Jörg Bernig

NIEMANDSZEIT

Roman

mitteldeutscher verlag

J Ö R G  B E R N I G, geb. 1964, lebt in Radebeul; Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Sächsischen Akademie der Künste; u. a. Eichendorff-Literaturpreis, Förderpreise zum Hölderlin- und Lessing-Preis; Gedichtbände »Winterkinder« (1998), »billett zu den göttern« (2002) und »wüten gegen die stunden« (2009), Romane »Dahinter die Stille« (1999), »Niemandszeit« (2002), »Weder Ebbe noch Flut« (2007), »Anders« (2014), Erzählung »Die ersten Tage« (2007), Essays »Der Gablonzer Glasknopf« (2011)

Umschlagabbildung:

»Der verwundete Engel«, Hugo Simberg, 1903, Öl auf Leinwand, 127 × 154 cm,

Kunstmuseum Ateneum, Foto: Finnische Nationalgalerie/​Hannu Aaltonen

2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 978-3-95462-422-5

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Für Kristin

Nur daß am ende uns nicht reue heimsucht

über nicht geliebte liebe

Reiner Kunze

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung

Zitat

E I N S

Z W E I

D R E I

V I E R

F Ü N F

S E C H S

S I E B E N

A C H T

Weitere Bücher

E I N S

Der Jäger näherte sich dem letzten Ort der Welt. Nach einer Suche, die über ein Jahr gedauert hatte, war nichts von der Hoffnung, Theres noch zu finden, in ihm übriggeblieben. Was er, dem Ort im Abenddunst näher und näher kommend durch eine Gegend, die nur als Niemandsland beschrieben werden konnte, nicht wußte, war, daß ihn keine vierundzwanzig Stunden mehr von ihr trennten, was er nicht wußte, war, daß er Theres am Abend des dritten September neunzehnhundertsechsundvierzig noch einmal kurz zu Gesicht bekommen und daß er sie, gegen seine Absicht, töten würde.

Durch ganz Böhmen und Mähren war er gezogen, hatte es ihn getrieben seit jenem Tag im Mai neunzehnhundertfünfundvierzig, als er aus einem Stollen ins Tageslicht taumelte, wo er von einem Soldaten empfangen wurde, der eine Uniform trug, wie er sie noch nie gesehen hatte. Der Soldat gab ihm zu essen, war aber klug genug, die Portion klein zu halten. Einmal hatte er einen Menschen, der halb tot vor Hunger war, vollends zu Tode gebracht, weil er ihm zu viel zu essen gab. Aber woher hätte er, der, bevor er Soldat in einem Weltkrieg geworden war, nichts getan hatte, als an einer Werkbank zu stehen und auf dem Heimweg am Nachmittag der Verkäuferin im Gemüseladen schöne Augen zu machen, woher hätte er wissen können, daß bei Unterernährung plötzliche reichliche Essenszufuhr tödlich enden konnte? Warum hätte er das wissen sollen mit seinen wenig mehr als zwanzig Jahren?

Der Soldat empfing ihn und hätte nicht sagen können, wie alt der war, der da aus der Erde zu ihm heraustrat. Dabei war der Jäger in seinem Alter.

Seitdem der Jäger den Stollen verlassen hatte, war er unterwegs gewesen im ganzen Land und auf der Suche nach Theres, an die er die ganze Zeit über gedacht hatte, die hinter ihm lag und von der er wünschte, es hätte sie nie gegeben. Und nun, zwei Sommer später, näherte sich der Jäger dem Ort und wußte nicht genau, wie er dorthin gefunden hatte, und warum er sich in diesen Grenzwinkel, in dem der Ort lag, ohne daß es noch bei irgend jemand ein Wissen um seine Existenz gab, hatte abtreiben lassen. Ihm war allein klar, daß er diesen Gang benutzen würde, um sich von dem Trupp der Revolutionsgarde abzusetzen, zu dem er seit Kriegsende gehörte.

Das wollte er tun: sich absetzen, verschwinden, sich herauslösen, nachdem er Theres nicht gefunden hatte und es keine Hoffnung mehr gab, sie je wiederzusehen. Was nach dem Verschwinden kam, in der Revolutionsgarde würden sie es Desertion nennen, hatte er sich während der letzten Jahre immer wieder vorgestellt. Doch hatte diese Vorstellung stets Theres eingeschlossen. Ohne sie gab es dieses Danach nicht. Er hatte keinen Plan entworfen für ein Danach, das ihn auf sich selbst warf. So war im Augenblick nur das sicher und mußte getan werden: sich absetzen von der Revolutionsgarde.

Schnell würde der Jäger sein müssen, das wußte er, denn wenn er hierher gefunden hatte, dann konnte es geschehen – auch wenn er keine Spuren hinterlassen und ihm eine Karte gezeichnet hatte, die keine war –, daß der Trupp Revolutionsgardisten ebenfalls dorthin fand.

Der Jäger gehörte zu ihnen – hat zu ihnen gehört, dachte er –, das machte ihn zum Jäger. Er jagte kein Wild. Er jagte Menschen. Er war der Pfadfinder des Trupps und darum fast immer einen Tag vor den anderen am Ort des kommenden Geschehens. Der Jäger hatte sich – das war im Mai neunzehnhundertfünfundvierzig und wenige Tage bei der Revolutionsgarde genügten – selbst zum Pfadfinder gemacht, um den anderen stets voraus sein zu können. Er wollte, und sei es nur eine Stunde, vor ihnen dort sein, wo sich Theres befinden mochte. Wo sie sein konnte. Er wollte ihr ersparen, was mit ihr geschehen würde und mit denen, die mit ihr am selben Ort lebten, wenn die Revolutionsgarde dort erschien.

Es galt, sich abzusetzen. Er würde schnell sein müssen.

Der Jäger bahnte sich sorgsam einen Weg durch die Abendstunden. Es blieb ihm nicht viel Zeit, und die Dunkelheit würde vollends heraufgezogen sein. Mit dem Kompaß und entlang kleinerer Wasserläufe, Hügel und Felsabbrüche orientierte er sich.

