Titelbild

»Und das Geheimnisvolle hat nun mal das, worauf es ankommt, will sagen den Charme. Schon die beliebte Wendung rätselhafte Frau spricht dafür; eine Frau, die nicht rätselhaft ist, ist eigentlich gar keine, womit ich mir persönlich freilich eine Art Todesurteil ausspreche.«

Baronin Berchtesgaden, in: Theodor Fontane,
Der Stechlin, Kap. 24

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für Sigrid

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96775-4

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Everett Collection/actionpress, IMAGNO/ÖNB

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1 Agrippina die Jüngere (15–59)

Kaisermörderin und Kaisermacherin

Am 13. Oktober des Jahres 54 stirbt der römische Kaiser Claudius. Doch das Testament des Imperators, der wegen seiner Hässlichkeit, seines Sprachfehlers und seiner verwachsenen Statur oft verspottet worden ist, wird unter Verschluss gehalten. Der Kaiserpalast auf dem Palatinhügel wird von den Prätorianern, der kaiserlichen Elitegarde, hermetisch abgeriegelt. Man will vermeiden, dass sich Gerüchte über die Todesursache des Imperators im römischen Volk verbreiten und vielleicht gar zu einer Revolte führen. Hinter diesen Vorsichtsmaßnahmen steht eine Frau, die seit Jahren systematisch ihre Gegner ausschaltet und mit Intrigen und allerlei taktischen Winkelzügen ihre Macht am kaiserlichen Hof ausgebaut hat: Agrippina, genannt die Jüngere (in Abgrenzung zur Älteren Agrippina, ihrer Mutter). Agrippina ist schön, klug, gerissen, von einem eisernen Machtwillen getragen. Geheimnisvolles umgibt sie. Sie ist die vierte Ehefrau von Claudius, und sie ist die Mutter Neros. Ihr Mann Claudius ist an einem Pilzgericht gestorben. Ein tragischer Unfall? Keineswegs. Denn Agrippina hat ihm giftige Pilze zu essen gegeben. Sie hat ihren Mann aus dem Weg geräumt, um endlich ihren geliebten Sohn Nero an die Macht zu bringen – und damit sich selbst. Denn sie glaubt zu jenem Zeitpunkt den Sechzehnjährigen gängeln und lenken zu können. Die Aufregung um Claudius’ unerwarteten Tod ist indes rasch verflogen. Plötzliche Sterbefälle sind in den herrschenden Kreisen Roms nicht selten, und kaum jemals wird eine Untersuchung angeordnet. Erst spätere römische Historiker haben den Fall aufgegriffen und die wahren Hintergründe der Nachwelt übermittelt. So schreibt Tacitus (um 58–um 120) in seinen Annalen (115/117) – freilich mit dem historischen Abstand von sechzig Jahren:

»Unter solcher Last von Sorgen wurde Claudius von einer Krankheit überfallen und ging, um seinen Kräften durch die Milde des Himmels und die Heilsamkeit der Bäder wieder aufzuhelfen, nach Sinuessa. Jetzt ratschlagte Agrippina, die längst zu dem Frevel entschlossen war und die Gelegenheit dazu eilig nutzte, da es ihr auch an Helfern nicht fehlte, nur noch über die Art des Giftes. Ein rasches und plötzlich tötendes Mittel würde die Tat verraten können […]. Daher entschloss sie sich zu etwas ganz Besonderem, was den Verstand verwirrte und den Tod verzögerte. Ausgewählt wurde eine Meisterin in solchen Dingen namens Locusta, die unlängst erst wegen Giftmischerei verurteilt worden war, aber lange als ein Werkzeug der Regierung diente. Durch den Erfindungsgeist dieses Weibes wurde ein Gift bereitet, welches einer der Verschnittenen, Halotus, der die Speisen aufzutragen und zuerst zu kosten pflegte, ihm darreichen musste.

Es wurde auch bald alles so weltbekannt, dass die Geschichtsschreiber jener Zeit erzählen, Pilzen, seiner Lieblingsspeise, habe man das Gift beigemischt. Die Wirksamkeit der Mischung sei nicht gleich bemerkt worden, sei es wegen der Sorglosigkeit oder wegen der Trunkenheit des Claudius. Dazu schien ihm Erbrechen geholfen zu haben. Daher bestürzt, und weil ja das Äußerste zu fürchten war, wendete sich Agrippina, die für den Augenblick daraus entstehende Gehässigkeit nicht achtend, an den im Voraus schon mit ins Vertrauen gezogenen Arzt Xenophon. Dieser, glaubt man, stieß ihm, als wollte er die Anstrengung des sich erbrechenden Kaisers unterstützen, eine mit augenblicklich wirkendem Gifte bestrichene Feder in den Hals, wohl wissend, dass die größten Verbrechen zwar mit Gefahr begonnen, aber mit Belohnung vollendet werden.«

Die Satiriker haben für den fähigen und weitgehend gerecht regierenden Kaiser angesichts seiner körperlichen Gebrechen und Missbildungen posthum nur Spott übrig. So höhnt Juvenal (um 60–nach 127) in seiner 6. Satire: »Da war unschädlicher Agrippinas/Schwämmegericht; denn einem allein nur drückt’ es das Herz ab,/der schon alt, und befahl, in den Himmel – herniederzusteigen/einem stets zittrigen Haupt und den Schleimfäden sabbernden Lippen […].«

Noch kann Agrippina allerdings nicht aufatmen, denn Britannicus, Claudius’ Sohn aus der Ehe mit Messalina, könnte von den Prätorianern zum Kaiser ausgerufen werden. Deshalb lässt sie den Kaiserpalast abriegeln und verhindert, dass die Nachricht vom Tod des Kaisers nach außen dringt und spontane Sympathiebekundungen für Britannicus die Lage verkomplizieren. Doch die Prätorianer akklamieren Nero zum Kaiser. Damit ist seine Mutter Agrippina die erste Frau im Staat. Bereits wenige Tage später werden Goldmünzen geprägt (diese haben in der Antike nicht nur die Funktion eines Zahlungsmittels, sondern verbreiten gleichzeitig – ähnlich dem heutigen Fernsehen und Internet – Bildnisse von Herrschern binnen kurzer Zeit im ganzen römischen Weltreich). Die neuen Münzen zeigen auf der Vorderseite die einander zugewandten Porträts Agrippinas und Neros. Eine Frau, die gleichwertig neben dem Herrscher dargestellt wird: ein Novum in der Geschichte der römischen Numismatik. Die Umschrift nennt die Kaisermutter an erster Stelle, und zwar mit ihrem soeben vom Sohn verliehenen Ehrentitel »Augusta«, was wörtlich übersetzt »die Erhabene« bedeutet, sie aber in Anlehnung an den ersten Kaiser Roms Octavianus Augustus in den Rang einer Kaiserin erhebt: »Agrippina Augusta, Gemahlin des vergöttlichten Claudius, Mutter des Nero Caesar«. Agrippina steht im Zenit ihrer Macht. Sie ist in ihrer Position unangreifbar – so jedenfalls scheint es. Doch ihr Sturz wird sich bald vollziehen, und er wird umso tiefer sein, als sie höher als alle Frauen Roms gestiegen war.

