Anhang 1

Auswertbeispiel für den Elternfragebogen „Sprachbeurteilung durch Eltern: Kurztest für die U7 (SBE-2-KT)“ (im Internet in 25 Sprachen abrufbar unter http://www.kjp.med.uni-muenchen.de/sprachstoerungen/SBE-2-KT.php)

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Hier finden Sie eine Wortliste. Bitte kreuzen Sie alle die Wörter an, die Sie häufiger von Ihrem Kind gehört haben. Dabei sollten aber nur Wörter angekreuzt werden, die Ihr Kind selbst verwendet und nicht solche, die es nur nachspricht oder nur versteht. Kreuzen Sie bitte auch Wörter an, die Ihr Kind etwas anders ausspricht (z.B. „nane“ statt „Banane“ oder „Tuchen“ statt „Kuchen“). Falls Ihr Kind ein ähnliches Wort benutzt (z.B. „Mieze“ für „Katze“), schreiben Sie dies bitte daneben.

Noch ein Hinweis: Der Wortschatz von zweijährigen Kindern ist sehr unterschiedlich. Es kann also durchaus sein, dass Ihr Kind nur einige dieser Wörter spricht. Auch wird es vermutlich noch andere, hier nicht aufgeführte Wörter sprechen.

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Anhang 2

Auswertbeispiel für den Elternfragebogen „Sprachbeurteilung durch Eltern: Kurztest für die U7 a (SBE-3-KT)“ (im Internet abrufbar unter http://www.kjp.med.uni-muenchen.de/sprachstoerungen/SBE-3-KT.php)

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In diesem Bogen finden Sie eine Liste von Wörtern und Sätze, wie sie von Kindern in den ersten Lebensjahren oft benutzt werden. Bitte kreuzen Sie an, was Sie häufiger als ein Mal von Ihrem Kind gehört haben. Dabei sollten aber nur Wörter und Sätze angekreuzt werden, die Ihr Kind selbst verwendet und nicht solche, die es nur nachspricht oder nur versteht. Kreuzen Sie bitte auch Wörter an, die Ihr Kind etwas anders ausspricht (z.B. „taufen“ statt „kaufen“ oder „daußen“ statt „draußen“). Falls Ihr Kind etwas Ähnliches benutzt (z.B. „Becher“ für „Glass“), schreiben Sie dies bitte daneben.

Vielleicht noch ein Hinweis: Der Wortschatz und der Sprachgebrauch dreijähriger Kinder ist sehr unterschiedlich. Wenn Ihr Kind nur einige dieser Wörter oder Sätze spricht, muss Sie das nicht gleich beunruhigen. Außerdem wird es vermutlich auch noch andere, hier nicht aufgeführte Wörter und Sätze sprechen.

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1 Sprache und Sprachentwicklung

Dass der Mensch über eine hoch differenzierte Sprache verfügt, unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen. Zwar verfügen auch Tiere über ganz erstaunliche Kommunikationssysteme, doch sind diese im Vergleich zur menschlichen Sprache in ihrem Repertoire äußerst begrenzt.

Die menschliche Sprache ist für neue, bislang nie verwendete Äußerungen offen. Ihre Kreativität wird durch eine Strukturierung in mehreren Ebenen erreicht. Auf der ersten Ebene werden Laute (Phoneme) zu Morphemen, den kleinsten bedeutungstragenden Spracheinheiten, zusammengesetzt. Im Deutschen gibt es etwa 40 Laute, mit denen sich mehrere Tausend Morpheme bilden lassen. Die Morpheme wiederum können zu mehr als 500 000 Wörtern kombiniert werden und mit diesen lassen sich unendlich viele und immer wieder neue Sätze bilden.

Dieser Variationsreichtum der Sprache ermöglicht einen intensiven Austausch von Gedanken, Wünschen und Gefühlen. Individuelle Erfahrungen können über Generationsgrenzen hinweg weitergegeben und zu einem wachsenden Wissenspool zusammengetragen werden. Sprache ist zudem ein wichtiges Werkzeug zur Strukturierung des Denkens und ist Voraussetzung für komplexe Handlungs- und Denkabläufe. Sie dient des Weiteren der kollektiven Identitätsbildung. Wer bspw. außerhalb eines Dialektbereichs aufgewachsen ist, wird immer als hinzugekommen und als Fremder erkannt. Sprache ist demnach für alle Lebensbereiche von zentraler Bedeutung. Dies macht verständlich, dass Sprachentwicklungsstörungen nicht nur zu einer Beeinträchtigung der Wissensaneignung führen, sondern auch ein Risiko für die emotionale und soziale Entwicklung darstellen.

Obwohl die Regeln, nach denen Laute zu Wörtern und Wörter zu Sätzen kombiniert werden können, äußerst komplex sind, erlernen Kinde ihre Muttersprache fast automatisch. Treibende Kraft ist ihr Bedürfnis nach Kommunikation und Interaktion. Nur wenn Sprache im Umfeld vollständig fehlt und keine Möglichkeiten zur menschlichen Kommunikation gegeben ist, bleibt der Spracherwerb aus.

Die Sprachentwicklung erfolgt einerseits nach recht regelhaften Prinzipen. Gesetzmäßig folgt ein Erwerbsschritt dem anderen: Zuerst äußert sich ein Kind durch Schreien, dann folgen Gurren und Lallen in zunehmender Komplexität und schließlich Wörter und Wortkombinationen, die über Ein-, Zwei- und Mehrwortäußerungen zu langen Erzählungen werden. Auf der anderen Seite besteht eine hohe Variabilität im Spracherwerb hinsichtlich des Zeitpunkts, zu dem ein Meilenstein der Sprachaneignung erreicht wird (Szagun 2006). 10 % der Kinder sprechen bereits mit 12 Monaten die ersten drei Wörter, aber die langsamsten 10 % benutzen mit 21 Monaten noch keine sinnbezogenen Wörter. Zweiwortsätze bilden die schnellsten 10 % der Kinder mit 15 Monaten und die langsamsten erst nach dem 25. Lebensmonat (Largo 2003). Der Abstand zwischen den schnellsten und langsamsten 10 % beträgt somit fast ein Jahr. Auch die Verläufe sind unterschiedlich. Einige Kinder zeigen kontinuierlich gleichbleibende Sprachfortschritte, während die Sprachentwicklung bei anderen sehr ungleichmäßig erfolgt, mit sprunghaften Lernzuwächsen und nachfolgend mehr oder weniger langen Pausen. Je jünger Kinder sind, umso größer sind die Unterschiede zwischen ihnen und umso schwieriger ist es, aus dem momentanen Sprachentwicklungsstand Rückschlüsse auf spätere Sprachleistungen zu ziehen. Dies ist ein wesentlicher Grund für Grenzen bei der Früherkennung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen.

