José Saramago, geboren am 16. November 1922 in Azinhaga in der portugiesischen Provinz Ribatejo, entstammt einer Landarbeiterfamilie. Nach dem Besuch des Gymnasiums arbeitete er als Maschinenschlosser, technischer Zeichner und Angestellter. Später war er Mitarbeiter eines Verlags und Journalist bei verschiedenen Lissabonner Tageszeitungen. Ab 1966 widmete er sich verstärkt der Schriftstellerei. Während der Salazar-Diktatur gehörte er zur Opposition. Der Romancier, Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist erhielt 1998 den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 18. Juni 2010 auf Lanzarote. Sein Werk erscheint bei Hoffmann und Campe und im Taschenbuch bei Atlantik.
Von Umberto Eco
Ein eigentümlicher Mensch, dieser Saramago. Er ist siebenundachtzig Jahre alt und hat einige Zipperlein (sagt er), er hat den Nobelpreis gewonnen, der es ihm erlauben würde, nichts mehr zu produzieren, denn ins Pantheon kommt er in jedem Fall (Harold Bloom, der mit seinem Lob sehr geizt, sagte von ihm, er sei »der talentierteste lebende Romancier … einer der letzten Titanen eines im Aussterben begriffenen literarischen Genres«). Und da schreibt er nun einen Blog, in dem er sich ein wenig mit allen anlegt, sodass es von vielen Seiten Polemiken und Bannflüche hagelt – häufig nicht deshalb, weil er Dinge sagt, die er nicht sagen dürfte, sondern weil er keine Zeit damit verliert, seine Worte abzuwägen, und vielleicht macht er das sogar mit Absicht.
Wie, er? Er, der die Interpunktion so ernst nimmt, dass sie praktisch verschwindet, der in seiner Kritik an Moral und Gesellschaft ein Problem nie frontal angeht, sondern es poetisch mit den Formen des Phantastischen und des Allegorischen umkreist, sodass der Leser (obwohl er ahnt, dass de te fabula narratur) sich anstrengen muss, um zu begreifen, worauf die Apologie letztlich abzielt; er, der – wie in seinem Roman Die Stadt der Blinden – den Leser in einem milchigen Nebel treiben lässt, in dem nicht einmal die Eigennamen, die Saramago ohnehin ziemlich sparsam verwendet, ein deutlich erkennbares Signal geben; er, der in der Stadt der Sehenden auf der Grundlage rätselhafter leerer Stimmzettel eine ganz entschiedene politische Wahl trifft?
Und dieser phantasievolle, metaphorische Schriftsteller erklärt uns nonchalant, dass Bush von einer abgrundtiefen Ignoranz ist, dass sein konfuses verbales Ausdrucksvermögen beständig von der unwiderstehlichen Versuchung angezogen wird, Blödsinn zu reden, dass er ein Cowboy ist, der die Welt mit einer Viehherde verwechselt, dass wir nicht einmal wissen, ob er überhaupt denken kann (im noblen Sinn des Wortes), dass er ein schlecht programmierter Roboter ist, der ständig die in ihm gespeicherten Befehle durcheinanderbringt, ein zwanghafter Lügner, Anführer aller anderen Lügner, die ihm in den vergangenen Jahren Beifall gespendet und ihm gedient haben? Und dieser feinsinnige Erfinder von Parabeln benutzt Wörter, die keinerlei Zweifel zulassen, wenn er sich über den Eigentümer des Verlags äußert, der ihn publiziert? Und dieser erklärte Atheist, für den Gott »das Schweigen des Universums ist und der Mensch der Schrei, der diesem Schweigen einen Sinn verleiht«, führt Gott wieder ein, einzig damit er sich fragen kann, was er, Gott nämlich, von Ratzinger denkt? Und als immer noch hartnäckig militanter Kommunist verkündet er, dass »die Linke auch nicht die geringste Ahnung hat von der Welt, in der sie lebt«, und beschwert sich anschließend, dass jegliche Reaktion ausblieb (dass er zum Beispiel noch nicht einmal verstoßen oder exkommuniziert wurde)? Und er riskiert den Vorwurf des Antisemitismus, weil er die Politik der israelischen Regierung kritisiert und über seiner zornigen Anteilnahme am Unglück der Palästinenser offenbar vergessen hat, auch daran zu erinnern – wie eine ausgewogene Analyse es erfordern würde –, dass es Leute gibt, die Israel sein Existenzrecht absprechen? Aber niemand bedenkt, dass Saramago, wenn er von Israel spricht, an Jahwe denkt, den »eifersüchtigen und grausamen Gott«, und in dieser Hinsicht ist er nicht mehr antisemitisch, als er antiarianisch und ganz bestimmt antichristlich ist, denn er versucht ja, bei jeder Religion mit Gott abzurechnen – der ihm eindeutig, ganz egal, wie er sich in den verschiedenen Sprachen nennt, auf den Geist geht. Und wenn einem Gott auf den Geist geht, so ist das mit Sicherheit Grund genug, all jene mit heftigem Zorn zu verfolgen, die sich hinter ihm verschanzen.
