Cover

Martine F. Delfos

»Sag mir mal…«

Gesprächsführung mit Kindern

4—12 Jahre

Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

Die Autorin

Dr. Martine F. Delfos arbeitet seit 1975 als Psychologin und Therapeutin mit mehrfach traumatisierten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Seit vielen Jahren forscht sie über das Thema »Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen« und beschäftigt sich mit der Entwicklung theoretischer Modelle, die sich direkt auf die Alltagsarbeit helfender Berufe anwenden lassen. Darüber hinaus ist sie in der Ausbildung von Psychologen, Schulpsychologen, Ärzten und Sozialarbeitern tätig und hat Lehraufträge an verschiedenen Universitäten weltweit. Sie ist Autorin zahlreicher Grundlagenwerke u. a. zu Entwicklungspsychologie und Autismus, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Auch ihr Buch zur Kommunikation mit Jugendlichen: »Wie meinst du das? Gesprächsführung mit Jugendlichen« ist im Beltz Verlag erschienen.

Über dieses Buch

Dieses Buch zielt in erster Linie darauf, mit Kindern offene Fragegespräche zu führen. Dabei unterscheiden sich die Bedingungen für eine Gesprächsführung je nach Lebensalter, so dass das hier beschriebene Modell altersgemäß aufgebaut ist und zwischen verschiedenen Altersspannen differenziert. Denn eine gelungene Kommunikation bedeutet, dass man sich dem Entwicklungsstand desjenigen anschließt, mit dem man spricht: den jeweiligen Interessen, der Gedanken- und Gefühlswelt und der Art und Weise der Kommunikation.

Zielgruppen dieses Buches sind Therapeuten, Sozialarbeiter, Lehrer, Juristen und Polizisten, Dozenten und Studenten der Sozialpädagogik sowie Eltern, die einen besseren Zugang zu ihren Kindern suchen.

Impressum

Titel der Originalausgabe:

Luister je wel naar mij? Gespreksvoering met kinderen tussen vier en twaalf jaar © 2000, 2001, 2014 M. F. Delfos, Uitgeverij SWP Amsterdam

Die Bernard van Leer Foundation und die Stichting Levensbeschouwing jeugdhulpverlening (Youth Care Theology Foundation) finanzierten die Forschung, auf der dieses Buch beruht.

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-85755-2

Die im Buch veröffentlichten Hinweise wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von der Autorin erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch von der Verfasserin übernommen werden. Die Haftung der Autorin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

www.beltz.de

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© 2004 Beltz Verlag, Weinheim und Basel

Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de (Gestaltung), www.stephanengelke.de (Beratung)

Umschlagabbildung: © Erika Lidén/Maskot/Corbis

ISBN 978-3-407-22273-2

Inhalt

Vorwort

1  Grundsätzliche Überlegungen

Die Dominanz von Sprache

Lernkapazität und Lernbereitschaft bei Kindern

Zuverlässigkeit und Suggestibilität

Fantasie und Wirklichkeit dieses Erbes

Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen

Fragegelenktes Arbeiten

Der Gesprächsrahmen

Die virtuelle Umwelt

Der Aufbau des Buchs

2  Die Entwicklung von Kindern zwischen vier und zwölf Jahren

Wachstum und Entwicklung

Das Kind als kleiner Erwachsener

Die psychosoziale Entwicklung von Kindern zwischen vier und sechs Jahren

Die psychosoziale Entwicklung von Kindern zwischen sechs und acht Jahren

Die psychosoziale Entwicklung von Kindern zwischen acht und zehn Jahren

Die psychosoziale Entwicklung von Kindern zwischen zehn und zwölf Jahren

3 Die Gesprächsführung

Respekt und Bescheidenheit

Interpretierendes Ergänzen

Qualität eines Gesprächs

Kommunikationsbedingungen

Dieselbe (Augen-)Höhe wie das Kind einnehmen

Das Kind anschauen, während man spricht

Abwechselnd Augenkontakt herstellen und unterbrechen, während man mit dem Kind spricht

Dafür sorgen, dass sich das Kind wohl fühlt

Dem Kind zuhören

Mit Beispielen zeigen, dass es einen Effekt hat, was das Kind sagt

Das Kind ermutigen, darüber zu erzählen, was es findet oder will, denn sonst würde man es ja nicht wissen können

