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Für Jengel, bei jedem Paddelschlag dabei …

Mit 47 farbigen Fotos und einer Karte

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Originalausgabe

6. Auflage Juni 2013

ISBN 978-3-492-97022-8

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Covermotiv: Werner Walcher

Fotos im Innenteil: Dirk Rohrbach mit Ausnahme der Tortur am Chilkoot: Yukon Archives / University of Washington Libraries, Special Collections, AWC 3837

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Yukon

Prolog

Die Sonne streicht sanft über die Bergkämme und taucht die dichte Schneedecke in zartes Rosa. Minus 35 Grad zeigt das Thermometer draußen. Mein erster Morgen zurück im Yukon. Ich sitze am groben Holztisch meiner urigen Trapperhütte. Drei kleine Marderfallen baumeln von den Holzbalken, ein mächtiges Elchgeweih prangt unter dem kurzen Vordach. »Manchmal erzähle ich den Leuten, dass die cabin von den Goldsuchern vor über hundert Jahren gebaut wurde. Die haben sich dann hier Boote gezimmert und sind damit den Yukon runter zum Klondike«, erklärte Andreas gestern bei meiner Ankunft schmunzelnd. Tatsächlich hat der Mann aus dem Erzgebirge die Hütte erst vor gut fünfzehn Jahren gebaut, nachdem er nach Kanada ausgewandert war. Auch die spartanische Einrichtung stammt aus seiner Hand. Vier Stühle, Hochbett, Küchenzeile mit Arbeitsplatte, Ablagen und einem Minispülbecken, aus dem ein Schlauch das Abwasser nach draußen leitet. Fließendes Wasser gibt es allerdings keines, die Hütte ist dry, wie so viele hier oben im Norden, vor allem wenn sie nicht ganzjährig bewohnt sind. Der Aufwand, die Leitungen gegen den strengen Frost des arktischen Winters zu isolieren, wäre zu groß. Dafür stehen handliche Container mit Wasser aus Andreas’ eigenem Brunnen bereit. Ein schlichter Gasherd bietet zwei Kochflächen, eine Verblendung aus rustikalen Holzbalken versteckt den alten Kühlschrank, und in einer Ecke sorgt ein kleiner Bollerofen für wohlige Wärme. Vor mir am Fuß des Hanges erstreckt sich der Marsh Lake, der jetzt, Mitte Februar, noch unter einer robusten Eisdecke ruht. Auch wenn der arktische Winter seinen Zenit schon lange überschritten hat, können die frostigen Temperaturen bis weit in den April anhalten. Erst im Mai wird das Eis auf dem See brechen, spätestens dann beginnt mit aller Macht die überschwängliche Zeit des kurzen, nordischen Frühlings. Mein Blick schweift rüber zum Westufer. Dort habe ich im Juni letzten Jahres zum ersten Mal aufatmen können. Nach tagelangem Bangen, einem Beinahe-Totalschaden am Boot und zähem Ringen mit Wind und Wellen kündigten die Hütten am Marsh Lake das Ende der Quellseen und den offiziellen Beginn des Yukon River an. Und für mich hoffentlich entspanntere Zeiten auf meiner Reise zur Beringsee.

Ich kann nicht mehr genau sagen, was den Ausschlag gegeben haben mag. Sicher spielten die Geschichten von Jack London eine Rolle. Auch eine Reise mit meinem Schulfreund Matthias vor zwanzig Jahren. Damals wollten wir mit Kanu und Rucksack durch den Sarek-Nationalpark in Lappland. »Europas letzte Wildnis« versprach raue, unwegsame Natur, Elche und Bären, Gletscher und Gebirgsseen, Klima und Landschaft wie im Norden des amerikanischen Kontinents. Und ja, auch Moskitos, aber dazu erst später. »Wenn du einmal hier oben warst, kommst du immer wieder. Oder niemals. Dazwischen gibt es nichts«, hatte uns ein schwäbisches Pärchen unterwegs versprochen. Wie recht die beiden hatten. In den fünf Wochen unserer Reise froren und schwitzten wir, hungerten, um später in der Zivilisation wieder Unmengen von Kalorien in uns zu stopfen. Wir saugten die unendliche Weite des Nordens ein, atmeten seine klare Reinheit. Und mit jedem Meter durch die Wildnis wuchs der Wunsch zurückzukehren. Immer wenn ich Bilder aus dem Norden sah, Geschichten hörte, wuchs die Sehnsucht ins Unermessliche. Es ist schwer, dieses Gefühl auch nur ansatzweise zu beschreiben oder zumindest zu erklären. Vielleicht ist es Magie, unerklärlich, aber doch spürbar. Vielleicht ist es die Auseinandersetzung mit den Naturgewalten, mit sich selbst, wenn man sich nur auf die essenziellen Dinge Nahrung, Wärme, Schutz konzentriert. Und dass man jeden Moment seine eigene Kleinheit spürt, im Angesicht der Majestät der Schöpfung. Wenn Sie selbst schon einmal den Norden bereist haben, werden Sie vielleicht ähnlich empfinden. Ich hoffe jedenfalls, dass Sie am Ende dieses Buches die Faszination, die von diesem Land ausgeht, besser nachvollziehen können. Es ist nicht die Geschichte eines Abenteuers auf Leben und Tod, auch wenn es einige brenzlige Situationen gab. Und der Yukon ist nicht der schönste, gefährlichste oder einsamste Fluss der Welt. Er ist nicht mal der längste in Nordamerika. Tatsächlich ist er mit seinen stattlichen 3200 Kilometern nur die Nummer 4, der König heißt Missouri und ist fast 1000 Kilometer länger. Aber er hat in jeder Hinsicht monumentale Ausmaße. Im einen Moment scheint er das lieblichste Gewässer, selbst für einen Familienausflug geeignet. Im nächsten Moment aber wird er zum bedrohlichen Monster, das man lauthals verfluchen könnte.

Ich möchte Sie auf den folgenden Seiten an meiner Reise durch den Norden teilhaben lassen. Auch weil ich in den letzten Monaten gespürt habe, dass meine Sehnsucht von vielen geteilt wird. Ich werde Ihnen von den überwältigenden Begegnungen mit den Menschen am Fluss berichten, von Einsamkeit, Entbehrung, Momenten tiefsten Glücks, von atemberaubender Natur und ja, auch von der unersättlichen Plage des Nordens. Später. Es ist die Geschichte einer epischen Reise, auf der ich auch mich selbst neu kennengelernt habe. Jetzt aber lege ich noch einen Scheit Brennholz nach und will raus in Kälte und Schnee, der bei jedem Schritt vor Trockenheit laut unter den Gummisohlen quietscht. Keine Stunde von hier lebt Keith, der Totemschnitzer der Tagish in Carcross. Wir wollen gemeinsam zum Fallenstellen. Ich habe ihn letztes Jahr zu Beginn meiner Reise getroffen, gleich nach dem katastrophalen Unfall …

