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Jason Starr

Twisted City

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Bernhard Robben

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2004 bei

Vintage Books, New York,

erschienenen Originalausgabe: ›Twisted City‹

Copyright © 2004 by Jason Starr

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2005 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Oliver Rossi

Copyright © Oliver Rossi/Getty Images/Stone

 

 

Für Sandy und Chynna

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23582 1 (3. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60467 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Gleich nach dem Interview mit Robert Lipton, dem Geschäftsführer von Byron Technologies, formulierte ich im Kopf den Aufmacher für meinen Artikel:

Nach Byron Technologies' traurigem Abschneiden im ersten Halbjahr werden die Analysten im Ertragsbericht des dritten Quartals nach neuen Lebenszeichen suchen, doch könnte der Jahresendverlust auch das Ende für diesen wackligen Technologie-Newcomer bedeuten.

Dabei hätte ich mich im Fall Byron so oder so entscheiden können. Die Firma wies anständiges Quartalswachstum und wachsende Verkaufszahlen auf, nur die Kapitalverlustrate lief aus dem Ruder, weshalb Byron einen Haufen Geld verlor. Lipton wirkte auf mich ganz sympathisch, und ich hätte meinen Artikel gern positiv gehalten, aber Jeff Sherman, der hervorragende Chefredakteur der Zeitschrift Manhattan Business, hatte eine Regel – nie mehr als drei positive Artikel hintereinander. Und da meine letzten drei Artikel günstig ausgefallen waren, mußte ich diesmal hart zuschlagen.

Während ich im achtundzwanzigsten Stock des Bürogebäudes an der Seventh Avenue auf den Fahrstuhl wartete, [6] fiel mir eine Frau auf. Sie stand rechts von mir, war einige Jahre jünger als ich, vielleicht zweiunddreißig, hatte kurzes, modisch frisiertes rotes Haar und eine blasse, leicht sommersprossige Haut. Sie war schlank, von attraktiver Figur und trug ein schwarzes Designerkostüm. Irgendwas an ihrem Aussehen erinnerte mich an meine Schwester Barbara.

Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, die Frau anzusprechen, aber sie ertappte mich dabei, wie ich zu ihr hinüberstarrte, weshalb ich unwillkürlich lächeln mußte. Als sie mein Lächeln erwiderte, sagte ich: »Hi, wie geht's denn so?«

»Gut«, sagte sie. »Danke der Nachfrage.«

Wir schauten beide auf die digitalen Ziffern der Stockwerksanzeige. Ich hörte nicht auf, sie anzusehen, und dachte dabei weiter an meine Schwester. Als sich unsere Blicke aufs neue begegneten, sagte ich: »Langer Tag, nicht?«

»Stimmt«, sagte sie und errötete.

Wieder folgte ein verlegenes Schweigen, in dem mir auffiel, daß sie keinen Ring am Finger ihrer linken Hand trug. Als sie mich erneut anschaute, fragte ich: »Wie wär's? Haben Sie Lust auf einen Drink?«

Normalerweise war ich nicht so spontan, und die Frage überraschte mich ebenso wie sie. Zögernd schaute sie mich einige Sekunden prüfend an, aber offenbar sah ich nicht gerade wie ein Serienmörder aus, denn sie antwortete: »Okay. Warum nicht?«

Gemeinsam stiegen wir in den Aufzug und unterhielten uns noch ein wenig. Sie hieß Heather und war Leiterin der Marketingabteilung einer Werbeagentur. Als ich sagte, ich [7] sei Journalist bei der Manhattan Business, wirkte sie überraschend interessiert und stellte eine Menge Fragen über meinen Job. Wir verließen das Gebäude und folgten der Seventh Avenue in Richtung Downtown. Es wurde langsam dunkel.

»Wo wollen wir hin?« fragte Heather.

»Es gibt da diese schottische Bar in der Forty-forth«, sagte ich.

»Okay«, erwiderte sie.

Wir redeten weiter, meist über unsere Jobs. Manchmal streiften sich unsere Arme, aber es schien ihr nichts auszumachen. Als wir darauf warteten, daß eine Ampel umsprang, standen wir uns einige Sekunden direkt gegenüber. Sie hatte hellblaue Augen, die gut zu ihrem Haar paßten. Ich hielt sie für eine Irin, zumindest für eine Halbirin. Und mir wurde klar, daß sie überhaupt nicht wie meine Schwester aussah, die dunkle Locken und so dunkle Augen wie ich gehabt hatte.

Der vordere Raum im St. Andrews war laut und verraucht. Offenbar wurde gerade eine Büroparty gefeiert, da Anzug oder Kostüm vorherrschten und man sich zu kennen schien. Also schlängelten wir uns zum Hinterzimmer durch und setzten uns auf zwei Barhocker. Ein Barkeeper im dunkelgrünen und marineblauen Schottenrock nahm die Bestellung auf – ein großes Guinness für mich, eine Flasche Corona für sie.

»Woher kommen Sie eigentlich?« fragte Heather.

»Ursprünglich von Long Island«, sagte ich. »Und Sie?«

»Westchester«, antwortete sie.

»Ehrlich? Welche Gegend?«

»Schon mal von Hartsdale gehört?«

[8] »Klar«, sagte ich. »Ich bin mit ein paar Jungs von da zur Schule gegangen. Kennen Sie Mike Goldberg?«

»Nein.«

»Stu Fox?«

»Nein.«

»Nein? Na ja.«

Der Barkeeper brachte unsere Drinks. Ich gab ihm fünfzehn Dollar und sagte, er könne den Rest behalten.

Ich nahm einen Schluck von meinem Bier und sagte dann: »Wissen Sie, was komisch ist? Als ich Sie zuerst sah, haben Sie mich an meine Schwester erinnert.«

»Ehrlich?«

»Ja«, sagte ich, »dabei sehen Sie ihr überhaupt nicht ähnlich.«

»Ich schätze, so was kommt vor«, sagte sie lächelnd. Sie nippte an ihrem Bier, schlug die Beine übereinander und fragte dann: »Wohnt Ihre Schwester hier in der Stadt?«

»Klar«, sagte ich. »Nein, wollte ich sagen. Ich meine, sie hat hier in der Stadt gewohnt. Sie ist vor vierzehn Monaten gestorben.«

»Tut mir leid.«

»Ist schon okay.«

Ich trank von meinem Bier und merkte, daß meine Hände schweißnaß waren.

»Wissen Sie, was ich glaube?« fragte sie. »Ich glaube, wenn Menschen sterben, dann bleiben sie bis in alle Ewigkeit bei den Menschen, die sie geliebt haben.«

»So wie ein Gespenst meinen Sie?«

»Eher wie ein Geist. Oder wie eine geistige Kraft. Ich glaub nicht, daß es so etwas wie den Tod wirklich gibt.«

[9] »Der Gedanke gefällt mir«, sagte ich.

