Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken,

und meine Wege sind nicht eure Wege.

Denn wie der Himmel die Erde überragt,

so sind auch meine Wege viel höher als eure Wege

und meine Gedanken als eure Gedanken.

Jesaja 55,8-9

Prolog

Paris, Cimetière de Montmartre

17. Juli 1870

Véronique Eveline Girard legte eine weiße Rose auf das Grab ihrer Mutter. Sie beugte sich tief hinab und flüsterte: „Falls meine Worte dich irgendwie erreichen können, Maman – ihre Hand zitterte auf dem kühlen Marmorstein –, muss ich dir sagen, dass ich das, worum du mich bittest, nicht tun kann. Deine Bitte kostet mich zu …“

Eine ungewöhnliche Kälte fuhr mit einem eisigen Finger über ihren Rücken. Véronique spürte, dass sie nicht mehr allein war. Sie richtete sich auf und drehte sich langsam um.

Die durch Wind und Wetter nachgedunkelten Grabsteine auf dem Cimetière de Montmartre säumten in unterschiedlicher Höhe den ihr vertrauten Pflasterweg. Viele Reihen von alternden, verblichenen Grabsteinen drängten sich neben den verschlungenen Fußwegen. Die Sommersonne bahnte sich hartnäckig einen Weg durch die Blätter über ihr und warf gedämpfte Schatten auf die weißen und grauen Marmorsteine.

Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung und drehte den Kopf.

Hinter einem jahrhundertealten Grabstein saß eine Katze, deren Fell die Farbe von kalter Asche in einem offenen Kamin hatte.

Véronique seufzte lächelnd. „Dann bin ich also doch nicht allein hier. Du bist das Racaille, das Gesindel, das hier herumschleicht.“

Die Katze unternahm keine Anstalten zu verschwinden. Sie starrte Véronique nur an, während ihr Schwanz im langsamen Takt eines nur mäßig interessierten Tieres schlug. Katzen waren in Paris weit verbreitet, und sie waren gern gesehen. Sie halfen, die Mäuse- und Rattenplage einzudämmen.

„Dieser Kater ist nicht das einzige Racaille, das sich hier herumschleicht, Mademoiselle.“

Véronique fuhr beim Klang der Stimme, die ganz nahe zu sein schien, zusammen, erkannte aber ihren tiefen Klang sofort. „Christophe Charvet …“ Obwohl sie insgeheim für seine Gesellschaft dankbar war, setzte sie einen strafenden Blick auf, bevor sie sich umdrehte. Sie wusste, er wäre enttäuscht, wenn sie das nicht täte. „Warum kannst du es nicht lassen, dich immer so anzuschleichen?“ Sie schnaubte leicht. „Wir sind beide längst keine Kinder mehr.“

Zerknirschtheit lag in seinen Augen, aber auch ein Anflug von Schabernack. Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. „Mademoiselle Girard, seien Sie versichert, dass es viele Jahre her ist, seit Sie für mich ein Kind waren.“ Eine verspielte Förmlichkeit begleitete seinen Tonfall, obwohl sein Gesicht einen vertrauteren Ausdruck annahm. Véronique erinnerte sich an diesen Blick, hatte aber gedacht, dass sie diese Phase längst hinter sich gelassen hätten. „Bei der geringsten Ermutigung Ihrerseits, Mademoiselle …“

„Christophe …“ Sie schaute ihn direkt an, da sie ahnte, was jetzt kommen würde, es aber gerne verhindern wollte.

Eine sanfte Entschlossenheit lag in Christophes Gesicht. „Bei der geringsten Ermutigung Ihrerseits, Mademoiselle, würde ich noch einmal versuchen, das Herz der Frau, die ich als junges Mädchen so leicht erobern konnte, zu gewinnen.“

Sie sah ihn an, war aber nicht wirklich überrascht, dass er dieses Thema ansprach. Besonders jetzt, da ihre Mutter gestorben war. Was sie jedoch ein wenig überraschte, war ihr plötzlicher Wunsch, ihm tatsächlich Hoffnungen zu machen.

Sie kannte Christophe, seit sie beide fünf Jahre alt gewesen waren und gemeinsam nackt durch den Springbrunnen vor Monsieur Marchands Anwesen gesprungen waren. Bei der Erinnerung, wie streng die Strafe für diesen unerlaubten Streich ausgefallen war, verkniff sie es sich, über ihren Reifrock zu streichen. Solche Eskapaden hatten sich bis in ihrer beider Jugendjahre fortgesetzt, als sie, nachdem sie ihre Pflichten eilig erledigt hatten, hierher gelaufen waren, um die endlosen Verstecke an diesem stillen Ort auszukundschaften.

Damals hatte sie Christophe verehrt. Er jedoch hatte sie erst viel später mit ähnlichen Augen gesehen, aber bis dahin waren ihre Gefühle für ihn längst erloschen gewesen und es gab keine Hoffnung, sie wieder zum Leben zu erwecken.

Sie wiederholte erneut seinen Namen. Dieses Mal sanfter. „Du weißt, dass du mein bester Freund bist …“

Seine dunkle Braue schoss in die Höhe. „Bester Freund …“ Er verzog das Gesicht. „Genau diese Worte will ein Mann von einer Frau hören, die er anbetet.“

Sein Sarkasmus entlockte ihr ein Schmunzeln. Aber sie war sicher, dass seine Traurigkeit wegen ihrer Ablehnung nur von kurzer Dauer wäre. Immerhin hatte er gesagt „von einer Frau, die er anbetet“, und nicht „von der Frau, die er anbetet“.

