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www.piper.de

ISBN 978-3-492-96780-8

Februar 2016

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Lars Baron / Bongarts / Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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»Eine der Bedingungen dafür, dass wir aus der Geschichte lernen, ist zunächst einmal die Kenntnis der Geschichte – jedenfalls die Kenntnis des für unsere eigenen Lebensumstände, für unsere Arbeit und unseren Verantwortungsbereich wichtigen Teils der Geschichte. Die meisten Menschen kennen nur einen kleinen, überdies subjektiv gefärbten Ausschnitt aus der Geschichte … nur Partikelchen, die sich in ihrem Bewusstsein aber doch zu einem Gesamtbild verbinden – einem Gesamtbild, das freilich unvollkommen und unzureichend ist.«

Helmut Schmidt

Vorwort

»Mörder aus Feuerteufel-Tatort spielt Helmut Schmidt«, titelte das Hamburger Abendblatt im Jahr 2013 vorwurfsvoll. Gerade war bekannt geworden, dass der Schauspieler Bernhard Schütz in den Spielszenen einer Fernsehdokumentation über das Leben Helmut Schmidts den »coolsten lebenden Deutschen« in seinen mittleren Jahren darstellen würde. Sollte das heißen, dass Darsteller von Mördern für die Verkörperung einer lebenden Legende wie Helmut Schmidt nicht geeignet sind?

Dass mit Bernhard Schütz ein Star deutscher Theater die Rolle übernahm, war die eigentliche Nachricht. Als Loki-Darstellerin an seiner Seite gab sich die in ihren Rollen überaus wählerische Bibiana Beglau die Ehre. Beide ergänzten ein illustres Ensemble, das schon durch seine Teilnahme an der NDR-Produktion zum 95. Geburtstag des Altbundeskanzlers deren Protagonisten adelte. Nicht umgekehrt, wie die professionelle Distanzlosigkeit des Boulevards suggerierte.

Kritische Distanz war immer etwas, das Helmut Schmidts intellektuellen Zugang zu den Themen kennzeichnete, mit denen er sich beschäftigte. Die Unabhängigkeit seines Denkens und die Unerschrockenheit seines oft unbequemen Urteils sind die Hauptmerkmale seiner bleibenden Wirkmacht. Schon allein deshalb ist es für eine Person wie ihn nicht angemessen, idealisiert zu werden – weder in der Meinungsmache des Boulevards noch in den üblichen Elogen von Affirmatoren, die sich von demonstrativer Nähe zu Schmidt einen Abglanz von dessen Nimbus auf die eigene Person erhoffen.

Eine Folge der durchaus auch gönnerhaften Haltung mehr oder weniger prominenter Apologeten gegenüber dem im November 2015 verstorbenen Altbundeskanzler ist eine immer weiter um sich greifende Geschichtsklitterung. Entstanden ist sie hauptsächlich daraus, dass immer wieder und unhinterfragt auf dieselben Quellen zurückgegriffen wird. Wenn man verschiedene Publikationen über Helmut Schmidt aus den vergangenen Jahrzehnten studiert, stellt man fest, dass fast alle persönlichen Details aus dem langen Leben Schmidts wie auswendig gelernte Anekdoten immer und immer wieder repetiert werden.

Schmidt war berühmt für sein glänzendes Gedächtnis, das ihn noch in hohem Alter nahezu wortlautgleich Gedankengänge, Analysen und politische Entscheidungsfindungsprozesse wiederholen ließ, die er 40, 50, auch 60 Jahre zuvor bereits niedergeschrieben oder gesagt hatte. Bei den Erinnerungen an sein eigenes Leben verließ ihn jedoch sein phänomenales Gedächtnis. Nicht nur, weil immer wieder die Details aus seinem Leben abgefragt wurden, die er zuvor schon berichtet hatte: Von sich aus erzählte er ebenfalls immer dieselben »Storys« über Familie, Kindheit, Jugend und junge Erwachsenenzeit. Wie sich zeigt, irrte er dabei oft, besonders bei Jahreszahlen. Beispielhaft steht dafür ein Satz aus seinen Erinnerungen über den Vater seiner Mutter. »1933 – so erinnere ich mich deutlich – hat meine Oma bei Hitlers Ermächtigungsgesetz gesagt: ›Welch Glück, dass Heinrich dies nicht mehr erleben musste!‹«1 Der Großvater starb aber nicht 1932, wie der Enkel zu wissen meint, sondern nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes.