Wie Sprache im Einzelnen erworben wird, ist bis heute nicht völlig geklärt. Lerntheoretische Spracherwerbstheorien gehen davon aus, dass eine Anregung durch das Umfeld der entscheidende Faktor ist. Kinder hören Sprache, ahmen diese nach, werden bestätigt bzw. korrigiert und perfektionieren so schrittweise ihre Fähigkeiten. Genauere Beobachtungen haben jedoch gezeigt, dass einfaches Nachahmen nur einen recht geringen Anteil an sprachlichen Interaktionen ausmacht. Kinder formulieren überwiegend neu und nach eigenen Regeln. Dies lässt vermuten, dass nicht vollständig formulierte Äußerungen durch Imitation erlernt werden, sondern die zugrundeliegenden Regeln. Wenn die Mutter auf einen Teller zeigt und das Wort dazu nennt, wird das Kind vielleicht vermuten, dass „Teller“ ein Gegenstand zum Hineintun ist. Es wird diese Hypothese ausprobieren und Teller zu allen Gefäßen sagen. Die Reaktionen des Umfelds zeigen ihm, dass weitere Merkmale zur Begriffsdefinition hinzuzunehmen sind. Das Kind wird den Begriff immer weiter einengen, bis seine Vorstellungen über die Bedeutung des Worts zu denen des Umfelds passen. Ähnlich werden auch grammatische Regeln erworben und anfangs überdehnt eingesetzt. Dies führt zu alterstypischen Äußerungen, wie z. B. einer generellen Verbendstellung, die regelhafte Durchgangsstufen sind, nicht aber mit den Normen der Erwachsenensprache übereinstimmen.

Manche Beobachtungen lassen sich allerdings mit lerntheoretischen Modellen alleine nicht erklären. Die wesentlichen Meilensteine der Sprachentwicklung werden von Kindern in allen Kulturen im Mittel zu etwa der gleichen Zeit erworben. Aus lerntheoretischer Sicht wäre zu erwarten, dass sich die Geschwindigkeit des Spracherwerbs mit zunehmender Sprachanregung erhöht, was aber nicht der Fall ist. Der Spracherwerb erfolgt in Kulturen, in denen mit Kindern sehr wenig gesprochen wird, nicht langsamer als in solchen mit intensiven sprachlichen Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen. Auch erlernen Kinder selbst bei recht mangelhaften Sprachvorbildern ihre Muttersprache ohne Probleme. Wenn eine Schwelle an sprachlicher Anregung, die sehr niedrig liegt, überschritten wird, reicht dies für einen unauffälligen Spracherwerb aus. Dies führte zu der Vermutung, dass das Erlernen grammatischer Regeln weitgehend genetisch gesteuert verläuft. Dem Umfeld komme nur die Aufgabe zu, aus dem großen Pool eines ererbten universellen Grammatikwissens diejenigen Regeln herauszufiltern, die für die Muttersprache zutreffen (generative Spracherwerbstheorie). Diese Modellvorstellung erklärt sehr gut, dass Sprachentwicklungsstörungen eine hohe erbliche Komponente aufweisen und dem Grad an Anregung durch das Umfeld nur eine moderierende Bedeutung zukommt.

Trotz intensiver Versuche ist es bis heute nicht gelungen, die Grammatiken aller Sprachen auf eine gemeinsame Universalgrammatik zurückzuführen. In der kognitionspsychologischen Spracherwerbstheorie wird deshalb davon ausgegangen, dass nicht das Grammatikwissen selbst über Gene vermittelt wird, sondern allgemeine kognitive Fähigkeiten, wie Verständnis für Konzepte und Symbole. Je nach ererbter Begabung hinsichtlich dieser Grund- und Vorläuferfertigkeiten erfolge der Spracherwerb mehr oder weniger schnell.

Derzeit wird eine Kombination der verschiedenen Spracherwerbsmodelle favorisiert. Es wird davon ausgegangen, dass genetische und Umwelteinflüsse miteinander interagieren. Grammatische und Lautbildungsfähigkeiten werden als durch erbliche Faktoren stärker geprägt angesehen als Wortschatz- und Sprachkompetenzentwicklung, die als wesentlich durch Umweltfaktoren beeinflusst betrachtet werden. Wie bedeutsam der jeweilige Anteil von genetischen und Umweltfaktoren beim Spracherwerbsprozess ist, ist von Kind zu Kind verschieden. Dadurch ist bei sehr jungen Kindern eine Vorhersage der weiteren Entwicklung und späterer Entwicklungsstörungen mit erheblichen Unsicherheiten verbunden (Meyer-Probst 2004).

2 Sprachentwicklungsstörungen

Die normale Variationsbreite sprachlicher Kompetenzen ist groß. Der Wortschatz ist bei Erwachsenen recht unterschiedlich und komplexere grammatische Strukturen werden mehr oder weniger virtuos eingesetzt. Nur wenn die sprachlichen Leistungen erheblich unter dem Durchschnitt liegen, ist von einer Sprachstörung auszugehen. Dabei ist die Grenze zwischen schwachen und gestörten sprachlichen Fähigkeiten fließend.

Wann von einer Sprachentwicklungsstörung gesprochen wird, ist das Ergebnis einer willkürlichen Festlegung. Je nachdem, wo die Grenze zwischen normaler und gestörter Sprachentwicklung gezogen wird, werden mehr oder weniger viele Kinder als sprachgestört angesehen.