Tochter eines Helden

Agrippina wird um das Jahr 15 in einem römischen Lager geboren, das später – und bis heute – mit ihrem Namen verbunden wird: im Oppidum Ubiorum, dem heutigen Köln. Damals ist das Lager einer der äußersten Vorposten des Römischen Reichs, an der Grenze zum Gebiet der barbarischen Germanen. Wer hier lebt, tut dies kaum freiwillig, sondern weil er dorthin dienstverpflichtet wurde und sich daraus einen Vorteil für seine Karriere erhofft. So geht es auch dem römischen Heerführer Germanicus (15 v. Chr.–19 n. Chr.), Sohn des Drusus und der Antonia, ein Großneffe von Kaiser Augustus. Germanicus ist mit Agrippina (der Älteren) verheiratet, einer Enkelin des Augustus. Er gilt den Zeitgenossen als ein aufrechter, tapferer, tugendvoller Mann, der im Jahre 17 bei den Olympischen Spielen sogar Sieger in der Disziplin des Tethrippon, des Wagenrennens, wird. Von Octavianus Augustus wird Germanicus als Nachfolger des Tiberius in der Würde des Princeps, des regierenden Fürsten Roms, vorgesehen (erst später kommt der Begriff Caesar, Kaiser, auf). Nach der vernichtenden Niederlage der Römer unter Varus gegen die Germanen im Jahre 9 im Teutoburger Wald müssen sich die Römer, die kurzzeitig das germanische Gebiet zwischen Rhein und Elbe besetzt hielten, hinter den Rhein zurückziehen. Damit ist das Oppidum Ubiorum wieder Grenzlager, und von hier aus versucht Germanicus in den Jahren 14 bis 16, die Gebiete jenseits des Rheins erneut zu besetzen oder den Germanen zumindest Niederlagen zuzufügen – mit wechselndem Erfolg. Zwar kann er mit seinen Truppen – acht Legionen, ein Drittel der damaligen römischen Streitkräfte – ins Emsland und bis zur Weser vorstoßen, doch in den schier unendlichen, dichten Wäldern und tiefen Sümpfen bleibt der Feind oft unsichtbar und ungreifbar. Dennoch gelten die siegreichen Scharmützel nach dem Trauma der verlorenen Varusschlacht als große Erfolge. So wird Germanicus im Jahre 16 aus Germanien abberufen, in Rom mit einem Triumphzug geehrt und von Kaiser Tiberius, seinem Adoptivvater, ein Jahr später in den Osten des Reiches beordert. In Syrien kommt Germanicus im Oktober 19 unter ungeklärten Umständen ums Leben – wahrscheinlich wurde er vom dortigen Provinzstatthalter, der mit Germanicus in Streit lag, vergiftet.

Germanicus blieb eine Legende, vom Volk als Held verehrt und betrauert. Der Umstand, dass er der Adoptivsohn des Kaisers Tiberius war und seine Frau Agrippina die leibliche Enkelin des Octavianus Augustus, führte dazu, dass man deren Kinder – neun an der Zahl – als Kern einer Dynastie ansah, die sich nach und nach herausbildete. Zu diesen Kindern zählen Gaius (geboren im Jahre 12, erst nach seinem Tod nennt man ihn abschätzig »Caligula«, »Stiefelchen«) und die drei Mädchen Agrippina, Drusilla (16–38) und Livilla (18–42). Über die Kindheit Agrippinas und ihrer beiden Schwestern ist nur wenig bekannt. Da ihre Mutter Agrippina die Ältere zusammen mit dem Sohn Caligula ihren Mann Germanicus nach Syrien begleitet, werden die drei Mädchen wohl im Haus der Urgroßmutter Livia erzogen. Als Agrippina vier Jahre alt ist, verliert sie den Vater. Die Mutter Agrippina und der Bruder Caligula kehren zu Beginn des Jahres 20 nach Rom zurück, die Urne mit der Asche des Germanicus im Gepäck, die im Mausoleum des Augustus feierlich beigesetzt wird. In den folgenden Jahren kommt es zwischen Agrippina der Älteren und Kaiser Tiberius zu Spannungen, da sie für einen ihrer Söhne die Nachfolge als römischer Kaiser einfordert. Tiberius, der selbst keine Kinder hat, verbannt die lästige Witwe des Germanicus, die er wohl mehr fürchtet als verachtet, auf die Insel Pandateria (das heutige Ventotene im Tyrrhenischen Meer), ihre Söhne Nero (nicht zu verwechseln mit dem späteren Kaiser Nero) und Drusus werden ins Gefängnis geworfen. Man unterstellt ihnen eine versuchte Verschwörung – ein Vorwurf, den der um seine Macht bangende Seianus, der Prätorianerpräfekt, beim Kaiser erhoben hat. Beide Söhne der Agrippina lässt man in der Haft verhungern. Im Oktober 33 verhungert auch Agrippina die Ältere auf Pandateria, ob erzwungenermaßen oder aufgrund freiwilliger Nahrungsverweigerung, ist ungeklärt. Agrippina die Jüngere entgeht dem kaiserlichen Zorn nur dadurch, dass sie im Jahre 28, gerade einmal dreizehn, einen um sechzehn Jahre älteren, reichen Senator namens Gnaeus Domitius Ahenobarbus heiratet, der zudem mit der augusteischen Familie verwandt und deshalb für Tiberius unangreifbar ist.

Agrippina die Jüngere kann aus dem schützenden Abseits ihrer Ehe heraus die Machtkämpfe und Intrigen am kaiserlichen Hof beobachten. Tiberius, ein zunehmend verbitterter, einsamer und menschenscheuer Mann, zieht sich in seinen letzten Lebensjahren auf die Insel Capri zurück. Er stirbt im März 37 in Misenum am Golf von Neapel im Alter von siebenundsiebzig Jahren eines natürlichen Todes – ein recht seltenes Schicksal unter den römischen Herrschern. Freilich wird auch beim natürlichen Tod noch etwas nachgeholfen: Als Tiberius (scheinbar) tot ist, sendet man Boten nach Rom, und Gaius Caligula zeigt sich bereits dem Volk als neuer Caesar. Doch im fernen Misenum zeigen sich bei dem totgesagten Tiberius plötzlich wieder schwache Lebenszeichen. Der Historiker Tacitus berichtet: »Da verbreitete sich Schrecken über alle, die Übrigen zerstreuten sich nach allen Richtungen, jeder stellte sich niedergeschlagen oder unwissend. […] Macro [der Prätorianerpräfekt], voll Unerschrockenheit, befahl, den Greis durch eine Menge auf ihn geworfener Gewänder zu ersticken und sein Zimmer zu verlassen. So endete Tiberius im achtundsiebzigsten Jahre seines Lebens.«

Inzest und Verbannung

Nun schlägt die Stunde der Familie des Germanicus: Caligula, der überlebende Sohn des Germanicus, wird von den Prätorianern an die Macht gebracht. Es beginnt eine vierjährige Schreckensherrschaft, die bereits die damaligen Historiker – etwa Tacitus und Sueton – gleichermaßen fasziniert und abgestoßen hat und die bis in die jüngste Zeit hinein nichts von ihrer erzählenswerten Drastik eingebüßt hat. Vor allem der 1979 nur zensiert in die Kinos gekommene Film Caligula des Regisseurs Tinto Brass, nach dem Drehbuch von Gore Vidal, mit Malcom McDowell in der Hauptrolle des blutrünstigen und sexbesessenen Kaisers, hat das Publikum gleichermaßen schockiert und angezogen.