Wir blickten uns einige Sekunden in die Augen und mußten beide gleichzeitig nervös lachen. Heather gefiel mir, und ich sah ihr an, daß ich ihr auch gefiel.

Wir tranken unser Bier aus und bestellten noch einmal dasselbe. Auch nach über einer halben Stunde unterhielten wir uns noch angeregt. Ich mochte nicht allzu forsch vorgehen, wollte aber auch nicht so wirken, als wäre ich nicht an ihr interessiert. Also legte ich nach angemessener Zeit – sie hatte gerade etwas Lustiges gesagt, worüber ich lachen mußte – die rechte Hand wie beiläufig auf ihr linkes Bein. Sofort war mir klar, daß ich es vermasselt hatte. Sie schlug die Beine übereinander, drehte sich auf dem Barhocker von mir fort und sah auf die Uhr. Ich versuchte, mich weiter mit ihr zu unterhalten, tat, als wäre nichts gewesen, aber sie gab keine Antwort mehr. Kurze Zeit später sagte sie, sie hätte ganz vergessen, daß heute abend eine Kusine zu ihr in die Wohnung käme, und deshalb müsse sie jetzt los. Ich wollte sie zum Bleiben überreden, aber sie bedankte sich für die Drinks und verließ eilig die Bar.

Während ich mein zweites Glas allein austrank, kam ich mir wie ein Trottel vor. Eine attraktive Frau wie Heather traf sich bestimmt zehnmal mit einem Typen, bevor sie mit ihm ins Bett ging, und ich mußte sie gleich beim ersten Mal wie ein lüsterner Teenager begrabschen. Wenn ich cool geblieben wäre, sie vielleicht nur nach ihrer Nummer gefragt oder eine Verabredung zum Mittagessen vorgeschlagen hätte, wäre vielleicht was draus geworden.

Ich bestellte mir noch ein Glas und kam mir immer mehr wie ein Blödmann vor.

[10] Mein Artikel mußte bis zum nächsten Tag um zwei Uhr mittags fertig sein, aber ich hatte noch keine Lust, die Kneipe zu verlassen. Und während ich mein drittes Guinness hätschelte, hielt mir der betrunken aussehende Typ mit langem, strähnigem Haar, der sich auf Heathers Hocker gesetzt hatte, seine große, verschwitzte Hand hin und sagte: »Eddie. Eddie Lomack.«

Normalerweise hasse ich es, wenn mich Besoffene in einer Bar anquatschen, und ich hätte Eddie bestimmt nicht weiter beachtet, hätte sich in mir nicht ein trunkenes Wohlbehagen bemerkbar gemacht, das mich geduldiger als gewöhnlich stimmte.

»David«, sagte ich, ohne seine Hand zu ergreifen.

»David«, sagte er. »Ein guter Name. Zumindest einfach. Muß man den Leuten sicher nicht oft vorbuchstabieren.«

»Stimmt«, sagte ich und wünschte mir, ich hätte den Mund gehalten.

»Von mir will auch keiner, daß ich meinen Namen buchstabiere«, nuschelte Eddie. »Ich sag bloß, ich heiße Eddie, und das langt denen.« Er lachte. »Was war denn mit der Kleinen, mit der Sie geredet haben?«

»Welcher Kleinen?«

»Na, die scharfe Rothaarige, die gerade noch hier war.«

»Hier war eine scharfe Rothaarige?«

»Kommen Sie schon, ich hab Sie doch zusammen reinkommen sehen. Und dann ist sie aufgestanden und verschwunden. Was zum Teufel ist passiert?«

»Ach, die meinen Sie«, sagte ich. »Sie hatte eine Verabredung und war spät dran.« Eddie warf mir einen langen, betrunkenen Blick aus Augen zu, die aussahen, als lägen [11] sie nicht mehr fest in ihren Höhlen, und sagte dann: »Eine Verabredung? Daß ich nicht lache. Sie hat Sie sitzenlassen, stimmt's?«

»Sagen wir einfach, daß es zwischen uns nicht so richtig gefunkt hat.«

Eddie lachte, lauter, als nötig gewesen wäre. Ich rückte mit meinem Hocker von ihm ab, um nicht von umhersprühenden Speicheltropfen getroffen zu werden, sah auf mein halbvolles Glas und beschloß, mich auf den Weg zu machen, sobald ich ausgetrunken hatte.

»Wer will auch schon so eine?« fragte Eddie, als er aufhörte zu lachen. »Mann, Sie können jederzeit eine bessere finden. He, wollen Sie mal meine Freundin sehen?«

Eddie lehnte sich zurück und geriet dabei so stark ins Schwanken, daß er fast vom Hocker gefallen wäre. Sobald er sich wieder gefangen hatte, langte er in seine Gesäßtasche und zog die Brieftasche heraus. Er öffnete sie und hielt mir ein Zeitungsblatt mit einer nackten Blondine hin.

»Sieht verdammt gut aus, wie?« sagte er und meinte dann: »Ach, und das hier ist meine andere Freundin.«

Er zeigte mir das Bild einer weiteren Blondine.

Ich lächelte und nahm noch einen Schluck Bier, dann stellte ich das Glas auf dem Tresen ab und sagte mir, daß ich genug gehabt hatte. Erst als ich in die rechte Hosentasche faßte, weil ich dem Barkeeper ein Trinkgeld geben wollte, merkte ich, daß meine Brieftasche verschwunden war. Ich tastete die übrigen Taschen ab, aber da war sie auch nicht. Dann sah ich noch einmal in sämtlichen Taschen nach und suchte den Boden rund um meinen Barhocker ab.

»Was ist?« fragte Eddie.

[12] »Ich kann meine Brieftasche nicht finden«, sagte ich.

Eddie blickte sich jetzt ebenfalls suchend um, während ich aufstand und noch einmal alle Taschen abklopfte. Und dann wurde mir klar, daß man mich beklaut hatte. Plötzlich überlief es mich siedend heiß, und ich wurde immer wütender.

Einer der schottischen Barkeeper kam und fragte, was los sei.

»Jemand hat meine Brieftasche gestohlen.«

»Sind Sie sicher?« fragte er.

»Natürlich bin ich mir sicher!« schrie ich zurück.

Mittlerweile sahen die anderen Leute zu uns herüber, und einige Typen im Studentenalter halfen, den Boden abzusuchen. Auch Eddie sah sich um, als mir plötzlich aufging, was passiert war.

»Geben Sie mir die Brieftasche zurück«, herrschte ich Eddie an.

Er stierte mir betrunken ins Gesicht und sagte dann: »Was reden Sie 'n da für 'n Scheiß?«

»Kommen Sie schon, ich weiß genau, daß Sie sie genommen haben«, sagte ich, »oder Sie arbeiten mit jemandem zusammen, der sie mir abgenommen hat.« Ich sah mich um, konnte aber in der Nähe keinen Verdächtigen entdecken. Also wandte ich mich wieder an Eddie und sagte: »Jetzt geben Sie die verdammte Brieftasche wieder her.«

Ein großer, mürrisch dreinblickender Kerl mit blondem Bürstenschnitt und muskulösem, in ein enges, schwarzes T-Shirt gepreßtem Oberkörper kam auf uns zu. Ich hielt ihn für den Türsteher. »Irgendwelche Probleme?« fragte er.