Fließende Übergänge zwischen normal und gestört sind nicht nur für Sprachstörungen, sondern für alle Entwicklungsstörungen charakteristisch. Was als Störung aufgefasst wird, ist eine Frage der Konvention. Bei Intelligenzstörungen zum Beispiel wird bei einem IQ unter 85 von einer schwachen Intelligenz und unter 70 von einer Intelligenzminderung gesprochen. Für Sprachentwicklungsstörungen gibt es bislang keine allgemein akzeptierte Falldefinition. Entsprechend widersprüchlich sind Angaben zur Häufigkeit und zur Therapienotwendigkeit. Aussagen zum Thema Sprachentwicklungsstörung beziehen sich oft auf recht unterschiedlich beeinträchtigte Kinder. Welche Kinder und welche Sprachauffälligkeiten gemeint sind, lässt sich immer nur dann sagen, wenn klare Angaben zur Falldefinition gemacht werden. Wenn im Folgenden Möglichkeiten zur Früherkennung thematisiert werden, sind diese Unsicherheiten immer mitzubedenken.

2.1 Sprachentwicklungsverzögerungen

In den ersten Lebensjahren ist die Variabilität der Sprachentwicklung besonders hoch (vgl. Kap. 1). Dadurch ist es schwierig, Kinder mit einem verzögerten Spracherwerb im Rahmen der normalen Variationsbreite von solchen mit einer Sprachentwicklungsstörung abzugrenzen.

Die Diagnose „Sprachentwicklungsstörung“ sollte vor dem Alter von drei Jahren nur gestellt werden, wenn ungewöhnlich ausgeprägte Sprachauffälligkeiten bestehen. In den ersten drei Lebensjahren wird besser von einer „Sprachentwicklungsverzögerung“ gesprochen und die betroffenen Kinder als „Spätsprecher“ bezeichnet.

Im angloamerikanischen Sprachraum hat sich für diese Kinder der Begriff Late Talkers eingebürgert, der inzwischen auch im deutschsprachigen Bereich zunehmend Verwendung findet.

Ob es sich bei einem Late Talker um ein Kind mit einer verzögerten Sprachentwicklung als Normvariante oder um ein Kind mit einer Sprachentwicklungsstörung handelt, ist anfangs nicht zu unterscheiden. Handelt es sich um eine Normvariante, dann holen die Kinder ihren Sprachrückstand bis zum Alter von drei Jahren auch ohne eine Sprachtherapie auf. Diese Kinder werden Late Bloomers (Spätentwickler) genannt. Bleiben ausgeprägte Sprachauffälligkeiten bis zum Kindergartenalter bestehen, dann ist von einer Sprachentwicklungsstörung auszugehen. Die Feststellung einer Sprachentwicklungsverzögerung ist somit eine Risiko- und keine klinische Diagnose. Welche Kinder als Late Talkers angesehen werden, wird bislang unterschiedlich gehandhabt. Bisher konnte man sich nicht auf eine verbindliche Falldefinition einigen.

Im deutschsprachigen Raum werden meist Kinder, die im Alter von 24 Monaten weniger als 50 Wörter sprechen und/oder keine Wortverbindungen benutzen, der Gruppe der Late Talkers zugeordnet. Diese Falldefinition eignet sich aber nur für wenige Wochen um den zweiten Geburtstag.

Würde das 50-Wörter-Kriterium z. B. bei 20 Monate alten Kindern angewendet werden, dann würde jedes dritte Kind und damit viel zu viele Kinder als Late Talkers klassifiziert (Abb. 1).

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Abb. 1: Häufigkeit eines Wortschatzes unter 50 (in Prozent) in Abhängigkeit vom Alter der Kinder

Um während einer größeren Altersspanne Sprachentwicklungsverzögerungen feststellen zu können, müssen Grenzwerte (Cut-Off-Werte) benutzt werden, z.B. in Form von Prozenträngen oder Standardabweichungen.

Welcher Grenzwert am sinnvollsten ist, wird allerdings unterschiedlich gesehen (Robertson & Ellis Weismer 1999; Girolametto et al. 2001; Heilmann et al. 2005). In der Literatur werden als Grenzwerte Prozentränge (PR) zwischen 5 und 20 angegeben. So wurde z. B. für den „Fragebogen zur frühkindlichen Entwicklung“ (FRAKIS) ein Cut-Off-Wert von PR ≤ 10 und für den Test „Sprachbeurteilung durch Eltern: Kurztest für die U7“ (SBE-2-KT) PR ≤ 16 (entsprechend einer Standardabweichung unterhalb des Mittelwerts) festgelegt. Daraus ergibt sich definitionsgemäß eine unterschiedliche Häufigkeit für Late Talkers (10 % bzw. 16 %).

In der internationalen Literatur liegen die Häufigkeitsangaben für Late Talkers vorwiegend zwischen 10 % und 17 %. So berichten z. B. Horwitz et al. (2003) bei 18 – 23 Monate alten Kindern über eine Häufigkeit der Late Talkers von 13,5 % und bei 30 – 36 Monate alten Kindern von 17,5 %. Rescorla und Alley (2001) hatten mit 9,7 % einen deutlich niedrigeren Wert ermittelt. Allerdings bestand die Stichprobe der Arbeitsgruppe um Rescorla vorwiegend aus Kindern aus höheren sozialen Schichten. Diese Kinder sind jenen aus bildungsferneren Familien in der Regel sprachlich überlegen.

Wird bei 24 Monate alten Kindern das Kriterium Wortschatz unter 50 benutzt, wie dies in Studien aus dem deutschsprachigen Raum üblich ist, dann ergibt sich für 23–24 Monate alte Kinder eine Auftretensrate von 14 % (Grimm & Doil 2006; Sachse & v. Suchodoletz 2007b).

Werden für beide Geschlechter gleiche Cut-off-Werte bei der Festlegung einer Sprachentwicklungsverzögerung angesetzt, dann liegt die Zahl der Late Talkers bei Jungen etwa doppelt so hoch wie bei Mädchen (v. Suchodoletz & Sachse 2008). In einer anderen Studie (Rescorla & Alley 2001) fielen die Unterschiede mit einem Verhältnis von etwa 4 : 1 sogar noch größer aus.