Er legte den Kopf zur Seite und schaute sie bewundernd an. „Du kannst einem Mann keinen Vorwurf daraus machen, dass er es versucht, Véronique. Besonders wenn es sich um eine so wunderbare Frau wie dich handelt.“ Eine deutliche Resignation lag in seinem Lächeln. „Angesichts dieser Ablehnung erneuere ich hiermit meinen feierlichen Eid, den ich dir in unserem sechsundzwanzigsten gemeinsamen Jahr gab, als wir …“

„In unserem fünfundzwanzigsten Jahr.“ Véronique zog eine Braue in die Höhe und konnte sich gut an jenen Nachmittag vor fünf Jahren erinnern, als er ihr dieses Versprechen gegeben hatte, während sie über den weiten Rasen der Champs-Élysées geschlendert waren.

„Pardon, ma Chérie. Unser fünfundzwanzigstes Jahr.“ Er kniff kurz die Augen zusammen und ein vertrautes Funkeln leuchtete aus seinen dunklen Pupillen. „Ich korrigiere mich und werde hinfort die flüchtige Hoffnung, dass meine beste Freundin – er hob diese beiden Worte besonders hervor – irgendwann meinem Charme erliegen und in Betracht ziehen könnte, ihre Gefühle zu ändern, begraben.“

Mit einem ernsten Seitenblick versuchte sie, ihm ebenfalls humorvoll zu antworten. „Du wirst diese Entscheidung nicht bereuen, Christophe, denn du würdest mit mir nicht glücklich werden. Darauf gebe ich dir mein Wort.“ Sie zuckte mit den Achseln. Insgeheim wünschte sie, ihre Mutter könnte ihren Wortwechsel hören. Maman hatte ihre Wortgefechte immer genossen und sie hatte Christophe wie einen Sohn geliebt. „Ich bin wie Wein, der zu lang im Keller gelassen wurde. Ich fürchte, ich habe meinen süßen Geschmack verloren und wurde durch die Gärung der Zeit bitter.“

Er zupfte verspielt an ihrer Hand und zog eine Braue in die Höhe. „Ich habe in meinen dreißig Jahren etwas gelernt, das Sie offensichtlich noch nicht gelernt haben, Mademoiselle Girard.“ Sein Lächeln wurde verschwörerisch.

„Und was sollte das sein, Monsieur Charvet?“

Die Wahrheit dämpfte die Belustigung in seinen Augen. „Dass der beste französische Bordeaux, voll ausgereift und reich im Bouquet, nicht von den jüngsten Weinstöcken stammt, ma Chérie, sondern von den reiferen.“

Da ihr beim besten Willen keine witzige Antwort darauf einfiel, beschloss Véronique zu schweigen. Christophes gutes Aussehen und seine sanfte Stärke bescherten ihm schon lange die Aufmerksamkeit der Frauen. Sie konnte sich nicht erklären, warum er immer noch etwas für sie empfand.

Sie sahen sich in einem schweigenden Einvernehmen an. Schließlich nickte er.

Er drückte sanft ihre Hand, dann verbeugte er sich tief und ahmte die höfliche Verbeugung nach, die die männlichen Dienstboten jeden Tag im Haus der Marchands, in dem sie gemeinsam aufgewachsen waren, praktizierten. „Ich werde mich hinfort in die Rolle fügen, die ich in Ihrem Herzen spiele, Mademoiselle Girard, und ich werde dafür dankbar sein.“ Er lächelte kurz und fügte leiser hinzu: „Wie schon immer, ma Petite.“

Meine Kleine.

Dass Christophe den Namen benutzte, mit dem er sie als Kind immer angesprochen hatte, ermutigte Véronique, sich zu ihrer vollen Größe aufzurichten. Aber mit ihren knapp einen Meter sechzig gab sie kaum eine einschüchternde Figur ab und wusste ganz genau, dass sie viel eher wie ein achtzehnjähriges Mädchen aussah als wie eine dreißigjährige Frau. Ihre Mutter hatte ihr oft gesagt, dass sie für ihr jugendliches Aussehen eines Tages noch dankbar wäre. Aber dieser Tag müsste erst noch kommen.

Christophe deutete in Richtung Straße. „Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu begleiten. Monsieur Marchand hat ein Gespräch mit allen Bediensteten des Hauses angesetzt.“ Er atmete ein, als wollte er weitersprechen, zögerte dann aber. Die Linien um seine Augen wurden tiefer.

Véronique betrachtete ihn und spürte, dass noch mehr dahintersteckte. „Stimmt etwas nicht, Christophe?“

Dieses Mal wirkte seine spielerisch hochgezogene Braue nicht ganz echt. „Sei dankbar, dass ich gekommen bin, um dich zu holen, ma Petite. Dr. Claude hat angeboten, an meiner Stelle zu kommen, dieser Abschaum, aber das habe ich nicht zugelassen.“

Als er Dr. Claudes Absicht erwähnte, verzog sie das Gesicht.