»Klar, Mann, sicher haben wir hier ein verdammtes [13] Problem«, sagte ich. »Dieser Typ hat mir meine Brieftasche geklaut.«

»Ich hab keinem die Brieftasche geklaut«, sagte Eddie.

»Er lügt«, sagte ich.

Eddie fing an, den Inhalt seiner Taschen auszuleeren – Schlüssel, Kleingeld, zerknitterte Rechnungen, seine eigene Brieftasche.

»Und?« sagte Eddie. »Wo soll 'n die Brieftasche sein? In meinem Arsch vielleicht?«

»Und wieso glauben Sie, daß er Ihre Brieftasche genommen hat?« fragte mich der Türsteher.

»Mag sein, daß er es nicht selbst gewesen ist, aber irgendwer hat sie mir schließlich geklaut«, sagte ich, »bestimmt jemand, mit dem er zusammengearbeitet hat. Er hat mich abgelenkt, und sein Kumpel hat die Brieftasche genommen.«

»Ich hab keinen von was abgelenkt«, sagte Eddie. »Ich hab bloß friedlich dagesessen, und plötzlich hat er gebrüllt, ich hätte ihm die Brieftasche geklaut.«

»Haben Sie ihn mit einem Freund in der Bar gesehen?« fragte der Türsteher.

»Nein, habe ich nicht«, sagte ich, »aber so ist es passiert. Können Sie nicht die Polizei oder irgendwen rufen?«

Eddie erhob sich von seinem Barhocker.

»Jetzt ist aber Schluß mit dem Scheiß«, sagte er. »Ich hab die gottverdammte Brieftasche nicht.«

»Doch, haben Sie wohl«, sagte ich.

»Nennen Sie mich vielleicht einen verdammten Lügner?«

»Ja.«

[14] »Blöder Arsch.«

Ich versetzte Eddie einen Stoß, nicht allzu heftig, aber doch heftig genug, um ihn ein paar Schritte zurücktaumeln zu lassen. Er war so betrunken – oder tat doch zumindest so –, daß er hintenüberfiel, einen Barhocker umriß und sein Bier auf die Frau rechts von ihm kippte. Als deren Freund Eddie anschrie, packte der Türsteher meinen Arm und zog mich durch die Menge vor die Bar.

»Was zum Teufel soll das?« fragte ich. »Lassen Sie mich los.«

Das tat er erst, als wir draußen waren.

»Ich sag Ihnen«, rief ich, »der Typ hat meine Brieftasche.«

»Ihre Brieftasche ist mir scheißegal«, sagte der Türsteher. »In dieser Bar wird sich nicht geprügelt. Und jetzt hauen Sie ab, sonst ruf ich die Bullen!«

Der Türsteher ging wieder hinein. Einige Sekunden später kam Eddie nach draußen. Er warf mir einen Blick zu und ging dann in Richtung Sixth Avenue.

Ich lief neben ihm her. »Bitte«, sagte ich, »ich will mich nicht mit Ihnen streiten, okay? Und ich will auch keine Polizei rufen – ich will bloß meine Brieftasche wieder. Das Geld können Sie behalten, in Ordnung? Ich will nur meine Kreditkarten, den Ausweis und die anderen Sachen.« Eddie blieb stehen und drehte sich zu mir um.

»Zum letzten scheißverdammten Mal: Ich hab die beschissene Brieftasche nicht«, sagte er und sprühte bei jedem »sch« seinen Speichel über mich, »also hören Sie auf mit dem Scheiß, und lassen Sie mich in Ruhe.«

Während ich Eddie nachsah, überlegte ich, was zu tun [15] war. Ich könnte über Handy die Polizei anrufen, aber bis die kam, würde Eddie verschwunden sein. Außerdem hätte Eddie, so, wie er gesessen hatte, die Brieftasche gar nicht nehmen können – sein Partner mußte sie haben, und der war sicher längst über alle Berge.

Dann war da noch die Möglichkeit, daß ich mich in Eddie täuschte, daß er tatsächlich nichts damit zu tun hatte.

Ich sagte mir, daß es Zeitverschwendung sein würde, die Polizei anzurufen. Ich würde nur den ganzen Abend völlig vergebens irgendwelche Formulare ausfüllen, weil man in dieser Stadt sowieso keinen Finger rührte, um einen Taschendieb zu fangen. Ich ging bis zur Ecke und sah im Mülleimer nach, da ich annahm, daß der Dieb das Bargeld an sich genommen und den Rest einfach fortgeworfen hatte. Doch in keinem Mülleimer rund um die Kreuzung Forty-forth und Sixth Avenue lag meine Brieftasche in der obersten Müllschicht. Ich ging um den Block, durchsuchte weitere Mülltonnen und fand wieder nichts. Schließlich sagte ich mir, daß es keinen Zweck hatte. Der Dieb hätte meine Brieftasche auch in einen Gully werfen oder sonstwie loswerden können.

Ich besaß nur noch fünfundvierzig Cents, konnte also weder mit dem Bus noch mit der Subway fahren. Während ich entlang der Seventh Avenue nach Hause ging, holte ich mein Handy heraus, ließ mir die Nummern für meine Bank und die Kreditkartengesellschaften geben und begann, meine Konten zu sperren.

[16] 2

In der knappen halben Stunde, die ich bis zu meiner Wohnung in der West Eighty-first Street brauchte, sperrte ich Bankkonto und Kreditkarten und stellte mit Erleichterung fest, daß noch nichts abgebucht worden war. Ich hatte Horrorgeschichten über Identitätsklau gehört, weshalb ich später die Kreditgesellschaften anrufen und ihnen melden würde, daß meine Brieftasche gestohlen worden war. Morgen wollte ich dann darangehen, die unwichtigeren Karten zu ersetzen – Blockbuster-Video, United Health Club, die New Yorker Stadtbücherei, die Duane Reade Paybackkarte –, und mich um Ersatz für Sozialversicherungskarte und Führerschein kümmern, was mich einige Kopfschmerzen kosten dürfte.

Als ich in mein Apartment kam, dröhnte mir wie gewöhnlich Hip-Hop entgegen, und im Wohnzimmer roch es nach Haschisch. Ich war ein wenig überrascht, da Rebecca gesagt hatte, daß sie am Abend ausgehen wollte.

»Ich bin wieder da!« rief ich über den Flur zum Schlafzimmer, bezweifelte aber, daß sie mich bei dieser wummernden Musik hören konnte.

Ich ging in die kleine Küche. Heute morgen war noch ein Sechserpack Amstel im Kühlschrank gewesen, aber jetzt lag da nur noch ein leerer Karton.