2.2 Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen

2.2.1 Charakteristika von Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen

Die Symptomatik von Spracherwerbsstörungen ist von Kind zu Kind unterschiedlich, weshalb verschiedene Subtypen voneinander abgegrenzt werden. Je nachdem, welche Sprachdimension betroffen ist, stehen Lautbildungs-, Grammatik- oder Wortschatzprobleme im Vordergrund (Tab. 1).

Tab. 1: Klassifikation von Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen

Entwicklungsstörungen des Sprechens

Erwerbstörungen des Lautsystems werden den Sprechstörungen zugeordnet und solche von Grammatik und Wortschatz den Sprachstörungen. Entwicklungsstörungen des Sprechens sind dadurch gekennzeichnet, dass die Realisierung des Sprachentwurfs nur ungenügend gelingt. Sie sind durch Fehler bei der Aussprache und dem Erkennen von Lauten charakterisiert, die unter Berücksichtigung des Entwicklungsalters außerhalb des Normbereichs liegen. Typische Lautbildungsfehler sind Auslassen, Ersetzen und Fehlbildungen von Lauten, wobei am häufigsten |s|, |sch|, |ch| und |r| betroffen sind. Unterschiedliche Bezeichnungen, wie Dyslalie, Artikulations-, Aussprache-, Lautbildungs- und phonologische Störung sind gebräuchlich. Lautbildungsstörungen treten oft kombiniert mit Störungen des Sprachsystems auf.

Entwicklungsstörungen der Sprache

Im Mittelpunkt des klinischen Bilds von Sprachentwicklungsstörungen stehen ein Dysgrammatismus und Wortschatzdefizite. Die Symptomatik ist vom Alter des Kindes abhängig (Tab. 2). Im Säuglingsalter gilt ein verzögert auftretendes und vermindertes Lallen als typische Auffälligkeit. Im zweiten Lebensjahr sind ein verspätetes Erlernen der ersten Wörter und eine verzögerte Entwicklung des aktiven und passiven Wortschatzes charakteristisch. Im dritten Lebensjahr stehen eine verminderte Äußerungslänge und ein weitgehendes Fehlen syntaktischer Strukturen im Vordergrund. Im Kindergarten- und Vorschulalter haben die Kinder insbesondere Schwierigkeiten bei der Bildung und dem Verständnis grammatischer Wortformen und Satzstrukturen. Im Schulalter wird die Spontansprache oft weitgehend fehlerfrei. Die Kinder sprechen in einfachen und kurzen Sätzen und vermeiden kompliziertere grammatische Strukturen, so dass Sprachdefizite nicht sofort bemerkt werden. Aufgrund der Sprachstörung fällt es den Kindern aber schwer, Geschichten folgerichtig zu erzählen, übertragene Bedeutungen und Mehrdeutigkeiten zu verstehen und sich schriftlich kohärent auszudrücken. Diese Probleme bleiben oft bis ins Erwachsenenalter hinein bestehen, werden jedoch erst bei besonderen Anforderungen oder einer gezielten Überprüfung deutlich.

Tab. 2: Altersabhängigkeit der Leitsymptome von Sprachentwicklungsstörungen

1. Lebensjahr

Verspätetes und vermindertes Lallen

2. Lebensjahr

Verminderter Wortschatz

3. Lebensjahr

Verminderte Äußerungslänge

4.–6. Lebensjahr

Dysgrammatismus (syntaktische und morphologische Fehler)

nach dem 6. Lebensjahr

Kurze, einfache Sätze; Probleme beim Erzählen und Aufschreiben von Geschichten

Häufig betreffen Sprachprobleme nicht nur die Sprachproduktion, sondern auch das Sprachverständnis. Sprachverständnisstörungen bleiben aber oft unerkannt, weil die Kinder durch eine verstärkte Nutzung semantischer Informationen und des Umweltwissens ein Nicht-Verstehen überspielen. Auch bei schwer sprachverständnisgestörten Kindern haben die Eltern nicht selten den Eindruck, diese verstünden alles und würden nur nicht richtig zuhören und deshalb Fragen falsch bzw. ungenau beantworten. Das Ausmaß einer Sprachverständnisstörung zeigt sich erst bei einer gezielten Untersuchung unter konsequenter Vermeidung von Mimik, Gestik und Kontextinformationen.

2.2.2 Umschriebene Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen

Bei Kindern mit Sprachentwicklungsauffälligkeiten ist zum einen an eine umschriebene Entwicklungsstörung und zum anderen an sekundäre Sprachstörungen zu denken. Umschriebene Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen werden nach der internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation, der ICD-10, in Artikulationsstörungen (F80.0) und expressive (F80.1) sowie rezeptive (F80.2) Sprachentwicklungsstörungen unterteilt (Dilling et al. 2009). Von einer umschriebenen Sprech- bzw. Sprachentwicklungsstörung wird gesprochen, wenn keine weiteren gravierenden Entwicklungsabweichungen bestehen und die Sprachprobleme nicht durch eine erkennbare Ursache, wie z. B. eine Intelligenz- oder Hörbeeinträchtigung oder eine andere körperliche oder psychische Erkrankung hervorgerufen werden, wenn sie also erwartungswidrig auftreten (Tab. 3). Wie bei allen Entwicklungsstörungen sind Jungen häufiger als Mädchen betroffen. Als Hintergrund wird eine genetisch bedingte Beeinträchtigung von Reifungsprozessen funktionsspezifischer Hirnregionen vermutet. Umwelteinflüsse werden als moderierende Faktoren angesehen, die darüber entscheiden, ob eine ererbte Veranlagung zu Sprech- oder Sprachstörungen zu einer klinisch bedeutsamen Behinderung wird oder ob diese kompensiert werden kann.