„Du musst in seiner Nähe auf der Hut sein, Véronique. Obwohl ich nichts Konkretes gehört habe, glaube ich, dass er sich deiner Hand für würdig erachtet und mit Monsieur Marchand darüber gesprochen hat, dass er dir den Hof machen will.“

Véronique sah im Geiste Dr. Claude vor sich, den Leibarzt der Familie Marchand. „Daran, dass er würdig ist, besteht kein Zweifel. Seine gesellschaftliche Stellung ist weit höher als meine. Aber …“ Sie verzog das Gesicht. „Er ist so alt und er riecht immer aus dem Mund.“

Christophe lachte. „Fünfzig ist nicht mehr ganz jung, ja, aber das heißt noch lange nicht, dass er kurz vor dem Sterben wäre, ma Chérie.“ Er schüttelte den Kopf. „Du bist immer so ehrlich, Véronique. Eine bewundernswerte Eigenschaft, aber sie wird dich in große Schwierigkeiten bringen, wenn sie nicht mit viel Vernunft eingesetzt wird.“

Ihre Kinnlade fiel nach unten. „Ich habe viel Vernunft, und obwohl du mich immer davor gewarnt hast, zu ehrlich zu sein, sagte meine liebe Maman, eine ehrliche Antwort sei so wie ein Kuss auf die Lippen.“

Er lächelte. „Wenn es eine Antwort ist, die man gerne hört, stimmt das zweifellos.“ Er hob eine Hand, als sie zu einer Antwort ansetzte. „Aber lass mich dir eines sagen: Wenn deine liebe Maman etwas geglaubt haben sollte, das meinem Glauben widerspricht, widerrufe ich meinen Glauben auf der Stelle und nehme bedingungslos ihre Meinung an.“ Sein Blick wanderte zum Grab ihrer Mutter. „Denn sie war eine Heilige unter den Frauen.“

Er trat an Véronique vorbei und kniete nieder. Er legte eine Hand neben die weiße Rose auf den Grabstein und beugte den Kopf.

Véronique beobachtete ihn, da sie wusste, wie tief seine Zuneigung zu ihrer Mutter gewesen war. Sie kniete neben ihm nieder und fuhr ebenfalls mit der Hand über den kühlen, glatten Stein. Ihre Mutter war langsam gestorben. Einerseits zu langsam, andererseits zu schnell.

Arianne Elisabeth Girard hatte viel gelitten, und es hatte viele Nächte gegeben, in denen sie in einem unruhigen, von Schmerzmitteln begleiteten Schlaf Gott gebeten hatte, sie zu sich zu nehmen und sie von ihren Schmerzen zu erlösen. Eine Weile hatte Véronique Gott angefleht, ihrer Mutter diesen Wunsch nicht zu erfüllen. Wie egoistisch diese Bitte doch gewesen war!

Jedoch nicht egoistischer als das, worum ihre Maman sie in ihrer letzten Stunde gebeten hatte.

Es war unfair gewesen und der Preis dafür war viel zu hoch. Unter normalen Umständen wäre das ihrer Mutter bewusst gewesen, aber das Fieber und die Medikamente hatten ihr Denken getrübt. Véronique hatte gehört, dass man sich vom Tod der eigenen Mutter nie erholen würde, und wenn sie an die letzten Wochen zurückdachte, fürchtete sie, dass das wahr war.

Sie sah das Gesicht ihrer Mutter vor Augen und versuchte, in einem Sonett, das sich vor langer Zeit in ihr Gedächtnis eingegraben hatte, Trost zu finden. Ihre Mutter hatte dieses Sonett geliebt, das vor über zweihundert Jahren zu Papier gebracht worden war und dessen Worte Véronique erst jetzt, nach dem läuternden Feuer in ihrem eigenen Leben, begriff.

Da sie die Worte auf ihrer Zunge fühlen wollte, wie der Autor selbst sie gefühlt hätte, wählte sie die Sprache des in England geborenen Dichters an Stelle ihrer Muttersprache Französisch. „Tod, sei nicht stolz, hast keinen Grund dazu. Bist gar nicht mächtig stark, wie mancher spricht.“

Christophe sprach genauso fließend Englisch wie sie. Aber er blieb stumm und hielt den Kopf gesenkt.

Sie runzelte vor Konzentration die Stirn. Ihre Stimme war nur ein ersticktes Flüstern: „Du tust uns nichts; auch mich tötest du nicht.
Die du besiegt wähnst, warten nur in Ruh.“ Ihr Gedächtnis ließ sie nicht im Stich, aber die nächsten Verse des Sonetts drohten ihr im Halse steckenzubleiben.

John Donnes Gedanken hatten ihr oft ein gewisses Maß an Trost geschenkt, während sie in den letzten Monaten gezwungen gewesen war, mit anzusehen, wie ihre Mutter dahinsiechte. Aber statt ihr an jenem Morgen Trost zu spenden, war ihr Donnes Sonett an den Tod wie Hohn erschienen. Die Siegeserklärung klang hohl und leer im Licht dessen, was der Tod stahl, auch wenn dieser Diebstahl vom Blickwinkel der Ewigkeit aus nur von kurzer Dauer war.

Sie zog das kleine Buch mit den Sonetten aus ihrer Tasche, das schon ganz abgegriffen war, und schlug die Seite auf, die ihre Mutter zuletzt angestrichen hatte.

Die Notiz unten auf der Seite erregte ihre Aufmerksamkeit.

Sie erinnerte sich immer noch an die fließende Handschrift ihrer Mutter, an die kunstvollen Schlingen und Schleifen, die so viel Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Schrift hatten. Es versetzte Véronique jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn sie die kaum leserliche Schrift sah, mit der ihre Mutter kurz vor dem Sterben geschrieben hatte. Aber der Anblick der letzten zu Papier gebrachten Gedanken ihrer Mutter erfüllte sie mit neuer Hoffnung.

