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»Unser zukünftiges Nicht-mehr-da-Sein
sitzt und geht und steht neben uns…«

Wilhelm Genazino,

Die Belebung der toten Winkel

TEIL EINS

Dienstags um kurz vor halb fünf warten Professor Sander und Frau von Kanter neben der Drehtür von Haus Ulmen, ein kleines hilfloses Empfangskommitee. Sie starren auf das Kreuz an der Wand und auf die großen Vasen, über deren Ränder sich die langsam welkenden Zweige des Sommerflieders biegen, in der Hitze hält er keine Woche.

Niemand in Haus Ulmen bekommt dienstags Besuch. Nur Frau von Kanter und der Professor hätten morgens mit der süßen Gewißheit aufwachen können, daß sich nachmittags die Türen im Foyer mit einem Schmatzen öffnen; die eigenen Kinder, frisches Blut, Regina von Kanter und Ernst Sander, mit Staub an den Schuhen und einer Straßenbahnkarte in der Tasche, mit dem Geruch des Spätsommers in den Mänteln.

Ich sollte wieder an die Arbeit, sagt der Professor zu Frau von Kanter, die immer die Augen geschlossen hält, bis sie die durchdringende Stimme ihrer Tochter hört, bitte entschuldigen Sie mich, doch gerade als er sich abwendet und zu seinem Buch zurückeilen will, hört er Ernst hinter sich, warte Papa, ich bin etwas zu spät, der Verkehr ist sagenhaft. Ernst schiebt seinen Arm unter den Ellbogen des Professors, und zusammen gehen sie durch die Halle, am Springbrunnen vorbei. Tritt ein, sagt der Professor höflich und sucht in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel. Einfach aufdrücken, Papa, du weißt doch, sagt Ernst und hält dem Professor die Tür auf.

Ich habe dir alle Zeitungen mitgebracht, sagt er schnell, bevor der Professor ihn fragen kann, warum er gekommen ist, nur die Reisebeilage nicht, Lili hat darauf gekritzelt. Wer, fragt der Professor, und dann erinnert er sich an Lili, die ihn auch schon besucht und auf seinem Schoß gesessen hat, ein kleines Mädchen mit weichem Bauch und strähnigen Haaren. Lili, natürlich, sagt er, nachher muß er sich Aufzeichnungen machen, um beim nächsten Mal die richtigen Fragen zu stellen. Er versucht es auf gut Glück, was macht sie denn in der Schule, fragt er und sieht gleich in Ernsts Gesicht, daß er falsch gefragt hat, Ernst schaut auf seine Hände und den Packen mit Zeitungen und sagt nichts. Weißt du, ich brauche die Reisebeilage ja gar nicht, sagt der Professor schnell, um ihn zu erlösen, nach China fahre ich erst nächstes Jahr.

Sie lachen zusammen, und Ernst zählt einige Reisen auf, die sie gemacht haben, als sie noch eine Familie waren. Die Mücken in Schweden, und wie der Professor für den weinenden, rotgestochenen Ernst ein Fliegennetz aus Mamas Seidenschal gemacht hat. Die verschlungenen Rittergeschichten, mit denen er ihn auf dem Flug nach Portugal die Angst vergessen ließ. In Frankreich schrieb und zeichnete er nur für Ernst mit seinem feinen schwarzen Tuschestift, mit dem er sonst Reisenotizen in seinen Lederblock kritzelte, ein kleines Bilderbuch über den französischen Sonnenkönig, um Ernst in die Schlösser zu locken. Ernsts Lieblingsbild zeigte König Ludwig auf einem verschnörkelten Nachttopf. An die Loire will ich mit Lili auch einmal, sagt Ernst, vielleicht könnten wir alle zusammen, und der Professor nickt höflich, obwohl er nicht verreisen möchte, er weiß zu wenig über Lili, und die Arbeit wartet auf ihn.

