Über José Saramago

Foto: Isolde Ohlbaum

José Saramago (19222010) wurde im portugiesischen Azinhaga geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums arbeitete er als Maschinenschlosser, technischer Zeichner und Angestellter. Später war er Mitarbeiter eines Verlags und Journalist bei Lissabonner Tageszeitungen. Ab 1966 widmete er sich verstärkt der Schriftstellerei. Während der Salazar-Diktatur gehörte er zur Opposition. Der Romancier, Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist erhielt 1998 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hoffmann und Campe erschienen u.a. Die Reise des Elefanten, Kain, Claraboia oder Wo das Licht einfällt, Hellebarden sowie Das Tagebuch und der Gedichtband Über die Liebe und das Meer.

 

Buch der Ratschläge

Nicht so hat es der Historiker in seinem Buch beschrieben. Da heißt es lediglich, dass der Muezzin das Minarett erstieg und von dort aus die Gläubigen zum Gebet in die Moschee rief, ohne genauere Umstände, kein Wort davon, ob es Morgen war oder Mittag, oder die Sonne gerade unterging, denn seiner Meinung nach war diese kleine Einzelheit für die Geschichte gewiss ohne Belang, Hauptsache der Leser erführe, dass der Autor in den Dingen jener Zeit hinlänglich bewandert war, um ihrer verantwortungsvoll Erwähnung zu tun. Und hierfür sollten wir uns dankbar zeigen, denn sein Thema, da es sich um Krieg und Belagerung handelt, also zuhöchst um Mannhaftigkeiten, könnte sehr wohl auf verwässerndes Gebet verzichten, da es von allen Gebärden auch noch die unterwürfigste ist, gibt sich doch in ihr der Handelnde kampflos gefügig, allemal unterlegen. Obschon hier, damit nicht ungeprüft und außer Betracht bleibe, was möglicherweise dieser Entgegensetzung von Gebet und Krieg zuwidersteht, bereits hier, da die Zeit noch so nahe liegt und es an lebenden Zeugen noch so viele und so hervorragende sind, obschon also bereits hier, wiederholen wir, erinnert werden könnte an das Wunder von Ourique, jenes so erzberühmte, als Christus dem portugiesischen König

Schöne Zeiten waren das, als wir, zu unserem Genügen, nur mit den geeigneten Worten zu bitten brauchten, sogar in heiklen Fällen, sozusagen schon enttäuscht, oder geduldig und dabei doch ohne Hoffnung auf eine Lösung. Ein Beispiel hierfür ist besagter König, der, mit verkrüppelten oder, im jetzigen Sprachgebrauch, mit atrophierten Beinen geboren, auf außerordentliche Weise Heilung erfuhr, denn ohne dass ein Arzt Hand anlegte, gesundeten diese mit einem Mal. Und es gibt, sicherlich weil er von der Vorsehung zum Herrscheramt bestimmt war, noch nicht einmal Anzeichen, dass die hohen Mächte hätten bemüht werden müssen, die Jungfrau und den Herrgott meinen wir, und keineswegs die sechstrangigen Engel, damit der heilsame Vorfall einträte, dem Portugal vielleicht,

An Bibelgeschichte langt es uns erst mal. Eher gälte es zu wissen, wer die Geschichte vom trefflichen Erwachen des Muezzins an jenem Lissabonner Morgen verfasste, mit solcher Fülle an wahrheitsgetreuen Einzelheiten, dass es wie ein Augenzeugenbericht anmutet, oder zumindest den Eindruck erweckt, dass da recht geschickt ein Dokument jener Zeit genutzt wur

Der erste fragliche Punkt, wenn man die Geschichte von hinten aufrollt, ist jener flüchtige Einfall, dass in die steinerne Brüstung am Rundgang des Minaretts irgendein Zeichen eingeritzt sein könnte, gewiss wohl ein Pfeil, der nach Mekka wiese. Nun aber, wie fortgeschritten in jenen Zeiten die Kunst der Geographie und Landvermessung bei den Arabern und sonstigen Mauren gewesen sein mag, es ist wenig glaubhaft, dass diese mit der hier angedeuteten Genauigkeit ebenjene Stelle auf der Oberfläche des Planeten anpeilte, wo sich im Gewimmel der Steine, und einer immer heiliger als der andere, die Kaaba befindet. All diese Dinge, ob Verbeugungen, Kniefälle, oder Blicke himmelan oder erdwärts, sind nur Annäherung, mit Gespür vorgenommen, wie es, sofern wir uns diese Redensweise