„Der Tod ist nur eine Unterbrechung, kein Ende, meine liebste Véronique.“ Véronique bemühte sich, leise zu sprechen, da sie wusste, dass ihre Stimme dadurch eher wie die ihrer Mutter klang. Das hatte man ihr in den letzten Jahren unzählige Male gesagt. Ach, wenn sie nur selbst auch diese Ähnlichkeit hören könnte, besonders jetzt! „Wenn die Lunge schließlich leer von Luft ist und beginnt, sich mit dem süßen Odem des Himmels zu füllen, erkennt man in diesem Moment, dass man zwar schon vorher existiert hat, aber erst jetzt fängt man wirklich an zu leben.“

Die Tinte hatte eine wackelige, zittrige Linie hinterlassen, die in der Buchbindung verschwand, als hätte es den Schreiber zu viel Kraft gekostet, die Federspitze von der Seite hochzuheben.

Christophe berührte einen kurzen Moment ihre Hand.

Véronique schloss die Augen und eine Träne lief ihr übers Gesicht. Sie weinte immer noch, aber nicht mehr so oft. Es wurde leichter. Und schwerer.

Ihr Blick wanderte zu dem Namen, der in den Marmor gemeißelt war: ARIANNE ELISABETH GIRARD. Dann suchte ihr Blick das kleine, ovale Porträt, das in den Stein eingebettet und von Glas geschützt war. Auf die Bitte ihrer Mutter hin hatte sie eines Nachmittags Anfang Februar kurz vor deren Tod an einer besonderen Brücke an der Seine dieses Bild gemalt. Einige von Véroniques kostbarsten Erinnerungen waren mit dieser Brücke verbunden.

Erinnerungen an einen Mann, den sie nicht richtig gekannt hatte. Trotzdem war es für sie immer ein Kampf gewesen, ohne ihn zu leben.

Ihre Erinnerungen an ihn waren verschwommen und trübe, ganz ähnlich wie das Wasser der Seine. Aber sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater ihre Hand gefasst hatte. Und an den Klang seiner Stimme, als er mit Worten Bilder in ihren Kopf gemalt hatte – Bilder vom Licht der Morgensonne, das sich auf den Wellen des Wassers spiegelt und dem aufmerksamen Zuschauer ein unvergleichliches Farbenspiel enthüllt.

Obwohl sie erst fünf gewesen war, als er fortging, erinnerte sie sich noch genau, welches Gefühl er ihr gegeben hatte, als sie gemeinsam an den Kanälen spazieren gegangen waren: Sie hatte sich wertvoll, ausgewählt, geliebt gefühlt.

Véronique betrachtete das kleine Porträt ihrer Mutter. Sie hatte die Form ihres Gesichts aus dem Gedächtnis gezeichnet. So zeichnete und malte sie alles. Das war eine weitere Gabe, die ihr der große Geber aller Gaben geschenkt hatte, wie ihre Mutter es formuliert hatte. Die Fähigkeit, sich etwas, das sie einmal sah, bis ins winzigste Detail zu merken. Die Bilder tief in ihrem Gedächtnis aufzubewahren, wo sie geschützt und unversehrt blieben, wie in einer Truhe eingeschlossen, um zu einem späteren Zeitpunkt herausgenommen und gemalt oder gezeichnet zu werden.

Wenigstens war das früher so gewesen. Aber sie hatte seit Monaten, seit ihre Mutter krank geworden war, keinen Pinsel mehr in die Hand genommen.

Jedoch konnte sie das nicht allein auf die Krankheit ihrer Mutter schieben. Die nicht gerade schmeichelhafte Kritik eines angesehenen Lehrers an ihrer Arbeit hatte auch sehr dazu beigetragen. Sie war im Musée du Louvre gewesen und hatte zusammen mit anderen Schülern Porträts der großen Meister nachgemalt. Die Kritik des Lehrers war sehr schmerzhaft gewesen. „Sie versuchen nur, uns zu beeindrucken, Mademoiselle Girard, obwohl es Ihnen besser zu Gesicht stünde, in den Grenzen der konventionellen Malkunst zu bleiben. Sie sind hier, um von den Meistern und ihrer Technik zu lernen. Nicht, um uns Ihre Interpretation dieser Meistergemälde zu geben.“

Seine Worte hatten sie zutiefst getroffen. Obwohl die Kritik nicht neu war und teilweise der Wahrheit entsprach, hatte seine öffentliche Erklärung, dass ihre Arbeit keines Lobes wert sei und dass es ihr an Talent fehle, ihrem Selbstvertrauen den Boden unter den Füßen entzogen.

Die Blätter an den Bäumen raschelten im Wind.

Véroniques Blick wanderte über die Lichtstrahlen der Sonne, die auf das Grab fielen und den Marmor strahlend weiß vom braunen Hintergrund der trockenen Sommervegetation abstechen ließen. Soweit sie zurückdenken konnte, gab es tief in ihr einen Ort, der unvollständig blieb, dem etwas fehlte. Gott hatte ihr diese Gabe zu malen vielleicht mit der Absicht gegeben, dieses Bedürfnis zu stillen.

Aber seit dem Tod ihrer Mutter waren alle Versuche, die klaffende Lücke mit dem Malen zu schließen, schmerzlich fehlgeschlagen.