Dirk Rohrbach,

Marsh Lake, Yukon Territory,

Mittwoch, 16. Februar 2011

Das Boot

Von Meistern und Grashüpfern,
einem Murmeltier namens Banjohead
und Leonardo da Vinci im Plumpsklo

Next Exit Yukon – nächste Ausfahrt Yukon? Ich zuckte kurz zusammen, als ich das Straßenschild am Interstate entdeckte. Dann erinnerte ich mich und musste schmunzeln. Vor vielen Jahren war ich hier schon einmal vorbeigekommen. Yukon, Oklahoma, ein kleines Prärienest, das mir nur deshalb in Erinnerung blieb, weil es die Heimatstadt von Garth Brooks ist. Der war in den Neunzigern musikalisch das Maß aller Dinge in den USA, hat mittlerweile über 130 Millionen Platten und CDs allein in Amerika verkauft, mehr als Elvis und Michael Jackson. Auch für mich war er lange Zeit der Größte, seine Musik lief rauf und runter, jeden Song konnte ich lauthals mitgrölen. Garth war eine Ausnahmeerscheinung, der erste Rockstar der Country Music seit Hank Williams. Seine Songs blieben größtenteils traditionell, aber die Liveshows inszenierte er wie eine gigantische Rock-’n’-Roll-Party und setzte damals völlig neue Maßstäbe. Er allein machte Country Music in den 90ern zum erfolgreichsten Musikformat Amerikas. Und auch wenn er sich nach nur zehn Jahren herausragenden Wirkens in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedete, blieben für mich dieser Mann und seine Musik faszinierend. Kurz entschlossen setzte ich den Blinker und nahm die Ausfahrt. Yukon. Verrückt. Tatsächlich vereinte dieser Name Faszination und Sehnsucht für mich in gleich zweierlei Hinsicht. Da waren die Musik meines Country-Helden aus vergangenen Tagen und der Fluss, der mich mindestens genauso lange schon begeisterte und mit dem ich bald für viele Wochen verbunden sein würde. »Willkommen in Yukon – zum Yukon Community Center und Yukon-Stadtpark geradeaus«, verkündeten die Schilder am Ortseingang. Daneben, schon deutlich verblichen, der Hinweis auf Yukon als Heimat von Garth Brooks. »Sie werden Yukon lieben!«, prangte in roten Lettern auf einem mächtigen Wassertank, von dem die Farbe blätterte. Für mich klang das wie eine Verheißung, über die ich mich zunehmend amüsierte, als ich auch noch am Yukon Super Buffet vorbeifuhr und schließlich den gestern gekauften Yukon-Blend-Bio-Kaffee im braunen Gras auf dem Grundstück des örtlichen Bestattungsunternehmens für ein Foto platzierte. Den Kaffee hatte ich in einer Filiale von Amerikas größter Kaffeehauskette entdeckt. Der stilisierte Grizzly, der hoch aufgerichtet vor markantem Bergpanorama posierte, fiel mir sofort ins Auge; Kompliment an die Verpackungskünstler. Ich nahm eine Packung in die Hand und las. »Auch wenn es wie eine unglaubliche Geschichte klingen mag, im Jahre 1971 wandte sich der Kapitän eines Fischkutters mit der Bitte an uns, doch einen Kaffee zu kreieren, der seine Besatzung selbst bei schlechtestem Wetter vor der Küste Alaskas bei Laune halten würde. Diese Bitte haben wir uns zu Herzen genommen und sind stolz, Ihnen unseren Yukon Blend präsentieren zu dürfen. Kräftig und markant, wie die Männer, die ihn trinken.« Noch mal Kompliment, diesmal an die Marketingabteilung, auf deren Strategie ich sofort reingefallen war. Jetzt wollte ich noch eine Kaffeemühle besorgen und könnte jeder Sturmfront trotzen.

Eigentlich fehlte nur noch der passende Wagen. So heißt denn der Edel-SUV von GMC tatsächlich ›Yukon‹, seit vielen Jahren ein Verkaufsrenner, trotz monumentalem Spritverbrauch und saftigem Preis. Allein der Name verspricht wilde Abenteuer, und sei es nur auf dem Highway-Dschungel von L.A., durch den man sich im Schritttempo von einem Megastau zum nächsten quält. Aber hey, wenn’s wirklich drauf ankommt, dann … dann wäre ich gewappnet, mit so einem Spaßmobil. Ich habe mich dann doch anders entschieden. Für einen betagten, weißen Ford F100, Baujahr 1974, mit kleiner Camper-Kabine, 90 000 Meilen, in exzellentem Zustand. Das lag auch am Wüstenklima Arizonas, das Rost schlichtweg nicht entstehen ließ und in dem er die ersten 36 Jahre seiner Existenz verbringen durfte. Musste eine Weile suchen, bis ich den Truck im Internet gefunden hatte. Die Ausstattung klassisch-spartanisch, 4-Gang-Schaltgetriebe, durchgehende Sitzbank, Hüftgurt, aber immerhin schon Klimaanlage und ein gemütlicher V8-Motor, bestens zum Highway-Cruisen geeignet. Später, als ich immer wieder gefragt wurde, wie sie heiße (ja, Trucks sind zumindest in Amerika offenbar stets weiblichen Geschlechts), gab ich ihr den Namen ›Loretta‹, vielleicht auch, weil sie mich mit ihrer klassisch-schlichten Erscheinung an Country-Königin Loretta Lynn denken ließ.

Sie merken schon, Country Music spielt eine große Rolle in meinem Leben. Ich mag die Wehmut, die Sehnsucht der Songs, die einfachen Geschichten, aber auch die vielen Facetten. Klar, dass ich bei meiner Fahrt zum Yukon vorzugsweise nach Country-Stationen im Radio suchte. Meist mit Erfolg, kein anderes Genre ist häufiger vertreten in Amerika. Etwa die Hälfte aller Sender hier spielt ausschließlich Country. Auch auf dem Fluss sollte mich diese Musik begleiten, obwohl ich weder Radio noch MP3-Player mitnehmen wollte. Besonders ein Song von Garth Brooks würde eine große Rolle spielen. Aber das war mir noch nicht klar, als ich nach kurzem Stopp in seiner Heimatstadt wieder auf die Autobahn rollte.