Mehr als ein Jahr hatte er nach Theres gesucht und fest daran geglaubt, sie finden zu können. Doch nun, da der Nachsommer des Jahres neunzehnhundertsechsundvierzig begann, war ihm der Glaube genommen. Das lag daran, daß es jene, zu denen auch Theres gehörte, fast nicht mehr gab im Land. Als noch lange Züge von ihnen zu Fuß in Richtung Grenze geschickt wurden, hatte er das nicht mit seiner Suche in Verbindung gebracht. Als dann aber Tausende mit der Eisenbahn zur Grenze gebracht wurden und als danach nur noch kleine und kleinste Gruppen Übriggebliebener, einzelne sogar, davongejagt wurden, war es ihm zur Gewißheit geworden, daß die Frau, nach der er suchte, längst schon nicht mehr da war, daß sie mit den anderen verschwunden war aus diesem Land und dem Leben, das nun ohne sie gelebt wurde. Abschub, Austreibung, Säuberung des Landes von ihnen: Sie waren über die Grenze gejagt worden. Im Grunde haben sie es wohl nicht anders gewollt. Sonst hätten sie sich anders verhalten. Doch was ging das ihn an. Das sollten sie ihren Kindern erklären. So beendete er das fruchtlose Grübeln.

Er hatte nach Theres gesucht. An manchen Tagen hatte ihn Angst befallen, sie könne nicht mehr am Leben sein.

Die Landschaft stand leer. Sie stand leer durch die geleerten Orte in ihr. Es war die Arbeit der Revolutionsgarde, die Orte zu säubern. Die Menschen dort hatten es nicht anders verdient. Selbst wenn sie keine Verbrecher waren im einzelnen, waren nicht von den Ihren Verbrechen begangen worden? Wo sollte da die Unterscheidung beginnen? Es gab kein Ausweichen vor den Taten der Vergangenheit. Auch für die nicht, die nichts mit ihnen zu tun hatten. Das sollten sie mitnehmen über die Grenze und weitergeben die Generationen hinab, das Gefühl der Angst, der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins. Noch ihre Kinder und Kindeskinder sollten sie spüren, die Schwermut, wie sie nur einer erfährt, der sich nicht zu Hause weiß.

Der Jäger hatte Ort für Ort nach Theres abgesucht. War auf der Straße eine der Kolonnen vorbeigezogen, hatte er sie in Ruhe betrachtet, denn er wußte, daß Theres’ Haar weithin leuchten würde. Oder er hatte nach ihr gefragt, sie beschrieben und so ihr Bild immer wieder neu in sich gezeichnet. Darüber war mehr als ein Jahr vergangen.

Sehr genau hatte der Jäger sich alles vorgestellt. Sehr genau geplant auch, Pfadfinder zu sein in der Revolutionsgarde und so immer der Erste, immer den anderen voraus. Die Zeit, die er den anderen voraus war, würde er brauchen. Wenn er Theres entdeckte, so war seine Hoffnung gewesen, würde er mit ihr verschwinden, augenblicklich weggehen, irgendwohin, wo sie sich niederlassen konnten, ohne daß jemand nach ihrer Herkunft fragte. Australien, hatte er manchmal gedacht, wäre so ein Land. Er wußte, daß es ihm gelingen würde, mit ihr zu entkommen, ohne daß einer der Trupps sie zu sehen bekäme. Er war nicht umsonst Pfadfinder. So war seine Hoffnung gewesen.

Und nun näherte sich der Jäger einem Ort, dessen Existenz nichts als eine Mutmaßung von ihm war, denn er war in keiner ihrer Karten eingezeichnet. Und doch: Er war ein Jäger, und sein Instinkt führte ihn. Er fühlte, daß er nach dieser Nacht, heraustretend aus den verwilderten Wiesen und den Wucherungen des Waldes, die Umrisse einer Ortschaft vor sich sehen würde. Wie aus dem Nichts und nur für ihn hingestellt, würde er die Häuser vor sich aufsteigen sehen.

Glücklich wäre er gewesen, hätte er gewußt, daß nur noch dieser eine Weg durch diese eine Nacht ihn von Theres trennte.

Als der Jäger sich dem letzten Ort der Welt näherte, wußte er nicht, daß es der Ort war, an dem, mehr als ein Jahr zuvor, der Deserteur Antonín Mrha angespült worden war wie nach einem Schiffbruch.

Der Präsident in der Hauptstadt arbeitete bis tief in die Nacht zum dritten September neunzehnhundertsechsundvierzig. Es gab so viel zu tun, seit er aus dem Exil zurückgekehrt war, und er hatte Großes vor. Er wollte sein Land zur Mitte Europas machen. Er wollte weder zu den einen gehören noch zu den anderen. Er wollte sie für seine Zwecke einsetzen, die westlich und östlich seiner Republik einander in Feindschaft gegenüberliegenden Kriegsverbündeten von gestern. Die Stunde war gekommen, daß Nation, Staat und Volk eins wären. Das hatte er vom ersten Präsidenten der Republik gelernt, daß dies das höchste Ziel der Politik sein müsse in einer durcheinandergewürfelten Welt, wie sie die österreichische Monarchie geschaffen und hinterlassen hatte.

Sie sollen sie haben, die saubere Trennung! dachte der Präsident schon in England, als noch Krieg war.

Der Präsident arbeitete bis tief in jene Nacht, und vielleicht glaubte er, daß er sich einschrieb in das Buch der Geschichte. Saubere Striche! Anders ging es nicht. Auch wenn dafür drei Millionen aus dem Land gejagt werden mußten. Die Grenzen des Landes, der Länder überhaupt, sollten auch die Grenzen der Völker sein, der Sprache, der Art zu leben. Es war eine einmalige Gelegenheit. Saubere Striche! Es hatte schon begonnen, und noch ehe er zurückkehrte, war die Hatz durch die Straßen von Prag gegangen: Jagt sie! Findet sie! Tötet sie!