Die Leere in ihrem Herzen erinnerte sie immer wieder an die letzte Bitte ihrer Mutter. „Ich will, dass du das tust, was ich nie konnte, Véronique. Fahre zu ihm …“ Véronique hätte sich am liebsten umgedreht und wäre davongelaufen, aber die Dringlichkeit ihrer Mutter hatte sie veranlasst, neben ihrem Bett stehen zu bleiben. „Finde ihn … ich weiß, dass dein Vater noch am Leben ist.“ Tränen traten ihrer Mutter in die Augen. „Tu es für ihn. Und für dich selbst … Dein Papa ist ein guter Mann.“

Der Blick ihrer Mutter war zum Tisch neben dem Bett gewandert und an einem Stoß von Briefen hängen geblieben. Die früher einmal weißen Umschläge waren mit der Zeit gelb geworden und wiesen deutliche Spuren auf, dass sie oft gelesen worden waren. Das Bündel war fest zusammengebunden. Zu fest, wie es Véronique erschien, und mit einer Schleife, die Véronique bisher nicht gesehen hatte. „Das sind jetzt nicht mehr meine Briefe, Véronique. Sie gehören dir.“ Eine Träne war über die linke Schläfe ihrer Mutter gelaufen und in ihrem Haaransatz verschwunden. „Eigentlich haben sie immer dir gehört. Nimm sie. Lies sie, ma Chérie.“

Sie hatte ihrer Mutter damals ihren Wunsch nicht abschlagen können, aber Véronique wollte die Briefe nicht. Sie brauchte sie nicht noch einmal zu lesen. Sie kannte bereits die Versprechen ihres Vaters, seine junge Frau und seine fünfjährige Tochter nachkommen zu lassen, sobald er sich in Amerika eine Existenz aufgebaut hatte. Sobald er als Pelzjäger genug Geld verdient hatte.

Aber Pierre Gustave Girard hatte sie nie nachkommen lassen.

Christophe erhob sich in diesem Moment aus seiner stillen Andacht und bot ihr seinen Arm an. Véronique stand ebenfalls auf, schob ihre Hand unter seinen Arm und wollte die tonlose Frage, die ihr nie ganz aus dem Kopf gehen wollte, ein für alle Mal zum Schweigen bringen.

Paris war ihr Zuhause. Wie hatte ihre Mutter von ihr verlangen können, es zu verlassen, um sich auf die Suche nach jemandem zu begeben, der sie beide im Stich gelassen hatte?

Christophe ging langsam über das Kopfsteinpflaster und passte seine langen Schritte ihren kleineren Schritten an.

Der schattige Baldachin, unter dem sie dank der dicht belaubten Bäume dahingingen, lockte die Grillen noch lange, nachdem sie sonst in der Sommerwärme verstummten, zu zirpen. Moosflechten bedeckten die Gräber und überzogen die Steine mit graugrünen Schleiern. Eisentore vor kleinen Mausoleen verwehrten Besuchern, die keinen Schlüssel hatten, den Zutritt. Die Schlösser und Ketten, die an ihren Türen angebracht waren, hingen unter ihrem eigenen Gewicht schwer nach unten.

„Wie kann die Zeit einerseits so langsam vergehen, Christophe, wenn sie andererseits so knapp bemessen zu sein scheint?“ Ihre Frage entlockte ihm, wie sie erwartet hatte, ein Lächeln.

„Du bist immer eine Dichterin und betrachtest das Leben mit den Augen eines Künstlers.“ Er schaute zu ihr hinab. „Das ist etwas, das ich immer zu verstehen angestrebt habe, aber ich bin dabei kläglich gescheitert.“

„Und du willst deinen Realismus aufgeben? Deine Fähigkeit …“ Sie zog in dem Versuch, seine tiefe Stimme nachzuahmen, das Kinn ein. „… die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, nicht so, wie andere sie sehen?“

Christophe schüttelte lächelnd den Kopf. „Ach, was für ein gutes Gedächtnis du doch hast, ma Petite. Du beherrschst es perfekt, sowohl Formulierungen als auch Bilder mit einer unvergleichlichen Klarheit einzufangen und festzuhalten. Du vergisst nie etwas.“

„Das stimmt nicht, und das weißt du auch. Meine Gedanken sind in letzter Zeit oft zerstreut, und ich vergesse vieles.“

„Ja, du vergisst zu essen, wenn du bis spät in die Nacht malst.“ Sein Blick wurde tadelnd. „Beziehungsweise, als du gemalt hast. Du vergisst, die Flamme auszulöschen, wenn du beim Lesen einschläfst.“ Er schnippte mit den Fingern. „Wenn du diesen ausländischen Dichter liest, den du so magst.“

Sie schlug ihm schmunzelnd auf den Arm. „Du weißt ganz genau, wie er heißt.“

„Oui, ich kenne den Meister John Donne. Aber warum muss er ausgerechnet ein Engländer sein?“

Sie kicherte darüber, wie er dieses Wort aussprach. Als wäre es irgendwie abstoßend.

Er schaute sie an. „Es tut gut, dich lachen zu hören, ma Petite.“ Er ging wieder weiter. „Wo waren wir stehen geblieben?“

„Ich glaube, du hast meine Fehler aufgezählt. Und du warst dabei nicht besonders schmeichelhaft.“

„Oui, Mademoiselle. Aber es ist auch wirklich eine lange Liste, nicht wahr?“ Sein Tonfall entsprach seinem Lächeln. „Wie neulich, als du vergaßt, Zucker in Madame Marchands Tee zu geben. Ich dachte schon, wir müssten das Parlament einberufen, um über dein Schicksal zu entscheiden.“

Sie lächelte, wand sich aber innerlich, als sie an Madame Marchand dachte, die Matriarchin der Familie.

Vor sechs Jahren hatte Monsieur Marchand Véronique in den Dienst seiner betagten Mutter gestellt, nachdem seine einzige Tochter, der Véronique seit ihrer Kindheit als Gesellschafterin zur Seite gestellt gewesen war, geheiratet hatte.

Madame Marchand hatte sie an dem Tag, an dem ihr dieser schwerwiegende Fehler unterlaufen war, nicht weniger als viermal deshalb gerügt. An den folgenden Tagen hatte die Frau ihren Tadel mehrmals durch kurze, gezielte Blicke fortgesetzt, die sie zuerst auf die Zuckerdose gerichtet hatte und dann strafend auf Véronique.