Tab. 3: Charakteristika umschriebener Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen

Bei einer umschriebenen Artikulationsstörung (F80.0) bestehen bei einer altersgerechten Sprachfähigkeit deutliche Lautbildungsprobleme. Auch haben die Kinder Mühe beim Erkennen und Differenzieren von Lauten. Nach heutiger Auffassung sind die Aussprachefehler vorwiegend Ausdruck der Anwendung falscher phonologischer Regeln bzw. von Regeln, die früheren Entwicklungsstufen entsprechen, und weniger Folge sprechmotorischer Defizite. Anstelle von „Artikulationsstörung“ wird deshalb in der DSM-IV, dem amerikanischen Klassifikationssystem, von „Phonologischer Störung“ gesprochen.

Umschriebene Lautbildungsstörungen führen nicht zu einer nennenswerten Beeinträchtigung der langfristigen Entwicklungschancen eines Kindes. Früherkennungsmethoden lassen Lautbildungsstörungen deshalb meist unberücksichtigt.

Eine expressive Sprachentwicklungsstörung (F80.1) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Sprachproduktion außerhalb der Norm liegt, während das Sprachverständnis allenfalls geringfügig beeinträchtigt ist. Bei einer rezeptiven Sprachentwicklungsstörung (F80.2) hingegen finden sich deutliche Defizite im Sprachverständnis meist verbunden mit solchen der Sprachproduktion. Bei beiden Subtypen sind zusätzliche Lautbildungsstörungen die Regel. Anstelle der Bezeichnung „Umschriebene Sprachentwicklungsstörung – USES“ bzw. „Spezifische Sprachentwicklungsstörung – SSES“ wird auch im deutschsprachigen Raum häufig der aus dem angloamerikanischen Bereich stammende Begriff „Specific Language Impairment – SLI“ verwendet.

2.2.3 Sekundäre Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen und Sprachprobleme bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern

Sekundäre Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen werden insbesondere bei Kindern mit Intelligenz-, Hör- oder autistischen Störungen beobachtet. Gelegentlich wird auch von Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen mit Komorbidität gesprochen.

Ähnliche sprachliche Probleme wie bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen treten auch bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern mit ungenügendem Kontakt zur deutschen Sprache auf. Bei diesen Kindern handelt es sich aber nicht um eine Entwicklungsstörung, sondern um eine unzureichende Sprachanregung.

Ein Sprachscreening zur Früherkennung sollte unabhängig von der Ursache alle Kinder mit Sprachauffälligkeiten erfassen. Eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Subtypen von Sprachentwicklungsstörungen und Sprachauffälligkeiten infolge einer mangelhaften Förderung kann ein Sprachscreening nicht leisten. Dafür ist eine weiterführende Diagnostik erforderlich.

2.2.4 Andere Klassifikationsschemata für Sprachentwicklungsstörungen

Sprachentwicklungsstörungen werden auch als kindlicher Dysgrammatismus oder Entwicklungsdysphasie bezeichnet. Unter Sprachtherapeuten ist in Abhängigkeit von der Symptomatik eine Differenzierung zwischen einer Sprachentwicklungsverzögerung (Sprachmuster jüngerer Kinder), einer Sprachentwicklungsstörung (nicht in der normalen Entwicklung vorkommende Sprachmuster) und einer Sprachentwicklungsbehinderung (zusätzlich motorische u. a. körperliche und/oder psychische Störungen) üblich.

Die Unterschiede in der Einteilung und Nomenklatur führen oft zu Missverständnissen. So sind z. B. in einem Klassifikationsschema mit dem Begriff Sprachentwicklungsverzögerung Sprachstörungen ohne pathologische Sprachmuster unabhängig vom Alter des Kindes gemeint und in einem anderen Einteilungssystem Sprachauffälligkeiten während der ersten drei Lebensjahre.

Sprachentwicklungsstörung ist bislang kein verbindlich definiertes Störungsbild. Jeder Beitrag zum Thema bedarf deshalb einleitend einer Beschreibung, welche Definition zugrunde gelegt wird.

3 Warum Früherkennung von Sprachentwicklungsstörungen?

Die Notwendigkeit einer Früherkennung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen ergibt sich im Wesentlichen aus zwei Gesichtspunkten. Zum einen sind Störungen des Spracherwerbs außerordentlich häufig und damit von großer gesundheitspolitischer Relevanz. Sprachtherapie ist mit erheblichen Kosten verbunden, die sich möglicherweise durch eine frühe Intervention verringern lassen. Der zweite und wichtigste Grund besteht darin, dass sich bei vielen Kindern Sprachbeeinträchtigungen im Laufe der Jahre nicht einfach „auswachsen“, sondern zu langfristigen Beeinträchtigungen der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung führen. Früherkennung und Frühförderung versprechen eine Verbesserung der Entwicklungschancen sprachentwicklungsgestörter Kinder.

3.1 Häufigkeit von Sprachentwicklungsstörungen

Wird die Definition der WHO (ICD-10) zugrunde gelegt, dann beträgt die Häufigkeit umschriebener Sprachentwicklungsstörungen 5–7 %. Hinzu kommen Kinder mit sekundären Sprachentwicklungsstörungen, z. B. infolge einer Intelligenzminderung.

Insgesamt ist davon auszugehen, dass bei mindestens jedem zehnten Kind mit einer Sprachentwicklungsstörung zu rechnen ist (Kries et al. 2006). Jungen sind gegenüber Mädchen etwa doppelt so häufig betroffen.

Die American Speech-Language-Hearing Association (ASHA) gibt das Auftreten von umschriebenen expressiven Sprachentwicklungsstörungen mit 5 % und von rezeptiven mit 3 % an. Nach einer Übersicht von Law et al. (2000) sind im Alter von drei Jahren bei 6,9 % der Kinder umschriebene Sprachentwicklungsstörungen verbunden mit phonologischen Defiziten und bei 2,6 % Sprachstörungen ohne Lautbildungsauffälligkeiten nachweisbar. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich die Häufigkeit von Sprachentwicklungsstörungen bis zum Jugendalter nennenswert verringert. Obwohl sich die sprachlichen Fähigkeiten mit dem Älterwerden verbessern, bleibt im Kindes- und Jugendalter die Anzahl der Kinder mit deutlich unterdurchschnittlichen Sprachkompetenzen in etwa gleich.