An anderer Stelle berichtet er, er habe 1937 ein Jahr früher als vorgesehen das Abitur machen müssen, weil Hitler Soldaten benötigte.2 Das sogenannte Notabitur, auf das er anspielte und das tatsächlich Abiturienten ein Jahr früher der Armee zuführen sollte, wurde aber erst während des Krieges eingeführt. Er und seine Klassenkameraden mussten das Abitur vorziehen, weil die Schule, die er besuchte, aufgelöst wurde.

Die sich an vielen Beispielen zeigende Ungenauigkeit hat möglicherweise einen einfachen Grund: Er wusste es nicht mehr. Denn liest man Schmidts Erinnerungen genauer, zeigt sich, dass er wesentliche Einzelheiten seiner Vergangenheit nicht mehr im Gedächtnis hatte, sondern auf Schilderungen anderer über gemeinsam Erlebtes zurückgriff. Seine Frau Loki wurde so – neben anderen – zur Souffleuse für Erinnerungen aus der Schulzeit. Oft sind es auch Briefe ehemaliger Weggefährten, die Ereignisse oder Wahrnehmungen rekonstruieren halfen, die Helmut Schmidt längst vergessen hatte. Publizistisch ausgewertet hat er wohl so gut wie alles, was ihm über sich selbst mitgeteilt wurde – sofern es ihm glaubhaft und zitierfähig erschien. Aber erfährt man damit wirklich alles über ihn?

Max Frisch ließ einen seiner Romanhelden einmal den klugen Satz sagen: »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.«3 Bei einem prominenten Zeitgenossen wie Helmut Schmidt hält ein ganzes Volk für dessen Leben, was doch eigentlich und völlig natürlich nur Produkt selektiver Wahrnehmung sein kann. Das ist bei Helmut Schmidt nicht anders als bei jedem anderen alten Menschen, der auf sein Leben zurückblickt. Wie ergänzungsbedürftig diese Wahrnehmung ist, zeigt dieses Buch.

Einen Zeitraum gibt es im Leben des 1918 in Hamburg geborenen Helmut Schmidt, über den er im Grunde nur sehr oberflächlich Auskunft gab und der seine Biografen meist so wenig interessierte, dass sie nur zusammentrugen, was er berichtet hat: seine jungen Jahre. Schmidt selbst fasste die prägenden Erfahrungen dieses Lebensabschnitts gern unter dem Begriff »Kriegsscheiße« oder »Scheißkrieg« zusammen. Immer wieder polterte er dieses Verdikt heraus, wenn er nach seiner Jugend im Nationalsozialismus befragt wurde, aber auch, wenn es um Nervenstärke in Gefahrenlagen ging. 2007 sagte er über die Haltung des Krisenstabs, der 30 Jahre zuvor nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der voll besetzten Lufthansa-Maschine »Landshut« zusammengearbeitet hatte:

Wir hatten alle die Kriegsscheiße hinter uns. Strauß hatte den Krieg hinter sich, Zimmermann hatte den Krieg hinter sich, Wischnewski hatte den Krieg hinter sich. Wir hatten alle genug Scheiße hinter uns und waren abgehärtet. Und wir hatten ein erhebliches Maß an Gelassenheit bei gleichzeitiger äußerster Anstrengung der eigenen Nerven und des Verstandes. Der Krieg war eine große Scheiße, aber in der Gefahr nicht den Verstand zu verlieren, das hat man damals gelernt.4