Der Präsident hatte erreicht, was er wollte. Er war durch das Land gereist und hatte verkündet, daß es bald, sehr bald, kein fremdes Volk mehr geben würde in der wiedererstandenen Republik. Er hatte dazu Dekrete erlassen, die für rechtmäßig erklärten, was getan werden mußte. Er hatte Gesetze unterschrieben, daß keiner je würde befragt werden können nach seinem Tun während der Zeit der Austreibung, der Säuberung.

Ein Land in der Mitte Europas. Die zu der einen Seite hatten zugesehen und alles Geschehen gebilligt. Die zu der anderen hatten nur matt Einspruch erhoben und sich abgewandt. Sie hatten sich abgewandt, auch dann, als Nachrichten von der Säuberung Brünns und aus dem Internierungslager Pohořelice bei ihnen eintrafen.

Der Präsident hatte nicht erreicht, was er wollte. Das Land war nicht die Mitte Europas geworden. Es war dem Osten zugefallen.

Er war zurückgekehrt aus dem Exil und hatte sich an die Arbeit gemacht. Auch in der Nacht zum dritten September neunzehnhundertsechsundvierzig gönnte er sich nur wenig Ruhe.

Antonín Mrha schlief schlecht in jener Nacht, erwachte oft. Er stand auf und ging zum Fenster. Die Straße, die er am Tag hinabblicken konnte, war nicht da. Vor der Fensterscheibe war ein Schwarz, das so schwarz war wie das vor seinem blinden Auge. Indem er das sehende zuhielt, konnte er feststellen, ob eine Nacht dunkel war oder das, was er einfach nur Schwarz nannte. Sagte einer zu ihm, man könne die Hand nicht vor Augen sehen, wiegte er den Kopf hin und her. Das paßte zu der Autorität, die ihm von den Bewohnern des Ortes mehr aufgeladen als angetragen worden war. Er war der erste von ihnen gewesen, der in diesen Ort gefunden hatte. Das war kurz nach dem Ende des Krieges gewesen, und die alten Bewohner des Ortes hatten sich zerstreut in alle Winde. Oder sie wurden es. Von solchen wie den Revolutionsgardisten, die in Trupps die Grenzgebiete des Landes durchstreiften.

Antonín Mrha stand am Fenster und war mißmutig. Wenn er so schlecht schlief, dann mußte es einen Grund dafür geben, dann mußte etwas in der Luft liegen, dachte er. Er war nahe dran, sich anzuziehen und zu seinem Freund Lípa zu gehen, doch das völlige Schwarz vor dem Fenster hielt ihn ab. Lípa wohnte zwar nicht weit entfernt von Mrhas Haus, aber mit nur einem Auge durch das Stockdunkle einen Weg sich zu bahnen, wollte Mrha nicht auf sich nehmen. Außerdem hätte er Lípa mitten in der Nacht kaum sagen können, daß er ihn aus dem Bett klopfe, weil er ein eigenartiges Gefühl habe, so, als würde ihnen allen bald etwas bevorstehen, das sie sich lieber erspart hätten.

Antonín Mrha setzte sich auf den Stuhl, den er neben dem Fenster stehen hatte, und wartete, daß der Tag begann. Er tat das gern hin und wieder, nichts als auf diesem Stuhl zu sitzen und aus dem Fenster zu schauen. Am liebsten waren ihm die Abendstunden am Ende warmer Sommertage, dann konnte er vor dem Einschlafen bei geöffneten Fensterflügeln im Halbdunkel sitzen, dem Geschrei der Schwalben zuhören und die Gerüche der aufkommenden Nacht wittern. Nun saß er und wartete, daß es hell genug wurde, um zu Lípa zu gehen.

Bohuslav Lípa schlief zwischen seinen allnächtlichen Alpträumen so tief, als wäre er durch einen Schlag niedergestreckt worden oder als hätte er ein Schlafpulver genommen. Jede Nacht hoffte er, wenn es ihm die Augen zuzog, daß er von der Unsichtbaren würde träumen können, von ihrer sanften Stimme, ihrem Gang, ihrem Haar, ihren Augen, ihren Berührungen. Es gelang ihm nie. Als er, die Unsichtbare und Mrha sich im frühen Sommer des Jahres neunzehnhundertfünfundvierzig von den Ereignissen erholt hatten, von denen sie in den Ort verschlagen worden waren und die sie beinahe das Leben gekostet hatten, begann es bereits, das Zärtliche, das zwischen ihm und der Unsichtbaren die Oberhand gewann gegenüber allem anderen. Sie sprachen miteinander, sie sahen einander an, und es war Freude in ihrem Blick, sie berührten einander am Arm, strichen sich über das Haar. Er liebte sie, und sie liebte ihn. Das war ihnen eine Sicherheit, die sie leichtsinnig mit der Zeit umgehen ließ. Sie glaubten, die Ewigkeit vor sich zu haben.

Alles hat seine Zeit, sagt der Prediger, hörte Mrha seinen Freund Lípa oft sagen, wenn er ihn auf die Unsichtbare ansprach. Woraufhin Antonín Mrha für gewöhnlich erklärte, daß sie an einem Ort seien, der nicht in der Zeit sei, der sich außerhalb davon befinde oder in einer ganz anderen, jedenfalls nicht in der, aus der sie allesamt in den Ort geflohen oder gefallen oder verstoßen waren. Und er erklärte Lípa seine Befürchtungen, daß die Abwesenheit der Zeit wohl nicht haltbar sein werde und nicht ewig dauern könne, wenn es das denn gebe, ewig! Spätestens dann kratzte sich Lípa am Hinterkopf wie ein Schüler, der dem vom Lehrer Gesagten nicht mehr folgen konnte.

Gabriele Mohaupt saß in der Nacht zum dritten September neunzehnhundertsechsundvierzig am Bett ihres Sohnes Frieder, der im Traum wieder den Arzt besuchen mußte, und Frieder konnte nicht erwachen. Es war so wie immer, wenn er von dem Arzt träumte.