Ich hatte mich entschlossen, meine Reise auf dem Yukon in einem traditionellen Kanu aus Birkenrinde zu unternehmen. Nicht nur, weil es toll aussieht. Ich wollte ja vor allem den Menschen am Fluss begegnen. Die über zwanzig Siedlungen und Dörfer, die sich vor allem in Alaska an den Yukon reihen, sind traditionelles Territorium der Ureinwohner. Im Inland gehört es den Gwich’in Athabasken, die früher ihre Boote selbst aus Birkenrinde fertigten. Sie gaben dem Fluss auch seinen Namen. In ihrer Sprache bedeutet Yukon schlicht ›großer Fluss‹. Ich wollte keineswegs Indianer spielen, vielmehr den Menschen authentisch begegnen, selbst wenn die längst auf Aluboote umgestiegen waren. Und sicher würde ein Birkenrindenkanu Türen öffnen oder zumindest die Kontaktaufnahme erleichtern. Mein erstes Kanu dieser Art hatte ich im Jahr zuvor gesehen, als ich zum Yukon reiste, um ein paar Tage auf ihm zu paddeln und ein Gespür für Fluss und Land zu bekommen. Ich besuchte damals in Dawson City ein indianisches Museum am Ufer des Yukon. Dort befanden sich ein Jagdkanu und ein kleines Modell, das die Herstellung erklären sollte. Ich fragte die Kuratorin, ob die Menschen noch solche Boote benutzten, und erzählte ihr von der Idee meiner Reise. »Oh, da fragst du am besten das Mädchen, das das Modell hier gefertigt hat. Sie ist Halbindianerin, ihr Vater, ein Frankokanadier, hat seine Kenntnisse bei den Stammesältesten erworben und dann an seine Tochter weitergegeben.« Just in diesem Moment betrat eine junge Frau das Museum. »Na, das trifft sich ja, wir haben gerade von dir gesprochen.« Ich weiß nicht, wie Sie es mit Zufällen halten, auf meinen Reisen kommt es auffällig häufig zu solch glücklichen Fügungen. Ich bin wahrlich kein Esoteriker, aber manchmal muss ich dann schon sehr schmunzeln, wie sich die Dinge ergeben oder entwickeln.

»Auf keinen Fall!« war ihre prompte, ernüchternde Antwort auf meine Frage, ob ich damit den Yukon hinabfahren könne. »Vielleicht wenn jemand in einem Begleitboot mitfährt, der dich im Notfall rettet.« Ich erkannte den Ansatz eines schelmischen Grinsens in ihrem hübschen Gesicht. Diese Kanus seien für die Jagd konzipiert, leicht, schnell, wendig, aber eben nicht sehr stabil und für so eine lange Reise einfach nicht geeignet. Wie schade, ich sah mich schon im Geiste als Lederstrumpf mit Waschbärmütze, dem gerade die Felle davonschwammen. Ich könnte ja noch ihren Vater Halin fragen, der sei der eigentliche Experte. Außer ihm gebe es im Yukon keinen mehr, der die traditionellen Boote baute. Er habe sogar schon ein riesiges Voyager-Kanu aus Birkenrinde gebaut. Da passten locker acht oder zehn Leute rein, plus Felle, Ausrüstung und Proviant. So seien früher die Pelzhändler unterwegs gewesen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine anfängliche Enttäuschung überwunden hatte. Drei Monate später, zurück in Deutschland, schrieb ich eine Mail an Halin und hörte wochenlang nichts. Ich hatte meinen Traum vom Birkenrindenkanu längst begraben, als er plötzlich doch noch antwortete. In gebrochenem Englisch entschuldigte er sich für die Verspätung, er sei gerade in Patagonien, wolle dem Winter im Yukon entfliehen und sich ganz seiner Kunst widmen, der Malerei. Im Übrigen könne man eine Reise, wie ich sie vorhätte, selbstverständlich in einem Kanu aus Birkenrinde machen. Man müsse eben nur das passende Modell wählen. Ich horchte auf und erfuhr, dass es Dutzende unterschiedlicher Stile gab, jeder Stamm hatte quasi seinen eigenen. Und auch wenn das Grundprinzip der Herstellung bei allen ähnlich war, so unterschieden sie sich eben je nach Zweck und Region doch deutlich in den Details. Halin riet mir zu einem Kanu, das die Indianer der Great Lakes an der Grenze zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten früher benutzten. »Die mussten teilweise wochenlang unterwegs sein, transportierten in ihren robusten Booten manchmal den halben Hausstand samt Familie.« Großartig, ich würde meine Reise also doch noch stilecht machen können. Allerdings wollte ich das Boot auch gerne bauen oder zumindest dabei mithelfen. »Kein Problem«, schrieb Halin. »Dann geht es schneller …« Anfang Juni wäre mein Wunschtermin für den Start, gleich nach dem Eisaufbruch auf den Quellseen, um nicht in die gefährlichen Herbststürme im Delta zu geraten, vor denen mich viele im Vorfeld gewarnt hatten. Halin wollte eigentlich nicht so früh zurückkommen, es sich aber noch mal überlegen. Tage des Bangens vergingen. Dann kam die erlösende Nachricht, er könne sicher auch ein paar Tage früher kommen. Ich war erleichtert, wenn auch nur für einen sehr kurzen Moment. Denn Halin merkte noch an, dass er mir keine definitive Zusage geben könne. Wie? Was hieß das denn? Na ja, es sei schon wahrscheinlicher, dass er käme, als dass er nicht käme. Aha. Und im Übrigen glaube er fest daran, dass, was geschehen soll, auch geschehen wird. Er würde sich dann zu gegebener Zeit melden.

Vier Wochen konnte ich diese Ungewissheit ertragen. Dann fing ich an zu recherchieren. Es musste doch noch andere geben, die Kanus aus Birkenrinde bauten. Im Yukon nicht, das hatte mir Halin glaubhaft versichert. Ich tippte birchbark, canoes und building in die Internet-Suchmaschine. Bald hatte ich eine Handvoll Namen recherchiert und nahm Kontakt per Mail auf. Irgendwann schrieb mir Tom Byers aus Ontario im Osten Kanadas. »Wenn du Lust hast, kannst du schon im April kommen. Dann kriegen wir noch Winterrinde, die ist etwas dicker, und du kannst sie sogar verzieren, wenn du die dunkle Zusatzschicht wegschabst.« Ich schaute mir die Bilder auf seiner Homepage an, las über ihn. Er gehörte zu den Métis, einer ethnischen Gruppe in Kanada, meist Nachfahren französischer Trapper mit indianischen Frauen. Tom lebte in einem kleinen Blockhaus ohne Strom und fließend Wasser, einsam an einem Fluss inmitten der Wälder. Fast zu kitschig, um wahr zu sein. Ich war begeistert, zögerte aber noch. Wegen des Riesenumwegs und weil ein Kanubau am Yukon natürlich authentischer wäre. Halin nahm mir ein paar Tage später die Entscheidung ab, als er verkündete, dass er in diesem Jahr vermutlich gar nicht zum Yukon kommen würde. Das, was geschehen soll, wird auch geschehen. Oder eben nicht.

Fünf Tage war ich inzwischen unterwegs, hatte seit meiner Abfahrt aus Los Angeles über 4000 Kilometer zurückgelegt und den Frühling weit hinter mir gelassen. Hier oben im Norden regierte selbst jetzt, Mitte April, noch immer der Winter, auch wenn der Schnee weitgehend getaut war. Das Navi führte mich zielsicher an Toms Grundstück vorbei. Das sollte nach seinen Angaben noch ein paar Kilometer weiter an der Schotterpiste liegen. Im Augenwinkel erkannte ich einen Mann in der Einfahrt, die ich gerade passiert hatte. Er unterbrach seine Arbeit und blickte konzentriert in meine Richtung. Ich stieß mit dem Wagen zurück.