Die »Kriegsscheiße«, in seiner Diktion, sagte alles. Oder auch nichts: Die Benutzung von Fäkalsprache musste zumeist genügen, um die ungeheure Bedeutung dieser Jahre für das gesamte weitere Leben zu verdeutlichen. Doch sind die Erlebnisse so verallgemeinerbar, dass ein einziger Kraftausdruck genügt, um die gemeinsame Erfahrung zu beschreiben? Denn viel mehr sagte Schmidt selten zum Thema Krieg. »Scheißkrieg!« Und das war’s dann. Nachfragen duldete er nur schwer. Jedes vertiefende Gespräch steuerte er durch Themenwechsel in eine andere Richtung. Selbst Freunden wie dem Historiker Fritz Stern, mit dem er im Jahr 2010 den Gesprächsband Unser Jahrhundert veröffentlichte, verweigerte Schmidt jede weitere Auskunft über sein Leben im »Dritten Reich«. Denn der 1933 mit seiner Familie in die USA emigrierte Freund mochte manches nicht so recht glauben, was er hörte. Als Ende 2014 die erste Auflage dieser Jugendbiografie erschien, ließ Helmut Schmidt sich sofort ein Exemplar zukommen. Sandra Maischberger sprach ihn später in ihrer Talkshow darauf an. Aber er wollte nicht darüber sprechen. Nicht ohne Grund wird ihn die nach Erscheinen dieses Buchs lauthals in den Boulevardmedien diskutierte Frage, ob er Nazi war, gestört haben. Im Buch wird sie nicht einmal gestellt. Viel zu komplex ist Schmidts – eben auch unter den Bedingungen der totalitären Diktatur – leidenschaftlich gelebten Lebens.

»Scheißkrieg«: Das ist eine griffige Formulierung, unter der sich jeder etwas vorstellen kann. Brennende Ruinen, Bombenhagel, Panzerketten, Tiefflieger, Tote und Verwundete, Flüchtlingstrecks. Aber bilden sich in einem solchen Kraftausdruck 26 Jahre Leben ab, von 1918 bis 1945? 2013 ließ Schmidt Henri Nannens Enkelin gegenüber doch einmal durchblicken, was er meinte. Im charismatischen Gründer der Illustrierten Stern, die jahrzehntelang zu den publizistischen Meinungsführern in Deutschland zählte, sah er jemand mit ähnlichem Erfahrungshorizont. Auch der fünf Jahre ältere Nannen war Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen. Noch für den 94-jährigen Schmidt waren – wie 1977 im Krisenstab der »Landshut«-Entführung – die Erlebnisse und Erfahrungen des Krieges das verbindende Element, das in seinen Augen Menschen so gegensätzlicher Naturen wie Franz Josef Strauß oder Henri Nannen oder eben ihn selbst zu berechenbaren Größen machte.

Nannen hat den Krieg sicher intensiv erlebt. Noch intensiver vermutlich als ich, weil er älter war. Er muss diesen Zwiespalt, den wir alle kennen, besonders stark empfunden haben, den Zwiespalt zwischen dem den Deutschen anerzogenen Pflichtbewusstsein einerseits und der Einsicht, dass das alles Blödsinn war, was wir machten, oder Verbrechen waren oder jedenfalls fehlerhaft. Darunter muss er eigentlich gelitten haben. Es muss jeden Soldaten das ganze Leben begleiten. Seine Geschichte kann eine große Rolle gespielt haben. Es kann auch sein, dass sie – unbewusst oder bewusst – ein wichtigeres Motiv gewesen ist, als er nach außen zugab. Ich kann es mir gut vorstellen. Bei mir ist es auch so.5

Anfang der 90er-Jahre schrieb Schmidt für einen Sammelband zum Thema »Kindheit und Jugend unter Hitler« einen »Politischen Rückblick auf eine unpolitische Jugend«. Erstmals erwähnte er hier seine Aufzeichnungen aus dem Kriegsgefangenenlager. Die Notizen, die er unter dem Titel »Verwandlungen in der Jugend« anfertigte, waren als Gedächtnisstütze für eine »quasibiografische Aufzeichnung über seine Entwicklung« gedacht. Da er schon nach recht kurzer Zeit aus der Gefangenschaft entlassen wurde, kam er nicht mehr zur geplanten Niederschrift.

Bisherige Biografen schenkten den Notizen wenig Aufmerksamkeit. Nur seinem ehemaligen Assistenten Hartmut Soell gestattete Schmidt die vollständige Lektüre. Soell zitierte zwar umfassend, ordnete den von Schmidt stichwortartig festgehaltenen Entwicklungsprozess aber nicht ein und glättete offenkundige Widersprüche. Viele Fragen blieben offen. Insbesondere fand kaum Beachtung, dass Schmidt nicht nur allgemein-biografisch schreiben wollte, sondern offenbar seine sich wandelnde Einstellung zum Nationalsozialismus nachzeichnen wollte. Erst in späteren Jahren wechselte er zu der These, schon immer gegen die Nazis gewesen zu sein.