[17] »Sorry, Mann, wir hatten Durst.«

Ich blickte über die Schulter und sah Ray, einen von Rebeccas Discotänzern, grinsend in der Küchentür stehen. Ray war ein smarter Latino in engen Hosen und einem ebenso engen, gerippten T-Shirt Marke Ricky-Martin-Verschnitt, unter dem sich seine knochige Brust deutlich abzeichnete. Rebecca behauptete, Ray sei schwul, aber ich hoffte, daß sie log. Wenn sie mich wegen Ray oder sonstwem verlassen würde, wären eine Menge Probleme gelöst.

»Schon okay«, sagte ich. »Ist wahrscheinlich sowieso besser, wenn ich heute nichts mehr trinke.«

»Sie waren auf einer Fete?« fragte Ray, die Augen glasig vom Pot. »Kann ja wohl nicht wahr sein.«

»Hab nur ein paar Bier gehabt«, sagte ich.

»Trotzdem«, sagte Ray. »Wir sollten gleich Eyewitness News anrufen, damit sie die Story bringen. David Miller knallt sich zu – weitere Einzelheiten um elf.«

Ich war es gewohnt, daß sich Ray und Rebeccas sonstige Freunde über mich lustig machten; weil ich einen sicheren Job hatte, nicht allzuviel trank und keine Drogen nahm, behandelten sie mich, als wäre ich Mr. Clean.

Ray lachte, und ich nahm den Orangensaft aus dem Kühlschrank und trank direkt aus dem Karton.

»Ernsthaft«, sagte Ray, »das mit dem Bier tut mir leid, Mann, aber wir mußten uns 'ne Runde antörnen für heute abend. Keine Sorge, dafür bringe ich nächstes Mal einen Sechser mit.«

Jedesmal, wenn Ray kam, trank er mein Bier und vertilgte Lebensmittel aus dem Kühlschrank, und jedesmal versprach er, beim nächsten Mal was mitzubringen, tat es [18] aber nie. Mittlerweile war sein Spruch längst ein Running Gag.

Ich schüttete immer noch Orangensaft in mich hinein, als Rebecca in die Küche geschneit kam. Sie war vierundzwanzig, und niemand konnte dran zweifeln, daß sie phantastisch aussah. Ihr welliges, dunkelblondes Haar hing ihr bis halb auf den Rücken, der Körper war durchtrainiert und schlank, das Gesicht zierlich und püppchenhaft. Wenn man sie fragte, womit sie ihr Geld verdiente, antwortete sie: »Ich mache Modern Dance«, was mich schwer beeindruckt hat, bis ich sie dann tanzen sah. Ein paar Wochen nach unserer ersten Begegnung bin ich zu einer Show gegangen, die sie mit Freunden in einem in Downtown gemieteten Saal aufgeführt hat, und ich war völlig überrascht, als ich sah, wie linkisch und ungelenk sie war. Nach diesem Abend litt ich nur noch, wenn sie von ihrer Tanzerei erzählte und es so ungeheuer ernst nahm, obwohl ich doch wußte, daß sie sich was vormachte. Dabei ließ sie den Tanzunterricht meist sausen, hörte keinen Wecker klingeln und gab sich nicht die geringste Mühe, zu ihren Stunden zu gehen. Den einzigen Tanz, mit dem es regelmäßig klappte, absolvierte sie in irgendwelchen Klubs, in denen sie vier, fünf Nächte die Woche mit ihren Freunden durchfeierte.

»Dachte ich mir doch, daß ich deine Stimme gehört habe«, sagte sie. »Wie geht's, Mann?«

Rebecca stammt aus Duncanville in Texas und hat mehrere Jahre in L.A. gelebt, bevor sie nach New York zog. Man konnte bei ihr noch einen leicht texanischen Akzent heraushören, und sie redete diesen typischen Upspeak der Zwanzigjährigen, eine Mischung aus Südkalifornien und [19] Manhattan, weshalb sie die Enden ihrer Sätze oft hochzog und wie Fragen enden ließ. Außerdem redete sie ständig eine Art Pseudo-Hip-Hop-Slang, was meist ziemlich gewollt und dämlich klang – eine Weiße aus dem tiefen Süden, die sich allzu angestrengt darum bemühte, zur großen Stadt zu gehören. Früher fand ich ihre Art zu sprechen süß, aber wie mit so vielen Dingen ging sie mir damit heute nur noch tierisch auf die Nerven.

Allerdings mußte ich zugeben, daß sie in hautengen Jeans, pinkfarbenem Top und dazu passenden Sandalen heute ganz besonders verführerisch aussah. Ich hatte die Sandalen noch nie zuvor gesehen und begriff jetzt, warum mein Visa-Konto mit 124 Dollar belastet worden war, ein Einkauf, der an diesem Nachmittag bei Wheels of London, einem Schuhgeschäft in der Eighth Street, stattgefunden hatte.

Sie kam und küßte mich auf die Lippen, wobei ihre gepiercte Zunge ein, zwei Sekunden in meinen Mund glitt. Sie schmeckte wie eine Shitpfeife.

Dann wich sie zurück und fragte: »Wie war dein Tag, Sweetie?«

»Geht so«, sagte ich.

»Unser Business-Schreiber hat heute ein Faß aufgemacht«, sagte Ray.

Rebecca musterte mich mit interessiertem Lächeln. »Bist du etwa betrunken

»Nein, ich hatte nur ein paar Bier mit dem Geschäftsführer, den ich heute interviewt habe.«

»Ach, und wie ist das gelaufen?«

»Ganz okay«, sagte ich. »Ich meine, ich glaub, ich hab alle Informationen, die ich für meinen Artikel brauche.«

[20] »Gut, ich freue mich ja so für dich«, sagte sie.

»Also, was hat es nun mit dieser Party heute abend auf sich?« fragte ich.

»Ach, hat sich gerade erst ergeben. Rachel hat mir heute nachmittag davon erzählt. Der Freund von ihrem Manager, weißt du, irgend so ein berühmter Modedesigner, ja? Egal, jedenfalls gibt der heute abend diese große Party in dem neuen Klub in Soho – wird bestimmt super. Willst du mit?«

Ich wußte, daß sie mich eigentlich nicht dabeihaben wollte – falls doch, hätte ich mich nicht praktisch selbst einladen müssen –, aber ich wäre auch dann nicht gegangen, wenn sie drum gebettelt hätte. Als Rebecca und ich uns gerade kennengelernt hatten und ich vom gemeinsamen Wohnen noch begeistert war, bin ich ständig mit ihr und ihren Freunden von Klub zu Klub und von Bar zu Bar gezogen. Die ersten Male hat es richtig Spaß gemacht – angezogen wie ein MTV-Groupie in FUBU-Trikots, Snoop-Dogg-Jeans und all den anderen Klamotten, die Rebecca für mich gekauft hat. Aber nach einer Weile kam ich mir bloß noch lächerlich vor – der alte Knacker, Mitte Dreißig, mit einem Haufen Kids Anfang Zwanzig – und so fing Rebecca an, ohne mich auszugehen.