Geh einmal her Junge na komm keine Angst und Sie Frau können ruhig draußen warten na keine Angst mein Kleiner wir wollen nur das Beste für alle ja warten Sie ruhig draußen wenn Sie sich auch noch an dem Jungen festhalten dann wird er gar nicht zur Ruhe kommen was heißt das er hat Angst vor Fremden ich bin Arzt aber, Mama, wenn du gehst schüttelt er den Kopf immer so immer immer so so so läßt mich mitten im Zimmer stehn bis ich zittern muß weil meine Kleider nimmt mir die Schwester weg wirft sie übern Stuhl als wärn sie schmutzig die besten Kleider ziehst du mir doch immer an wenn der Doktor ruft und wir hingehn müssen, Mama, die Schwester faßt sie an als wärn sie dreckig steh ruhig Junge der Arzt ist streng ja der Arzt ist streng und er mißt meinen Kopf mit einem Eisen das ist kalt und er geht um mich herum und er betrachtet mich, Mama, wie ich friere lauf zur Tür sagt der Arzt bis ich halt sage und er läßt mich laufen und sagt nicht halt aber vor der Tür bleibe ich stehn weil ich mir nicht den Kopf einschlagen will ich bin doch nicht dumm was glaubt der denn und er schimpft er schimpft hast du was gehört sagt er hast du was gehört –

Frieder, wach auf!

– wie ich friere mir ist kalt warum geben sie mir meine Sachen nicht das sind die schönsten und die besten Kleider die ich habe und Mama zieht sie mir an wenn wir zum Doktor müssen er hat noch nie gesagt das sind aber schöne Sachen Junge nie hat er das und die Schwester auch nicht weiter los mach mal das und mach mal das und er hält mir ein Bild hin da sind lauter bunte Kreise drauf such die Zahl die da ist sagt er na siehst sie wohl nicht mir ist aber so kalt, Herr Doktor, darf ich meine Kleider anziehn das sind die besten die ich habe Mama hat sie mir heute morgen gegeben aber er schaut zur Schwester und sie nickt immer so wenn er hinschaut zu ihr nickt sie so was siehst du denn auf dem Bild fragt er und ich erzähle ihm was ich sehe und wie aus den Farben eine Wiese wird –

Frieder, wach auf!

– ich will sie ihm zeigen mit meinem Finger da zieht er das Bild mit den Farbkreisen weg aha sagt er aha na Schwester was sagen Sie tjatja sagt sie tjatja sagt sie noch einmal und nickt wieder so Junge zähl mal das kannst du doch oder na komm schon keine Angst wir wollen das Beste na zähl mal ich kann das, Herr Doktor, oh ja ich kann das das übe ich immer mit Papa und Mama die können zählen bis ans Ende der Zahlen na komm schon Junge zähl mir ist doch so kalt darf ich mich nicht anziehn, Herr Doktor, und helfen Sie mir mal mit der ersten Zahl die vergesse ich immer aber dann gehts wie von selbst am liebsten zähl ich wenn keiner zuhört helfen Sie mir mal, Herr Doktor, mit der ersten Zahl –

Frieder, wach auf, wir zählen gemeinsam, und alles fängt mit eins an, Frieder, wach auf!

– jetzt hab ichs, Herr Doktor, eins eins eins so gehts darf ich wenigstens mein Hemd Schluß Junge jetzt halt den Mund ich sag schon nichts mehr, Herr Doktor, der sagt hier schaun Sie Schwester interessant diese Ringe schön blaurot und dabei ist es gar nicht so kalt hier und schauen sie die Füße das ist ja das beste Weiß einer Leiche die Schwester nickt wieder so sie nickt wie ein Pferd und ihre Zähne stehn auch so nach vorn so schräg so ob ich ihr das sage ob ichs ihr sage –

Wach auf, Frieder, wach auf!

– darf ich mich anziehn ich möchte raus, Herr Doktor, Herr Doktor, ich muß mal halt den Mund Junge wie oft soll ich dir das noch Doktor jetzt pinkelt der hier ins Zimmer kreischt das Pferd sehen Sie Schwester sagt da der Arzt und so ginge das fort –

Frieder, wach auf!

– Mama, wo warst du der Doktor war wieder da und die Schwester, Mama, und was sie gesagt haben und was sie gesagt haben –

Die Unsichtbare lag wie jede Nacht gerade ausgestreckt, und ihr rotes Haar breitete sich wie ein Strahlenkranz um ihren Kopf. Seitdem sie aus den Schmerzen erwacht war, damals wenige Stunden nach Kriegsende, als eine Menge im Blutrausch sie fast zu Tode getreten hatte, weil sie die Tochter ihres Vaters war, ihres Vaters, den sie im Lauf der Zeit immer weniger verstanden hatte, der ihr immer mehr zu einem Rätsel geworden war, träumte sie nicht mehr, hatte sie keine einzige unruhige Nacht mehr, lag sie vielmehr jede Nacht so leblos wie alle Dinge in ihrem Haus. Sie schlief regungslos, das Haar um sich gebreitet, und das einzige, was sich zu bewegen schien im Haus, war das Perpendikel des Regulators.

Alle lagen sie so und schliefen oder schliefen nicht, weil sie sich herumschlugen mit Träumen, weil sie, wie der ungedruckte Schriftsteller, den es auch in den Ort verschlagen hatte, schrieben und danach erschöpft umsanken; oder weil sie, wie Antonia Mende, den Geräuschen der Tiere im Stall eine Sprache abzulauschen hofften; oder weil sie in ohnmachtartigem Schlaf lagen wie Prochaska, den es von Kroatien in den Ort gebracht und der sich dort selbst den Namen Prochaska gegeben hatte.

Wenn die alte Palacková nicht schlafen konnte, so mochte es an ihren schmerzenden Gliedern liegen, die sie oft plagten. Sie saß dann für gewöhnlich auf der Bettkante und rieb sich ihre Beine mit Franzbranntwein ein und umwickelte sie mit wollenen Schals.