Auch Caligulas drei Schwestern werden Opfer des psychopathischen Bruders: Zunächst ehrt er sie, was sich bis in die letzten Winkel des Weltreichs in einer neu geprägten Messingmünze (Sesterze) niederschlägt, die die drei Schwestern Agrippina, Drusilla und Livilla auf der Rückseite porträtiert und namentlich nennt, wobei die drei als Gottheiten auftreten: als Securitas, Concordia und Fortuna (Sicherheit, Eintracht und Glück). Auf der Vorderseite ist der junge Kaiser dargestellt. Bruder und Schwestern sind einander nicht nur auf der Münze nahe: Caligula nämlich hat in jenen Jahren sexuelle Beziehungen zu allen dreien, so zumindest kolportieren es die Zeitgenossen. Bereits als Knabe soll er Drusilla entjungfert haben. Immerhin verleiht Caligula Drusillas Ehemann Lepidus einige Privilegien und setzt im Jahre 37 die Schwester in seinem Testament als Erbin seines Vermögens und seiner Herrschaft ein – ein unerhörter Wille, denn in der römischen Vorstellungswelt ist es undenkbar, dass eine Frau Regentin sein kann. Doch Drusilla stirbt im Jahr darauf, im Juni 38, und der Kaiser zeigt seine Trauer, indem er ein pompöses Begräbnis ausrichtet und das gesamte öffentliche Leben für einen Tag zum Stillstand bringt. An den Begräbnisfeierlichkeiten nehmen Ritter und Bürger Roms teil, ebenso die Prätorianergarde, und wer seine Trauer nach Meinung Caligulas nicht angemessen zeigt, den lässt er hinrichten. Etliche Menschen, berichtet der Historiker Cassius Dio in seiner Römischen Geschichte, haben so am Begräbnistag Drusillas, die Caligula zudem zur Staatsgöttin mit eigenem Tempel und eigenem Priesterkollegium erheben lässt, ihr Leben verloren.

Caligula liebt nicht nur seine Schwestern, er hat auch Umgang mit anderen Frauen und Männern gleichermaßen (er lässt sich Wagenlenker und Tänzer in den Palast und in sein Bett kommen). Sueton berichtet: »Ja, er verkuppelte sie [seine Schwestern] sogar öfters an seine Lustknaben.« Im Jahre 38 heiratet der Kaiser eine gewisse Lollia Paulina, die er nach wenigen Monaten, ihrer überdrüssig geworden, vom Hofe jagt. Im Jahre 39 ehelicht er Milonia Caesonia, die ihm eine Tochter gebiert, die Caligula Iulia Drusilla nennt – nach seiner über alles geliebten Schwester. Immerhin hält diese Ehe bis zu Caligulas Tod, was den Kaiser freilich nicht von anderweitigen amourösen und sexuellen Abenteuern und Ausschweifungen abhält. Der Historiker Sueton mag in Details übertrieben haben, gibt aber sicherlich die öffentliche Meinung wieder, die über Caligula herrschte. In seinem Standardwerk Das Leben der Cäsaren schreibt er: »Schamgefühl besaß er [Caligula] nicht, noch achtete er das der andern. […] Valerius Catullus, ein junger Mann aus konsularischer Familie, beklagte sich laut darüber, von Caligula geschändet und durch diesen Verkehr vollständig geschwächt zu sein. – Ganz abgesehen von der Unzucht mit seinen Schwestern und seiner allbekannten Leidenschaft zu der Prostituierten Pyrallis, verschonte er auch sonst kaum eine unter den vornehmen Damen. Oft lud er sie mit ihrem Gatten zum Essen, und wenn sie an ihm vorbeigingen, betrachtete er sie lange aufmerksam, wie das die Händler tun, und hob ihnen auch das Gesicht mit der Hand in die Höhe, wenn sie es aus Scham gesenkt hielten; wann immer es ihm dann beliebte, rief er diejenige, die ihm am besten gefiel, zur Seite und verließ mit ihr das Speisezimmer. Kurz darauf kam er wieder zurück, noch deutliche Spuren der Ausschweifungen zeigend, und lobte oder tadelte sie vor allen Leuten, indem er einzeln die Vorzüge oder Mängel ihres Körpers und ihres Benehmens beim Verkehr aufzählte.«

Seine Schwestern Agrippina und Livilla, die er kurz zuvor noch ins Bett gezwungen hat, schickt der Kaiser im Jahre 39 auf die Verbannungsinsel Pandateria. Man hat eine Verschwörung der beiden Schwestern gemeinsam mit Lepidus, dem Witwer der verstorbenen Drusilla, aufgedeckt. Lepidus habe, so kolportiert man, mit Agrippina nicht nur bildlich unter einer Decke gesteckt, sondern auch wortwörtlich. Caligula befiehlt, Lepidus und andere Verschwörer hinzurichten und lässt – eine besonders zynische Strafe – Agrippina die Asche ihres Geliebten in einer Urne nach Rom bringen, bevor er sie in die Verbannung schickt. Ihren Sohn Nero aus ihrer Ehe mit Gnaeus Domitius Ahenobarbus lässt Caligula zu Neros Tante Domitia Lepida bringen. Die kümmert sich um den Knaben, was ihr Agrippina später nicht dankt: Im Jahre 54 lässt sie die Schwägerin töten.

Immerhin lässt Caligula seine Schwestern auf Pandateria nicht verhungern, doch droht er ihnen – so berichtet Sueton – mit eindeutigen Worten, »dass er nicht nur Inseln besitze, sondern auch Schwerter«. Was der Grund für Agrippinas Verschwörung gegen den Bruder gewesen sein könnte, lässt sich nur vermuten. Wahrscheinlich plant sie bereits damals, ihren Sohn Nero an die Macht zu bringen. Und da Caligulas Frau Milonia Caesonia schwanger geht, fürchtet Agrippina die Geburt eines Knaben (Milonia gebiert dann aber ein Mädchen), der einmal als Caligulas Stammhalter von den Prätorianern zum Kaiser ausgerufen werden würde.