»Würde ich gern«, sagte ich, »aber ich muß den Artikel morgen nachmittag fertig haben.«

»Sag ab.« Rebecca spielte die Enttäuschte.

»Tut mir leid, geht nicht.«

»Tja, ich werd dich vermissen.« Sie küßte mich wieder, hielt es noch ein paar Sekunden mit mir aus. Dann befreite sie sich von mir und sagte zu Ray: »Wollen wir, Honey?«

[21] »Nach dir, Baby«, sagte Ray, grinste breit und legte seinen Arm um ihre Hüfte.

Als Rebecca mit Ray die Küche verließ, rief ich ihr nach: »Übrigens kannst du heute abend deine Kreditkarten nicht benutzen!«

Rebecca blieb stehen und drehte sich um, Entsetzen im Gesicht: »Warum nicht?«

»Mir wurde die Brieftasche geklaut.«

»Ehrlich?« sagte sie und klang, als machten ihr die Kreditkarten mehr Sorgen als die Tatsache, daß ich bestohlen worden war.

»Ehrlich. Muß wohl im Fahrstuhl passiert sein«, sagte ich. »Ich hab noch gemeint, eine Bewegung zu spüren, aber bevor ich kapiert habe, was los ist, war es schon zu spät – meine Brieftasche war weg.«

»So ein Mist«, sagte Rebecca, die offenbar immer noch an ihre Kreditkarten dachte. »Hast du die Polizei angerufen?«

»Wozu?«

»Ich weiß nicht. Um Anzeige zu erstatten?«

»Die tun sowieso nichts.«

»Bist du sicher?«

»Er hat recht«, sagte Ray. »Die Polizei kümmert sich einen Scheißdreck um Brieftaschen.«

»Und warum funktionieren dann meine Kreditkarten nicht?« fragte sie.

»Na ja, ich mußte doch die Konten sperren lassen, nicht?« erwiderte ich.

»Ich glaub, das war gar nicht so dumm von dir«, sagte sie. »Wie sieht's aus, kannst du mir für heute abend ein bißchen Geld leihen?«

[22] Leihen, dachte ich, der Witz war nicht schlecht.

»Das einzige Geld, das ich noch habe, liegt im Schlafzimmer in der Kommode«, sagte ich. »Ich kann erst wieder was besorgen, wenn morgen die Banken aufmachen.«

Rebecca schmollte. »Pech« wollte ich sagen, aber ich schätze, wenn ich in der Lage gewesen wäre, ihr etwas abzuschlagen, hätte ich ihr von vornherein keine Kreditkarten gegeben und keinen Zugang zu meinem Geld gewährt.

»Wieviel brauchst du?« fragte ich matt.

»Wieviel hast du noch?«

»Ich weiß nicht. Einen Zwanziger?«

»Mehr nicht?«

»Tut mir leid.«

Es tat gut, bei Rebecca einmal die Bremse anzuziehen, wobei in diesem Fall natürlich half, daß mir keine andere Wahl blieb.

»He, mir fällt was ein«, sagte Rebecca, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Bewahrst du in der obersten Schublade der Kommode nicht deine Discover-Karte auf? Dann funktioniert die doch noch, oder nicht?«

Die Discover-Karte hatte ich völlig vergessen. Ich benutzte sie kaum, hatte Rebecca aber eine auf ihren Namen ausstellen lassen.

»Sicher, die funktioniert noch«, sagte ich.

»Super!« rief Rebecca. Sie eilte mit Ray aus der Küche, drehte sich noch einmal kurz um und fragte: »Bist du dir wirklich sicher, daß du nicht doch mitkommen willst?«

»Nächstes Mal.«

»Ich sollte nicht allzu spät nach Hause kommen«, sagte [23] Rebecca. »Gegen zwei oder drei. Ich hab mein Handy dabei, falls irgendwas ist.«

»Mein Handy, meinst du wohl.«

»Was?« fragte sie verwirrt.

»Viel Spaß!« rief ich und lächelte.

Als Rebecca und Ray fort waren, stöberte ich im Kühlschrank herum, aß den Rest burrito vom Vorabend und einen Joghurt, ging zur Arbeitsecke im Wohnzimmer und stellte den Computer an. Der Windows-Hintergrund erschien – ein Bild von mir und meiner Schwester Barbara, aufgenommen in der Universität Syracuse. Sie war im letzten, ich im zweiten Studienjahr, und wir standen vor meinem Wohnheim – ich in Jeans und einem Basketballtrikot der Orangemen, sie in einem Land's-End-Pullover, einen Rucksack über der Schulter. Sie sah auf dem Bild gut aus, obwohl es ihr eigentlich nicht gerecht wurde. Sie hatte eine blasse Haut, aber das Bild ließ sie rosiger aussehen, besonders um die Wangen, und was ihre Frisur anging, hatte sie offenbar einen schlechten Tag erwischt, denn in Wirklichkeit hatte ihr Haar nie so wirr ausgesehen. Ich überlegte, wer das Foto gemacht hatte – womöglich Tante Helen oder eine Freundin von Barbara –, aber dann lenkte mich ein Hauch Glow von J. Lo ab, eine Erinnerung an Rebecca.

Ich öffnete unter Word eine neue Datei und arbeitete eine Weile an meinem Artikel, konnte mich aber nicht konzentrieren, weil ich daran denken mußte, wie ich Barbara zum letzten Mal gesehen hatte, damals im Sloan-Kettering.

[24] »Du kannst mich nicht mal mehr ansehen«, sagte sie. »Du ekelst dich vor mir.«

Sie sah gräßlich aus – eine Halbglatze von der Chemo, die Haut gespenstisch grau. Kaum zu glauben, daß der Tumor in ihrem Gehirn erst vor drei Wochen entdeckt worden war.

»Was redest du denn da?« sagte ich. »Das ist doch absurd.«

»Siehst du? Selbst jetzt kannst du mich nicht ansehen.«

Ich drehte mich zu ihr um und merkte, daß sie weinte.

»Komm jetzt, Schluß damit«, sagte ich und stand auf, um ihr ein Taschentuch zu holen.