Wenn Saramago immer das Pro und Kontra in Erwägung zöge, wüsste er, dass man sich auch beim Schimpfen so oder so ausdrücken kann. Ich zitiere (aus dem Gedächtnis) Borges, der (vielleicht aus dem Gedächtnis) Dr. Johnson zitierte, welcher eine Begebenheit zitierte, bei der jemand einen Widersacher folgendermaßen beleidigte: »Werter Herr, unter dem Vorwand, ein Bordell zu betreiben, verkauft Eure Gemahlin geschmuggelte Stoffe.« Saramago hingegen nimmt kein Blatt vor den Mund, redet vielmehr frei von der Leber weg, und wenn er täglich die ihn umgebende Wirklichkeit kommentiert, revanchiert er sich für die ganze düstere Unbestimmtheit seiner Fabeln.
Von Saramagos militantem Atheismus war bereits die Rede. Eigentlich richtet sich seine Polemik nicht gegen Gott: Nachdem er einmal zugestanden hat, dass »seine Ewigkeit nur die eines ewigen Nichtseins ist«, könnte Saramago ganz beruhigt sein. Sein Groll richtet sich gegen die Religionen (und aus diesem Grund wird er von allen möglichen Seiten angegriffen – Gott leugnen darf jeder, gegen die Religion polemisieren stellt die gesellschaftlichen Strukturen in Frage).
Einmal machte ich mir, von einem dieser antireligiösen Einwürfe Saramagos angeregt, Gedanken über die berühmte Marx’sche Definition, der zufolge Religion Opium fürs Volk sei. Aber stimmt es denn, dass die Religionen allesamt und ständig den virtus dormitiva haben? Saramago ist mehr als einmal über die Religion als Ursache von Konflikten hergezogen: »Ausnahmslos dient nicht eine der Religionen dazu, die Menschen einander näherzubringen und miteinander zu versöhnen, sondern sie waren – und sind immer noch – im Gegenteil schuld an unsagbarem Leid, an Blutbädern, grauenhaften physischen wie geistigen Gewalttaten, die zu den finstersten Kapiteln der kläglichen Geschichte der Menschheit gehören« (La Repubblica, 20. September 2001).
An anderer Stelle zog Saramago den Schluss: »Wären wir alle Atheisten, würden wir in einer friedlicheren Gesellschaft leben.« Ich bin nicht sicher, ob er recht hat, und es sieht aus, als habe ihm Papst Ratzinger in seiner Enzyklika Spe salvi indirekt geantwortet, als er schrieb, der Atheismus des 19. und 20. Jahrhunderts sei, auch wenn er sich als Protest gegen die Ungerechtigkeiten der Welt und der Universalgeschichte präsentierte, die »Prämisse gewesen, die die größten Grausamkeiten und Vergewaltigungen der Gerechtigkeit nach sich gezogen« habe.