Spielen und Reden möglichst kombinieren

Darauf hinweisen, dass man das Gespräch unterbricht und später fortsetzen wird, wenn man merkt, dass das Kind nicht mehr bei der Sache ist

Dafür sorgen, dass das Kind nach einem schwierigen Gespräch wieder zu sich kommen kann

Metakommunikation

Das Gesprächsziel verdeutlichen

Das Kind über die eigenen Absichten informieren

Dem Kind zeigen, dass man Feedback braucht

Das Kind wissen lassen, dass es schweigen darf

Zu benennen versuchen, was man empfindet, und dem Gefühl Folge leisten

Das Kind dazu einladen, seine Meinung über das Gespräch zu äußern

Metakommunikation zu einem festen Bestandteil der Kommunikation machen

Die Sachkenntnis der Gesprächspartner

Die unterschiedlichen Interessen der Gesprächspartner

Loyalität

Sprachfertigkeit und Verschlossenheit

Übertragung und Gegenübertragung

4  Die Gesprächstechniken

Offen weiterfragen

Der Aufbau eines Gesprächs

Die Vorbereitung

Der erste Schritt: Sich selbst vorstellen

Die Einführung des Gesprächsrahmens

Einführungsfragen

Die Eingangsfrage

Der Gesprächsinhalt

Die Abrundung

Fragetechniken

Offene und geschlossene Fragen

Zeigefragen

Rhetorische Fragen

Nachfragen

Suggestivfragen

Komplexe Fragen

Frage wiederholen oder verdeutlichen

Gegenteilfragen

Warum-Fragen

Antwort wiederholen oder zusammenfassen

Zusammenfassend fragen

Das Erleben

Körpersprache

Körperhaltung

Stimmgebrauch

Allgemeine Haltung

5  Gesprächsführung nach Alter

Die Einschätzung des mentalen Alters eines Kindes

Gesprächsführung mit Kindern zwischen vier und sechs Jahren

Metakommunikation

Die Form, in der das Gespräch stattfindet

Verbaler Aspekt

Nonverbaler Aspekt

Fragetechniken

Motivation

Gesprächsführung mit Kindern zwischen sechs und acht Jahren

Metakommunikation

Die Form, in der das Gespräch stattfindet

Verbaler Aspekt

Nonverbaler Aspekt

Fragetechniken

Motivation

Gesprächsführung mit Kindern zwischen acht und zehn Jahren

Metakommunikation

Die Form, in der das Gespräch stattfindet

Verbaler Aspekt

Nonverbaler Aspekt

Fragetechniken

Motivation

Gesprächsführung mit Kindern zwischen zehn und zwölf Jahren

Metakommunikation

Die Form, in der das Gespräch stattfindet

Verbaler Aspekt

Nonverbaler Aspekt

Fragetechniken

Motivation

Epilog

Sach- und Namensregister

Anhang I: Übungen

Kommunikation üben

Kapitel 1: Grundsätzliche Überlegungen

Kapitel 2:  Die Entwicklung von Kindern zwischen vier und zwölf Jahren

Kapitel 3: Die Gesprächsführung

Kapitel 4: Die Gesprächstechniken

Kapitel 5: Die Gesprächsführung nach Alter

Kapitel 6: Epilog

Anhang II: Übersicht der Kernaussagen

Kapitel 1: Grundsätzliche Überlegungen

Kapitel 2: Die Entwicklung von Kindern zwischen vier und zwölf Jahren

Kapitel 3: Die Gesprächsführung

Kapitel 4: Die Gesprächstechniken

Kapitel 5: Gesprächsführung nach Alter

Kapitel 6: Epilog

Anhang III: Merkmale der Gesprächsführung nach Alter

Anhang IV: Checkliste nach Jennings

Anhang V

Liste der Übersichtstabellen

Liste der Beispiele

Literatur

Vorwort

Die Bescheidenheit des Erwachsenen ist das beste Mittel, um einem Kind Kräfte zu verleihen.