»Verdammt, verschwinde!« schrie sie. »Geh schon!«

»Beruhige dich doch«, sagte ich. »Ich wollte nicht…«

»Ich hasse dich, du Arsch! Hau endlich ab!«

Ich fing wieder an zu arbeiten, schrieb eine Zeile, die ich irgendwo in den Artikel über Byron Technologies einfügen wollte, die ihr Eigenkapitel vermutlich noch in diesem Jahr durch Aktienemission aufstocken mußten, konnte mich aber nicht konzentrieren, da ich mich an den gräßlichen, hohlen Klang erinnerte, mit dem die Schaufeln Erde auf Barbaras Sarg gefallen waren. Während der ganzen Beerdigung hatte ich unter Schock gestanden, konnte nicht weinen oder irgendwelche Gefühle zeigen und blieb noch wochenlang in diesem zombiehaften Zustand, weil ich mich einfach nicht damit abfinden wollte, daß sie tot war. Ich war Journalist, Ressort Technologie, beim Wall Street Journal, ließ mich dort aber ohne jede Erklärung nicht mehr blicken. Irgendwann informierte mich die Personalabteilung, [25] daß man mir gekündigt hätte, aber das kümmerte mich nicht. Ich lag die meiste Zeit im Bett, auf dem Sofa oder wanderte durch die Straßen, und wo ich auch hinging, wurden Erinnerungen an Barbara wach. Einfach nur an einer Straßenecke zu stehen ließ mich daran denken, wie wir einmal an dieser Ecke gestanden hatten, und mir fielen Gesprächsfetzen wieder ein, etwas, worüber wir gelacht hatten, und die Erinnerungen waren so lebendig, daß die Vorstellung, sie sei tot und daß ich sie nicht mehr auf dem Handy anrufen oder kurz bei ihr vorbeikommen konnte, um ein bißchen abzuschalten, einfach unbegreiflich schien.

Ich dachte an jenen Samstagnachmittag, an dem ich einen meiner langen, ziellosen Spaziergänge durch den Central Park unternommen hatte. Der Park barg ebenso viele Erinnerungen wie die Straßen, aber es war ein schöner Tag im ersten Frühling, und mit meinem Leben mußte es irgendwie weitergehen. Ich schlenderte zur East Side, dann über die gewundenen Wege im Ramble zurück, bis ich zu einer Brücke kam. Auf dieser Fußgängerbrücke hatte ich einmal ein Foto von Barbara gemacht, mich hingekniet, den Apparat gedreht und von unten fotografiert. Wie ein Model hatte Barbara sich in Pose geworfen, eine Hand auf der Hüfte, das Haar vom Wind seitwärts geweht, das Bild perfekt von Midtowns Wolkenkratzer im Hintergrund umrahmt. Ich folgte dem Weg gleich neben dem West Drive und hielt einen Augenblick hinter der Bootsanlegestelle, wo Leute auf dem Rasen lagen und einem gammlig aussehenden Typen zuhörten, der auf einer akustischen Gitarre alte Folksongs spielte. Bei Moon Shadow fiel mir ein, daß Barbara auch ein paar zerkratzte Cat-Stevens-Platten [26] gehört hatten, die mit fast all ihren übrigen Sachen einem Trödelladen geschenkt worden waren. Die Erinnerungen taten einfach zu weh, und ich wollte schon gehen, als ich auf einer Decke auf dem Rasen eine Frau sitzen sah.

Sie trug abgeschnittene Jeans, ein rotes Bikini-Oberteil und hielt den Kopf leicht nach links geneigt, der Sonne zugewandt. Sie sah jung aus, vielleicht Anfang Zwanzig, und wie sie sich da räkelte, so zufrieden und entspannt, erinnerte ich mich an all die Nachmittage, die Barbara und ich im Park verbracht hatten.

Ich wollte gerade weitergehen, als mich die Frau anschaute, lächelte und mir zuwinkte. Wie süß, dachte ich, so spontan und selbstbewußt, fast wie ein Kind. Ich lächelte zurück, und mir ging auf, daß ich seit Tagen, wenn nicht gar seit Wochen, zum ersten Mal wieder lächelte. Außerdem wurde mir klar, daß ich jemanden in meinem Leben brauchte, daß ich es nicht länger ertrug, allein zu sein.

Ohne nachzudenken, ging ich auf sie zu und wollte sagen: ›He, kennen wir uns nicht irgendwoher?‹ Ich weiß, eine lahme Anmache, aber sie hatte ein paarmal funktioniert, und außerdem war ich nicht der Typ, der sich großartige, spontane Aufreißer ausdenken konnte.

Doch wie sich zeigte, brauchte ich meinen Spruch gar nicht aufzusagen, da die Frau zuerst redete:

»Hi, ich bin Rebecca.«

Sie lächelte wieder; auf ihrer Zunge glänzte ein silberner Stecker. Ich habe noch nie kapiert, warum man sich die Zunge oder sonst einen Körperteil durchbohren läßt, die Ohrläppchen mal ausgenommen, mußte aber zugeben, daß es irgendwie sexy aussah. Außerdem hatte sie große, wache [27] Augen und ein freundliches Lächeln. Ich starrte sie einige Sekunden an, ehe ich erwidern konnte: »Ja, ach so, ich heiße David.« Dann unterhielten wir uns. Das Gespräch war nicht gerade berauschend – wir redeten darüber, wie großartig das Wetter in diesem Frühling und wie hübsch doch der Teich war –, aber ich merkte, daß ich ihr gefiel. Dann spielte der Gammeltyp den Schluß von Moon Shadow und fing mit Stairway to Heaven an.

»Das kann keiner so gut wie Jimmy Page«, sagte ich.

»Wer?« fragte sie.

Okay, es gab also eine Kluft zwischen den Generationen, doch faszinierte mich irgendwas an ihr, und außerdem dachte ich nicht länger an Barbara.

Nach wenigen Minuten fragte sie mich, warum ich mich nicht zu ihr auf die Decke setzte. Erfreut folgte ich der Einladung und gab mir redliche Mühe, das Gespräch in Gang zu halten. Jeder Typ hat in seinem Repertoire ein paar Geschichten, die er vorkramt, wenn er eine Frau umwirbt, und ich war keine Ausnahme. Ich erzählte ihr von der Sommerreise nach Europa, die Barbara und ich während des Studiums unternommen hatten, davon, wie in meiner Küche das Bratfett in der Pfanne Feuer gefangen hatte und ich mit letzter Not lebend aus dem Apartment entkommen war, von dem Bootsunglück, bei dem meine Eltern gestorben waren, ich war gerade fünf Jahre alt, und dann ließ ich meine übliche Tirade vom Stapel, wie voll es mittlerweile im Central Park und wie hip doch eigentlich der Riverside Park sei. Als ich mit meinem Monolog fertig war, der Mund trocken vom vielen Reden, erzählte sie mir lang und breit, was für ein Alptraum die Scheidung ihrer Eltern gewesen [28] und daß sie im Sommer nach der High-School nach Kalifornien gezogen sei. Sie hätte einige Jahre in L.A. gelebt und versucht, mit Modern Dance über die Runden zu kommen, sei dann aber nach New York gezogen und schlafe zur Zeit bei einer Freundin in Brooklyn auf der Couch. Obwohl ich, während sie erzählte, in angemessenen Abständen »Wahnsinn« und »ehrlich?« einstreute, wußte ich, daß sie kaum bei der Sache war. Was mich allerdings nicht weiter störte, da ich ihr auch nur mit halbem Ohr zuhörte. Ich schätze, wir befanden uns in jener schwierigen Anfangsphase einer Beziehung, in der man viel zu sehr damit beschäftigt ist, Eindruck beim anderen zu schinden, als sich um irgendwas anderes kümmern zu können.