Vielleicht dachte Ratzinger an die gottlosen Menschen Lenin und Stalin, aber er vergaß, dass auf den Gürtelschnallen der Soldaten der Wehrmacht »Gott mit uns« stand, dass Heerscharen von Militärgeistlichen die faschistischen Standarten segneten, dass der Massenmörder Francisco Franco von ausgesprochen frommen Prinzipien beseelt war und von faschistischen Christuskriegern unterstützt wurde (schweigen wir von den Verbrechen der Gegenseite, angefangen hatte schließlich er), dass auch die Anhänger der Vendée, die gegen die Republikaner gewütet hatten, welche immerhin eine Göttin der Vernunft erfunden haben, ausgesprochen fromm waren. Er vergaß, dass sich Katholiken und Protestanten viele Jahre lang fröhlich massakrierten, dass sowohl die Kreuzfahrer als auch ihre Feinde von religiösen Motiven geleitet wurden, dass man zur Verteidigung der römischen Religion die Christen den Löwen zum Fraß vorwarf, dass aus religiösen Gründen zahllose Scheiterhaufen entzündet wurden, dass auch die moslemischen Fundamentalisten ausgesprochen fromm sind, die Attentäter vom 11. September, Osama und die Taliban, die die Buddhas in die Luft sprengten, dass sich Indien und Pakistan aus religiösen Gründen feindlich gegenüberstehen und dass schließlich und endlich Bush mit den Worten »God bless America« im Irak eingefallen ist.
Daher kam mir der Gedanke, wenn die Religion manchmal das Opium des Volkes ist oder gewesen ist, so war es doch vielleicht häufiger das Kokain. Ich glaube, dass dies auch Saramagos Meinung ist, und schenke ihm die Definition – und die Verantwortung dafür.
Saramago als Blogger ist ein zorniger Wüterich. Aber gibt es wirklich eine Kluft zwischen dieser Praxis, sich täglich über Ephemeres zu entrüsten, und dem Schreiben von »kleinen moralischen Werken« im Sinne Leopardis, die sowohl für vergangene als auch für künftige Zeiten Geltung besitzen? Ich schreibe dieses Vorwort, weil ich glaube, mit meinem Freund Saramago eine Erfahrung gemein zu haben: Beide schreiben wir zum einen Bücher, und zum anderen verfassen wir für eine Wochenzeitschrift Glossen, die sich mit der Alltagskultur beschäftigen. Da die zweite Form des Schreibens zugänglicher und populärer ist als die andere, werde ich oft gefragt, ob ich umfassendere Überlegungen, die in den Büchern zur Sprache kamen, zu kleinen, periodisch publizierten Texten umarbeite. Aber nein, erwidere ich dann, die Erfahrung lehrt mich (aber vermutlich lehrt sie das jeden, der sich in der gleichen Situation befindet), dass es der Wutausbruch ist, der satirische Anstoß, die spontan verfasste Kritik, die in der Folge das Material für eine umfassendere essayistische oder narrative Aufbereitung liefert. Das tägliche Schreiben inspiriert die gewichtigeren Werke, nicht umgekehrt.
Daher würde ich sagen, dass Saramago in diesen kurzen Texten weiterhin seine Erfahrung mit der Welt macht, wie sie leider ist, um sie dann aus einer gelasseneren Entfernung in Form einer poetischen Moral zu betrachten (und dann zuweilen schlimmer aussieht, als sie ist, auch wenn es kaum möglich scheint, die Realität noch zu übertreffen).
Aber ist er denn wirklich immer so zornig, dieser Meister der Philippika und der Schmähungen? Mir will scheinen, dass es außer denen, die er hasst, auch solche Menschen gibt, die er liebt. Und tatsächlich gibt es feinsinnige Texte, die Fernando Pessoa gewidmet sind (nicht umsonst ist man Portugiese) oder Jorge Amado, Carlos Fuentes, Federico Mayor oder Chico Buarque de Hollanda, Texte, die demonstrieren, dass dieser Autor nicht besonders neidisch ist auf seine Kollegen und anmutige, liebevolle Miniaturen von ihnen zu zeichnen versteht.
Ganz zu schweigen von den Momenten (und dann kehrt er zu den großen Themen seiner Romane zurück), wenn er die Analyse des Tagtäglichen auf die großen metaphysischen Probleme ausweitet, auf die Realität und den Schein, die Natur der Hoffnung und darauf, wie die Dinge sind, wenn wir sie gerade nicht betrachten.
Dann kehrt der Philosoph und Erzähler Saramago auf die Bühne zurück, nicht mehr zornig, sondern nachdenklich und seiner Sache nicht so ganz gewiss.