Der alte Bernat schlief in den ersten Stunden des dritten September neunzehnhundertsechsundvierzig einen guten, erholsamen Schlaf, denn er hatte bis Mitternacht gelesen, so wie auch der Lehrer Ulrich, neben dem auf dem Nachtschrank das feine Drahtgestell seiner Brille wie immer griffbereit lag.

Der Säugling der Familie Nádvorník, die erst in den Ort gekommen war, nachdem sie zu Anfang des Jahres flüchten mußte, Hals über Kopf und ohne zu wissen, wohin – die flüchten mußte vor dem Teil der Regierung, der mächtiger und mächtiger wurde, der nach der alleinigen Macht zu greifen begann und Menschen wie die Nádvorníks als Bürgerliche beschimpfte und mit Arbeitslager bedrohte –, der Säugling der Familie Nádvorník, das letzte Kind, das im Ort geboren werden sollte, schlief endlich frei von dem Bauchweh, das ihn die ersten Monate seines Lebens gequält hatte, und mit ihm schliefen seine erschöpften Eltern.

Josef Kirsch, der Tischlermeister, schlief fest, nachdem er seinen allabendlichen Gang durch die Werkstatt unternommen hatte und beruhigt sah, daß alles so lag, um am nächsten Morgen unverzüglich wieder mit der Arbeit beginnen zu können.

Und auch Siegfried Thielemann, der nicht ahnte, daß dies seine letzte Nacht im Ort sein würde, schlief unter Atemzügen, die einem Metronom zu folgen schienen.

Der Ort. Abgelegen. Vergessen. Hingelehnt in den nördlichen Grenzwinkel. Ausläufer von Bergen stießen da, aus allen Himmelsrichtungen kommend, aufeinander, als wäre es ein verabredeter Treffpunkt. Oder als läge der ihnen allen gemeinsame Anfang irgendwo dort in der Gegend, die sich dann wegzog in Form von Hügeln, ganzen Ketten, die weit entfernt zu Gebirgen wurden und auf einer Seite abbrachen nach einigen heftig aufspringenden Basaltkegeln, die landeinwärts und wie hingeworfen vor der Ebene lagen, die hinter ihnen begann. Da der Ort. Wie aus Versehen angelegt, eine Mischung aus Höfen, kleinen Häusern, einzelnen größeren auch, wie sie sonst in den Gartenvierteln am Rand der Städte zu finden waren. Er zog sich hin entlang eines Weges, der in der Mitte des Ortes einen Bogen beschrieb. Neben dem Hauptweg kleinere Wege, gepflastert meist, wegkreuzend und im Zickzack hinter den Häusern, zwischen ihnen, den Mauern und Zäunen verlaufend. Durch die Dachziegel einzelner Gebäude, dünn geworden wie eine alte Haut, drückten sich Erhebungen, die Firste hingen durch und wirkten im Licht, das abends schräg auf sie traf, wie die Wirbelsäulen der abgemagerten Leiber fremdartiger Tiere.

Keine Straße führte seit dem Ende des Krieges zu diesem Ort. Alles schien vor ihm zu enden. Es war ein Grenzort, der in der Wildnis lag und hinter der Wildnis ein anderes Land. Die Straße, die es einmal gegeben hatte, war in einem Krater versunken, als der neuernannte Polizeichef des Landkreises gleich nach Kriegsende anordnete, die in einem alten Steinbruch unweit der Straße lagernde Munition zu sprengen. Auf dem Rückzug hatten Soldaten, wohl um schneller entkommen zu können, Patronen, Geschosse und Minen kistenweise dort zurückgelassen. Der Polizeichef, der eine Freude an Detonationen hatte, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und bereitete die Sprengung vor. Er befahl, die Umgebung abzusperren, und beobachtete aus sicherer Entfernung und aus einem ebenfalls zurückgelassenen Panzerwagen heraus die Explosion. Als sich der Staub gesetzt hatte und der Steinbruch wieder sichtbar wurde, erkannte der Polizeichef, daß der Kraterrand des Steinbruchs eingebrochen war und die Straße mit sich in die Tiefe gerissen hatte.

Der Polizeichef kannte den Ort als einen seit Wochen verlassenen. Von dort müßte niemand über die nur wenige Kilometer entfernt sich hinziehende Grenze gejagt werden. Darum vermerkte er in seinem Bericht zur Explosion zwar einen Straßenschaden, doch falle dieser, da die Straße unweit des Steinbruchs sowieso geendet habe, nicht ins Gewicht. Eine große Gefährdung abgewandt zu haben, betonte er mehrfach.

Die Welt seines Landkreises endete fortan am Steinbruchkrater, und die schnell alles überwuchernden Brennesseln, die Goldrute und der von allen Seiten heranwachsende Farn verbargen bald schon den Blick darauf, daß hinter dem Krater die Straße einst weitergeführt haben mußte.

Wie aus dem Nichts erschienen, hatte der Jäger im Morgengrauen des dritten September neunzehnhundertsechsundvierzig die Häuser des letzten Ortes der Welt vor sich.

Er stellte die Uhr in sich auf Null. Zügig schritt er aus.

Z W E I

Die Fliege rüsselte in die Tasse hinein, tastend, stoßartig, und entschloß sich, vollends an der hellblauen Porzellanwand nach unten zu laufen. Ihren Rüssel wieder und wieder über den zusammengelaufenen und eingetrockneten Kaffeerest ziehend und ihn an Stellen wie ein Specht abklopfend, bemerkte sie nicht, daß jemand zur Tür hereinkam. Als sie genug hatte von den winzig kleinen Zuckerkristallen, die sie auf dem Grund der Kaffeetasse finden konnte, kletterte sie nach oben, um vom Rand aus wieder loszufliegen und einige Zicks und einige Zacks unter dem Klebestreifen zu schlagen, der von der Lampe herabhing und den sie bereits beim Hereinfliegen erkannt hatte. Der Klebestreifen war schon alt, aber noch gefährlich genug. Sie würde Abstand wahren. Dann wollte sie durch das Loch in der Gaze des Speiseschrankfensters zurück ins Freie fliegen, zurück zur nahe gelegenen Wiese, auf der immer etwas zu finden war. Der Rückweg aber war abgeschnitten. Sie konnte nicht mehr auf den Rand der Tasse gelangen. Über ihr lag plötzlich ein gläserner Kuchenteller, der das Innere der Tasse so dicht von der Außenwelt abschottete, daß an ein Entkommen nicht zu denken war. Sie lief, mit den Füßen nach oben, Runde um Runde am Tellerdeckel. Die Falle war zu. Durch die Blumen, die in den Kuchenteller geschliffen worden waren, fiel Licht herein. Hinter den Blumen war das über den gläsernen Kuchenteller gebeugte Gesicht eines Menschen zu erkennen.