Weil er nie aufhört zu arbeiten, muß man ihm abends den Bleistift aus der Hand nehmen und ihn zum Essen bewegen. Er sträubt sich, ich brauche nichts, sehen Sie denn nicht, daß ich mitten in einem schwierigen Gedankengang stecke, man kann das nicht einfach abstellen, verstehen Sie. Das verstehen alle, aber dennoch muß der Professor essen und vor allem trinken, sonst trocknen Sie aus, und dann können Sie auch nicht mehr denken. Weil ihm das einleuchtet, stellt sich der Professor immer etwas Wasser auf den Schreibtisch, der das halbe Zimmer füllt, und vergißt es dort. Den Schreibtisch hat Ernst ihm in Haus Ulmen selbst wieder aufgebaut, das ist nicht das Ende, Papa, hat er immer wieder gesagt, du kannst hier arbeiten wie zu Hause, besser sogar.

Auch jetzt möchte er arbeiten, er sieht das Buch auf dem Schreibtisch und fühlt die Gedanken noch in Reichweite, gleich werden sie ihm verlorengehen, und wenn sein Sohn endlich aufbricht, wird es ihn viel Zeit kosten, sie wiederzufinden. Vielleicht solltest du dich auf den Weg machen, schlägt er vor, doch Ernst seufzt nur, aber Papa, ich bin doch gerade erst gekommen, willst du mich denn schon wieder loswerden. Wieder lachen sie ein wenig. Heute gab es Kirschkuchen, sagt der Professor, wie jeden Dienstag, antwortet Ernst und zeigt auf den Computer, was meinst du, Papa, soll ich dir den mal aufbauen. Ach weißt du, vielleicht beim nächsten Mal, sagt der Professor und fängt an zu erklären, woran er arbeitet, als plötzlich jemand heftig klopft und Ernst herauswinkt.

Der Professor hört Getuschel und Geraune, er mag es nicht, wenn geflüstert wird, und will gerade aufstehen, da kommt Ernst zurück und nimmt seine Hände, Papa, Gabriele hat mir von heute morgen erzählt, wir müssen über deine Medikation nachdenken. Der Professor erinnert sich an den Morgen, den schwierigen Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte. Das Buch lag aufgeschlagen auf seinen Knien, gerade noch hatte er über diesen Satz nachgedacht, doch mit einemmal drängte sich ein Grunzen auf seine Lippen, das sich zu einem Stöhnen und dann zu einem schrillen Jaulen ausweitete, und er konnte nicht mehr aufhören. Er saß steif an seinem Schreibtisch, die Füße fest auf dem Boden nebeneinander gestellt, eingefroren in seinen Schrei. Jemand klopfte an die Wand oder an die Tür, er hörte es und wollte die Lippen aufeinanderpressen, es war ja viel zu laut, aber die Lippen waren festgezurrt im Schrei, und das Buch rutschte von seinen Knien. Er griff nach der Tischkante, um sich festzuhalten, und fegte dabei die Papiere vom Tisch, seine Aufzeichnungen, an denen er arbeiten wird, bis er stirbt. Ernst hat ihm sogar diesen Computer gebracht, in einem schmalen neuen Lederetui, das jetzt am Nachttisch lehnt.

Der Professor konnte, während der Schrei ihm die Finger zusammenkrampfte, an seinen Sohn denken, du solltest die Dinge nicht dem Zufall überlassen, hatte Ernst gesagt und den Computer aus dem Etui geschält, deine Arbeit ist wichtig. Der Professor sah die Bitte im Gesicht seines Sohnes und beugte sich über die winzigen Tasten, wie geht das denn. Ich erkläre es dir, sagte Ernst, es ist nicht schwer, wirklich, und du kannst alles speichern. Sie schauten sich an, bis der Professer die Wehmut seines Sohnes nicht mehr ertragen konnte. Dank dir, sagte er, ich werde es versuchen. Dann wollte er Ernst einen Sherry anbieten, aber das Wort war verlorengegangen, möchtest du einen, fragte er, einen, einen Kaffee, fragte Ernst, um den Kampf des Professors nicht mitansehen zu müssen. Nein, rief der Professor, einen Wein oder wie heißt das, wie heißt das denn, dieses süße Zeug, dieses. Ich habe gar keinen Durst, sagte Ernst und schaute auf den Bildschirm.