Bewiesen ist also, dass der Korrektor irrte, und falls er nicht irrte, dass er verwechselte, und falls nicht verwechselte, dass er phantasierte, aber wage den ersten Stein zu werfen, wer nie geirrt, verwechselt oder phantasiert. Irren, erkannte der Wissende, ist dem Menschen eigen, was besagt, sofern es nicht falsch ist, es wortwörtlich zu nehmen, dass, wer nicht irrt, denn auch kein echter Mensch wäre. Doch kann diese oberste Maxime nicht als generelle Entschuldigung herhalten, die uns alle freispräche von hinkenden Urteilen und lahmenden Meinungen. Wer nicht weiß, der frage, so viel Demut muss er schon aufbringen, eine so elementare Vorkehr sollte der Korrektor stets erwägen, umso mehr, als er gar nicht aus dem Haus müsste, aus dem Arbeitszimmer jetzt, denn hier fehlt es nicht an Büchern, die ihm Aufhellung geben würden, wäre er nur weise und achtsam genug, dem nicht blind zu glauben, was er zu wissen vermeint, denn eben hier haben die schlimmsten Täuschungen ihren Ursprung, nicht in der Unkenntnis. In diesen gereihten

Wie dem auch sei, solange jener Tag nicht heran ist, stehen die Bücher da zur Verfügung, eine pulsierende Galaxie, und die Wörter in ihnen kosmischer Staub, des Auges harrend, das sie fixieren wird in irgendeinem Sinn, oder in ihnen den neuen Sinn suchen wird, denn wie sich die Erklärungen über das Universum wandeln, so bietet auch das zuvor für immerdar unverrückbare Urteil plötzlich eine andere Lesart, nämlich dass Widerspruch insgeheim doch möglich ist, man sich augenscheinlich selber geirrt hat. Hier, in diesem Arbeitszimmer, wo die Wahrheit nur ein den unendlich wechselnden Masken aufgestülptes Gesicht sein kann, befinden sich die gängigen Wörterbücher und Nachschlagewerke der Sprache, die Morais und Aurélios, die Morenos und Torrinhas, etliche Grammatiken,

Dieser unverhoffte Einbruch in die Gefilde der Insektenkunde beweist uns, schlüssig, dass die dem Korrektor unterschobenen Fehler letztlich nicht ihm anzulasten sind, sondern diesen Büchern, die ohne Gegenprüfung ältere Werke wiederholten, und da dies so ist, wollen wir jene beklagen, die schuldlos Opfer ihrer eigenen Gutgläubigkeit wie auch anderer Leute Fehl wurden. Wahr ist, wenn wir so sehr nachgäben, verfielen wir abermals der schon verabscheuten weltweit geläufigen Entschuldigung, doch das werden wir nicht tun ohne Vorbedingung, will heißen, dass der Korrektor, zu seinen Gunsten, die wundervolle Lektion beherzige, die uns, hinsichtlich der Fehler, Bacon, ein weiterer Gelehrter, in seinem Novum Organum benannten Buch gab. Er unterteilt die Fehler in vier Kategorien, und zwar in idola tribus, oder Fehler der menschlichen Natur, in idola specus, oder individuelle Fehler, in idola fori, oder Fehler der Sprache, schließlich in idola theatri, oder Fehler der Systeme. Im ersteren Falle rühren sie her von der Unvollkommenheit der Sinne, von den Vorurteilen und Leidenschaften, von unserer Gewohnheit, alles vermöge angeeigneter Ideen

Doch um noch etwas zu retten aus dieser Prüfung und Infragestellung, sei versichert, es war kein Fehler zu schreiben, und geschrieben ist es nun mal, dass der Muezzin blind war. Der Historiker, der da lediglich von Minarett und Muezzin schreibt, wusste vielleicht nicht, dass fast alle Muezzins damals, und noch lange danach, blind waren. Und falls er es nicht weiß, vielleicht meint er, dass der Gebetsgesang ein besonderes Talent der Versehrten sei, oder dass die maurischen Gemeinwe

Vom Erker aus, einem alten Vorbau mit einem Wetterdach, das auf einem hölzernen Segmentbogen ruht, sieht man den Fluss, und eher ist es ein riesiges Meer, was die Augen da umfassen zwischen Linie und Linie, vom roten Strich der Brücke