Aber wir mögen ihn auch, wenn er in Rage gerät. Er ist sympathisch.
Aus dem Italienischen von Anna Leube
Dieses Buch ist den Mitarbeitern der Fundação José Saramago gewidmet, insbesondere Sérgio Letria und Javier Muñoz. Das sind die beiden, die jeden Abend, mitunter bis zu später Stunde, in Lissabon und auf Lanzarote darauf warten, dass ich ihnen meine kurzen Texte schicke, die inzwischen zu einem so umfangreichen Buch herangewachsen sind, wie ich es mir niemals vorgestellt hätte. Sérgio und Javier sind diejenigen, die den Blog betreuen.
Pilar braucht dieses Buch nicht gewidmet zu werden, denn das ist es bereits seit dem Tag, als sie zu mir sagte: »Du hast eine Aufgabe, schreib einen Blog.«
Als wir im Februar 1993 nach Lanzarote zogen, ohne jedoch die Wohnung in Lissabon aufzugeben, schenkten mir meine Schwägerin María und ihr Mann Javier, die schon seit einigen Jahren auf der Insel lebten, zusammen mit Luis und Juanjo, beide später hinzugekommen, ein Notizbuch, in dem ich die Ereignisse unserer Tage auf den Kanaren festhalten sollte. Einzige Bedingung: Hin und wieder sollte ich ihre Namen erwähnen.
In besagtes Notizbuch habe ich nie etwas geschrieben, doch so und nicht anders sind die Cadernos de Lanzarote entstanden, die in fünf aufeinanderfolgenden Jahren erschienen. Heute befinde ich mich überraschend in einer ähnlichen Lage. Dieses Mal jedoch sind die treibenden Kräfte Pilar, Sérgio und Javier, die sich um den Blog kümmern. Sie haben mir gesagt, sie hätten für mich einen Platz im Blog reserviert und ich solle dafür schreiben, ganz gleich, was, Kommentare, Betrachtungen, einfach meine Meinung zu diesem und jenem, kurzum, was sich gerade so ergibt. Weit disziplinierter, als zu sein ich zuweilen den Eindruck erwecke, antwortete ich, jawohl, Herrschaften, ich bin dazu bereit, vorausgesetzt, man verlangt von mir nicht so regelmäßiges Arbeiten, wie ich es mir selbst bei den Cadernos de Lanzarote abverlangt habe. In diesem Sinne kann man also auf mich zählen.
José Saramago
15. 9.
Beim Blättern in nicht mehr ganz taufrischen Papieren stieß ich auf einen vor Jahren geschriebenen Artikel über Lissabon, und ich geniere mich nicht, zu gestehen, dass ich gerührt war. Vielleicht, weil es eigentlich kein richtiger Artikel war, sondern ein Liebesbrief, eine Liebeserklärung an Lissabon. Ich beschloss, meine Freunde und Leser daran teilhaben zu lassen und ihn noch einmal zu veröffentlichen, dieses Mal auf der grenzenlosen Seite des Internets, und damit meinen persönlichen Platz in diesem Blog einzuweihen.
Es gab Zeiten, da hieß Lisboa – Lissabon – nicht so. Als die Römer kamen, nannten sie die Stadt Olisipo, und als die Mauren sie einnahmen, hieß sie Olissibona, woraus sie Aschbouna machten, vielleicht, weil sie das Barbarenwort nicht aussprechen konnten. Als die Mauren 1147 nach dreimonatiger Belagerung besiegt wurden, erhielt die Stadt nicht sofort einen neuen Namen; falls der, der unser erster König werden sollte, seiner Familie einen Brief geschrieben hat, um von vollbrachter Tat zu berichten, so hat er höchstwahrscheinlich Aschbouna, den 24. Oktober, oder Olissibona obendrüber geschrieben, doch auf keinen Fall Lisboa. Ab wann aber hieß Lisboa nun tatsächlich und von Rechts wegen Lisboa? Ein paar Jahre mindestens mussten vergehen, bis der neue Name aufkam, so wie es auch dauerte, bis die gallischen Eroberer Portugiesen wurden …
Solche historischen Kleinigkeiten sind uninteressant, wird man einwenden, doch für mich wäre es sehr interessant, nicht nur zu erfahren, sondern – ganz konkret – zu sehen, wie Lissabon sich seit jenen Tagen verändert hat. Wenn es damals schon das Kino gegeben hätte, wenn die alten Chronisten Kameraleute gewesen wären, wenn die tausend Veränderungen, die Lissabon im Laufe der Jahrhunderte erlebt hat, aufgezeichnet worden wären, dann könnten wir sehen, wie dieses Lissabon wächst und sich einem Lebewesen gleich bewegt, ähnlich den Blüten, die sich im Fernsehen binnen weniger Sekunden von der noch geschlossenen Knospe zu ihrer endgültigen Formen- und Farbenpracht entfalten. Ich glaube, schon allein deswegen würde ich dieses Lissabon lieben.