»Du hast es geschafft!«, rief Tom mir zu, als ich ausstieg. Mit seinen stahlblauen Augen und den freundlichen Gesichtszügen erinnerte er mich irgendwie an Paul Newman, nur mit Schnauzer. Ich schätzte ihn auf Mitte, Ende fünfzig. Sein graues Haar quoll unter einer vergilbten, grünen Schirmmütze hervor. Er wirkte größer und fitter als auf den Bildern im Internet. »Ich habe gerade eine Schubkarre vorbereitet. Damit können wir deine Sachen runter zur Hütte fahren. Der Weg ist ziemlich aufgeweicht.«

Etwas zweifelnd blickte ich auf die wacklige Holzkonstruktion. Die kurzen Gabeln von zwei kleinen Gummirädern steckten vorne in einem Rahmen aus Brettern, die notdürftig verschraubt waren. »Wie weit ist es denn?«, wollte ich wissen.

»Eine Meile, maximal«, erwiderte Tom sichtbar stolz auf sein Spezialgefährt, das wir mit meinen Taschen und Proviant vollluden. »Manchmal steht hier alles wochenlang unter Wasser«, erklärte Tom, als wir nach fünf Minuten den steilen Zufahrtsweg hinter uns ließen und in ein kleines Tal kamen. »Ich muss erst noch ein paar Löcher auffüllen und den Weg besser befestigen. Wenn die Sonne ein paar Tage scheint, sollte es trocken genug sein. Dann können wir sicher auch mit den Autos runter.« Tom parkte seinen Wagen schon eine ganze Weile oben an der Straße. Sei ja auch ein gutes Training, jedes Mal zehn Minuten zu Fuß rauf und wieder runter.

Der Hain aus dünnen Birken und Pappeln öffnete sich und gab den Blick auf eine große Grasfläche frei, die am Ufer eines schmalen Flusses endete. Ich erkannte das alte Blockhaus, das ich schon auf Toms Website gesehen hatte. Rechts daneben schmiegte sich die kleine Werkstatt an eine stattliche Fichte. Vor einem respektablen Haufen aus Stücken alter Birkenrinde und Holzresten stand eine dritte Hütte.

»Das ist das guest house, ganz für dich!« Tom stieß die Tür auf. »Einfach, aber zweckmäßig, ich hatte dich ja gewarnt«, entschuldigte er die spartanische Einrichtung. Zwei Feldbetten, ein ausrangierter Küchentisch, ein gusseiserner Ofen. Auf den Boden hatte Tom einen dünnen Filzteppich gelegt, die gröbsten Ritzen der Wände waren mit Stofftüchern zugestopft. »Ich wollte eigentlich noch besser isolieren, hatte aber zu viel zu tun. Hast du einen guten Schlafsack?«, fragte er mit Blick auf den Nachtfrost, der für die nächsten Tage angekündigt war. »Keine Sorge, mir gefällt’s!«, beruhigte ich ihn. Auf dem Tisch stand ein blauer Zwanzig-Liter-Kanister Wasser. »Soll ich uns einen Kaffee machen?«, schlug ich vor, auch weil ich unbedingt meine erst gestern erstandene Kaffeemühle ausprobieren wollte. Ich hatte sie nach langem Suchen in einem italienischen Laden am Stadtrand von Chicago entdeckt. »Gute Idee. Ich habe noch Apfelkuchen.« Tom sprang auf und kehrte nach fünf Minuten mit zwei mächtigen Stücken zurück. »Sonderangebot vom Vortag«, freute er sich bei den ersten Gabeln noch immer über sein Schnäppchen.

Mein Kaffee dauerte ein wenig länger. Nicht wegen der Handmühle, die funktionierte hervorragend. Aber der Alkoholbrenner meines mitgebrachten Kochers brauchte eine ganze Weile, bis er das Wasser im Alu-Espressokännchen durchs Sieb gepresst hatte. Für die Tour auf dem Yukon würde ich wohl doch wieder auf Benzin umsteigen.

»Das ist der beste Kaffee seit langer Zeit!«, lobte Tom wohl mehr aus Höflichkeit das braune Gebräu, mit dem ich noch nicht so recht zufrieden war. Vielleicht lag’s ja an den Bohnen, obwohl extra aus Italien importiert, beste Ware hatten die Ladenbesitzer gestern geschwärmt. Den Yukon Blend wollte ich für den Fluss aufheben.

»Schlage vor, dass wir es heute langsam angehen lassen. Komm doch nachher rüber zum Essen, dann können wir uns besser kennenlernen.«

Tom zeigte mir noch den Brunnen, dessen Wasser man zwar wahrscheinlich auch trinken könnte. Aber vielleicht wäre es sicherer, wenn ich es nur zum Waschen und Spülen nahm. Den Kanister könnten wir an der Zapfstelle im Ort füllen, wenn wir zum Einkaufen fuhren.

»Das da hinten ist das Gästeklo.« Tom deutete auf den kleinen Verschlag, der mitten auf dem freien Feld stand. Als ich es später begutachtete, entdeckte ich eine Inschrift, die Mack, einer meiner Vorgänger, im Jahre 2006 mit Bleistift hinterlassen hatte: »Einfachheit ist die höchste Perfektion!« Ein Zitat von Leonardo da Vinci, das für mich zum Motto der nächsten drei Wochen in den Wäldern Ontarios werden sollte.

»Hier draußen haben wir alle eines gemeinsam: So verschieden wir auch sein mögen, wir sind ein Haufen verrückter Romantiker.« Für einen kurzen Moment wirkte Tom nachdenklich.

»Du meinst, um ein Kanu aus Birkenrinde zu bauen, muss man romantisch sein?«, fragte ich nach.

»Wenn es gut aussehen soll, schon. Und ich bin der größte Romantiker von allen!«

Wir mussten beide lachen. Der kleine Raum seiner hundert Jahre alten Blockhütte quoll über vor Kisten, Büchern und Geschirr. Die Wohnküche mit Sofa, Esstisch, Regalen und Kocheecke maß vielleicht fünf mal sieben Meter. Im Laufe der Zeit war der Holzboden in eine deutliche Schieflage geraten, was dem Gebäude eine noch rustikalere Note verlieh. Eine schmale Treppe gleich neben der Eingangstür führte ins obere Stockwerk, in dem Toms Bett stand. ›Mein Haus ist sauber genug, dass man gesund bleibt, und dreckig genug, dass man darin glücklich sein kann!‹, verkündete eine kleine Holztafel draußen. Ein Motto, das Tom offensichtlich konsequent auf das gesamte Grundstück übertrug. Die drei fahruntüchtigen Trucks, die neben ein paar alten Ölfässern und schwarzen Müllsäcken vor sich hinrosteten, unterstrichen dies unübersehbar.