Sie schüttelte seufzend den Kopf. „Ich fürchte, ich bin in letzter Zeit in Gedanken oft nicht ganz bei der Sache.“

„Aber deinen schlimmsten Fehler habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben.“ Christophe blieb stehen und sie tat es ihm gleich. „Du vergisst ständig die Unzulänglichkeiten anderer Menschen, selbst wenn sie bewusst unfreundlich zu dir sind. Du gewährst Barmherzigkeit, wo keine gerechtfertigt ist …“ Er wurde ernster. „Zusammen mit deiner lieben Mutter hast du dem Haus Marchand immer mit voller Hingabe gedient, trotz Madame Marchands schlechter Laune und fordernder Art. Diese undankbare, alte …“

Ihre Augen weiteten sich, erschrocken über den Namen, den er Madame Marchand gab. Allerdings würde sie lügen, wenn sie behauptete, dass sie nicht gelegentlich das Gleiche gedacht hatte.

Sie bogen um die Ecke, und Véronique sah, dass eine von Monsieur Marchands Kutschen neben dem Eingang zum Friedhof auf sie wartete. Sie hatte am Morgen die drei Kilometer lange Strecke zu Fuß zurückgelegt und es genossen, Zeit zum Nachdenken zu haben und Madame Marchands strengem Blick zu entkommen. „Ist Monsieur Marchands Besprechung mit dem Personal so dringend, Christophe?“

Sein Blick blieb auf die Kutsche gerichtet. „Ist etwas passiert?“

Er half ihr in die Kutsche, stieg neben ihr ein und klopfte an die Seite der Tür. Der Fahrer antwortete ebenfalls mit einem Klopfen.

Véronique hätte am liebsten ihre Frage wiederholt, aber sie hielt sich zurück. Christophe unter Druck zu setzen, war noch nie von Erfolg gekrönt gewesen. Ganz im Gegenteil.

Der Fahrer lenkte die Kutsche auf die Hauptstraße und wählte eine Straße, die parallel zum Musée du Louvre und zur Seine verlief. Der Fluss bahnte sich seinen Weg durch die Mitte der Stadt. Sein dunkles Wasser war durch die täglichen Abwässer und Abfälle der Stadtbewohner trüb und stinkend.

Véronique schob den Samtvorhang vom Fenster zurück, um Luft in die Kutsche zu lassen. Der Schatten, der über Christophes Gesicht zog, entging ihr dabei keineswegs.

Er beugte sich vor und stützte die Unterarme auf seine Oberschenkel. „Es gibt etwas, das ich dir sagen muss, und ich bitte dich, dass du mich aussprechen lässt, bevor du etwas dazu sagst, ma Chérie.“ Er schaute sie wieder an. „Sonst, befürchte ich, kann ich meine Aufgabe nicht erfüllen.“

In seinem Ton lag ein ungewohnter Ernst, was für sie Grund genug war, seiner Bitte nachzukommen. Wortlos nickte Véronique.

„Kaiser Napoleon wird in den nächsten Stunden Preußen den Krieg erklären. Monsieur Marchand hat eine geheime Nachricht bekommen, dass Preußen im Begriff steht, seine Armee mobil zu machen. In Spanien wird es zweifellos einen bereitwilligen Verbündeten finden. Monsieur Marchand …“ Die Kutsche blieb abrupt stehen. Christophe schaute aus dem Fenster, bevor er mit leiserer Stimme weitersprach. „Monsieur Marchand geht davon aus, dass der Konflikt weitreichend sein wird. Er hat bereits Pläne getroffen, binnen dieser Woche nach Brüssel aufzubrechen, und … ich werde ihn begleiten. Seine ganze Familie wird ebenfalls mit ihm reisen.“

Plötzlich wurde ihr der Grund für Christophes Zögern klar. Sie berührte sanft seinen Arm. „Ich will Paris nicht verlassen, Christophe, und jetzt schon gar nicht. Aber wenn …“ Die Kutsche fuhr ruckelnd wieder an und kehrte zu ihrer ursprünglichen Geschwindigkeit zurück. „Aber wenn die Familie nach Brüssel gehen muss, werde ich Madame Marchand gern dorthin begleiten. Ich bin sicher, dass wir nicht lang dort bleiben werden, und dass diese … Situation, die unser Land in Gefahr bringt, schnell vorübergehen wird.“

Er nickte.

Aber der Blick, mit dem er sie bedachte, ließ sie sich wie ein naives Schulmädchen vorkommen. „So einfach ist es nicht, Véronique. Aus vielen Gründen.“

Die Linien auf seiner Stirn vertieften sich, und sie wollte versuchen, seine Sorgen zu vertreiben. „Ich komme damit zurecht. Die Fahrt nach Brüssel könnte mir sogar guttun. Und wenn wir zurückkommen, wird alles …“

„Madame Marchand hat ihren Sohn davon in Kenntnis gesetzt, dass sie nicht plant, von dir begleitet zu werden.“

Seine Stimme klang flach und endgültig. Véronique fühlte sich, als hätte jemand ihr Korsett plötzlich um zwei Größen enger geschnürt. Sie versuchte einzuatmen. „Aber ich … ich verstehe das nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin … ihre Gesellschafterin.“

Christophes Augen zogen sich zusammen. „Ich wurde auch davon in Kenntnis gesetzt, dass … Madame Marchand bereits Vorkehrungen getroffen hat, von einer neuen Gesellschafterin nach Brüssel begleitet zu werden.“

Véronique bewegte die Lippen, aber kein Wort wollte aus ihrem Mund kommen.