Physisch bewohnen wir einen Raum, was unsere Gefühle betrifft, so werden wir von Erinnerung bewohnt. Erinnerung an Zeit und Raum, Erinnerung, in der wir leben wie eine Insel zwischen zwei Meeren: Das eine nennen wir Vergangenheit, das andere Zukunft. Dank unseres Gedächtnisses, das die Erinnerung an die Routen bewahrt hat, können wir das Meer der nahen Vergangenheit befahren, doch um das Meer der fernen Vergangenheit zu befahren, müssen wir die mit der Zeit angesammelten Erinnerungen nutzen, die Erinnerung an einen ständig sich verändernden, wie die Zeit flüchtigen Raum. Dieser Film über Lissabon, der die Zeit verdichten und den Raum erweitern würde, wäre die vollkommene Erinnerung an die Stadt.
Von den Orten wissen wir, dass wir uns für eine gewisse Zeit in dem Raum, den sie ausmachen, mit ihnen vereinen. Der Ort war schon da, der Mensch kam hinzu, dann ging der Mensch, der Ort blieb, der Ort hatte den Menschen geformt, der Mensch hatte den Ort verändert. Als ich Raum und Zeit des Lissabon nachbilden musste, in dem Ricardo Reis sein letztes Lebensjahr verbrachte, wusste ich von vornherein, dass die beiden Wahrnehmungen von Zeit und Ort nicht übereinstimmen würden: die Wahrnehmung des schüchternen, seinem sozialen Umfeld verhafteten Heranwachsenden, der ich selbst zu jener Zeit war, und die Wahrnehmung des genialen, luziden Dichters, der sich in den höchsten Geistessphären bewegte. Mein Lissabon war immer das der armen Viertel, und auch nachdem mich die Umstände sehr viel später in andere Umgebungen geführt hatten, habe ich am liebsten das Lissabon meiner ersten Jahre in Erinnerung behalten, das Lissabon der Menschen, die wenig besitzen, aber viel fühlen, deren Sitten und Weltsicht noch ländlich sind.
Vielleicht kann man nicht über eine Stadt sprechen, ohne ein paar denkwürdige Daten ihrer Geschichte zu nennen. Bislang wurde hier nur ein einziges Datum zu Lissabon erwähnt, das Datum seines portugiesischen Anfangs – ihn zu verherrlichen dürfte keine allzu schwere Sünde sein … Eine schwere Sünde wäre hingegen, jener patriotischen Begeisterung nachzugeben, die mangels echter Feinde, an denen sie ihre vermeintliche Macht auslassen könnte, die billigen Anreize rhetorischer Beschwörung sucht. Feierliche Gedenkreden sind zwar nicht zwangsläufig von Übel, bergen jedoch eine Selbstgefälligkeit, die dazu verleitet, Worte mit Taten zu verwechseln, wenn sie nicht gleich die Worte an die Stelle setzen, die einzig den Taten gebührt.