Caligula ist beim Volk verhasst. Er lässt Sklaven und Adlige gleichermaßen und meist grundlos foltern und hinrichten. Er verschleudert den Staatsschatz, unternimmt in Germanien einen kleinen Feldzug, der keinerlei Erfolge trägt, und lässt sich daraufhin als großer Sieger feiern. Er demütigt die vornehmsten Familien Roms, entmachtet den Senat, ruiniert die Wirtschaft, verhöhnt Anstand, Moral und Religion. Ausgerechnet die Prätorianer, die sonst als Elitetruppe des Herrschers diesem treu ergeben sind, bereiten dem Diktator am 24. Januar 41 beim Verlassen des Theaters ein blutiges Ende. Geradezu mit Genugtuung berichtet Sueton: »Sabinus habe, nachdem die Menge durch mitverschworene Offiziere entfernt worden sei, dienstlich um Bekanntgabe der Losung gebeten. Als Gaius (Caligula) ›Iuppiter‹ sagte, habe Chaerea ausgerufen: ›So sei’s denn erfüllt!‹ und dem Kaiser, der sich nach ihm umwandte, das Kinn gespalten. Während dieser schmerzverkrümmt am Boden lag und rief, er lebe noch, wurde er von den übrigen Verschworenen durch dreißig Hiebe erledigt. Ihre Parole war nämlich ›Noch einmal!‹ gewesen. Einige stießen ihm sogar das Schwert durch die Schamteile.«Agrippina auf der fernen Insel Pandateria kann noch keineswegs aufatmen, als sie vom Tod ihres Bruders hört. Wer wird nun Herrscher? Und wird man sich auch an ihr, als Caligulas Schwester, rächen? Ihr Sohn Nero ist erst drei Jahre alt, kommt also noch nicht für die Herrschaft infrage. Doch sie hat Glück: Der Senat ernennt – auf Druck der Prätorianer – Claudius, den Bruder des Germanicus, zum Princeps. Angeblich versteckt sich Claudius bei der Nachricht von Caligulas Ermordung hinter einem Vorhang, so berichtet es Sueton: »Ein zufällig herumrennender Soldat sah seine Füße, wollte wissen, wer das sei, erkannte ihn, zog ihn aus seinem Versteck, und als sich Claudius voll Furcht vor ihm auf die Knie warf, begrüßte er ihn als Kaiser.« Claudius fügt sich in sein Schicksal, Kaiser zu sein, ein Amt, das er nicht angestrebt hat. Der kluge, gemäßigte Mann lässt Agrippina und Livilla nach Rom bringen. Er ahnt nicht, dass er sich seine Mörderin ins Haus holt.

Messalina, Kaiserin und Hure

Agrippinas Verhalten ist in den nächsten dreizehn Jahren ausschließlich darauf gerichtet, ihre eigene Position bei Hofe zu stärken und den Weg für ihren Sohn Nero zu ebnen. Noch ist Nero der einzige männliche Stammhalter der kaiserlichen Familie. Doch im Jahre 41 gebiert Messalina, die dritte Frau von Kaiser Claudius, einen Sohn, Britannicus. Agrippina verfolgt das Aufwachsen des Knaben argwöhnisch. Und sie beobachtet Messalina mit Furcht und Hass: Die damals Achtundzwanzigjährige gilt als große Schönheit – nicht von ungefähr ist ihr der alternde, stotternde, hinkende und sabbernde Claudius so verfallen – und als eine gerissene Intrigantin und schamlose Hure. Da Claudius sich irgendwann auch für Iulia Livilla, Agrippinas Schwester, interessiert, räumt Messalina die Nebenbuhlerin kurzerhand aus dem Weg: Sie bezichtigt Livilla des Ehebruchs (ihr Liebhaber soll der Senator, Philosoph und Schriftsteller Seneca gewesen sein). Die Angelegenheit kommt vor den Senat. Claudius verbannt Livilla erneut nach Pandateria, kurz darauf wird sie auf Geheiß Messalinas umgebracht. Seneca wird zum Tode verurteilt, aber von Claudius begnadigt und nach Spanien verbannt. Später wird man den Philosophen nach Rom zurückholen und ihn mit dem ehrenvollen Amt des Erziehers Neros bekleiden.

Messalina ist das, was man heute eine Nymphomanin nennt: Mehr oder weniger offen hält sie sich bei Hof diverse Gespielen. Da ihr das nicht ausreicht, schleicht sie sich nachts in Begleitung einer Dienerin in die übelsten Spelunken und Bordelle, wo sie sich den Soldaten, Matrosen und Arbeitern anbietet und sich reihenweise benutzen lässt. Natürlich kommen auch Claudius diese Gerüchte zu Ohren, aber er mimt den Naiven, vielleicht, weil es ihm egal ist, vielleicht, weil sein Amt ihm schon genügend Sorge bereitet, vielleicht auch, weil er sich so nicht gebunden fühlt und seinen eigenen amourösen Abenteuern frönen kann. Die Zeitgenossen und auch spätere römische Historiker und Satiriker haben Messalina zum Paradebeispiel eines Schandweibs stilisiert. Juvenal etwa schreibt in seiner 6. Satire:

»Was Claudius tragen/musste, vernimm! Sobald seine Frau ihren Gatten sah schlafen,/wagte sie statt palatinischen Lagers die Matte zu wählen/und griff sich dreist, die Kaiserin-Hure, des Nachts die Kapuze,/eilte hinweg, zum Geleit ein einziges Mädchen sich nehmend/und mit der blonden Perücke die schwärzlichen Locken bedeckend,/trat sie hinein in das schwüle Bordell, das mit Lumpen verhängt war,/und in die frei ihr gehaltene Zelle und bot sich dann nackend/feil mit vergoldeten Brüsten, ›Lycisca‹ als Deckname wählend,/stellte den Leib zur Schau, der, edler Britannicus, dich trug;/zärtlich empfing sie die Gäste und forderte klingende Münze,/und auf dem Rücken dann liegend, verschlang sie die Stöße von vielen./Drauf, wenn endlich der Wirt nach Hause entlassen die Mädchen,/schlich sie sich trauernd davon, und, wenn irgend sie konnte, als letzte/schloss sie die Zelle, noch heiß von der Brunst ihrer lüsternen Scheide,/und zog, erschöpft von Männern, doch nimmer befriedigt, nach Hause:/Hässlich die Wangen geschwärzt und entstellt vom Blaken der Lampe,/trug sie den Mief des Bordells mit sich hin zum Lager des Kaisers.«