Sherry, dachte der Professor und schrie weiter, bis ihm jemand von hinten die Hände auf die Schulter legte und ihn leicht schüttelte, weil das hilft, die Muskeln zu entspannen, schon gut, Professor, komm runter, du schreist ja die Bude zusammen, da sackte er in sich zusammen, keuchend, jemand gab ihm die richtige Pille, die blauen sind gut gegen Schreien, und er schnaufte, Sherry. Sherry. Nur um es nicht zu vergessen.

Wieso Medikation, sagt der Professor, wogegen denn. Du hattest einen Anfall, Papa, ruft Ernst, einen schlimmen Anfall, wirklich, Papa, das sollten wir ernst nehmen. Du hattest als Kind auch Anfälle, sagt der Professor, deine Mutter hat dich in eine Decke eingewickelt und ins Badezimmer getragen, wir haben die Hähne aufgedreht, bis alles voll war mit Wasserdampf, weißt du, das hat dir geholfen. Er streichelt über die Hand seines Sohnes, die auch schon Flecken hat, und dann reicht es mit dem Gestreichel, er steht auf und gießt zwei Zahnputzgläser voll mit Whiskey, vielleicht kannst du mir mal anständige Gläser besorgen. Die Zahnputzgläser sind schlecht gespült, voller Fingerabdrücke. Der Professor hebt sein Glas, auf, auf, er weiß nicht, worauf sie anstoßen sollen, gar nichts will ihm einfallen, und er überlegt eine Weile, das Glas in der hocherhobenen Hand. Als Ernst, der noch zusammengesunken im Sessel sitzt, den Blick hebt, fällt ihm endlich das Richtige ein. Auf Lili, sagt er und nimmt einen großen Schluck.

Frau von Kanter hält die Augen geschlossen, auch als sie das Schleifen der Drehtür und die Absätze ihrer Tochter auf dem blankgeputzten Boden hört, und dann knallt der Kuß auf ihrer Stirn, Mama, wie geht es dir, schau mal, was ich habe. Früher haben sie sich nie geküßt. Mühsam zieht Frau von Kanter die Augenbrauen hoch und starrt direkt in die Augen ihrer Tochter.

Als man sie nach Haus Ulmen brachte, hat Regina ihr ein Vogelhaus geschenkt, das vor ihrem Fenster aufgebaut wurde. Da hast du was zu gucken, Mama. Du machst ein paar Sonnenblumenkerne rein, und schon hast du das reinste Theater. Hatten wir doch zu Hause früher auch, als ich noch klein war, oder. Nein, wollte Frau von Kanter sagen, aber es kam nur ein Blubbern, und Regina von Kanter fuhr dazwischen, das Futter hab ich auch gleich mitgebracht. Das Futter hilft Frau von Kanter wenig, weil sie ihre Hände kaum bewegen kann, aber man füllt den Napf jeden zweiten Tag bis zum Rand und setzt Frau von Kanter vor das Fenster, da brauchen Sie nicht lange zu warten, versichert man ihr, als ob Frau von Kanter es eilig hätte.

Also sitzt sie da und starrt auf die Vögel, die sie aber nicht hört, weil die Fenster gut isoliert sind, sie sieht nur, wie die Schnäbel sich öffnen und schließen und nach rechts und links hacken. Ekelhaft, diese Balgerei, denkt sie, aber Krieg ist besser als nichts, und wegschauen kann sie sowieso nicht, sie kann ihr starres Gesicht kaum verziehen, und wenn ihre Nase läuft, tropft es auf ihre Bluse, ekelhaft. Sie senkt den Blick und bewegt ihre Finger, die weiß sind wie gebleichtes Holz, langsam über die glänzende Stuhllehne. Sogar die Fingernägel sind weiß und zittern über dem satten Mahagoni.