Als eine Art »Tragödie des Pflichtbewusstseins« verstand Schmidt die eigene Biografie6. Dieses bis heute nicht auserzählte oder ausgelotete Motiv wird nun mit allen verfügbaren Quellen untersucht. Die Zeit, über die Schmidt sich selbst als junger Mann Zeugnis ablegen wollte, rekapituliert nun dieses Buch: das Leben des jungen Helmut Schmidt bis zu seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft. Schmidts Lebenserinnerungen dienen dabei als Richtschnur, an der entlang sich zahlreiche historische Ereignisse rekonstruieren lassen.

Nur wenige Details aus Schmidts Leben in diesen Jahren sind bekannt. Diese kommentierend zu ergänzen ist besonders deshalb wichtig, weil Schmidts so oft zitierte und von ihm selbst herausgestellte Pflichtethik ihre Ursprünge im Erfahrungs- und Bildungshorizont des im Nationalsozialismus Heranwachsenden und in den 14 Kindheitsjahren zuvor hat. In der Gegenüberstellung der rekonstruierbaren Ereignisse und ihrer Rezeptionsgeschichte sollen Schmidts Selbstzeugnisse und seine Wahrnehmung der eigenen Geschichte als »Tragödie des Pflichtbewusstseins« in ihrem historischen Bezug ausgeleuchtet werden. Der alte Schmidt ist ohne den jungen nicht zu verstehen.

Wer war der junge Schmidt? War er der von einem überstrengen Vater zu preußischer Pflichtauffassung gedrillte Junge, als den er sich selbst erinnerte? War er der unpolitische Soldat, der »im einzig anständigen Verein« – wie er die Wehrmacht erlebte – in den acht Jahren seiner Soldatenzeit keinerlei nationalsozialistischer Einflussnahme ausgesetzt war, wie er sich erinnerte?

Und was bedeutete es, im Hamburg der Weimarer Republik aufzuwachsen? Schmidt besuchte die revolutionärste Schule in der Stadt, die als »Stadt der Bildungsreformen« in der Reformbewegung der Weimarer Republik Bildungsgeschichte schrieb. Nie will er dort von Demokratie gehört haben, obwohl die ganze Konstruktion der Eltern-Lehrer-Schüler-Beziehung dieser Schule auf demokratische Selbstbestimmung ausgelegt war.

Die Recherche wurde zu einer Abenteuerreise. Zunächst sah es so aus, als sei Bekanntes nur neu zu ordnen und vor dem Hintergrund neuer Forschung neu zu interpretieren. Tatsächlich kam – auch dank der großzügigen Genehmigung des Altbundeskanzlers, seine Wehrmachtsakte und andere bisher unter Verschluss befindliche Unterlagen einzusehen – viel Neues zutage. Die gerade beendete 30-jährige Sperrfrist für die Akten über Schmidts Vater war ein Glücksfall. Ein Glücksfall war auch die Begegnung mit dem Grafiker Helmut Scaruppe, der Schmidt sowohl aus der Schule als auch von der Hitlerjugend kannte und zahlreiche überaus lebendige Erinnerungen beisteuerte. Viele Lücken in der Überlieferung konnten geschlossen werden. Viele schon bekannte Tatsachen erscheinen nach der Auswertung der Originalquellen in einem neuen Licht.

Als besonders aufschlussreich erwies sich der Werdegang von Schmidts Vater Gustav. Hier öffnet sich der – im weitesten Sinne des Begriffs – kulturgeschichtliche Horizont der Epoche. Der Adoptivsohn eines des Lesens und Schreibens kaum mächtigen Arbeiters wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf. Trotzdem schaffte er es aus eigenem Antrieb, sich noch im Kaiserreich zum Volksschullehrer und später in der Republik von Weimar sogar zum Studienrat hochzuarbeiten. Alles habe der Vater dem Aufstiegswillen untergeordnet, schrieb der Sohn später. Dass im Lebenslauf des Vaters auch die Antriebskräfte der Moderne sichtbar werden, zeigt nun dieses Buch.