Messalina treibt es nicht nur in den Bordellen wild. Auch im Kaiserpalast gibt sie sich immer ungebärdiger, will rücksichtslos ihren Launen folgen und ihre Macht ausweiten. Im Jahre 48 ehelicht sie einen jungen Mann, den Senator Gaius Silius, der sogar zum Konsul designiert ist und damals als der schönste Mann Roms gilt. Damit ist Messalina doppelt verheiratet, verheimlicht dies aber vor Claudius. Dennoch sind in ihrem Umkreis einige Sklaven und Freigelassene von dieser Bigamie unterrichtet. Ob Claudius tatsächlich nichts davon weiß oder den Naiven mimt – aus der Erfahrung, dass dies in seiner Familie lebensverlängernd wirkt –, sei dahingestellt. Vor allem will Messalina die zukünftige Macht für ihren Sohn Britannicus sichern (ob Claudius dessen Vater ist, oder einer der vielen Freier aus dem Bordell, darüber gehen schon damals die Meinungen auseinander). Gefährlich erscheint Messalina Claudius’ Schwiegersohn Gnaeus Pompeius Magnus zu sein, der im selben Jahr 41 Claudius’ Tochter aus einer früheren Ehe, Claudia Antonia, heiratet. Als Mann ist er eine Gefahr für die Thronfolge, wie sie Messalina vorschwebt. Auf Veranlassung Messalinas wird Gnaeus Pompeius im Jahre 47 exekutiert. Über die genauen Hintergründe weiß man nichts, doch scheint die Hinrichtung mit Claudius’ Einverständnis erfolgt zu sein. Angeblich hat man Gnaeus Pompeius Magnus im Bett mit einem jungen Mann erwischt. Ob das allein ausreichend für die Todesstrafe war, darf bezweifelt werden. Homosexualität galt im alten Rom zwar offiziell als nicht vereinbar mit den römischen Tugenden, wurde aber strafrechtlich nicht verfolgt. Vermutlich hat Messalina eine Verschwörungstheorie zusammengezimmert – das wirkte auf einen Herrscher zuverlässig, um einen möglichen Rivalen, und sei es ein enger Verwandter, töten zu lassen.

Agrippina sieht all diesem Treiben zu – und wartet auf ihre Gelegenheit, den Sohn Nero auf den Thron zu hieven. Zwei Männer muss sie dazu ausschalten: ihren Onkel Claudius und ihren Cousin Britannicus, damals noch ein Knabe. Um sich selbst zu schützen (denn eine Ehe bedeutet damals Schutz), heiratet sie kurz nach ihrer Rückkehr von Pandateria (ihr erster Mann ist verstorben) Gaius Sallustius Crispus Passienus. Seiner überdrüssig geworden, vergiftet sie ihren Mann im Jahre 47 – so zumindest behauptet es Sueton: »Er kam um durch eine Tücke Agrippinas, die er als Erbin eingesetzt hatte, und wurde in einem Staatsbegräbnis beigesetzt.«

An der Wende vom Jahr 47 auf das Jahr 48 kommt es zum Eklat, und den Konkurrentinnen Messalina und Agrippina (die seit Kurzem wieder Witwe ist) wird bewusst, dass sie handeln müssen, um ihren jeweiligen Favoriten auf den Kaiserthron – Britannicus oder Nero – durchzusetzen: Beim Säkularfest anlässlich der achthundertjährigen Gründung Roms treten auch der gerade einmal siebenjährige Britannicus und der elfjährige Nero als Akteure auf. Das Publikum begrüßt die beiden Knaben aus kaiserlicher Familie – allerdings, so zumindest Agrippinas Eindruck, Nero weniger stark als Britannicus. Vielleicht, so mutmaßt der Historiker Tacitus, drückt sich darin noch immer die Begeisterung des Volkes für Germanicus aus, denn Britannicus’ Vater, der amtierende Kaiser Claudius, ist ein Bruder des Germanicus. Wie dem auch sei: Agrippina fasst spätestens nach diesem Schlüsselerlebnis auf dem Säkularfest den Entschluss, ihren Weg und den Neros mit Gewalt freizuräumen.

Ob sie Claudius einen Hinweis auf Messalinas Bigamie gibt, ist nicht bekannt. Doch irgendwer muss es dem Kaiser gesteckt haben. Der nämlich übergibt im Herbst 48 einem Freigelassenen namens Narcissus, der Claudius’ Vertrauen besitzt, für nur einen einzigen Tag die Befehlsgewalt über die Prätorianer. Streng genommen ist das ein Skandal, denn ein Freigelassener darf nicht einmal als gewöhnlicher Soldat in einer Legion dienen. Nun aber befehligt Narcissus die Elitegarde des Kaisers. Und wie viele Freigelassene ist auch er ein intelligenter, tatkräftiger Mann. Narcissus weiß von Messalinas Bigamie, und auch davon, dass Silius den Britannicus heimlich adoptiert hat (obwohl dessen leiblicher Vater Claudius noch lebt). Wie anders kann man das deuten als den Versuch Messalinas, sich des Gatten zu entledigen? Einem Komplott kommt der Befehlshaber schnell zuvor – denn er hat ja nur einen einzigen Tag, um Fakten zu schaffen. Claudius hat sich ins Prätorianerlager zurückgezogen, um vor etwaigen Anschlägen der Parteigänger von Messalina und Silius geschützt zu sein. Narcissus lässt Silius festnehmen und ins Prätorianerlager bringen. Der bekennt seine Schuld und verlangt selbst die Todesstrafe, die sofort vollzogen wird.

Messalina hingegen kämpft um ihr Leben – mit den Waffen einer Frau. Erst vor Kurzem hat sie sich widerrechtlich die Lukullischen Gärten auf dem Hügel des Pincio angeeignet, den einstigen Besitzer hat sie unter falschen Anschuldigungen ans Messer geliefert. In diesen Gärten hält sie sich versteckt und hofft, Claudius werde persönlich kommen und dem Locus amoenus, dem lieblichen Ort, und auch der immer noch berückenden Schönheit seiner Frau verfallen und so gnädig gestimmt sein. Claudius scheint zu wanken, denn er ordnet am Abend jenes denkwürdigen Tages an, Messalina solle am anderen Morgen erscheinen, um sich zu verteidigen. Narcissus aber handelt. Nach römischem Verständnis endet der Tag morgens gegen sechs Uhr. Bis dahin hat er Zeit, dann verliert er seine Befehlsgewalt. Er schickt nachts einige Prätorianer in die Lukullischen Gärten. Als die Soldaten im Anmarsch sind, fordert Messalinas Mutter, Domitia Lepida, die Tochter auf, sich selbst zu erdolchen. Doch Messalina bringt den Mut nicht auf. Wenige Augenblicke später dringen die Prätorianer in das Haus ein und stechen sie nieder. Claudius nimmt die Nachricht vom Tod seiner Frau mit Gelassenheit auf. Er fragt nicht einmal nach den Umständen ihrer Liquidierung. Im Innersten ist er wohl erleichtert, sie los zu sein und einem anderen, Narcissus, die Entscheidung überlassen zu haben.