»Ende der 80er habe ich ein Stück Land auf der anderen Seite des Flusses gekauft und eine kleine Wochenendhütte mit Teerdach drauf gebaut. Da konntest du nur mit dem Boot hin, es gab keine Straße. Immer wenn ich dann hier an diesem Blockhaus vorbeigepaddelt bin, dachte ich, das sieht so cool aus, das will ich unbedingt haben.«

Damals wohnte Marianne noch hier. Vor über sechzig Jahren kam die heute 87-Jährige aus Schlesien nach Nordamerika. Mit zunehmendem Alter schien ihr das spartanische Leben ohne Strom und fließendes Wasser, vom Fluss nebenan mal abgesehen, zu anstrengend. Sie zog in eine umgebaute Doppelgarage mit nur einem Zimmer, aber direkt an der Schotterstraße und überschrieb das Grundstück schließlich Tom. Der half Marianne nun ein wenig, nahm sie mit in die Stadt oder erledigte Einkäufe. Seit gut fünfzehn Jahren lebte er jetzt in seiner Wildnisoase, genoss das einfache Leben, auch wenn es hier im Winter bitterkalt wurde. »Wir hatten schon –42 Grad. Im Haus waren es mal –16. Aber dann machst du halt ein Feuer. Und abends trinkst du viel, damit du nachts rausmusst und dann ein paar Holzscheite nachlegen kannst.«

Toms Humor gefiel mir. Auf einem schlichten Holzofen standen eine gusseiserne Pfanne, in der eine Tiefkühlpizza fürs Abendessen schmorte, und ein großer Topf. Der blieb ständig auf der Herdplatte und sorgte für warmes Wasser und alle zwei bis drei Tage für eine heiße Open-Air-Dusche: ein Eimer mit Schlauch und Miniduschkopf, der an einem Lattengerüst baumelte. Zwei mittlerweile zerfledderte, blaue Tarps waren rundherum ans Holz getackert und sollten den kalten Wind fernhalten. Ich bezweifelte, dass das Ganze im klirrenden Winter sehr zweckmäßig war, aber jetzt im Frühjahr und Sommer reichte es völlig aus.

»Wann bist du geboren?«, wollte Tom nach dem Abendessen wissen.

»21. April 1968.«

Er schlug ein kleines blaues Büchlein auf. »Damit kriege ich raus, was du für ein Mensch bist. Die Zahlen deines Geburtstages ergeben eine Nummernkombination.«

»Das machst du wohl immer am Anfang, damit du weißt, auf was du dich einlässt?«, scherzte ich.

»Ja, meistens schon, und sehr oft stimmt’s.«

Tom blätterte durch die Seiten des Bandes, bis er zu meiner Kombination gelangte, Sonne im Stier, Mond im Wassermann. Ich konnte mir nicht alles merken, was er mir vorlas, musste aber zugeben, dass ich mich in vielem wiedererkannte. Über eine Passage mussten wir beide schmunzeln. »Du bist zutiefst romantisch veranlagt, manchmal sogar sentimental, hast jedoch gelernt, deine emotionale Energie umzuwandeln und praktisch zu nutzen!« Na, dann würde unser Boot ja an Schönheit kaum zu übertreffen sein, bei zwei so großen Romantikern.

Als Tom Anfang der 80er aus der Kleinstadt Cardinal am St.-Lorenz-Strom in die Gegend kam, um am College in Sudbury Musik zu studieren, hatte er keine Ahnung, dass er hier hängen bleiben würde. »Ich dachte, Sudbury muss die hässlichste Stadt sein, die ich je gesehen hatte. So wie jeder, der hierherkommt. Aber wenn du aus der Stadt rausfährt, weg von den ganzen Minen, die die Landschaft zerstören, dann kommst du in eine wunderschöne Gegend. Sehr hügelig, mit viel Wald, Seen und Flüssen.« Nach dem College schlug Tom sich als Maler und mit Gelegenheitsjobs durch. Bis er sein allererstes Birkenrindenkanu sah. »In einer trading post war das, die es heute gar nicht mehr gibt. Aus irgendeinem Grund habe ich damals nach oben geschaut. Und da hing es von der Decke, dieses wunderschöne Birkenrindenkanu. Ich hatte noch nie etwas so Schönes gesehen.« Tom wirkte bei diesen Worten fast ein wenig verklärt. Der größte aller Romantiker. »Ich hatte damals die Schnauze voll von all dem Plastik, alles war synthetisch und vermutlich giftig, was für ein Kontrast. Es war fast so, als ob eine Stimme zu mir spräche, auch wenn das verrückt klingt: Ich bin der Geist des Waldes, und das können wir erschaffen, wenn wir zusammen statt gegeneinander arbeiten. Ich kann es nicht anders erklären, das war wie eine spirituelle Erfahrung.« Ein Moment, der sein Leben verändert hat. Auch wenn es noch sechs Jahre dauerte, bis Tom sein erstes Kanu baute. »Ich hatte ein paar Filme, die zeigten, wie die Indianer ihre Boote bauten. Das waren meine einzigen Lehrer. Später habe ich dann immer eine kurze Sequenz angeschaut, bin runter in die Garage und habe versucht, es genauso nachzubauen.« Tom sprang auf und ging zu einem der völlig überladenen Regale. »Ich möchte dir was zeigen, muss nur die Videokassette finden.« Erst jetzt fiel mir der verstaubte VHS-Rekorder aus der elektronischen Steinzeit auf, der neben dem alten Sofa stand.

»Du hast Strom hier?«

»Ja, ein kleines Solarpaneel auf dem Vordach. War schon drauf, als ich eingezogen bin.«

»Und was kannst damit betreiben?«

»Alles Wichtige, Licht und den Plattenspieler.«

Der stand in einem anderen Regal neben dem Sofa und war vermutlich noch älter als der VHS-Rekorder. Zwischen Dutzenden von Kassetten und Büchern stapelten sich die Schallplatten. Das Cover zuoberst zeigte das Porträt eines Mannes mit Struwwelmähne und Zottelbart, der eine antike Fliegerbrille trug.

»Was ist das denn?«, platzte es aus mir heraus.

Tom drehte sich um. »Oh, das ist meine Lieblingsplatte, John Hartford. Eine seiner besten, Aero Plain, kennst du die?« Das Album nicht, aber ich wusste, wer John Hartford war. Eine Folk- und Bluegrass-Legende, die mit Gentle on My Mind für Glen Campbell einen der größten Country-Pop-Hits aller Zeiten geschrieben hatte und kurz vor ihrem Krebstod als treibende Kraft beim millionenfach verkauften Soundtrack des Films O Brother, Where Art Thou? mitgewirkt hatte. Die Coen-Brüder schufen mit ihrer Adaption von Odysseus’ Irrfahrt ein cineastisches Meisterwerk, in dem George Clooney sich mit zwei grenzdebilen Mithäftlingen durch den von der Rezession schwer gebeutelten amerikanischen Süden der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts schlägt, um seine Exfrau davon zu überzeugen, dass sie nicht wieder heiraten darf, weil er sie immer noch liebt. Die skurrilen Abenteuer der drei Ausbrecher werden von einem grandiosen Soundtrack aus Blues, Bluegrass, Folk, Gospel und Roots Music begleitet. Wer Musik von Größen wie John Hartford in seiner Sammlung hatte, war genau nach meinem Geschmack. Das verhieß musikalischen Einklang und sicher so manch anregende Fachsimpelei bei lecker Kaffee und Kuchen. Allerdings müsste ich dazu meine Barista-Qualitäten wohl noch etwas steigern. Zu gerne hätte ich die Platte sofort aufgelegt.