Die Angaben zur Häufigkeit von Sprachentwicklungsstörungen variieren allerdings erheblich. Je nachdem, wo die Grenze zur normalen Variationsbreite der Sprachentwicklung gezogen wird und wie die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder erfasst werden (Eltern- bzw. Erzieherrating, Screening bei der Einschulungsuntersuchung, standardisierte Testverfahren u. a.), werden Häufigkeiten zwischen 2 % und 30 % gefunden.

Die Auffassungen darüber, ob Sprachentwicklungsstörungen in den letzten Jahren zugenommen haben, gehen auseinander. Heinemann (1997) berichtete über eine Erhöhung der Zahl der Kinder mit behandlungsbedürftigen Spracherwerbsstörungen von 4 % auf 25 % innerhalb des Zeitraums von 1976/77 bis 1992. Eine solche dramatische Zunahme von Sprachentwicklungsstörungen wurde in anderen Studien nicht beobachtet. Seit den Untersuchungen von Blanton (1916), der die Häufigkeit von Sprachentwicklungsstörungen mit 5,6 % bezifferte, und der NINDS-Studie (National Institute of Neurological Disease and Stroke 1969), die eine ungewöhnlich große Stichprobe von 87000 Kindern erfasste und auf 6 % sprachgestörte Kinder kam, haben sich die Daten bis heute nicht nennenswert verändert (Übersicht bei Law et al. 2000). Was zugenommen hat, ist die Zahl der Überweisungen an Fachleute und die Häufigkeit sprachtherapeutischer Interventionen.

Zugenommen hat auch die Zahl der Kinder mit Sprachproblemen, die auf eine mangelhafte Förderung zurückzuführen sind. Dies betrifft insbesondere mehrsprachig aufwachsende Kinder, die einen ungenügenden Kontakt zur deutschen Sprache haben und deshalb über mangelhafte deutschsprachige Fähigkeiten verfügen. Auch diese Kinder würden von einem generellen Sprachscreening profitieren. Sie würden frühzeitig erfasst und könnten rechtzeitig gefördert werden.

3.2 Gesundheitspolitische Relevanz von Sprachentwicklungsstörungen

Sprachtherapie ist die häufigste Form von Interventionen im Bereich der Frühförderung. Im Jahr 2008 standen 22 % der Jungen und 14 % der Mädchen im Alter von sechs Jahren in logopädischer Behandlung. Jährlich werden von den Krankenkassen etwa eine Viertelmilliarde Euro für Sprachtherapien ausgegeben. Der überwiegende Teil der Kosten fällt für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen an. Im Gegensatz zu anderen Frühfördermaßnahmen, wie Ergotherapie und Physiotherapie, nehmen die finanziellen Aufwendungen für eine Sprachtherapie kontinuierlich zu (Schröder & Waltersbacher 2009/2010).

Mindestens genauso hoch zu veranschlagen sind die finanziellen Belastungen für Sprachförderprogramme, die in Kindertagesstätten und Kindergärten zunehmend eingeführt werden. Da diese Fördermaßnahmen länderspezifisch sind und durch unterschiedliche Träger angeboten werden, liegen genauere Angaben zur Höhe der Kosten nicht vor. Zu den finanziellen Belastungen durch Sprachentwicklungsstörungen hinzuzurechen sind Aufwendungen für eine Förderung von Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung. Störungen der Schriftsprache sind häufig die unmittelbare Folge einer Sprachentwicklungsstörung.

Dass eine Früherkennung und Frühförderung auch aus Kosten-Nutzen-Erwägungen anzustreben sind, geht aus den Analysen des Chicagoer Ökonomen Heckman, der im Jahr 2000 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, hervor. Er bewertete den ökonomischen Nutzen verschiedener Frühförderprogramme anhand der Einsparungen durch später nicht erforderlich gewordene Sonderbeschulungen, Sozialhilfeleistungen, Unterbringungsmaßnahmen usw. (Heckman 2006). Grundlage seiner Analysen waren Ergebnisse von Langzeitstudien, in denen Kinder, deren Entwicklung mit unterschiedlichen Frühförderprogrammen unterstützt worden war, bis ins Erwachsenenalter beobachtet wurden. In die Auswertung einbezogen wurde u. a. das Chicago Child-Parent Program, bei dem insbesondere die Sprach- und Lesekompetenz von Kindern gefördert wird. Eine Überprüfung der Effektivität bei 989 Kindern ergab, dass die geförderten Kinder gegenüber den nicht geförderten (n = 550) 20 Jahre später über höhere Schulabschlüsse verfügten, seltener eine sonderpädagogische Förderung erhalten hatten und weniger kriminelle Entwicklungen aufwiesen. Es ergab sich ein Kosten-Nutzen-Verhältnis von 1 : 3,7.

Nach den Analysen des Ökonomen Heckman sind Frühinterventionen außerordentlich effizient. Sie weisen ein deutlich besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis auf als jede Form der Intervention zu irgendeinem späteren Zeitpunkt (Abb. 2).

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Abb. 2: Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Förderung von Kindern mit Entwicklungsrisiken in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Intervention (nach Heckman 2006)

3.3 Langfristige Auswirkungen von Sprachentwicklungsstörungen

Auswirkungen von Sprachentwicklungsstörungen sind bei vielen Kindern bis ins Erwachsenenalter hinein zu beobachten. Auch wenn die Spontansprache im Schulalter unauffällig wird, werden bei einer genaueren Überprüfung sprachlicher Fähigkeiten nicht selten Probleme bei der Produktion und dem Verständnis komplexer linguistischer Strukturen deutlich. Neben Defiziten in der Lautsprache treten Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb auf. Dies führt dazu, dass die schulischen Leistungen deutlich unter dem nach Intelligenz und sozialem Hintergrund zu erwartenden Niveau liegen, verbunden mit entsprechend schlechteren Ausbildungs- und Berufschancen (Übersicht bei v. Suchodoletz 2004).