Die Kutsche bog in die Kopfsteinpflasterstraße ein, die zum Anwesen der Marchands führte.

Die Erkenntnis, dass sie jetzt eine niedrigere Stellung einnehmen würde, wie auch immer diese Stellung aussah, löste eine Flut von Gefühlen in ihr aus. Véronique schluckte die Wut und die Tränen mühsam hinunter und bemühte sich, das Positive an dieser Situation zu sehen, wie ihre Mutter es ihr sicher nahegelegt hätte. „Darf ich daraus schließen, dass das übrige Personal hier bleibt und das Haus bis zur Rückkehr der Marchands hütet?“

Er gab ihr keine Antwort. Seine Lippen bildeten eine schmale Linie.

„Christophe“, flüsterte sie und wurde mit jeder Sekunde unruhiger. „Wir waren immer ehrlich zueinander. Sag mir, wie meine neue Stellung aussieht.“

Er starrte auf den Kutschenboden und atmete laut hörbar aus. „Nach dieser Woche wirst du … nicht mehr bei den Marchands beschäftigt sein. Er hat dir eine Stellung in der Familie von Monsieur Descantes verschafft. Die Familie Descantes verlässt Paris umgehend in Richtung England.“

* * *

Als sie noch zur selben Stunde in Monsieur Marchands Privatbüro gerufen wurde, nahm Véronique ihren noch verbliebenen Mut zusammen und zwang das panische Rasen ihres Herzens, langsamer zu werden. Die nüchterne und strenge Atmosphäre von Monsieur Marchands Büro hatte schon immer eine einschüchternde Wirkung auf sie gehabt. Als jetzt die überdimensionale Tür hinter ihr ins Schloss fiel, erhöhte sich ihr Unbehagen noch mehr.

Sie sah Christophe mit dem Rücken zu ihr auf der anderen Seite am Fenster stehen. Monsieur Marchand hatte ihn zuerst zu sich gerufen. Eine große Erleichterung erfüllte sie, da Christophe während ihres Gesprächs mit Monsieur Marchand hier bleiben würde.

„Bonjour, Mademoiselle Girard.“ Monsieur Marchand stand hinter seinem Schreibtisch und bedeutete ihr, sich ihm gegenüber auf einen der Mahagonistühle zu setzen.

Sie machte einen Knicks und wählte den Stuhl, der sie in Christophes direkte Blickrichtung brachte. Wenn er sich nur umdrehen würde!

Monsieur Marchand sagte einen Moment lang nichts. Sein Zögern vermittelte ihr den Eindruck, dass ihn das, was er gleich sagen würde, große Kraftanstrengung kostete. „Monsieur Charvet hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie beide bereits miteinander gesprochen haben, Mademoiselle Girard. Und dass Sie über die geänderten Umstände informiert sind.“

Sie nickte und wünschte, Christophe würde sie anschauen.

„Bevor ich weiterspreche, möchte ich Ihnen sagen, dass es für mich von größter Bedeutung war, Ihnen eine Stellung zu sichern, die meine Wertschätzung Ihrer jahrelangen ausgezeichneten Dienste widerspiegelt, Mademoiselle.“ Bedauern zog über Monsieur Marchands Gesicht. „Und auch die Dienste Ihrer Mutter“, fügte er mit überraschender Sanftheit hinzu. „Deshalb habe ich mich dafür eingesetzt, dass Sie in Monsieur Descantes’ Familie unterkommen.“

„Merci beaucoup, Monsieur Marchand.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln und war froh, dass Christophe ihr schon in der Kutsche von der Familie Descantes erzählt hatte. Sie erinnerte sich, das Ehepaar schon einmal bei einem Empfang gesehen zu haben. Monsieur Descantes war trotz seines respekteinflößenden Auftretens sehr freundlich, und seine Frau stand ihm darin in nichts nach. „Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, dass Sie Ihren Einfluss für mich geltend gemacht haben.“

Monsieur Marchand hob eine Hand. „Sie haben diese Stelle nicht nur meinem Einfluss zu verdanken, sondern auch Monsieur Charvets Fürsprache. Er hat seinen eigenen guten Ruf in die Waagschale geworfen, als er Sie empfahl. Sie sind sich der Gepflogenheiten im Parlament vielleicht nicht bewusst, aber Sie haben zweifellos von Abmachungen gehört, die zwischen Verbündeten getroffen werden.“

Sie nickte.

„Verhandlungen finden statt, Abmachungen werden getroffen und besiegelt, und das alles mit einem einzigen Handschlag. Mehr ist nicht nötig. Das Wort eines Mannes ist die bindende Macht eines Abkommens. Nichts muss schriftlich festgehalten werden, da der Ruf eines Mannes, also der Mann selbst, die Garantie ist. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will?“

„Gewiss, Monsieur“, antwortete sie. Was auch immer besprochen worden war, ihre Stelle bei der Familie Descantes war bindend. Falls sie sich entscheiden würde, nicht für sie zu arbeiten, gäbe es keine andere Stelle für sie. Zusätzlich würde sie mit einer solchen Entscheidung sowohl Monsieur Marchands als auch Christophes Ruf großen Schaden zufügen.

„Sie sind eine kluge, junge Frau, Mademoiselle Girard. Das ist einer der Gründe, warum ich Sie vor vielen Jahren als Gesellschafterin meiner Tochter ausgewählt habe. Francette brachte nie viel Eigeninitiative auf. Das liegt vermutlich zum Teil daran, dass sie in so jungen Jahren ihre Mutter verloren hat, aber ich gebe mir auch selbst die Schuld dafür. Als ihr einziger Elternteil habe ich ihr zu schnell zu viel gegeben.“

Véronique war schon sehr lange zu dieser Schlussfolgerung gelangt, hatte aber selbstverständlich ihre Meinung nie laut geäußert.