»Wir können später mal reinhören, aber jetzt will ich dir das hier zeigen.« Toms Suche war erfolgreich. Stolz streckte er mir eine abgegriffene Videokassette entgegen. »Da ist alles drauf, was du für den Bau eines Birkenrindenkanus wissen musst. So habe ich es mir auch beigebracht.«

Fünf Minuten später saßen wir nebeneinander auf dem plüschweichen Sofa und starrten auf den postkartengroßen Monitor eines portablen DVD-Players, den Tom als Bildschirm mit dem VHS-Rekorder verbunden hatte. Die wackligen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigten ein indianisches Ehepaar, das vor seiner Hütte ein Kanu aus Birkenrinde fertigte. Alle Arbeitsschritte waren dokumentiert, vom Schälen der Rinde bis zum Abdichten mit Fichtenharz. Auch wenn die Details wegen der schlechten Qualität kaum auszumachen waren, starrte ich gebannt auf den winzigen Monitor.

»Wow, damit hast du dir alle Kenntnisse angeeignet?«, stotterte ich ungläubig, als der Film nach zwanzig Minuten zu Ende war.

»Damit und mit ein paar anderen Filmen, die kann ich dir auch noch zeigen in den nächsten Tagen. Aber jetzt sollten wir zu Bett gehen. Ist spät geworden, und wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.«

Mit einem von Toms Büchern über traditionelle Kanumodelle, das mir bei der Entscheidung für einen bestimmten Baustil vielleicht helfen konnte, trat ich hinaus in die klare Nacht. Die Sterne schienen heute besonders hell zu funkeln. Auf dem kurzen Weg vorbei an den letzten Schneeresten zu meiner Hütte versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Schon jetzt spürte ich, mit Tom als Baumeister die richtige Wahl getroffen zu haben.

Rund fünfzig Kanus hatte Tom mittlerweile gebaut, ausschließlich mit Material aus den Wäldern, Zedernholz, Kiefernwurzeln, Fichtenharz und natürlich Birkenrinde.

»Sie muss vor allem flexibel sein, das ist das Entscheidende, egal, ob dick oder dünn, sonst kann sie nichts aushalten und zerbricht.« Tom griff zum Messer und setzte einen kurzen Längsschnitt, um die Dicke und Qualität der Rinde besser einschätzen zu können. Ich blickte zur Spitze der gut zwanzig Meter hohen Birke, die in einem Hain eine Stunde von Toms Hütte entfernt stand. Er hatte sie vor ein paar Tagen von der Straße aus entdeckt, als er seine ›Reviere‹ im Vorfeld nach geeigneten Bäumen durchsuchte.

»Die wäre ideal, bei einem Durchmesser von locker vierzig Zentimetern bekämen wir über einen Meter breite Rinde. Perfekt für den Boden des Kanus.« Toms Enthusiasmus stieg nach den ersten Tests noch weiter.

»Wie alt schätzt du die Birke?«, wollte ich wissen.

»Wahrscheinlich knapp hundert, mindestens achtzig Jahre. Viel älter werden die Bäume auch nicht. Für unsere Zwecke kommen nur Bäume infrage, die ohnehin bald sterben würden und gut zwei Drittel ihres Lebens bereits hinter sich haben.«

Weil sie erst dann groß und dick genug sind, um brauchbare Rinde zu bekommen. Nach dem Schälen sterben die Birken. Das kann eine Weile dauern, bleibt aber nur eine Frage der Zeit, weil mit der Rinde auch die Leitungen gekappt werden, die den Baum mit Wasser und Nährstoffen versorgen. Manche Kanubauer fällen die Birken, damit das Schälen einfacher wird. Tom hingegen stand mit Motorsägen auf Kriegsfuß, zu laut und gefährlich. Dann doch lieber mit Leiter durchs Gestrüpp und am stehenden Baum arbeiten.

»Die hängt verdammt fest am Stamm.« Inzwischen hatte er einen etwa zwei Meter langen Schnitt gezogen und versuchte nun mithilfe eines mannshohen Stockes, den er vorsichtig der Länge nach zwischen Rinde und Stamm schob, das Stück abzuschälen. »Das ist das Problem mit Winterrinde. Dafür ist sie zäher, nur die beste lässt sich überhaupt schälen. Im Sommer kriegst du alles kinderleicht runter. Aber jetzt kannst du dir sicher sein: Was wir schälen können, hat beste Qualität.«

Toms anfängliche Euphorie ließ allmählich nach. Zu lange schon mühten wir uns an diesem ersten Baum ab, immer mehr wurde klar, dass es den Aufwand nicht wert war. Einige Risse und spröde Bereiche würden uns doch nur ein kleines Stück Rinde bescheren, das wirklich brauchbar wäre. Tom wirkte zunehmend angespannt. Wir konnten mit dem Bau erst beginnen, wenn wir wirklich gute Rinde für den Boden bekämen. Enttäuscht über die magere Ausbeute, fuhren wir ein Stück weiter auf dem Forstweg. Keine hundert Meter vor uns trollte sich ein junger Schwarzbär ins Dickicht. Wie gut, dass wir zu zweit waren. Da konnte einer immer Schmiere stehen.

Im nächsten Hain hatten wir mehr Glück. Zunächst schälten wir ein paar Rollen, die wir später als Seitenteile verwenden wollten. Und schließlich fanden wir ein auffällig gerade gewachsenes Prachtexemplar. Es sollte uns nach acht Stunden harter Arbeit doch noch das so wichtige Bodenstück liefern. In ganz seltenen Fällen, wenn alle Sterne günstig stehen und Weihnachten auf Ostern fällt, hatte Tom den Boden auch schon mal aus einem einzigen Stück Rinde formen können. Je nach Größe des Kanus muss das dann fünf bis sechs Meter lang sein. Wir waren schon mit drei Meter zufrieden und würden zwei zusätzliche Endstücke ansetzen, um auf insgesamt fünf Meter Länge zu kommen. Ich hatte mich für ein Ojibwe Longnose entschieden, mit seinen halbrunden, geschwungenen Enden das klassische Indianerkanu. Aufwendiger zu bauen, aber in Eleganz und Ladekapazität unübertroffen und perfekt für meine Zwecke.

»Wir sollten es vielleicht eine Idee schlanker machen, dann hält es besser die Spur und läuft schneller«, schlug Tom am nächsten Tag vor, als wir die Rinde auf seinem selbst gebauten Arbeitstisch ausrollten. Wobei die weiße Außenseite später innen, die braune Innenseite außen liegen würde. Viel heißes Wasser, das wir mit einer umfunktionierten Spülmittelflasche aus Kunststoff unablässig auf die Rinde spritzten, sollte sie weicher machen und Risse und Brüche vermeiden.