Lucas Quinten, Für das werdende Kind

Ich habe dieses Buch über die Gesprächsführung mit Kindern zwischen vier und zwölf Jahren mit großer Freude geschrieben. Viele haben mich darum gebeten, denn es gibt auf diesem Gebiet kaum etwas zu lesen. Was eigentlich seltsam ist, denn mit Kindern zu kommunizieren ist doch für alle, die im täglichen Leben mit ihnen zu tun haben, von großer Bedeutung, besonders für diejenigen, die auf dem Gebiet der Kinderfürsorge arbeiten. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch noch nicht allzu lange her, dass wir unsere Aufmerksamkeit ganz auf die Kinder konzentrieren – die Kinderrechte, wie sie die UNESCO formuliert, sind knapp 25 Jahre alt. Ich bin also froh, dass die Nachfrage nach diesem Buch und meine Bereitschaft, es zu schreiben, zusammenfielen.

Im ersten Teil des Buches beschäftige ich mich hauptsächlich damit, welche Haltung wir einnehmen müssen, um mit Kindern vertrauensvoll zu kommunizieren. Dabei gehe ich davon aus, dass Kinder ein großes Wissen in sich tragen und dass wir als Erwachsene die Pflicht haben, ihnen respektvoll zuzuhören, um dieses Wissen oder diese Weisheit von ihnen zu erfahren. Im zweiten Teil lege ich das Augenmerk dann mehr auf spezifische Techniken, die wir für die Gesprächsführung mit Kindern brauchen. Eine respektvolle Haltung ist meiner Erfahrung nach auch hier das wichtigste Instrument für eine gelungene Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen.

Grundlage dieses Buches sind gründliche wissenschaftliche Forschungsarbeiten, die die Gesprächsführung mit Kindern in einen umfassenden theoretischen und praktischen Rahmen stellen. Darüber hinaus basiert es auf meinen eigenen Erfahrungen als Therapeutin und natürlich auf vielen Gesprächen mit Kindern und Kollegen. Und die Konferenz des International Forum of Child Welfare, die 1999 in Helsinki stattfand, stellte mir wissenschaftliche Arbeiten u. a. der Universität von Jyväskylä zur Verfügung.

Entstanden zu Beginn des neuen Jahrtausends, kann sich »Sag mir mal …« heute, fast 15 Jahre und viele Auflagen später, noch immer eines wachsenden Lesepublikums erfreuen. Zu meiner Freude wird es in vielen Ausbildungszweigen dankbar aufgenommen. In der nun vorliegenden erweiterten Ausgabe wurden neueste Erkenntnisse und Studien sowie Erfahrungen von Studenten aus der Praxis verarbeitet, denn Wissenschaft ist nun einmal dynamisch.

Die Welt, in der das Kind aufwächst, hat sich durch die (1)virtuelle Umwelt (TV, Video, Smartphones, Computer mit Internet, Tablets und Gaming) stark verändert. Die virtuelle Welt ist zu einer wichtigen und eindringlichen Lebenswelt für Jugendliche geworden. Zu einer Welt, in der wir noch immer viel zu wenig mit Kindern kommunizieren, wodurch wir sie in gewisser Weise den Löwen zum Fraß vorwerfen. Aber wir müssen ihnen im virtuellen Bereich eine ebenso gesunde Entwicklung bieten wie bei ihrer körperlichen, sozial-emotionalen, kognitiven, sportlichen und kreativen Entwicklung. Darüber mit Kindern zu sprechen ist von ausschlaggebender Bedeutung. Das Sachwissen ist bei den Kindern in erheblichem Maße vorhanden, während es sich bei Erwachsenen auf grobe Züge beschränkt. Kinder und Jugendliche wissen mehr über Computer und Internet als Erwachsene: Wer über zwanzig ist, weiß nicht, womit die unter Sechzehnjährigen zugange sind. Für die meisten Erwachsenen ist es unmöglich, dieses Wissen aufzuholen. Ich habe versucht, eine Basis zu schaffen, auf der die Kommunikation mit Kindern stimuliert wird, und Kinder werden einem schon erklären, was ein healer ist oder ein safe point.