Ich begleitete sie aus dem Park, ging mit ihr zur Subway und bat um ihre Telefonnummer. Sie schrieb sie mir mit ihrem Eyeliner auf den Unterarm, was ich süß und irgendwie sexy fand. Am nächsten Abend gingen wir zusammen ins Cajun in Chelsea essen und anschließend in einen Klub namens Aria, in dem sie anscheinend häufiger war, da Türsteher und Barkeeper sie bloß »Becky« nannten. Wir tanzten ein paar Stunden, gingen dann zu mir und hatten Sex. Im Bett gab sie den Ton an, saß oben und nagelte mich fest; und mich machte die große Libelle gleich über ihrem Hintern an.

Während der nächsten Wochen war ich von Barbara nicht mehr wie besessen und konnte ein normales, sinnvolles Leben führen. Meine Stelle beim Journal war vergeben, also begann ich, mich um andere Jobs zu bewerben, und versuchte, nebenbei als freier Journalist zu arbeiten. Rebecca und ich gingen manchmal aus, aber meist kam sie [29] einfach zu mir, oft spätabends oder frühmorgens, um Sex zu haben. Bis dahin waren meine Freundinnen im Bett eher konservativ gewesen, weshalb Rebecca, die gern zubiß und schmutzige Reden führte, für mich eine erfrischende Abwechslung war. Hin und wieder band sie mich auch ans Bett und schlug mich.

Als wir uns knapp einen Monat kannten, wurde der Freundin, bei der Rebecca auf der Couch geschlafen hatte, die Wohnung gekündigt, und Rebecca wußte nicht, wo sie bleiben sollte. Da wir praktisch sowieso zusammenwohnten, schlug ich ihr vor, ihre Sachen zu mir zu bringen, bis sie eine neue Wohnung gefunden hatte. Ich gab ihr allerdings auch deutlich zu verstehen, daß ich nicht erwartete, zwischen uns wäre etwas Ernsthaftes, und sie gab zu, daß wir »bloß ein bißchen Spaß« zusammen hatten. Solange wir beide nur minimale Erwartungen hegten, dachte ich, brauchte ich mir eigentlich auch keine Sorgen zu machen.

Als wir uns kennenlernten, hatte Rebecca einen Halbtagsjob in einer Kaffeebar in Soho, doch wurde sie gefeuert, nachdem sie morgens dreimal hintereinander zu spät gekommen war – jedesmal war sie einfach völlig erledigt gewesen, hatte einen Kater gehabt oder den Wecker überhört. Also fing ich an, ihr Geld zu leihen, natürlich nur vorübergehend, bis sie eine neue Stelle hatte. Wir schrieben genau auf, wieviel sie mir schuldete, aber letztlich handelte es sich bloß um ein paar hundert Dollar, und mir war es eigentlich egal, ob sie mir das Geld zurückzahlte oder nicht.

Eines Abends, nachdem Rebecca und ich schon ein paar Wochen zusammengewohnt hatten, nahm ich sie mit auf [30] eine Party meines Freundes Keith, den ich noch von der Syracuse University kannte. Den ganzen Abend über benahmen sich Keith und meine Freunde irgendwie seltsam, aber ich nahm an, daß sie bloß eifersüchtig waren, weil Rebecca soviel besser als ihre Freundinnen aussah. Ungefähr eine Woche später, an einem Abend nach der Arbeit, ging ich zu Ruby Foo's am Broadway, um mich mit Keith und Mike zum Essen zu treffen. Als ich an den Tisch kam, stellte ich überrascht fest, daß Keith und Mike mit mehreren Freunden zusammensaßen, einige hatten sogar ihre Frauen oder Freundinnen mitgebracht. Es war Juni, Geburtstag hatte ich im Oktober, also war klar, daß dies keine Überraschungsparty sein konnte.

Ich setzte mich und fragte lächelnd: »He, was ist los?«

Alle taten freundlich, aber keiner wollte mir erklären, warum sie da waren.

»Kommt schon, worum geht's?« fragte ich.

Sie schauten sich an und wandten sich schließlich an Keith, damit der die Führung übernahm. Keith blickte mich einige Sekunden an und sagte dann: »Wir machen uns Sorgen um dich, Mann.«

»Sorgen? Wieso denn?« fragte ich und hatte keine Ahnung, wovon die Rede war.

»Wir glauben nicht, daß Rebecca gut für dich ist«, sagte er.

Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte, also lächelte ich bloß. Alle anderen blieben ernst.

»Soll das ein Witz sein?« fragte ich. »Warum ist sie nicht gut für mich?«

»Wir halten sie für gefährlich«, sagte Keith.

[31] Ich lachte. Rebecca war launenhaft, oberflächlich, ein bißchen wild, aber gefährlich?

»Gefährlich?« fragte ich.

Ich sah meinen Freund Joe an, der seine Frau Sharon mitgebracht hatte. Dann drehte ich mich zu Phil und dessen Freundin Jane um und blickte zu Tom, Stu, Mark und Rob hinüber, aber keiner ließ auch nur die Spur eines Lächelns erkennen.

»Was soll das«, fragte ich, »wollt ihr so was wie einen Einspruch vorbringen?«

»Wir machen das nur dir zuliebe, Bruder«, sagte Phil.

Seit er einen Job in der Vertriebsabteilung von Jive Records hatte, nannte Phil jeden ›Bruder‹.

»Hört mal, es tut mir schrecklich leid, wenn ihr Typen mit Rebecca nicht klarkommt«, sagte ich, »aber ich glaube nicht, daß euch das was angeht.«

»Die ist meschugge«, sagte Joe.

»Meschugge?« fragte ich. »Wieso ist sie meschugge?«

»Hast du nicht gehört, was sie an dem Abend zu mir gesagt hat?« fragte Sharon.

Mir fiel wieder ein, daß Rebecca auf der Party ein paar zuviel getrunken und sich mit Sharon gestritten hatte. Eine ›blöde, häßliche Kuh‹ hatte sie Sharon genannt.

»Manchmal trinkt sie eben einen über den Durst«, sagte ich.

»Sie hat gesagt, sie wolle mir die Kehle aufschlitzen«, sagte Sharon.

»Das hat sie nicht so gemeint«, sagte ich. »Jetzt kommt schon, seid ihr noch nie betrunken gewesen?«

Dabei schaute ich vor allem Tom an, der berüchtigt dafür [32] war, an einem Abend im ersten Semester sechzehn Flaschen Rolling Rock getrunken zu haben.

»Ich hab gesehen, wie sie auf der Toilette Koks geschnieft hat«, sagte Keith.