»Das Wichtigste ist jetzt, dass wir sie ganz flach auf den Tisch pressen. Sonst gibt’s später nur Probleme, und die Form stimmt auch nicht.«

Wir platzierten einen Holzrahmen auf den Rindenstücken. Er hatte die Form eines Kanus und wurde mit Steinen und kleinen Felsbrocken so beschwert, dass er die Rinde eben auf den Tisch drückte. Erst in zwei Tagen, wenn alles sich gesetzt hätte, würden wir mit den eigentlichen Arbeiten am Boot beginnen können. Genug Zeit, um die anderen Materialien für den Bau zu besorgen, Kiefernwurzeln zum Vernähen, Zedernholz für das Innenleben und Fichtenharz zum Abdichten.

Tom kannte ein Waldstück rund eine Fahrtstunde entfernt, in dem reichlich jack pines wuchsen und gute Beute versprachen. Diese Pinien- oder botanisch korrekter Kiefernwurzeln sind neben denen von Fichten besonders geeignet. Sie wachsen in die Breite und liegen nur wenige Zentimeter unter der Erde. Mit Spitzhacken versuchten wir unser Glück und gruben zunächst vorsichtig in Stammnähe. Hatten wir eine passende Wurzel gefunden, folgten wir ihrem Lauf behutsam, manchmal für fünf bis sechs Meter, immer darauf bedacht, sie mit unseren Hacken nicht zu verletzen. Am Ende kappten wir den Wurzelstrang und zogen ihn in der ganzen Länge aus dem Boden. Was in der Theorie recht entspannt klingt, artete in echte Plackerei aus, auch weil bald leichter Regen einsetzte, der uns im Laufe der Zeit durchnässte und auskühlte. Viele Wurzeln sträubten sich mächtig, verzweigten sich immer wieder. Hatte was von Tauziehen, wobei die mittlerweile verschlammten Hände die Sache nicht wirklich leichter machten. Nach gut vier Stunden luden wir eine respektable Wurzelrolle in Toms Kofferraum. Vielleicht würde sie sogar für die gesamten Nähte am Boot reichen.

Als Nächstes mussten wir die Wurzeln teilen und schälen. Perfekt waren sie mit einer Dicke, die einer fetten Makkaroni-Nudel entsprach. Lag der Durchmesser bei mehr als einem halben Zentimeter, wären sie vermutlich zu starr und würden beim Verarbeiten brechen. Waren sie deutlich dünner, würden sie dem enormen Zug nicht standhalten und reißen. Mit einem Messer setzten wir einen kurzen Längsschnitt ins dicke Ende der Wurzeln, spreizten dann mit unseren Daumen vorsichtig die Hälften und führten so den Schnitt fort, bis wir zwei Teile hatten. Zum Schälen hatte Tom einen Axtkopf in einen Holzblock getrieben, mit der Klinge nach oben. Darüber zogen wir die Wurzelhälften immer wieder hin und her, bis die Rinde sich komplett löste. Kleine Verästelungen kappten wir vorher mit einem Messer. Die jetzt schneeweißen Wurzeln wurden aufgerollt und in einen Eimer voll Wasser gelegt. Das würde sie bis zur endgültigen Verarbeitung feucht und flexibel halten.

Für den Bau ihrer traditionellen Kanus verwendeten die Ureinwohner meist das Holz der Zedern. Es ist weich, flexibel und extrem leicht, drei Eigenschaften, die wir für unser Boot auch nutzen wollten. Tom steuerte den Wagen von der Hauptstraße nach rechts zum Whitefish Reserve, einem Reservat der Ojibwe-Indianer. Kurz darauf stoppten wir vor einem Tabakladen. Tom brauchte Nachschub, und der war hier deutlich günstiger als in der Stadt. Unablässig hielten die Autos vor dem kleinen Kiosk. Der Umsatz konnte mit dem weitverbreiteten Kasino-Modell anderer Gegenden, das den Indianern übers Glücksspiel Zusatzeinnahmen von Touristen bringen soll, vermutlich nicht mithalten, schien aber doch ganz ordentlich auszufallen. Die Reservatsstraße schlängelte sich durch die Wälder, vorbei an einem malerischen See. Nach einer Weile bogen wir links auf ein idyllisches Grundstück mit Wasserfront. Aus einem grauen Fertighaus mit auffällig grünem Dach kam ein Mann zu uns herüber.

»Hey, Kev, wie geht’s? Das hier ist Dirk aus Deutschland.«

Wir stiegen aus. Tom und Kevin kannten sich schon lange. Er lebte als Halbblut mit seiner weißen Frau im Reservat und hatte wohl auch deshalb mit manchen Anfeindungen seiner Stammesbrüder zu kämpfen, wie Tom mir auf der Fahrt erzählte. Kevin wirkte ruhig und sympathisch. Seine schwarzen Haare, in die sich die ersten grauen Strähnen mischten, hatte er zu einem schütteren Zopf gebunden. Auf dem T-Shirt, das er trug, prangte ein stolzer Weißkopfseeadler, der seine Flügel vor einer amerikanischen Flagge spreizte. ›Mut, Ehre, Stärke‹, stand zwischen den Streifen. Am Ende dieses Tages sollte das noch eine besondere Bedeutung für mich bekommen. Kevin lud eine schwere Motorsäge in seinen zerbeulten Truck, dann konnte es losgehen. Wir folgten ihm, bis er rechts am Straßenrand stoppte und ausstieg. Schwer beladen mit Säge und Äxten, stapften wir durchs Dickicht auf eine Lichtung zu. Die Sonne blinzelte zaghaft durch die mächtigen Wipfel der Zedern. Einen Baum hatte Kevin schon vor ein paar Tagen gefällt. Ein zweiter sollte gleich folgen. Wir entschieden uns für einen, dessen Äste erst in etwa sechs Meter Höhe begannen. Das würde eine ausreichende Länge für die gunwales ergeben. Nautisch korrekt übersetzt, entsprechen die gunwales dem »Dollbord« auf Booten, also der obersten Kante. Aber ich nehme mal an, dass dieser Begriff Sie genauso verwirrt zurücklässt wie mich und auch nicht klarer wird, um was es sich dabei handelt. Bleiben wir also bei gunwales, und Sie stellen sich einfach den Rand des Kanus vor, an dem man sich festhalten kann, wie an einer Reling, auch wenn damit nautisch etwas anderes gemeint ist. Ich entschuldige mich an dieser Stelle demütig bei allen Seefahrern für mein stümperhaftes Bestreben, korrekte und präzise nautische Termini umgangssprachlich zu vereinfachen. Kevin setzte den Gehörschutz auf, warf die Motorsäge an, und nur einen kurzen Moment später lag der Baumriese am Boden. Die nächsten Stunden verbrachten wir mit mühsamem Zerteilen. Keile, Äxte und Stemmeisen sollten das Holz in brauchbare Stücke verkleinern. Eine äußerst zähe Angelegenheit. Zudem trauten sich zum ersten Mal die nervigen blackflies nach der langen Winterpause in die Sonne und krabbelten unablässig in unsere Augen, Nasen und Ohren. Später auf dem Fluss sollten sie noch zu einer richtigen Plage für mich werden.