An jenem Oktobertag tat das gerade erst entstehende Portugal einen großen Schritt nach vorn, und zwar einen so endgültigen, dass Lissabon nie wieder verlorenging. Doch sollten wir uns nicht gestatten, mit napoleonischer Eitelkeit auszurufen: »Von der Burg dort blicken achthundert Jahre auf uns herab«, und anschließend einander zujubeln, weil es uns schon so lange gibt … Vielmehr sollten wir bedenken, dass auch wir das auf beiden Seiten vergossene Blut in unseren Adern haben, wir, die Erben dieser Stadt, Abkömmlinge von Christen und Mauren, von Schwarzen und Juden, von Indern und Gelben, kurz, von allen Rassen und Religionen, die als gut gelten, und von allen Religionen und Rassen, die man böse nennt. Gönnen wir den ironischen Grabesfrieden den wirren Köpfen, die in einer noch gar nicht fernen Vergangenheit für die Portugiesen einen »Tag der Rasse« ersannen, und feiern wir die großartige Vermischung nicht nur des Blutes, sondern vor allem der Kulturen, die Portugal begründet und bis heute hat bestehen lassen.
Lissabon hat sich in den letzten Jahren verändert, es hat im Bewusstsein seiner Bürger die Triebkraft zu wecken vermocht, die es aus dem Dämmerzustand riss, in den es versunken war. Im Namen der Modernisierung werden über den alten Steinen Betonmauern hochgezogen, die Silhouette der Hügel entstellt, die Panoramen verändert, die Blickwinkel verschoben. Doch Lissabons Geist lebt weiter, und es ist der Geist einer Stadt, der ihr ewiges Leben schenkt. Berauscht von der leidenschaftlichen Liebe und göttlichen Begeisterung, die Dichtern innewohnt, schrieb einst Camões über Lissabon: »[…] du, die du Königin bist unter den anderen Städten«. Sehen wir ihm die Übertreibung nach. Es genügt, wenn Lissabon einfach das ist, was es sein soll: gebildet, modern, sauber, gut organisiert – ohne dabei etwas von seiner Seele einzubüßen. Und wenn all diese Tugenden am Ende Lissabon zu einer Königin machen, dann sei es so. In dieser unserer Republik sind solche Königinnen immer willkommen.
17. 9.
Eine gute Nachricht, werden arglose Leser sagen, vorausgesetzt, es gibt sie noch nach so vielen Enttäuschungen. Die Anglikanische Kirche, diese zu Zeiten Heinrich VIII. als Staatsreligion etablierte englische Version des Katholizismus, hat eine bedeutende Entscheidung verkündet: Man wolle Charles Darwin nun, anlässlich der Zweihundertjahrfeiern seines Geburtstags, um Vergebung bitten dafür, wie schlecht man ihn nach der Veröffentlichung seiner Werke Die Entstehung der Arten und vor allem Die Abstammung des Menschen behandelt hat. Ich habe nichts gegen Entschuldigungen, wie sie nahezu täglich aus diesem oder jenem Grund ausgesprochen werden, auch wenn ich ihren Nutzen bezweifle. Selbst wenn Darwin noch am Leben und bereit wäre, »Ja, ich vergebe euch« zu sagen, könnte sein großherziges Wort keine einzige der vielen Beleidigungen, Verleumdungen und verächtlichen Kommentare, mit denen man ihn überhäuft hat, ungeschehen machen. Profitieren würde davon ganz allein die Anglikanische Kirche, denn sie erhielte, ohne dafür zahlen zu müssen, einen Zuwachs ihres Kapitals an gutem Gewissen. Dennoch sei ihr gedankt für ihre, wenn auch späte, Reue, die vielleicht dem jüngst mit einem diplomatischen Manöver bezüglich des Laizismus befassten Papst Benedikt XVI. Anlass bietet, sich bei Galileo Galilei und Giordano Bruno zu entschuldigen, insbesondere bei Letzterem, den man mit viel christlicher Nächstenliebe folterte und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannte.
Die Entschuldigung der Anglikanischen Kirche wird den nordamerikanischen Kreationisten ganz und gar nicht gefallen. Sie werden sich gleichgültig geben, doch dass dies ihren Plänen zuwiderläuft, liegt auf der Hand. Den Plänen all jener Republikaner, die mit ihrer Kandidatin für die Vize-Präsidentschaft die Fahne des Kreationismus genannten pseudowissenschaftlichen Blödsinns hochhalten.
18. 9.