»Und was spricht gegen ein bißchen Koks?« fragte ich. »Komm schon, Keith. Ich weiß noch gut, daß du ständig vom College in die Stadt gerannt bist, um dir Koks und Pilze zu besorgen.«

»Das war in den Achtzigern«, sagte Keith, als ob das alles erklären würde.

»Wir tun das wirklich nur für dich«, sagte Mike. »Wir glauben, die Kleine hat ein paar ernsthafte Probleme, die dir noch richtig Ärger machen könnten.«

»Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest«, antwortete ich.

»Du versteckst dich emotional«, sagte Jane.

Phil und Jane waren seit sechs Monaten zusammen, und ich kannte sie kaum. Sie machte an der New School ihren Doktor in Psychologie und glaubte deshalb, auf alles die Antwort zu kennen.

»Ach ja, tu ich das?«

»Du hast die Trauerarbeit um den Tod deiner Schwester einfach noch nicht abgeschlossen«, fuhr sie fort, »und bist die Beziehung mit Rebecca nur eingegangen, weil du dich darin bequem vor dir selbst verbergen kannst. Im Augenblick bist zu ziemlich verletzbar und weißt wahrscheinlich auch nicht so genau, was du tust.«

»Du kennst mich doch überhaupt nicht«, sagte ich. »Was zum Teufel glaubst du eigentlich, wer du bist?«

»Reg dich ab, Bruder«, sagte Phil.

[33] »Ich weiß es zu schätzen, daß ihr euch Sorgen um mich macht«, sagte ich an alle gewandt, »aber ich finde, ihr seid ein Haufen Arschlöcher.«

Ich stürmte aus dem Lokal. Am nächsten Tag hinterließ Keith eine Nachricht für mich im Büro, entschuldigte sich dafür, das Treffen organisiert zu haben, und erinnerte mich daran, daß es doch nur zu meinem eigenen Besten gewesen sei. Ich dachte nicht mal daran, ihn zurückzurufen.

In den nächsten Monaten verlor ich den Kontakt zu fast allen Freunden, blieb aber mit Rebecca zusammen. Die Arbeit als freier Journalist zahlte sich nicht aus. Da der Unterhalt für Rebecca das Geld auf meinem Bankkonto rapide dahinschmelzen ließ, blieb mir eigentlich keine Wahl, als Manhattan Business mir eine Stelle anbot, bei der ich knapp die Hälfte dessen verdiente, was ich beim Journal bekommen hatte. Rebecca blieb ihren Gewohnheiten treu – tagsüber einkaufen, abends mit Freunden ausgehen, und ich blieb meinen treu – bis in den frühen Abend arbeiten, die übrige Zeit im Apartment rumhängen und manchmal allein ins Kino gehen. Hin und wieder lud ich Rebecca zum Abendessen ein, oder wir lümmelten im Wohnzimmer herum und sahen fern, doch meist sahen wir uns nur, wenn wir Sex miteinander hatten. Wir trieben immer wildere und ausgefallenere Spielchen. Einige Male ließ sie mich stundenlang ans Bett gefesselt, während sie einkaufen ging, was für mich gewöhnlich mit Schürfwunden und blauen Flecken endete.

Nach einer unserer frühmorgendlichen Ertüchtigungen wurde Rebecca ganz gefühlvoll und melodramatisch. Sie erzählte, wie traumatisch es für sie gewesen sei, als ihr Vater [34] ihre Mutter verlassen hatte – eines Tages einfach die Sachen gepackt und ohne alle Warnung verschwunden –, und wie sie schon immer entsetzliche Angst davor gehabt hatte, von Männern sitzengelassen zu werden. Wenn Rebecca so redete, war mir, als wäre ich eingesperrt. Ich wußte, daß es für Rebecca und mich keine gemeinsame Zukunft gab, und ich begann, jenen unausweichlichen Tag zu fürchten, an dem ich ihr sagen mußte, daß es zwischen uns aus war.

Dann begann Rebecca eines Abends verspielt an meinem Ohr zu knabbern und fragte, ob ich mir nicht vorstellen könnte, irgendwann mit ihr verheiratet zu sein. Natürlich war die Antwort ein klares Nein, doch da sie mich in einem Moment der Unaufmerksamkeit erwischt hatte, wechselte ich das Thema. Am nächsten Tag verlor sie kein Wort mehr über eine Heirat, aber ich entschied, daß mir die Geschichte ein bißchen zu heiß wurde und daß es an der Zeit war, Schluß zu machen.

Als ich von der Arbeit kam, sagte ich, daß wir etwas Wichtiges bereden müßten.

»Was denn?« fragte sie.

In Shorts und Sport-BH machte sie Crunches auf dem Wohnzimmerboden und sah ziemlich verführerisch aus. Wie immer dröhnte aus den Boxen lauter Rap.

Als ich die ohrenbetäubende Musik leiser drehte, protestierte sie: »Hey, das ist Jay-Z, echt mein Typ.«

»Gestern nacht«, sagte ich und wich ihrem Blick aus, »hast du von Heirat geredet.«

»Ehrlich?« sagte sie und tat überrascht.

»Tja, das hast du.«

»Ist ja lustig. Bestimmt hab ich schon halb geschlafen.« [35] Sie richtete Kopf und Brust vom Boden auf und lief hellrot an, während sie die Unterleibsmuskeln erst anspannte und dann wieder lockerte.

»Ich will damit nur sagen«, setzte ich an, »daß ich mir in meiner gegenwärtigen Situation nicht vorstellen kann, einen solchen Schritt…«

»Keine Sorge, war nicht so gemeint«, sagte sie.

»Wirklich nicht?«

»Natürlich nicht. Warum sollte ich die Frau von jemandem werden?« Aus ihrem Mund klang es, als wäre das eine absurde Vorstellung.

»Na ja«, sagte ich, »gestern nacht hast du…«

»Du solltest nicht alles glauben, was ich dir erzähle«, sagte sie.

Also wohnten wir weiterhin zusammen, und eigentlich änderte sich nichts. Wie bisher ging sie einige Male die Woche in ihre Bars und Hip-Hop-Klubs, und wir verbrachten wenig Zeit miteinander. Allerdings gab sie auch immer mal wieder einen beiläufigen Kommentar über eine Heirat ab – meist, wenn sie betrunken oder mit einer der gerade aktuellen Modedrogen vollgepumpt war, aber manchmal wirkte sie auch völlig nüchtern. Doch wann immer ich sie damit konfrontierte, behauptete sie, nicht mehr zu wissen, was sie gesagt hatte, oder es nicht so gemeint zu haben.

Eines Abends hörte ich Rebecca dann vor ihrer Freundin Monique damit prahlen, was für »ein süßer kleiner Schoßhund« ich doch sei und wie gut sie mich abgerichtet habe. Sie behauptete, ich würde für sie alles tun, ihr sogar die Fußnägel lackieren, und sie prophezeite, daß wir spätestens im kommenden Jahr verlobt wären, über gemeinsame [36] Konten verfügten und daß ihr Name dann im Mietvertrag stünde.