Agrippina Augusta

Agrippina ist nun wieder die mächtigste Frau am kaiserlichen Hof. Und: Witwe und Witwer sind sich nahe, räumlich, geistig, verwandtschaftlich. Agrippina setzt alles daran, ihren eigenen Onkel zu ehelichen, um sich zur Augusta zu machen und später den Sohn Nero zum Kaiser. Es ist wie in der griechischen Sage vom Urteil des Paris: Aber kein neuer Trojanischer Krieg soll deshalb vom Zaune gebrochen werden, sondern die Wahl der neuen Augusta soll Garant für Frieden und Stabilität im Reich sein. Drei Kandidatinnen stehen Claudius zur Auswahl: Da ist Lollia Paulina, die schon einmal kurz mit Caligula verheiratet war; dann Aelia Paetina, mit ihr war Claudius schon einmal verheiratet, gemeinsam haben sie die Tochter Antonia; und schließlich Agrippina. Es ist eine politische Entscheidung, keine private. Bei einer Kabinettssitzung werden Für und Wider erörtert. Alle drei Ehekandidatinnen werden von mächtigen Freigelassenen, Drahtziehern hinter den Kulissen, unterstützt. Agrippinas Fürsprecher Pallas preist an ihr, so Tacitus, »dass sie die Enkel des Germanicus mitbrächte, einen wahrlich der kaiserlichen Hoheit würdigen Spross. Er möchte doch die Nachkommen der julischen und claudischen Familie vereinigen, damit nicht die so anerkannt fruchtbare, noch jugendlich blühende Frau der Cäsaren Berühmtheit einem anderen Hause zubrächte.« Dieses Argument überzeugt, und förderlich sind auch die körperlichen Reize Agrippinas, die, so Tacitus, »den Oheim unter dem Vorwande der Verwandtschaft häufig besuchte und ihn so an sich zog, dass sie den Übrigen vorgezogen, obgleich noch nicht seine Gattin, schon die Gewalt der Gattin übte«. Nur eines steht einer Heirat im Wege: das Gesetz, wonach eine Verbindung von Onkel und Nichte dem Inzesttabu unterliegt. Doch Gesetze sind von Menschen gemacht, und der Senat fügt sich gern dem Wunsch des Kaisers, solche Verbindungen zu legitimieren (während Ehen zwischen Tanten und Neffen verboten bleiben). Zu Beginn des Jahres 49 heiratet Claudius seine Nichte Agrippina mit viel Pomp, gleichzeitig adoptiert er ihren Sohn Nero. Agrippina scheint am Ziel ihrer Machtträume zu sein – fast. Denn noch immer ist da Britannicus, der – obgleich jünger als Nero – doch der leibliche Sohn des Kaisers ist. Also muss Nero nicht nur der Adoptivsohn des Kaisers werden, sondern zugleich dessen Schwiegersohn – die Angelegenheit ist kompliziert und nach heutigem Recht nicht vorstellbar, aber für einen römischen Kaiser wurde manches Gesetz geändert oder großzügig ausgelegt.

In jene Zeit fällt auf Wunsch Agrippinas ein Entschluss des Claudius, dessen Folgen bis heute im besten Sinne sichtbar sind: Die Gründung der Stadt Köln am 8. Juli 50. Agrippina, die im Römerlager Oppidum Ubiorum, benannt nach dem germanischen Stamm der Ubier, geboren ist, will mit ihrem Mann Claudius gleichziehen: Der nämlich, im Römerlager Lugdunum, dem heutigen Lyon, geboren, hat der Ansiedlung an der Rhône im Jahre 48 die römischen Stadtrechte verliehen. Gleiches geschieht nun am Rhein: »Colonia Claudia Ara Agrippinensium« (»Claudische Kolonie und Opferstätte der Agrippinensier«), so der ausführliche Name der Stadt, die sogar Sitz des Statthalters der römischen Provinz Germania inferior wird und die man bald verkürzt nur noch »Colonia« nennt, oder später eingedeutscht »Köln«. Die im Kölner Karneval auftretende Figur der »Kölner Jungfrau« im römischen Gewand – zusammen mit Prinz und Bauer bilden sie das Kölner Dreigestirn – ist eine über die Jahrhunderte tradierte Darstellung Agrippinas, der Stadtgründerin, die zwar alles andere als eine Jungfrau war, deren Wunsch, der Ansiedlung am Rhein die Stadtrechte zu verleihen, aber ihre folgenreichste, nachhaltigste und sicherlich auch beste Tat war.

Claudius hat eine Tochter aus der Ehe mit Messalina: Claudia Octavia (die Schwester des Britannicus). Sie wäre eine angemessene Braut für Nero, um die Bande zwischen den Familien von Claudius und Agrippina enger zu knüpfen. Doch Claudia Octavia ist bereits verlobt, mit Iunius Silanus, der im Senat sitzt und von Claudius hochgeschätzt wird. Agrippina verbündet sich daraufhin mit dem Zensor Lucius Vitellius, der öffentlich macht, Silanus unterhalte eine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester Iunia Calvina. Ohne den Beschuldigten anzuhören, wird er aus dem Senat ausgestoßen – Vorverurteilungen und Diskreditierungen funktionierten zu allen Zeiten. Der Kaiser ist dadurch in Zugzwang und löst offiziell die Verbindung seiner Tochter mit Silanus, der zudem sein Amt der Prätur verliert. Silanus ist beruflich, gesellschaftlich und privat am Ende. Wenig später heiraten Claudia Octavia und Nero, am Hochzeitstag nimmt sich Silanus das Leben.

Britannicus ist nun weitgehend isoliert, die Thronfolge für Nero scheint gesichert. Claudius ehrt seine neue Gemahlin zudem mit dem Ehrennamen »Augusta«, sie wird damit namentlich in der Nachfolge von Octavianus Augustus genannt, ein Titel, der auch ihre Macht zum Ausdruck bringt. Auf Münzen jener Zeit wird Agrippina als Ceres, als Göttin der Fruchtbarkeit, porträtiert. Auch damit wird ihr hoher Rang bei Hofe versinnbildlicht und zugleich ihr Porträt im ganzen Weltreich in Umlauf gebracht.

Im Jahre 51 erwirkt Agrippina, dass ihr Sohn Nero mit gerade einmal vierzehn Jahren vorzeitig für volljährig erklärt wird. Er wird zudem zum Princeps iuventutis, zum Fürsten der (senatorischen) Jugend, gewählt – damit steht er in Anwartschaft auf den Kaisertitel, sobald sein Schwiegervater, Stiefvater, Großonkel und Adoptivvater Claudius einmal nicht mehr lebt. Britannicus hingegen, damals erst zehn, wird weiter zurückgedrängt – Agrippinas Pläne gehen mehr und mehr auf. Zu jener Zeit soll sie einen Ausspruch getan haben, den Tacitus überliefert: »Möge er [Nero] mich töten, wenn er nur herrscht.« Der Satz ist wie ein Orakelspruch, der sich immer als richtig herausstellt, meist aber in überraschender Weise. Agrippina ahnt damals nicht, wie sich ihr Wunsch bewahrheiten wird.