Antonín Mrha hatte die Küche betreten, indem er die Schulter leicht gegen die Tür drückte, ganz so, als wäre er seit langem Herr des Hauses, dabei war er gerade erst in diesem Ort angekommen. Es war der Juni neunzehnhundertfünfundvierzig. Vor ihm lag eine kleine blauweiße Welt: Blaue Windmühlen standen neben blauen Getreidepuppen auf den weißen Wandkacheln, dünnwandige weiße Leinengardinen hingen vor den Fenstern, und auf den Stoff war ein Universum blauer Sterne und Sternchen gestickt, auf dem Tisch lag eine Tischdecke mit Blaudruckblumen. Beim Näherkommen sah er in einer hellblauen Kaffeetasse mit kobaltblauem Rand eine Fliege über einen Rest eingetrockneten Kaffees laufen. Auch als er einen gläsernen Kuchenteller auf die Tasse legte, ließ sie nicht von ihrem Fund ab, so daß er eine Minute oder sogar zwei warten mußte, bis sie sich auf den Weg nach draußen machte. Als sie oben ankam, sah er sie aufgeregt am Rand entlanglaufen. Er nahm den Teller nicht wieder von der Tasse. Er konnte Fliegen nicht ausstehen.

Antonín Mrha ging zum Küchenschrank und nahm sich, was an Eßbarem zu finden war. Der halbe Brotlaib im Brotkasten war zwar vertrocknet, aber nicht verdorben. Eine Scheibe von ihm abzuschneiden war jedoch unmöglich. Im Speiseschrank gab es etwas Käse unter einer Porzellanglocke. Auch er war wie versteinert. Die schweren Gläser mit Blut- und Leberwurst, die wohl noch vom letzten Schlachten stammten und ordentlich beschriftet waren mit kleinen blau umrandeten Zetteln – November neunzehnhundertvierundvierzig war zu lesen –, ließen sich leicht öffnen, und Antonín Mrha genoß den Kräutergeschmack, den deutlich hervortretenden Majoran, der sich als erstes auf der Zunge ausbreitete, als er, stehend und mit dem Messer, einige Stücke herausschnitt und aß. Ein Glas mit Wasser stellte er auf den Tisch zu den Gläsern mit der Wurst, nahm sich einen zweiten Stuhl, auf den er die schweren Beine mit den brennenden Fußsohlen legen konnte, setzte sich, schnitt ein weiteres Stück heraus und kaute mit geschlossenen Augen. Die Bauern haben darauf geachtet, daß es ihnen auch im Krieg an nichts mangelte, dachte er.

Bis eben war Antonín Mrha unterwegs gewesen. Ob er verfolgt wurde, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Er hatte sich aber so verhalten, daß mögliche Verfolger von ihm hätten abgeschüttelt werden müssen. Seit Tagen war er auf den Beinen und hatte sich kaum je eine Ruhepause gegönnt.

Um ihn herum war es still. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das seines Kauens und Schluckens. Auch die Fliegen am Klebestreifen über dem Tisch waren völlig still, keine zappelte mehr, keine ließ mehr die Flügel summen, um vielleicht doch noch loszukommen von dem überall hinkriechenden und Beine, Flügel und Augen verkleisternden Leim.

Antonín Mrha dachte, daß alles wohl so hatte kommen müssen und daß er sich nicht vorwerfen mußte, einem anderen etwas wegzunehmen, wenn er aß, was sich im Hause fand. Mit Sicherheit hätten die Bewohner des Hauses ihm auch früher etwas gegeben, wäre er an einem Sommertag wie diesem durch den Ort gekommen, damit er sich ein wenig erfrischen konnte und eine Geschichte dazu erzählte, aus der Stadt etwa oder Neuigkeiten aus den benachbarten, von ihm durchwanderten Orten. Um ein Glas Wasser hätte er gebeten an so einem Tag, hätte es bekommen und dazu eine Stärkung. Nun, da keiner im Haus war, nahm er sich, was er brauchte, ohne das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Nicht nur im Haus war niemand, von dessen Hand ihm etwas hätte angeboten werden können, der ganze Ort war verlassen. Er war allein.

Antonín Mrha wollte niemanden mehr aus seinem Haus und außer Landes jagen, er wollte niemandem mehr etwas wegnehmen. Auch auf einen Befehl hin nicht. Er war aus der Revolutionsgarde davongelaufen und hatte dabei seinen Freund Lípa aus den Augen verloren. Antonín Mrha fand ihn nicht, obwohl er nach ihm suchte. Er machte sich Sorgen um ihn und auch darüber, daß Lípa glauben könnte, er wäre von Mrha im Stich gelassen worden. Nun saß er allein in einer blauweißen Küche. Das Kriegsende lag keine sechs Wochen zurück.

Nachdem sich Antonín Mrha ausgeruht hatte, stand er auf. Mühsam zwar, doch es zog ihn hinaus. Er mußte sehen, wo er angekommen war. Er mußte den Ort erkunden. Mitten auf der Straße ging er, mal schnell, mal sehr, sehr langsam. Nach einer Zeit begann er, die Hand zum Gruß zu heben oder einem Fenster zuzunicken, so, als wüßte er, daß dahinter jemand stünde, der auf seinen Gruß wartete. Antonín Mrha wechselte die Straßenseite, ging um Häuser herum, bog in Seitengassen ab, die manchmal gerade breit genug waren, einen Fußgänger zu einem Garten, der hinter dem Haus lag, zu führen. Wäre ihm da einer entgegengekommen, hätten sie gemeinsam vor- oder zurückgehen müssen. Es kam aber niemand.