Die Prognose sprech- oder sprachentwicklungsgestörter Kinder hängt wesentlich davon ab, wie ausgeprägt und komplex die Störung ist und ob sie bis ins Vorschulalter hinein persistiert. Bei etwa 40 % der Kinder mit expressiven Sprachstörungen ist zu erwarten, dass Sprachdefizite bis ins Jugend- und Erwachsenenalter bestehen bleiben. Bei Kindern mit rezeptiven Sprachstörungen sind es sogar 76 % (Law et al. 2000).

Schwächen in der Laut- und Schriftsprache führen aber nicht nur zu einer Beeinträchtigung der Schullaufbahn, sondern aufgrund einer eingeschränkten Erfahrungsaneignung auch zu einer Verlangsamung der Intelligenzentfaltung. Im Durchschnitt nimmt bei sprachentwicklungsgestörten Kindern der IQ im Laufe der Entwicklung ab und dies betrifft auch die nicht-sprachliche Intelligenz (Botting 2005). Etwa ein Viertel der sprachentwicklungsgestörten Kinder erreicht im mittleren Schulalter nur noch unterdurchschnittliche IQ-Werte. Besonders gefährdet sind Kinder mit Sprachverständnisstörungen.

Bei fast der Hälfte der Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung werden im Vorschulalter Verhaltensauffälligkeiten beobachtet (Abb. 3). Das Risiko psychischer Störungen ist bei sprachgestörten Kindern gegenüber unauffällig entwickelten um das Vier- bis Fünffache erhöht. Auch bei einer weitgehenden Rückbildung der Sprachbeeinträchtigung bleiben Verhaltensstörungen häufig bis ins Erwachsenenalter bestehen. Bei delinquenten jungen Erwachsenen finden sich in der Anamnese häufig Sprachentwicklungsstörungen.

Während oppositionell-aggressive Verhaltensauffälligkeiten bei sprachgestörten Kindern oft primär auftreten, nimmt ängstlich-depressives Verhalten mit sozialem Rückzug im Laufe der Jahre zu. Angststörungen und hierunter insbesondere soziale Ängste werden im Jugend- und frühen Erwachsenenalter mit einer Häufigkeit von 25–30 % beobachtet (Beitchman et al. 2001). Selbstwertgefühl, aber auch die Fähigkeit zum Erkennen von Emotionen Anderer und zum Lösen sozialer Probleme, sind eingeschränkt.

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Abb. 3: Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten bei sprachgestörten Vorschulkindern (Auffälligkeiten auf den Skalen des Verhaltensfragebogens von Meyer-Probst ausgefüllt durch die Mutter, n = 209, Gesamtwert und Subskalen)

Sprachentwicklungsstörungen sind im Vorschulalter ein Vorhersagewert für die soziale Kompetenz im Jugendalter. In der Anamnese zeigen Jugendliche mit Sprachstörungen eine geringere Selbstständigkeit und eine verminderte Qualität in ihren Freundschaften zu Gleichaltrigen (Durkin & Conti-Ramsden 2007). Für den Grad an Selbstständigkeit im Jugendalter ist die Laut- und Schriftsprachkompetenz im Vorschul- bzw. frühen Schulalter entscheidender als die Intelligenz (Conti-Ramsden & Durkin 2008). Bei der Herausbildung psychischer Störungen spielen auch Stigmatisierungsprozesse eine wesentliche Rolle; hierauf wurde in den letzten Jahren mehrfach hingewiesen (Lindsay et al. 2008; Macharey & v. Suchodoletz 2008). Jedes dritte sprachgestörte Kind erlebt sich als „Prügelknabe“ in Kindergruppen gegenüber jedem achten Kind ohne Sprachauffälligkeiten (Knox & Conti-Ramsden 2003).

Eine ausgeprägte Beeinträchtigung der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung ist insbesondere dann zu befürchten, wenn auch noch im Einschulungsalter die Kriterien einer Sprachentwicklungsstörung erfüllt sind (Snowling et al. 2001). Bei neun von zehn Kindern ist dann mit der Entwicklung einer Lese-Rechtschreibstörung zu rechnen (Abb. 4), die wiederum zu Schulschwierigkeiten und vorzeitigen Schulabbrüchen führt (Abb. 5). Trotz normaler Intelligenz besuchen 20 % der sprachgestörten Kinder Schulen für Lernbehinderte und bei den anderen sind Klassenwiederholungen die Regel. Schulprobleme nehmen im Laufe der Schulzeit eher zu als ab. Infolge des begrenzten Schulerfolgs sind auch Berufswahl und spätere berufliche Chancen eingeschränkt. Im Erwachsenenalter verfügen sprachentwicklungsgestörte Kinder über ein deutlich niedrigeres Ausbildungsniveau und einen geringeren Sozialstatus als Kinder ohne Sprachauffälligkeiten mit vergleichbarer Begabung und sozialem Hintergrund.

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Abb. 4: Häufigkeit einer Lese-Rechtschreibstörung bei 15-jährigen Schülern, die im Alter von vier Jahren eine Sprachentwicklungsstörung hatten (nach Snowling et al. 2001)

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Abb. 5: Häufigkeit und Niveau des Schulabschlusses in Englisch (Muttersprache) bei 15-jährigen Schülern, die im Alter von vier Jahren eine Sprachentwicklungsstörung hatten (nach Snowling et al. 2001)

Bisherige Erfahrungen sprechen dafür, dass bei Kindern mit länger anhaltenden Sprachstörungen kognitive, emotionale und Verhaltensprobleme, Lernstörungen und Beeinträchtigungen der beruflichen Entwicklungschancen den langfristigen Verlauf prägen. Sprachentwicklungsstörungen sind demnach ein hohes Risiko für eine spätere sozialemotionale Dysfunktionalität. Kinder, bei denen die Sprachstörung bis zum Einschulungsalter weitgehend abgeklungen ist, haben eine deutlich bessere Prognose als Kinder mit bis ins Schulalter persistierenden Sprachstörungen. Wichtigstes Ziel der Förderung und Behandlung sollte deshalb eine Beseitigung oder zumindest eine deutliche Verbesserung der Sprachdefizite bis zur Einschulung sein. Dies ist nur durch eine Früherkennung und eine Frühförderung zu erreichen.