Hier, sagt Regina und drückt ihr einen Blumenstrauß in die tauben Finger, Margeriten, und wie heißen die blauen noch mal, die hatten wir doch früher im Garten auch. Nein, will Frau von Kanter sagen, Rittersporn nie, das ist Schneckenfraß, und sie bewegt die Lippen. Regina wartet nicht auf das Gurgeln, sie hat schon weitergeredet, sie redet pausenlos, reißt ihr die Blumen wieder aus der Hand und wedelt damit herum, wo sind die Vasen, wir müssen Maik fragen.

Natürlich weiß sie, wo die Vasen sind, sie stehen wie immer auf dem Rollwagen neben dem Speisesaal, aber sie will Maik den schönen Sommerstrauß zeigen, nie gibt sie Ruhe, bis sie dem bockigen Jungen die Blumen unter die Nase gehalten hat, als ob sie etwas beweisen müßte. Margeriten und Rittersporn leuchten in sauberen Farben. Reginas Haut sieht gegen das klare Weiß und Tiefblau fahl aus, gelblich, beinahe verblichen, denkt Frau von Kanter, man könnte meinen, sie wird alt, sie wird mir ähnlich, und sie verzieht die Lippen langsam zu einem Lächeln.

Regina schiebt die schief lächelnde Frau von Kanter in ihr Zimmer, die Margeriten unter den Arm geklemmt, den Kopf dreht sie nach allen Seiten wie ein Falke. Sie hat sich Mühe gegeben, alle kennenzulernen, und nun muß sie grüßen, nach rechts und links, wie bei einem Staatsbesuch, hallo Frau Sörens, wunderbar wie das hier duftet, was haben Sie denn wieder gezaubert. Och, brummelt Frau Sörens verlegen und erfreut, nichts Besonderes, Kirsch mit Butterstreuseln, wissen Sie, aber Regina schiebt schon weiter, Maik, wir brauchen eine Vase, der Sommer ist da. Maik zuckt mit den Schultern und schlurft zum Speisesaal. Sogar die aus den oberen Etagen kennt sie. Wir müssen uns einleben, hat sie zu Frau von Kanter gesagt, als ob sie selbst hier bleiben müßte, als ob sie nicht hundertachtundsechzig Stunden die Woche in der Beethovenstraße wohnte, nein residierte, alles für sich, keine Störenfriede mehr, und für die Mutter das Vogelhaus und HohesC.

Im Zimmer füllt sie den Orangensaft in Frau von Kanters Schnabeltasse und schraubt den Deckel fest, sie hält ihn nur mit Daumen und Zeigefinger, als ekele sie sich. Hier Mama, das wird dir guttun. Frischgepreßt wäre noch besser, die Presse hast du ja zu Hause, denkt Frau von Kanter und spitzt die Lippen, ein feuchtes Pusten, das Regina zusammenfahren läßt. Einige Sekunden lang hängt eine bange Stille über ihnen. Dann schüttelt Regina den Kopf, beinahe tadelnd, und plappert weiter, Gabriele hat dich heute schickgemacht, das habe ich gleich gesehen, vielleicht könnten wir ihr ein paar von deinen Kleidern vererben, oder, Mama? Du brauchst doch hier nicht soviel, ich meine, ich will ja nichts weggeben, ohne daß du davon weißt, aber das muß man ja auch mal praktisch sehen.