„Deshalb versuchte ich, eine Gesellschafterin zu finden, die meine Tochter herausfordern und sie durch ihr Vorbild inspirieren würde.“ Aus Monsieur Marchands Lächeln sprach eine starke Zuneigung. „Ich brauchte nicht lange zu suchen, da ich dieses Kind hier unter meinem eigenen Dach fand. Sie haben viel für Francette getan.“ Ein vielsagender Blick trat in seine Augen. „Sie haben getan, was ich nie gekonnt hätte.“

Monsieur Marchands letzter Satz, gepaart mit seiner Miene, veranlasste Véronique, sich höher aufzusetzen. „Monsieur Marchand, ich …“

Als sie seinen Blick sah, verstummte sie.

„Véronique …“ Ein Seufzen kam aus seinem Mund. Sein Gesichtsausdruck trübte sich. „Ich möchte Sie bitten, mich nicht zu unterbrechen, Mademoiselle, während ich Ihnen die Situation darlege.“

Von seiner informellen Anrede überrascht und deutlich an ihre Stellung in diesem Haus erinnert, nickte Véronique wortlos. Diese Ermahnung hörte sie schon zum zweiten Mal an diesem Tag.

„Wie Monsieur Charvet Sie heute informiert hat, haben Sie eine Stelle bei den Descantes. Sie werden als Hauslehrerin und Gesellschafterin ihrer vier Töchter eingestellt. Aber was Monsieur Charvet nicht wusste und was ich ihm absichtlich verschwieg, ist, dass die Familie nicht nach England reist.“

Er brach ab, und die Zeit schien still zu stehen.

Véronique schaute diesen Mann an, den sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatte, ohne ihn je wirklich zu kennen. Christophe drehte sich um und ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht. Der Ausdruck in seinen Augen vermittelte ein einziges Gefühl, das alles andere in den Schatten stellte: Wut.

Ihr wurde übel. Die Luft im Büro wurde plötzlich zu schwer zum Atmen.

„Ihre Mutter und ich – Monsieur Marchands Blick blieb auf den kunstvollen Schreibtisch, hinter dem er saß, gerichtet –, wir unterhielten uns oft bis spät in die Nacht. Hier in diesem Zimmer. Im Laufe der Jahre wurden wir … Freunde. Nicht mehr“, fügte er schnell hinzu, als könnte er Véroniques Gedanken lesen. „Aber ich habe Ihre Mutter sehr in mein Herz geschlossen. Sie liebte Sie mehr als ihr eigenes Leben, Véronique. Sie erzählte mir von ihren Träumen für Sie, von ihren Hoffnungen. Und als sie ihrem Ende entgegenging … auch von ihrem Bedauern über ihre Versäumnisse. Ich gab Ihrer Mutter vor ihrem Tod ein Versprechen.“

Véronique fiel es schwer zu atmen, geschweige denn, sitzen zu bleiben. Die letzte Bitte ihrer Mutter ging ihr durch den Kopf. „Ich will, dass du das tust, was ich nie konnte.“

Sie stand langsam auf und ballte die Hände zu Fäusten, um ihr Zittern einzudämmen. Sie hörte sich die Frage aussprechen, obwohl sie die Antwort bereits wusste. „Wohin reisen die Descantes?“

Monsieur Marchand erhob sich und kam auf ihre Seite des Schreibtisches herum. Nahe, aber doch mit einem respektvollen Abstand. „Sie brechen nach Amerika auf, ma Chérie. In einer Woche verlässt die Familie Paris in Richtung Italien, und Sie werden sie begleiten. Monsieur Descantes wird dort einige Wochen mit Parlamentsangelegenheiten beschäftigt sein, vielleicht auch länger, und dann werden Sie mit ihnen nach Amerika reisen, in eine Stadt namens New York City. Wenn Sie dort ankommen, ist Ihr Dienst für die Familie Descantes beendet, und jemand wird Sie dort abholen und Sie den Rest des Weges begleiten.“

Véroniques Blick wanderte zwischen Monsieur Marchand und Christophe hin und her. Sie war vor Schock wie betäubt und fühlte sich verraten und gleichzeitig auf absurde Weise beschützt. „Den … Rest des Weges?“

Christophe trat näher. Seine Augen verrieten, wie aufgeregt er war. „Du bist stark, ma Petite. Viel stärker, als du aussiehst, und viel stärker, als du selbst glaubst.“

Sie schüttelte den Kopf. Das hatte ihre Mutter immer gesagt. „Ich bin es müde, stark zu sein, Christophe.“

Monsieur Marchands leises Seufzen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „Durch einen Kontakt, den Monsieur Descantes aufgebaut hat, habe ich einen Herrn engagiert, der Sie in New York City abholen wird. Ich habe erst heute Morgen einen Brief mit Anweisungen an ihn abgeschickt. Monsieur Descantes wird ihn über Ihr Ankunftsdatum informieren, sobald dieses feststeht.“ Ein liebevolles Lächeln brachte Spuren seiner verflossenen Jugend zum Vorschein. „Nach den Wünschen Ihrer Mutter und gemäß meinem Versprechen, das ich ihr gab, wird dieser Herr Sie ins Colorado-Territorium zum letzten bekannten Aufenthaltsort Ihres Vaters begleiten. In eine Stadt namens Willow Springs.“