Sie ist eine eifersüchtige, herrschsüchtige Mutter, die ihren Sohn Nero über alles liebt und ihn ganz für sich besitzen will. Im Jahre 54 rechnet sie mit Domitia Lepida ab, der Mutter Messalinas und Tante Neros, die einst, als Agrippina in die Verbannung gehen musste, ihren Neffen bei sich aufgenommen hat. Da Domitia Lepida wieder näheren Anschluss an die Familie sucht und wohl auch eine innige Gefühlsbeziehung zu Nero hat, muss sie sterben: Agrippina streut Gerüchte, Domitia Lepida wolle sie mit Zaubermitteln schädigen. Agrippina ist zu jener Zeit so mächtig, dass solch ein Vorwurf allein schon genügt, die Beschuldigte ohne weitere Anhörung aus dem Weg zu räumen. Domitia Lepida wird ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Wenig später, am 13. Oktober 54, vergiftet Agrippina ihren Mann, Kaiser Claudius. Ihr Sohn Nero wird von den Prätorianern noch am selben Tag zum Kaiser ausgerufen.

Nero begehrt auf

In diesem Machtkampf hat Agrippina eines nicht bedacht: Neros eigenen Kopf. Der inzwischen sechzehnjährige junge Mann, der in seinen Charakterzügen noch nichts von dem späteren Gewaltverbrecher trägt, versucht sich – das ist in seinem Alter nur normal – aus der geistigen Gängelung seiner übermächtigen Mutter zu lösen. Die heutige Psychologie würde von einem klassischen Ödipus-Komplex sprechen, gegen den der junge Nero revoltiert. Nicht in Agrippinas Konzept gehört die in ihren Augen Ungehörigkeit des Jungen, sich nach seinem Gusto eine Geliebte zu nehmen, eine gewisse Acte, eine Freigelassene noch dazu, die sich standesgemäß nicht für einen Adligen geziemt. Seine Frau Claudia Octavia hingegen, die Schwester des Britannicus, wird von Nero nicht weiter beachtet. Auch der Prinzenerzieher Seneca taktiert gegen die Mutter seines Zöglings. Auf seinen Rat hin entlässt Nero den Schatzmeister Pallas, einen mächtigen Freigelassenen und Parteigänger Agrippinas. Deren Macht am kaiserlichen Hof beginnt zu bröckeln, und in ihrer Not – und ihrer Eifersucht – begeht Agrippina einen entscheidenden Fehler: Sie macht ihrem Sohn Vorwürfe, er habe ihr alles zu verdanken, und wenn er nicht gehorsam und brav sei, werde sie Britannicus ihm vorziehen! Nero reagiert panisch und lässt den Schwager am 12. Februar 55, an dessen vierzehntem Geburtstag, bei einem Mahl (seinem Geburtstagsessen!) mit Gift beseitigen. Der Groll des jungen Kaisers wendet sich indes auch gegen seine Mutter: Er entzieht ihr die Prätorianergardisten, die zu ihrem persönlichen Schutz abkommandiert waren, zudem die beiden Liktoren, Träger von Axt und Rutenbündeln, die zum Zeichen ihrer exekutiven Macht bei offiziellen Anlässen vor Agrippina einhergingen. Zudem verweist Nero seine Mutter des Kaiserpalastes auf dem Palatin, sie muss eine Wohnung in der Stadt nehmen. Es ist eine symbolische Verstoßung, und Agrippina wird begriffen haben, dass die nächste Stufe der Verbannung Pandateria heißen wird. Das sind – bildlich gesprochen – lediglich Schüsse vor den Bug, sie sollen aber der eifersüchtigen, machtbesessenen und zu Bevormundung neigenden Mutter ein warnendes Exempel dafür sein, wer wirklich die Gewalt am Hof und im Staat innehat: Nero.

Es kommt noch schlimmer: Die Verwandten der von Agrippina Geschädigten und Getöteten verbünden sich gegen die Kaisermutter. Domitia, eine Schwester der hingerichteten Domitia Lepida, und Iunia Silana, deren Heirat von Agrippina einst verhindert worden ist, tun sich zusammen und klagen Neros Mutter vor Gericht an, sie plane eine Verschwörung gegen Nero mit dem Ziel, ihn zu stürzen. Nero, ein unsicherer, unreifer und gerade deswegen zu Gewalt neigender junger Mann, will seine Mutter sofort töten lassen. Doch der Vertraute Burrus, den er mit dem Meuchelmord beauftragt, bringt ihn zur Räson. Und tatsächlich erweisen sich die Vorwürfe der beiden Römerinnen als unwahr. Noch einmal kommt Agrippina glimpflich, das heißt mit dem Leben, davon. Doch im Innersten ist sie verletzt und enttäuscht, sie fühlt sich vom eigenen Sohn verstoßen und ihre Liebe und ihr ganzes Lebenswerk mit Undank vergolten. Resigniert zieht sie sich in den nächsten Jahren bis zu ihrem Lebensende zurück, während Nero seine unumschränkte und unangefochtene Herrschaft beginnt, die man bald als Tyrannei empfindet. Schließlich ist keiner mehr da, der ihn zur Vernunft bringt: Agrippina ist kaltgestellt, und Seneca, Neros Erzieher, wird zum käuflichen Handlanger und zudem zu einem der reichsten Bürger Roms. Durch Neros Zuwendungen besitzt Seneca bald ein Vermögen von rund dreihundert Millionen Sesterzen. Er handelt nach der Devise »Geld stinkt nicht«. Vorwürfen, er predige Wasser und trinke Wein, sein Reichtum fuße auf dem Unglück und der Ausbeutung anderer, tritt der Philosoph in seiner Schrift De vita beata (Vom glücklichen Leben) entgegen, mit recht bequemen Ausflüchten: »Hör also auf, den Philosophen das Geld zu verbieten! Niemand hat die Weisheit zur Armut verurteilt. Der Philosoph wird reiche Schätze besitzen, die aber niemandem entrissen sind, nicht von fremdem Blut triefen, erworben sind ohne Unrecht an irgendwem, ohne schmutzige Herkunft.«

Den Vertrauten Neros indes wird ihre Loyalität nichts nützen: Burrus wird im Jahre 62 auf Geheiß des Kaisers vergiftet, Seneca begeht auf Befehl Neros im Jahre 65 Selbstmord, indem er sich die Pulsadern öffnet. Und Neros unglückliche Ehefrau Claudia Octavia wird auf die Verbannungsinsel Pandateria geschickt und dort am 8. Juni 62 auf Neros Geheiß ermordet, indem man sie fesselt und ihr die Adern öffnet. Ihr Kopf wird abgetrennt und nach Rom gesandt.