Sie verheddert sich und errötet sogar ein wenig an den Schläfen. Wieder hört sie auf zu reden. Frau von Kanter läßt ihren Blick auf dem bleichen Gesicht ruhen, verhuschte rötliche Flecken, die Augen hat sie sich bunter gemalt als sonst, und die Haut unter den Augenrändern zuckt. Sie ist müde, denkt Frau von Kanter, und auf einmal will sie ihrer Tochter durch das strähnige Haar fahren und ihr eine Hand in den harten Nacken legen. Sie schließt kurz die Augen und hebt die Fingerspitzen. Du hast Durst, ich weiß, sagt Regina, und bevor Frau von Kanter die Lider heben kann, preßt sie ihr die Schnabeltasse zwischen die Lippen.

Um sechs klopft Maik mit dem Abendbrot. Der Professor schüttelt Ernst die Hand, so fest er kann, damit Ernst die Kraft in seinen Fingern spürt und unbesorgt davongehen kann, in eine Wohnung, die der Professor nie gesehen hat.

Regina steht an der Garderobe, als Maik das Tablett hereinreicht, wollen Sie noch füttern, aber sie hat sich schon ein Wolljäckchen umgelegt und schaut ihn erschrocken an, ich muß mich wirklich auf den Weg machen, sie kann es doch auch selbst, oder. Noch ein heftiger Abschiedskuß, der Frau von Kanters Kopf nach hinten drückt, und weg ist sie. Frau von Kanter starrt auf das Magermilchyoghurt und das kleingeschnittene Käsebrot. Im Zimmer breitet sich Stille aus. Dann hebt sie eine Hand und fängt langsam an, das Zellophanpapier vom Brot zu lösen.

Die meisten kommen ja am Wochenende, über dem Parkplatz von Haus Ulmen liegt dann eine Wolke von Abgasen, und durch die Drehtür fädeln sich Ströme gut frisierter Töchter und Söhne, Schwiegertöchter und Enkel mit geputzten Schuhen. Die Enkel haben ihre Kopfhörer und Handys im Auto gelassen, die Töchter und Söhne räuspern sich und ducken sich unmerklich, wenn sie ins Foyer treten. Die Blumensträuße duften heftig. In der Sitzecke gleich am Eingang starren die Immergleichen mit unbeweglichen Gesichtern und warten auf niemanden. Die Besucher werfen rasch noch einen Blick auf die Uhr, damit sie wissen, wann sie wieder gehen dürfen, zwei Stündchen sollten es schon sein, das gehört sich so. Wenn am Sonntag abend der letzte Wagen ausparkt, gehen in Haus Ulmen die Lichter an, und die Immergleichen wenden sich langsam von der Drehtür ab.

Am Montag erst kommt das Wochenende zur vollen Blüte, die Enkelin hatte besonders nette Haare, das Enkelchen lernt jetzt Geige, richtige Musikerfinger hat er, so lang und schmal, der Schwiegersohn hat eine neue Stelle angeboten bekommen, aber er muß sich das gut überlegen, schließlich fühlen sich die Kinder so wohl in der Schule, das setzt man nicht einfach aufs Spiel, die Tochter will bauen, aber sie hat keine Ahnung, worauf sie sich einläßt, diese Bauerei, das kann einem ja den letzten Nerv rauben, darüber ist schon so manche Ehe in die Brüche gegangen.

Dienstags vertrocknen die Geschichten, länger als einen Tag halten sie kaum in Haus Ulmen, und es kommt kein Nachschub, die jungen Leute müssen ihr eigenes Leben leben, man kann nichts verlangen. Nur der Professor und Frau von Kanter sind mit Besuch gesegnet, die junge Frau sieht nicht gut aus, murmeln die Immergleichen, die in der Eingangshalle noch am Fenster sitzen, sich Flusen von den Ärmeln zupfen und auf den Parkplatz und Frau von Kanters Tochter starren, die sich neben ihrem roten Golf eine Zigarette anzündet.