3.4 Bedeutung einer Früherkennung für Kinder aus unterprivilegierten Familien

Bislang hängt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Entwicklungsstörung erkannt wird, entscheidend von sozialen Faktoren ab. Bei Kindern aus Migrantenfamilien werden Entwicklungsstörungen wesentlich seltener als bei deutschen Kindern diagnostiziert. Hingegen ist bei Kindern aus bevorzugten sozialen Schichten die Wahrscheinlichkeit der Früherkennung von Entwicklungsauffälligkeiten gegenüber der Durchschnittsbevölkerung deutlich erhöht (Abb. 6).

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Abb. 6: Wahrscheinlichkeit der Früherkennung einer Entwicklungsstörung in Abhängigkeit von sozialen Faktoren (nach Erb & Werner 2003) (Odds-Ratio: Wahrscheinlichkeit der Früherkennung im Vergleich zum Durchschnitt deutscher Kinder)

Die Einführung eines generellen Sprachscreenings in die Vorsorgeuntersuchungen könnte zu einer Verbesserung der Chancengleichheit beitragen. An den Vorsorgeuntersuchungen nehmen in den ersten Lebensjahren weit über 90 % aller Kinder teil, auch diejenigen aus sozial benachteiligten Familien. Das bisher übliche Vorgehen zur Früherkennung von Sprachauffälligkeiten ist jedoch ungenügend. Bei einer Überprüfung der Erfassungsrate von Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerungen (Late Talkers) bei der U7 (21.–24. Lebensmonat) zeigte sich, dass nur jedes vierte betroffene Kind erkannt wird (Sachse et al. 2007 a). Eine entscheidende Verbesserung ließe sich durch die Anwendung standardisierter Sprachscreenings erreichen.

4 Anforderungen an Früherkennungsmethoden

Früherkennungsuntersuchungen sollten nur durchgeführt werden, wenn Methoden eingesetzt werden, mit denen Entwicklungsrisiken mit ausreichender Zuverlässigkeit erfasst werden. Dies ist selbst bei Untersuchungsinstrumenten, die sorgfältig konstruiert wurden und die theoretisch gut fundiert sind, nicht immer der Fall.

Die Aussagefähigkeit eines diagnostischen Instruments muss mit adäquaten Methoden nachgewiesen werden (evidenzbasierte Diagnostik). Sprachtests und Sprachscreenings werden zum einen eingesetzt, um den Sprachentwicklungsstand eines Kindes zu beurteilen (dimensionaler Aspekt), zum anderen, um Sprachentwicklungsstörungen zu erkennen (kategorialer Aspekt). Ob ein Sprachtest in der Lage ist, den Sprachentwicklungsstand eines Kindes ausreichend zuverlässig zu bestimmen, geht aus klassischen Testgütekriterien hervor. Diese werden vorwiegend mit Korrelationsanalysen errechnet. Aus diesen Kriterien ist nicht zu entnehmen, wie treffsicher Sprachstörungen erkannt werden. Dazu müssen zusätzlich diagnostische Validitätskriterien, wie Sensitivität und Spezifität, erhoben werden.

Obwohl Sprachtests häufig zur Erfassung von Sprachstörungen eingesetzt werden, liegen bislang kaum Angaben zu deren Zuverlässigkeit bei der Erkennung sprachgestörter Kinder vor.

Bei der Beschreibung der einzelnen Früherkennungsmethoden in den folgenden Kapiteln werden Daten zur deren Zuverlässigkeit angeführt. Um die Interpretation dieser Angaben zu erleichtern, werden die dort erwähnten Testgütekriterien an dieser Stelle kurz beschrieben.

4.1 Gütekriterien für Methoden zur Sprachstandsbestimmung

Gütekriterien (Tab. 4) werden oft in Haupt- und Nebengütekriterien eingeteilt. Als Hauptgütekriterien werden Objektivität, Reliabilität und Validität angesehen. Hinzu kommen zahlreiche Nebengütekriterien, von denen im Folgenden nur die für Früherkennungsmethoden wichtigsten genannt werden. Für einen Einsatz in der Praxis ist zudem entscheidend, ob aussagefähige Normwerte vorliegen.

Tab. 4: Wichtige Testgütekriterien

Hauptgütekriterien

  • Objektivität
  • Reliabilität
  • Validität

Nebengütekriterien

  • Ökonomie
  • Nützlichkeit u.a.

4.1.1 Objektivität

Die Objektivität eines Tests ist ein Maß für den Grad der Unabhängigkeit der Ergebnisse vom Untersucher und unterschiedlichen Untersuchungsbedingungen.

Sprachtestergebnisse können durch die Art der Durchführung wesentlich beeinflusst werden. So ist es nicht gleichgültig, ob z. B. beim Pseudowörter-Nachsprechen die Begriffe vorgesprochen oder von einer CD vorgespielt werden oder ob bei einer falschen Antwort des Kindes weitere Hilfen gegeben werden oder nicht (Durchführungsobjektivität). Die Durchführung eines Tests muss deshalb im Handbuch genau beschrieben sein und diese Anweisungen müssen bei der Testung exakt eingehalten werden.

Bei manchen Sprachtests ist eine Entscheidung bei der Bewertung nicht immer eindeutig (Auswertobjektivität). Ob z. B. beim Nachsprechen von Pseudowörtern ein Kind korrekt „Kalifeng“ oder eher „Kalifenn“ gesagt hat, ist oft schwer zu entscheiden und das Ergebnis damit vom Untersucher abhängig.

Interpretationsobjektivität liegt vor, wenn im Manual eindeutige Entscheidungskriterien zur Bewertung des Ergebnisses vorgegeben werden (z. B. Grenzwerte zur Differenzierung zwischen gestört und ungestört). Fehlen diese oder werden nur qualitative Merkmale genannt, dann ist der Spielraum für Interpretationen, die möglicherweise stärker die theoretischen Auffassungen des Untersuchers als die Eigenschaften des Kindes widerspiegeln, hoch und die Objektivität gering.

4.1.2 Reliabilität