     

Poppaeas böse Saat geht auf: Nero, im Innern ein schwacher und wenig selbstbewusster Mann, will der Geliebten und der Welt zeigen, dass er ein Herrscher ist, der sich auch vor unangenehmen Entscheidungen nicht scheut. Er befiehlt den Tod seiner Mutter. Es soll wie ein tragischer Unfall aussehen. Im März 59 lädt er Agrippina nach Baiae am Golf von Neapel ein, damals ein Modebad der betuchten römischen Gesellschaft. Am Strand wird mit Pomp die Versöhnung von Mutter und Sohn gefeiert. Agrippina, die seit Jahren vor Attentaten auf der Hut ist, fasst Vertrauen zu ihrem Sohn. Nach der Feier lädt Nero seine Mutter ein, die Fahrt hinüber über die Bucht zu ihrem Landhaus an Bord eines Schiffes zu machen. Doch Nero hat das Schiff mit Luken präparieren lassen. Er verabschiedet sich von Agrippina unter Küssen und »mit heiterer Miene«, wie Sueton weiß. Die besteigt arglos das Schiff. Mitten im Golf von Neapel öffnet der von Nero instruierte Kapitän die Luken, Wasser schießt in den Schiffsbauch. Doch Nero hat nicht mit der Zähigkeit seiner Mutter gerechnet: Sie und eine Dienerin springen über Bord. Die gedungenen Matrosen verfolgen die flüchtigen Frauen. Die Dienerin, die ihre Herrin schützen will, schreit, sie sei Agrippina. Die Schiffsleute, die im Dunkel der Nacht kaum etwas sehen, erschlagen im Glauben, Neros Mutter vor sich zu haben, die Dienerin mit den Ruderblättern. Agrippina zeigt mehr Verstand, indem sie sich ganz still verhält und im Schutze der Nacht ein Stück weit davonschwimmt. Schließlich werden andere Bootsleute auf sie aufmerksam und holen sie an Bord. Durchnässt und durchgefroren, aber unversehrt gelangt sie zu ihrem Landhaus. Nero aber will nun Nägel mit Köpfen machen, auch wenn die Nachwelt ihn deswegen brandmarken wird: Auf seinen Befehl hin dringen wenig später Prätorianer in die Villa ein. Burrus, der Anführer der Garde, hat sich diesem Befehl widersetzt, aber der Philosoph des glücklichen Lebens Seneca hat im Vorfeld Kaiser Nero instruiert, dieser solle dem Offizier Anicetus, der weniger zimperlich und gewissensscheu ist, die Meucheltat überlassen. Tacitus berichtet: »Anicetus umstellte das Landhaus mit Wachen und riss, nachdem er die Pforte erbrochen hatte, die ihm entgegentretenden Sklaven hinweg, bis er zur Tür des Schlafgemachs gelangte […]. Im Schlafgemach war schwaches Licht und eine einzige Sklavin und Agrippina, banger und banger […]. Als hierauf die Sklavin hinausging, rief sie ihr nach: ›Auch du lässt mich allein.‹ Sie erblickte den Anicetus, vom Schiffshauptmann Herculeius und einem Centurio der Flotte Obaritus begleitet, und sprach, wenn er gekommen sei, um zu sehen, wie es ihr ginge, so möchte er melden, sie habe sich erholt, wenn aber, um eine Untat zu vollbringen, so glaube sie es nicht von ihrem Sohn, befohlen sei der Muttermord ihm nicht. Da stellten sich die Mörder um das Bett, und zuerst schlug der Schiffshauptmann die Kaiserin mit einem Knüttel auf das Haupt. Als dann der Centurio zum Todesstoß das Schwert zog, rief sie, ihren Leib hinhaltend, auf: ›Stoß in den Mutterleib!‹, und erlag unter vielen Wunden.«

Nero eilt herbei und beschaut mit einer Mischung aus Grausen und Erleichterung die Leiche der Mutter. Er habe, so Sueton, »ihre Glieder betastet, das eine getadelt, das andere gelobt und zwischenhinein, als er Durst bekam, getrunken«. Agrippinas Leichnam wird verbrannt, auf einem Tischpolster, wie Tacitus weiß: »Auch wurde, solange Nero die Herrschaft besaß, keine Erde über sie gehäuft oder eingefriedet. Nachher bekam sie durch die Fürsorge ihrer Dienerschaft einen unbedeutenden Grabhügel neben der misenischen Straße […].« Nero gibt dem feigen Attentat seine eigene Interpretation: Im Volk und vor dem Senat lässt er die Nachricht verbreiten, Agrippina habe ihn ermorden wollen, das Komplott sei jedoch aufgedeckt, die feige Verschwörerin zu Recht bestraft worden. »Ghostwriter« dieser unsinnigen Anschuldigung ist Seneca, der dem Schreiben seinen stilistischen und rhetorischen Schliff gibt. Der Senat, eingeschüchtert, reagiert umgehend: Eine Damnatio memoriae, eine Austilgung der öffentlichen Erinnerung, wird beschlossen. Statuen Agrippinas werden zerstört, Inschriften mit ihrem Namen ausgemerzt. Sie gilt fortan als eine gewissenlose Mörderin und Intrigantin, ungeachtet der Tatsache, dass im Umfeld des kaiserlichen Hofes Mord und Intrige an der Tagesordnung waren. Das entschuldigt nicht Agrippinas Untaten, relativiert sie jedoch. Einzig die Bewohner Kölns gedenken ihrer Stadtgründerin bis heute mit Dank.

Sueton behauptet, Nero sei später von Gewissensbissen geplagt worden, er habe gestanden, »dass er vom Geist seiner Mutter und den Geißeln und brennenden Fackeln der Furien umgetrieben werde«. Das schlechte Gewissen hält Nero indes nicht davon ab, eine Schreckensherrschaft zu errichten, die dem seines Vorvorgängers Caligula in nichts nachsteht. Am 19. Juli 64 lodern vierzehn Stadtviertel Roms, drei brennen völlig ab. Auf Neros Geheiß haben Brandstifter gehandelt, denn der Kaiser braucht Platz für seine größenwahnsinnigen Pläne zur Umgestaltung der Hauptstadt und zum Bau seines neuen Palastes, der Domus aurea (dessen gigantische Gewölbe heute wieder zu besichtigen sind). Neros zweite Ehefrau Poppaea, um derentwegen er seine Mutter ermorden ließ, wird von ihm im Sommer 65 getötet. Tacitus berichtet: »Nach Beendigung des Spieles [der vorgezogenen Neronia des Jahres 65] fand Poppaea ihren Tod zufällig durch den Jähzorn des Gemahles, von welchem die Schwangere einen Fußtritt erhielt.«

Der von vielen Römern – Adligen, Bürgern und dem einfachen Volk – zutiefst gehasste Kaiser endet so, wie er es vielen selbst befohlen hat: Als sich im Juni 68 Senatoren und Offiziere gegen ihn erheben und der Senat Nero zum Staatsfeind erklärt, erdolcht sich der Kaiser, als die Verschwörer ihm auf seiner Flucht nach Ostia nachsetzen, am 9. oder 11. Juni selbst. Sein Leichnam wird verbrannt, die Asche im Familiengrab auf dem Hügel des Pincio beigesetzt. Wie gegen seine Mutter verhängt der Senat auch gegen Nero eine Damnatio memoriae: Statuen werden gestürzt, Inschriften mit seinem Namen getilgt. Doch in der Erinnerung der Welt lebt der Kaiser fort: als größenwahnsinniger, getriebener Tyrann und Massenmörder, als blutrünstiger Christenverfolger und Anstifter des großen Brandes von Rom, als gewissenloser Mörder seiner Freunde, seiner Ehefrauen und seiner Mutter Agrippina.