Regina sieht die blassen Gesichter hinter der Scheibe und atmet tief ein und aus, eine Mischung aus Nikotin und Abendluft, die ihr sofort in den Kopf steigt wie ein Rausch. Sie hört die Amseln, die Bremsen des Stadtbusses, einen Rasenmäher, und einen Augenblick lang will sie die Immergleichen nach draußen winken, das müßt ihr hören, will sie rufen, es riecht nach gesprengtem Rasen, nach Sommerflieder, nach Parkplatzstaub, wunderbar, will sie rufen, und wirklich hebt sie ihre Hand und nickt zum Fenster hin, gerade als sich der Sohn des Professors durch die Drehtür schiebt.

Sein Kopf ist noch zwischen die hochgezogenen Schultern geduckt, aber als der Abend ihn aufnimmt, bleibt er stehen, biegt die verkrampften Finger, streckt den Rücken durch und sieht die winkende Tochter. Langsam geht er auf sie zu. Entschuldigung, ruft Regina, ich meinte Sie gar nicht, ich meine, ich wollte mich eigentlich nur verabschieden, und Ernst lacht, erleichtert, weil es wieder vorbei ist, er ist draußen, das schlechte Gewissen meldet sich erst später am Abend, er ist frei. Er sagt, ein wunderbarer Sommerabend. Das hat er noch nie gesagt, er verabscheut Floskeln, aber es ist wirklich wunderbar sommerlich, Haus Ulmen liegt still in der Dämmerung, und erst in einer Woche, einer kleinen Ewigkeit wird er wieder hier sein. Sie kommen auch immer dienstags, sagt Regina, es ist keine Frage, sie wissen es beide, denn die Besucher halten in den Gängen nacheinander Ausschau und nicken sich kaum merklich zu. Erdgeschoß, sagt der Sohn, und sie nicken und seufzen beide.

Regina bietet Ernst eine Zigarette an, und er nimmt eine, obwohl er nicht mehr raucht. Er fühlt sich wagemutig und ein wenig ungeschickt, als er den ersten Zug seit vier Jahren nimmt, der Rauch schlägt ihm in die Kehle und gleich ins Blut, und es schwindelt ihn. Mit einer Hand stützt er sich auf die Kühlerhaube des roten Golf, während sie über Haus Ulmen reden, über Frau Sörens’ Kirschkuchen, die Renovierung des Speisesaals. Mit den Fußspitzen verreiben sie die Zigaretten im Kies. Kann ich Sie mitnehmen, fragt Regina. Danke, sagt Ernst, ich gehe lieber ein paar Schritte zu Fuß, und sie nicken sich zu.

Ernst geht durch den Abend und schlenkert mit den Armen. Ein leichter Wind fährt ihm unter das Hemd und durch die Haare, die er sich kurz rasiert, um die kahlen Stellen nicht verstecken zu müssen. Er federt leicht in den Knien, er fühlt sich drahtig und gelenkig. Noch spürt er den festen Händedruck seines Vaters.

Regina stellt das Autoradio sehr laut und kurbelt das Fenster herunter. Sie fährt schnell durch die ruhigen Straßen und trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. Nicht auch noch füttern, denkt sie, dafür haben sie doch Leute, und an der roten Ampel denkt sie an die zwanzig Kleider ihrer Mutter im hinteren Schrank, das blaue Admiralskostüm mit den Goldtressen, das Schottische, das Elfenkleid mit der silbernen Knopfleiste, alles eingeschlagen in Plastik. Sie schließt kurz die Augen, und als sie wieder hochschaut, ist es grün.

Ernst und Regina verschwinden in der grünen Dämmerung, das Abendbrot wird abgeräumt, die Rolladen prasseln herab, und das Pfeifen der Amseln zerrinnt in den Fanfarenstößen der Tagesschau.

An den Dienstagabenden läßt Ernst die Rolladen oben, er braucht die Luft und das Gefühl, im Notfall durch das Fenster entkommen zu können. Die Mücken sammeln sich an der weißen Tapete hinter seiner Schreibtischlampe. Er schlägt ein paar Mal zu, aber die meisten erwischt er nicht, und das stört ihn kaum, sie stechen ihn nicht, weil er wie sein Vater zu dünnes Blut hat.