Mrha entdeckte eine clematisumwachsene Laube und beschloß, in ihr zu übernachten. Er holte sich eine Decke aus einem der nächsten Häuser und schlief fest. Gegen Morgen erwachte er und fand, um seine Beine herum zusammengerollt und ihn wärmend, Katzen. Sie mußten seinen abendlichen Gang durch den Ort beobachtet haben.

Wieder ging er durch den Ort und sah auf der Suche nach etwas Eßbarem für sich und die Katzen, die ihm nachliefen, in sämtliche Häuser. Am Tag und Abend zuvor hatte er sie bereits von außen betrachtet, nun ging er hinein, wobei er sich das Haus, das ihm von Anfang an am besten gefiel, für das Ende aufsparte.

Als Mrha das Haus schließlich betrat, fand er einen, der ihn mit großen Augen anschaute, erleichtert dazu, und sagte, daß er Angst gehabt habe, allein zu sterben in seinem Bett, aus dem er sich nicht mehr erheben könne. Anfangs habe er noch aufstehen und den Verband wechseln können, sich sogar ein wenig waschen, denn das Widerlichste am Krieg sei für ihn der Dreck und der Gestank, und nun sei er selbst nichts als Dreck und Gestank.

Neben dem Bett lag eine zerschlissene Uniformjacke, und der, der bis vor kurzem noch Soldat gewesen war, erzählte, daß er Schluß gemacht habe, als sich die Front nur noch wenige Kilometer von diesem Haus befunden habe. Als ob der Krieg ihn hätte nach Hause bringen wollen. Der Verwundete bleckte die Zähne. Nachgeschossen hätten sie ihm, wie wild, und getroffen, als er sich, warum er das getan habe und nicht einfach weitergerannt sei, das wisse er selbst nicht, umgedreht und zurückgeschossen habe. Verfolgt hätten sie ihn jedoch nicht. Er hob die Decke an und zeigte Mrha die Wunde, um die bereits der Brand lag, so sehr, daß ihm nicht mehr zu helfen sein würde. Und als er sich endlich bis nach Hause geschleppt hätte, wären dort wahrscheinlich alle erst Stunden vorher vor der nahenden Front geflohen, so daß er niemanden mehr angetroffen habe, außer der Katze, die jetzt aber schon seit Tagen nicht mehr nach ihm sehe.

Er war sehr schwach, schlief immer wieder ein, und so nahm seine Erzählung den größten Teil des Tages ein sowie des Abends und der Nacht, die Mrha eigentlich in diesem Haus hatte verbringen wollen. Als der Verwundete aufgehört hatte zu sprechen, ging Mrha zurück in die Laube und lag, gewärmt von den Katzen, im Zirpen der Grillen. Was sollte er tun? Hingehen, das Gewehr, das der Soldat neben das Bett hatte fallen lassen, nehmen und ihn damit erschießen?

Am Morgen ging Antonín Mrha zurück ins Haus. Der Schlaf hatte den Verletzten ein wenig gestärkt, und er empfing Mrha, indem er ihn, gutgelaunt beinahe, heranwinkte. Er nestelte an seinem Hals, um den er zwei Schnüre trug, bis er die richtige gefunden hatte. Die Schnur mit der Blechmarke steckte er in sein Unterhemd zurück, die andere zog er über den Kopf. Es war ein Schlüssel, der daran befestigt war, und er gab ihn Mrha. Das sei nun seiner, sagte er, und daß er ihn nicht mehr brauche. Eine Bitte habe er aber, und einem Sterbenden dürfe man bekanntlich nichts abschlagen. Er bat Mrha, daß er ihn im Obstgarten hinter dem Haus beerdige, und nichts von seiner Uniform wolle er mit ins Grab nehmen, auch den Helm nicht auf ein Holzkreuz gehängt bekommen. Nichts davon, bitte, sagte er.

Er wolle neben dem großen Apfelbaum begraben werden, einem Kaiser Wilhelm, aber der Baum könne nichts dafür, der Baum mit dem dicken waagerechten Ast, lachte er unter Schmerzen. Eine Schaukel müsse daran hängen. Seit er denken könne, habe eine Schaukel daran gehangen. Er selbst habe als Kind auf ihr geschaukelt. Sie müsse da sein. Daran werde Mrha ihn erkennen. Leider schaffe er es nicht mehr, noch einen Blick in den Garten zu werfen. Und wenn Mrha ihn dort begraben habe, ganz flach das Grab bitte, keinen Hügel, dann gehöre das Haus ihm und das solle so bleiben. Zum Zeichen dafür gebe er ihm den Schlüssel. Das sei ihre Abmachung.

Alles sei umsonst gewesen. Alles umsonst und falsch und das von allem Anfang an.

Als Antonín Mrha an diesem Abend ging, lag der Verwundete delirierend, und keines seiner Worte war mehr zu verstehen. Mrha wußte, daß er in der Nacht sterben würde, aber bleiben konnte er nicht bei ihm. Mrha lag in der Laube und hatte die Schnur mit dem Schlüssel um den Hals hängen. Wenn er sich später daran erinnerte, wunderte er sich darüber, daß er nicht wach lag in jener Nacht, so wie man es wahrscheinlich erwartet haben würde, sondern daß er einschlief, kaum daß er die Decke bis zum Hals gezogen hatte und die Katzen zusammengerollt um seine Füßen lagen. Am Morgen stand er früh auf, ging in das Haus und holte den Toten, um ihn neben dem großen Apfelbaum zu begraben. Er hatte recht gehabt: Es hing eine Kinderschaukel an dem dick und waagerecht gewachsenen Ast, und es war ein herrlicher Baum mit einem lächerlichen Namen, für den der Baum aber nichts konnte.