Was den Vater interessierte und was er sich alles autodidaktisch an Kenntnissen erschloss, ließ sich genauso rekonstruieren wie das Umfeld, in dem er sich bewegte und das ihn prägte. Erstaunliche Parallelen zu Arbeitsauffassung und Arbeitsstil des Sohnes ergeben sich. Helmut Schmidts späterer Lebensweg zeigt sich als vom Vater intensiv vorgeprägt. Aber ging es dem Vater wirklich so sehr um den gesellschaftlichen Aufstieg, dass er unpolitisch blieb? Und was machte den extremen Generationskonflikt aus, der Vater und Sohn bis in dessen Erwachsenenalter entfremdete?

Und welche Bedeutung hatte das Familiengeheimnis der Schmidts, dass der leibliche Vater des unehelich geborenen und zur Adoption freigegebenen Gustav Schmidt jüdisch war? In diesem Zusammenhang steht eine Frage im Raum. Und das seit Jahrzehnten, denn Helmut Schmidt, der 1933 14 Jahre alt war, behauptete, von den Verbrechen der Nationalsozialisten erst nach dem Krieg erfahren zu haben. Kann das sein? Immer wieder betonte er: »Wir hatten keine Ahnung von den Deportationen. Wir haben in der Kaserne nicht einmal die Reichskristallnacht mitgekriegt.«7 War die Kaserne tatsächlich eine »Oase« oder »Schutzzone«?

Selbst Schmidts Tochter Susanne wunderte sich über das Unwissen des Vaters. Als sie den ersten Entwurf seines Beitrags für das Buch Kindheit und Jugend unter Hitler gelesen hatte, kritisierte sie, wie Schmidt in der dort veröffentlichten Fassung von »Politischer Rückblick auf eine unpolitische Jugend« schrieb: »Es wird nicht klar, warum du so lange ein politisch nicht denkender, ein apolitischer Mensch gewesen bist. Das Nicht-Wissen oder Nicht-wissen-Wollen über die Judenfrage kommt entschieden zu kurz.«8 Schmidt gab zu, dass ihn die Kritik traf. Er reflektierte zwar verschiedene systemtheoretische Ansätze zur Erklärung des Verhaltens der Deutschen, kam aber für sich selbst zu keiner Klärung.

Die Ereignisse und Schicksale, die sich rekonstruieren ließen, sprechen eine ganz eigene Sprache. Vor dem Hintergrund der neuesten Forschung über die Rolle der Wehrmacht im Nationalsozialismus waren Schmidts Stationen als Soldat neu zu bewerten. In den acht Jahren seiner Soldatenzeit, an deren Ende er kurz davor war, zum Hauptmann befördert zu werden, war er nur zweimal einige Monate an der Front. Die Kriegstagebücher der 1. Panzerdivision, mit der Schmidt bis an den Stadtrand Leningrads und anschließend bis kurz vor Moskau vordrang, lassen das Kampfgeschehen lebendig werden, an dem er teilnahm und das ihn tief prägte.

Trotz dieser Fronterfahrungen, die nicht gering geachtet werden dürfen: Die weit überwiegende Zeit verbrachte er in der Etappe als Sachbearbeiter, Referent und Ausbilder. Er wollte immer an die Front, wurde aber von seinen Vorgesetzten lange nicht gelassen. Er, der als Kind den Spitznamen »das Schnackfass« trug, war nun der »König der leichten Flak«. Zahlreiche Reisen führten ihn durch fast das ganze besetzte Europa. Daheim lebte man lange fast wie in Friedenszeiten mit Gästen, Kinobesuchen und Kasinoabenden. Auch vor diesem Hintergrund bedarf die »Kriegsscheiße« einer genaueren Betrachtung. Hebt man die »Scheiße« ein wenig an, kommt darunter ein Leben zum Vorschein, das mit preußischer Selbstbescheidung und Gehorsam allein nur ungenau gefasst ist. Hinzu kamen früh aktive Gestaltung und bewusst getroffene Entscheidungen.

Die soldatische Sozialisation war bis an sein Lebensende Dreh- und Angelpunkt von Schmidts Wertesystem. Die »Tragödie des Pflichtbewusstseins« besteht im Missbrauch des Patriotismus und Pflichtbewusstseins seiner Generation durch den Nationalsozialismus. Das bewusst erlebte Dilemma wurde Schmidts Lebensthema. Für sein politisches Wirken in der Bundesrepublik ist dies von entscheidender Bedeutung. Denn seine Haltung gestaltete die Demokratie in Deutschland mit. War er der »Soldatenkanzler«?

Teil 1

Herkunft und Kindheit