keine Lust hatte, nicht ziehen, fand ich. Der Automat hatte öfter keine Lust.
Da kam uns Isabel entgegen. Ohne uns zu begrüßen, rief sie uns zu: »Habt ihr schon gesehen? Da ist kein Wasser drin.«
»Wo?«
»Im Becken. Wir können nicht springen.«
»Wie?«, fragte Karla völlig verwirrt.
Isabel lief schon auf die Tür zur Tribüne zu. Wir folgten ihr. Sie öffnete sie schwungvoll; ein Schwall warmer Luft kam uns entgegen. In der Schwimmhalle waren über 30 °C. Wir sahen nach unten. Da war das Sprungbecken, fast fünf Meter tief und hellblau gekachelt, aber es war leer und so trocken wie die Wüste Gobi. Damit niemand aus Versehen in das leere Becken stürzte, hatte jemand ein rot-weißes Absperrband gespannt.
»Aber warum ist es leer?«, stammelte Karla. Wir starrten nach unten. Kaum zu glauben, dass dieses Becken so tief war! An einer Stelle fehlten ein paar Kacheln und das Geländer zum Heraussteigen war abmontiert. Traurig sah es aus, das leere Becken.
Isabel zuckte mit den Schultern. »Dann fällt vielleicht das Training aus.«
Dieser Gedanke gefiel mir.
»Man hätte uns sicher mitgeteilt, wenn das Training ausfiele«, sagte Karla.
»Vielleicht sollten wir an der Kasse fragen«, schlug Isabel vor. Sie schulterte ihren Rucksack und wir verließen die Tribüne wieder.
»Reparaturarbeiten«, sagte die Frau an der Kasse. »In zwei Wochen habt ihr wieder Wasser.«
»Und bis dahin?«, fragte Karla, jetzt völlig verzweifelt.
Die Kassenfrau wusste das auch nicht. »Aber es findet statt«, sagte sie und meinte damit das Training.
Karla ging mit hochgezogenen Schultern voraus. Wie immer gingen wir in die 9, wie immer wollten wir zusammen den Schrank mit der Nummer 1293 nehmen. Er war aber belegt.
»Siehst du«, sagte Karla. »Ich hab ja gesagt, etwas stimmt nicht.«
»Kannst du auch noch hellsehen?«, fragte Isabel schnippisch. Karla und sie waren die ärgsten Feindinnen, wobei die Feindschaft ganz klar von Isabel ausging, weil sie ganz klar dauerneidisch war.
Isabel schnappte irgendwie nach Luft, wahrscheinlich um ihren Dauerneid zu bändigen, und dann sagte sie: »Hähä, kennt ihr eigentlich den?«
»Wen?«, fragte ich. Ich war immer drauf aus, zwischen den beiden zu vermitteln, und da war ein Themawechsel nie schlecht.
»Den Witz mit den drei Irren, die …«
In diesem Augenblick ging die Tür auf und Rosi kam herein. Rosi hatte bis vor zwei Jahren Geräteturnen gemacht, aber im Wasser tat sie sich noch immer schwer. In den Vergleichswettkämpfen schnitt sie immer schlechter ab als wir, was ihr zu Anfang nichts ausgemacht hatte. Der Wechsel innerhalb der Sportschule von Turnen auf Wasserspringen war kompliziert gewesen; und dieses Jahr würde es sich entscheiden, ob sie bleiben konnte oder nicht.
»Hi, Rosi«, sagte Isabel. Isabel mochte Rosi, aber vermutlich nur deswegen, weil Rosi bei Wettkämpfen verlässlich hinter ihr landete. »Mann, bist du braun. Wart ihr nach dem Trainingslager die ganze Zeit in Italien?«
Rosi war zur Hälfte Italienerin und hieß eigentlich Rosalia. So nannte sie aber niemand. Ihre Mutter kannte Giorgio Cagnotto, einen berühmten italienischen Wasserspringer, persönlich. »Habt ihr gesehen, es ist kein …«
»Ja, haben wir. Ich beneide dich.«
»Mich?«, fragte Rosi erstaunt.
»Guck mich an. Das kommt raus, wenn ich mich drei Wochen an die Ostsee lege.« Isabel zeigte Rosi einen leicht geröteten Rücken. Isabel war sehr blond, aber nicht wirklich hübsch. Ihre Augen waren braun und standen für meinen Geschmack etwas zu nah zusammen.
Aber dafür hast du so tolles blondes Haar.