Schließlich luden wir die langen Holzstangen auf das Dach von Kevins Truck. Ich setzte mich obendrauf, um das Holz zu beschweren und dafür zu sorgen, dass es nicht verrutschte. Im Schneckentempo fuhren wir zurück zu Kevins Haus und verzurrten dort alles auf Toms kleinem PKW. Eine gewagte Konstruktion, mit der wir uns aber dann doch auf den Rückweg trauten. Wir verabschiedeten uns von Kevin, der noch zum Kung-Fu-Training in der Community Hall des Reservates wollte. Erst kürzlich hatte er den Abnehmwettbewerb seines Stammes gewonnen und sich von den 800 Dollar Preisgeld ein Fahrrad gekauft, um weiter trainieren zu können. Kevin fuhr voraus, hielt aber nach ein paar Minuten an und forderte uns mit einer Handbewegung auf, zu ihm zu kommen. Wir rollten neben seinen Truck, und er stieg aus. Ich kurbelte die Fensterscheibe runter.

»Ich habe diese Adlerfeder hier jahrelang in meinem Wagen gehabt, damit sie mich beschützt. Jetzt wäre es mir eine Ehre, wenn du sie mit auf die Reise nimmst, damit sie dich beschützt.«

Sprachlos nahm ich die Feder aus Kevins Hand. Ich war überwältigt, auch weil ich um die Bedeutung dieser Geste wusste, die unter den Ureinwohnern bis heute eine besondere Ehre ausdrückt.

»Ich komme wieder und bringe sie zurück«, stammelte ich.

»Oh nein, das brauchst du nicht. Sie gehört jetzt dir«, beruhigte mich Kevin.

»Ich meine, ich komme wieder und bringe sie mit, um dir zu zeigen, dass ich es geschafft habe.«

Wir verabschiedeten uns noch einmal, mit einem innigen Handschlag. Dann ließen wir ihn zurück und fuhren schweigend weiter. Ich schaute noch eine Weile in den Seitenspiegel, in dem Kevins Silhouette immer kleiner wurde.

»Er mag dich«, unterbrach Tom die minutenlange Stille.

»Ich werde wiederkommen«, entgegnete ich. »Nach der Reise, versprochen.«

In den nächsten Tagen arbeiteten wir rund um die Uhr, starteten früh, noch vor der Sonne. Wir teilten das Zedernholz weiter und bearbeiteten es mit Krummmesser und immer wieder auf der Schnitzbank. So fertigten wir die ribs, die ich zu Ehren der vorhin vergraulten Seefahrer korrekter als Spanten bezeichnen sollte, die sheathings, etwa zehn bis fünfzehn Zentimeter breite Holzstreifen für die Innenverkleidung, und die bereits erwähnten gunwales, an denen die Birkenrinde später mit den Kiefernwurzeln angenäht werden sollte. Kein Nagel, keine Schraube, kein Klebstoff. Auch unsere Werkzeuge blieben archaisch. Neben Krumm- und Zugmesser setzten wir Ahle und Handbohrer für die Löcher ein. Die Eschen, aus deren Hartholz wir die fünf Querstreben zur Versteifung des Bootes schnitzen wollten, fällten wir mit der Axt auf Toms Land. Meine Hände und Unterarme revanchierten sich für die ständige Beanspruchung bald mit dumpfem Überlastungsschmerz. Die Spitzen meiner ersten drei Finger entwickelten sogar eine Taubheit, die erst nach der Reise wieder langsam verschwinden sollte. Trotzdem genoss ich die körperliche Arbeit. Auch wenn ich manchmal morgens aufwachte und kaum die kleine Kaffeekanne halten konnte. Nach einiger Zeit aber schien sich die Anspannung zu lösen, ich war bereit für einen neuen Arbeitstag und erfreute mich am aromatischen Duft von Rinde und Holz. Der verstärkte sich in der kleinen Werkstatt jedes Mal, wenn wir heißes Wasser aufspritzten, um unser Baumaterial zu biegen und zu formen. Zwischen all den groben Holzspänen fühlte ich mich bald wie ein kleiner Meister Eder. Unser Pumuckel hieß Banjohead und war ein scheues Murmeltier, das allerdings nicht täglich, sondern nur hin und wieder aus seiner Höhle unter Toms Hütte grüßte. Der Name entstammte Toms musikalischen Talenten. Jeden Abend zupfte er zur Entspannung das Banjo oder griff im letzten Sonnenlicht auf der Veranda zur Gitarre und eiferte seinem großen Vorbild, Jazzlegende Django Reinhardt, nach. Auch Mandoline, Mundharmonika und Akkordeon beherrschte er.

»Mein nächster Traum ist, ein berühmter Gitarrist zu werden. Daran arbeite ich seit vierzig Jahren«, scherzte er, als ich ihn fragte, was er denn noch vorhätte. »Ist ein bisschen zäh, aber es könnte noch klappen. Nein, es wird noch klappen. Man wird schließlich immer das, wovon man träumt!«

Tom verwendete gerne Zitate aus Filmen. Das hier stammte aus der Verfilmung der Lebensgeschichte von Grey Owl. Pierce Brosnan spielt darin den britischen Schriftsteller und Naturschützer Archibald Belaney, der Anfang des 20. Jahrhunderts nach Kanada auswanderte, bei den Ojibwe-Indianern lebte und von ihnen angeblich den Namen Grey Owl erhielt, als er adoptiert wurde. Archie ließ sich die Haare wachsen, flocht sich Zöpfe und schuf sich eine neue Identität als Halbblut. Das sollte seiner Reputation später zwar schaden, aber seine Geschichten und Berichte aus der kanadischen Wildnis sorgten für Begeisterung. Er wurde nach Europa eingeladen und feierte dort große Erfolge als Vortragsredner. Als er, zurück in Nordamerika, einem alten Häuptling der Lakota Sioux gegenübertrat, durchschaute der seine falsche Identität sofort und brach in schallendes Gelächter aus. Statt jedoch Grey Owl bloßzustellen, überreichte er ihm zum Dank für sein Engagement einen wertvollen Halsschmuck mit den bedeutungsschwangeren Worten: »Men become what they dream, and you have dreamed well!« Damit nahm der Häuptling nicht nur allen Kritikern den Wind aus den Segeln. Er unterstrich auch, dass allein Glaube und Überzeugung entscheiden, was aus einem Menschen werden kann, nicht Herkunft oder Vorgaben.

Irgendwann fing Tom an, mich grasshopper zu nennen, in Anlehnung an eine Szene aus der TV-Serie Kung Fu mit David Carradine. Eine Rückblende zeigte den Hauptdarsteller als jungen Schüler, dem der Shaolin-Mönch im Kloster prophezeite: »Wenn du diesen Stein aus meiner Hand nehmen kannst, bist du bereit zu gehen, Grashüpfer.« Der Junge versuchte es, aber der alte Mönch war jedes Mal schneller und verschloss den Stein in seiner Hand. So wurde ich also zum grasshopper, der von MasterHuckleberry FinnTom Sawyer