An den folgenden Tagen ging Antonín Mrha umher als Katzenprinz und Herr einer kleinen Welt. Immer wieder verließ er den Ort. Zunächst, um herauszufinden, auf welchem Weg er in ihn gelangt war. Doch alles schien ihm mehr eine Ahnung als die Gewißheit zu geben, daß er entlanggekommen sein könnte an dem See im Wald, an der Buchengruppe, an dem Hohlweg zwischen den eng zusammengerückten Hügeln. Eines Morgens ging er los, vor dem Hellwerden noch und zielgerichtet diesmal, um in eine Richtung, durch das Unterholz und Dickicht sich schlagend, an den Rand des Waldes zu gelangen, der den Ort fast wie ein Urwald von allen Seiten umschlossen hielt.

Nach mehr als einem halben Tag endlich stand er auf einem Hügel. Noch immer im Schutz der Bäume. Auch bei hellstem Sonnenschein ging es unter den Linden, alt und einige von drei Männern nicht zu umfassen, über einen smaragdenen Dämmer nicht hinaus. Das Licht zwischen den Bäumen hatte die Farbe eines Eidechsenrückens, es war ebenso samtig und lag wie grüner Nebel um die Stämme. Flog ein Vogel zwischen ihnen hin, schimmerte er wie ein schwebender Smaragd, wenn auch ein dunkler.

Von dort, unter den Bäumen hervor, hatte Antonín Mrha die Gegend, die sich nach Westen und Norden hin öffnete, im Blick, ohne daß er selbst gesehen werden konnte. Langsam senkte sich der Hügel ab, auslaufend in einer Ebene, durch die ein schmaler Fluß kroch, an ihm entlang ein endloser Zug Menschen. Auf der anderen Seite wellte es sich weiter, Felder tragend, Wege, Alleen. Aus einem Waldstück schaute der runde Turm eines Schlosses heraus, eines Schlosses, das, wie Mrha aus dessen Lage mutmaßte, einmal zum Besitz Albrechts von Wallenstein gehört haben könnte. Im Hin und Her eines Pfades, der irgendwo unterhalb des Schlosses durch den Wald führen mußte, glaubte Mrha in den entlegenen Ort geraten zu sein.

Aus dem Wald heraus erkannte er auch, in großer Entfernung schon und nur am Aufblitzen einzelner Fenster, kleine Ortschaften, die in der Hitze lagen. Es war einer der heißesten Sommer, an die er sich erinnern konnte, die Luft schwappte wie eine müde See, wenn es dem Wind gelang, sie etwas zu bewegen.

Überhaupt war der beginnende Sommer, wie noch keiner gewesen war. Der Krieg war aus, und die einstigen Besatzungssoldaten waren in langen Kolonnen in Gefangenschaft gezogen. Wer von ihnen es nicht weit genug nach Westen geschafft hatte, wurde in den Osten gebracht. Es war Mrha nicht verborgen geblieben, daß der Osten ein Angstwort für sie gewesen war, als noch gekämpft wurde, und auch nach dem Ende der Kämpfe hatte das Wort nichts von seinem Schrecken verloren. Gerüchte über das, was dort geschehen war, mischten sich mit Wissen. Kein Soldat wollte in Gefangenschaft dorthin. Die nach Osten gebracht wurden, ließen die Hoffnung fahren. Die nach Westen gebracht wurden, wußten nicht, was kommen würde, hofften aber, der Lebensgefahr entkommen zu sein. So ein Sommer war das. Nach Osten oder nach Westen, darüber entschieden vielleicht nur wenige hundert Meter.

An jedem der folgenden Tage ging Antonín Mrha zu dieser Stelle unter den Linden, und er betrachtete den Treck, der sich unten in der Hitze auf der Straße unweit des Flusses bewegte. Von seinem Hügel aus beobachtete er, daß die Bewegung der Menschen nach Norden nicht abriß. Die Straße, aus dem Wald im Tal kommend, leerte sich nicht. Die Vielzahl der Menschen auf ihr gab ihr Bewegung, und die Bewegung hatte eine Richtung. Nach Süden bewegte sich niemand.

Über Tage ging es so. Über Tage saß er im Schutz der Bäume, sah er der steten Wanderung zu. Wohin? Woher? Das waren Fragen, die stellten sich ihm nicht. Er streifte sie nur kurz in seinen Gedanken und wunderte sich darüber, daß sie sich nicht festhaken wollten. Was für ein Zug! Nach Norden, immer weiter nach Norden. Hatten sie sich nicht selbst als die Nordischen bezeichnet? Vor dem Treck lagen nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze, die wiederhergestellt worden war, und durch diese Wiederherstellung wurde sie Grenze wie nie zuvor in den Jahrhunderten. Darüber würden die Soldaten, die das Land jenseits der Grenze besetzt hielten, wachen.

Antonín Mrha sah, wie weit unten auf der Straße Menschen mit kaum mehr als einer Tasche oder einem Rucksack zogen und wie sie von der Revolutionsgarde angetrieben wurden. Er sah die weißen Armbinden, die von den Davongetriebenen getragen werden mußten, weit leuchten, als wären sie das Erkennungszeichen einer Ausflugsgesellschaft. Mrha glaubte, sich neben dem Zug sehen zu können, drehte er sich um und ging, tiefer in das Dickicht tretend, in Richtung des Ortes, von dem er als dem seinen zu denken begann.

Einige Tage waren es bereits, daß er den Wald um den Ort durchstreifte, ohne je einem Menschen zu begegnen. Anfänglich beunruhigte ihn das, denn nicht weit waren die Trecks, nicht weit war die Revolutionsgarde, die dafür sorgte, daß alles reibungslos ablief, daß der Zug nicht plötzlich zum Stillstand kam. Sie fuhren mit Autos, mit Motorrädern an den Straßenrändern auf und ab. Anfänglich machte ihn die Nähe all der aus ihren Orten Vertriebenen, dieser ort- und grundlos gewordenen Menschen und der Revolutionsgardisten nervös, aber dann lernte er, eine Sicherheit des Gefühls in sich zulassen zu können, eines Gefühls, das ihm sagte, seiner Einzelheit im Wald, im Ort und im Haus drohe keine Gefahr.