Ich frage mich, wieso die USA, ein in jeder Hinsicht großes Land, so oft so kleine Präsidenten haben. George Bush ist vielleicht der kleinste von allen. Mit seinem Mittelmaß an Intelligenz, seiner abgrundtiefen Ignoranz, seiner wirren Ausdrucksweise, ständig der unwiderstehlichen Versuchung erlegen, Blödsinn zu reden, präsentiert sich dieser Mann der Menschheit so grotesk wie ein Cowboy, der die Welt geerbt hat und diese wie eine Viehherde behandelt. Wir wissen nicht, was er wirklich denkt, wir wissen nicht, ob er überhaupt denkt (ganz wörtlich gemeint), wir wissen nicht, ob er nicht womöglich ein schlecht programmierter Roboter ist, der die in ihm gespeicherten Befehle ständig durcheinanderbringt. Eines sei aber zu seiner Verteidigung gesagt – ein Programm in dem Roboter George Bush, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, läuft reibungslos: das Lügen. Er weiß, dass er lügt, er weiß, dass wir wissen, dass er lügt, doch da er zu der Kategorie der zwanghaften Lügner gehört, wird er weiterhin lügen, auch wenn er die nackte Wahrheit direkt vor Augen hat, er wird auch dann weiter lügen, wenn die Wahrheit ihn Kopf und Kragen gekostet hat. Er hat gelogen, um den Irakkrieg führen zu können, so wie er schon über seine turbulente, dubiose Vergangenheit gelogen hatte, soll heißen, ebenso unverfroren. Das Lügen hat bei Bush Tradition, es liegt ihm im Blut. Er, der erfahrene Lügner, ist die Koryphäe unter all den anderen Lügnern, die ihm in den letzten Jahren gedient, geschmeichelt und applaudiert haben.
George Bush hat die Wahrheit aus der Welt verbannt, damit statt ihrer das Zeitalter der Lüge Früchte tragen konnte. Die heutige menschliche Gesellschaft ist von der Lüge, der schlimmsten moralischen Seuche, kontaminiert, und er ist einer der Hauptverantwortlichen dafür. Überall wird inzwischen ungestraft gelogen, die Lüge ist schon zu einer Art zweiter Wahrheit geworden. Als vor ein paar Jahren ein portugiesischer Premierminister, dessen Namen ich hier aus Barmherzigkeit nicht nenne, öffentlich feststellte, »Politik ist die Kunst, nicht die Wahrheit zu sagen«, konnte er nicht ahnen, dass George Bush diese schockierende Aussage wenig später zu der arglosen Behauptung eines Politikers der Peripherie degradieren würde, der sich der wahren Bedeutung und Tragweite seiner Worte nicht bewusst war. Für Bush ist die Politik schlicht und einfach ein Instrument zum Geschäftemachen, und vielleicht gar das beste, mit der Lüge als Vorhut der Panzer und Kanonen, der Lüge über die Ruinen, über die Toten, über die bescheidenen, aber immer enttäuschten Hoffnungen der Menschheit. Es ist nicht bewiesen, dass die Welt heute sicherer ist, doch haben wir keinen Zweifel daran, dass sie erheblich sauberer wäre ohne die imperialistische und kolonialistische Politik des Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Walker Bush, und all der vielen, die ihm, wohl wissend, dass sie einen Betrug begingen, den Weg ins Weiße Haus geebnet haben. Die Geschichte wird sie zur Rechenschaft ziehen.
19. 9.
Der amerikanischen Zeitschrift Forbes zufolge, einer Art Gotha der Reichen dieser Welt, beläuft sich Berlusconis Vermögen auf fast zehn Milliarden Dollar. Ehrlich verdientes Geld, versteht sich, wenn auch mit nicht geringer Hilfe von außen, wie zum Beispiel von mir. Da meine Bücher in Italien beim Verlag Einaudi erscheinen, der Berlusconi gehört, hat er auch durch mich ein bisschen was verdient. Natürlich nur einen winzigen Tropfen im großen Ozean, doch für seine Zigarren dürfte es gereicht haben – Korruption ist vermutlich nicht sein einziges Laster. Abgesehen von dem, was allgemein bekannt ist, weiß ich sehr, sehr wenig über Leben und Wunder des Silvio Berlusconi, il Cavaliere