Mittlerweile habe ich wegen der großen Nachfrage aus verschiedenen Ausbildungsbereichen und der praktischen Arbeit auch ein Buch zur Kommunikation mit Jugendlichen verfasst: »Wie meinst du das?« handelt von der Gesprächsführung mit Jugendlichen (13–18 Jahre).

Beide Bücher sind aufeinander abgestimmt, beide bieten in jedem Kapitel Übungen, mit deren Hilfe der Stoff in der Praxis angewendet und vertieft werden kann. Mit der Durchführung der Übungen wird nach und nach die richtige Haltung für die Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen erarbeitet. Am Ende jedes Kapitels befinden sich Kernaussagen zur Zusammenfassung der inhaltlichen Hauptlinien des Kapitels.

Beide Bücher habe ich anfangs für Studierende der Sozialarbeit entwickelt und für Menschen, die in der Kinderfürsorge arbeiten. Doch eigentlich richten sie sich an alle, die professionell mit Kindern zu tun haben, vom Polizisten, der ein Protokoll aufnimmt, über die Lehrerin bis hin zum Therapeuten, der ein Kind behandelt. Und auch an die Eltern, die die Kommunikation mit ihrem Kind vertiefen und verbessern möchten.

Für ihre Unterstützung bei diesem Vorhaben möchte ich vor allem meiner Familie danken und einigen Menschen, die mir beim Zustandekommen dieses Buches halfen und mich dabei unterstützten. Neben den Beiträgen von WESP (Wissenschaftliche, Erzieherische und Sozialkulturelle Projekte), die mich mit entsprechenden Materialien und Mitteln versorgten, suchte auch Marijke Gottmer Material für die erste Auflage, wofür ich ihr danke.

Die Konferenz des IFCW, International Forum of Child Welfare, in Helsinki im September 1999 nährte mich mit wissenschaftlicher Arbeit, die unter anderem an der Universität von Jyväskylä in Finnland durchgeführt wird. 2012 baten die dortigen Kollegen mich um methodologische Unterstützung bei ihren Studien zur Kommunikation mit Kindern.

Ich bedanke mich auch bei den Studenten, die Material für mich suchten: Floris Hartmann und Laura Dekkers.

Ich danke Verena Kiefer für ihre sorgfältige Übersetzung und die angenehme Zusammenarbeit.

Ich danke auch meinem niederländischen Verleger, Paul Roosenstein, für seinen großen Einsatz und dafür, meiner Arbeit vertraut zu haben.

Martine France Delfos, Utrecht 2014

1 Grundsätzliche Überlegungen

Wie schon gesagt, gibt es kaum Literatur über die Gesprächsführung mit Kindern, erst recht nicht über die Gesprächsführung mit kleinen Kindern. Bislang wurde wenig oder gar nicht auf diesem Gebiet geforscht. Und das, was es gibt, zielt vor allem auf den Unterschied in der Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern. Der Art und Weise, wie Erwachsene und Kinder miteinander sprechen und wie sie auf der Grundlage ihrer Möglichkeiten – und nicht vorhandenen Möglichkeiten – kommunizieren können, wird wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Clark (2005) berichtet in einer Bewertung von Studien zum Zuhören im Gespräch mit Kindern, dass es wenig Forschung über das Anhören von Kindern gibt, dass jedoch deutlich wird, wie wichtig es ist, in der Kommunikation mit Kindern die Unterschiede in Perspektive, Interessen und Bedürfnissen je nach Alter zu berücksichtigen.

Mittlerweile gibt es immer mehr Aufmerksamkeit für das Kind (Delfos 2001a) . Die UN-Kinderrechtskonvention von 1990 ist nun, in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, 25 Jahre alt , doch im Hinblick auf das zunehmende Interesse an dem, was das Kind wirklich meint, stellt man erst allmählich und vereinzelt Untersuchungen darüber an, wie man mithilfe von Fragebögen und Interviews zu wissenschaftlich fundierten Ergebnissen kommen kann (Borgers, de Leeuw und (1)Hox, 1999). Auch wegen des internationalen Übereinkommens über die Rechte des Kindes achtet man auf die Teilnahme von Kindern in wissenschaftlichen Studien. Punch (2002) zeigt, dass wissenschaftliche Studien mit Kindern anders sind als Studien mit Erwachsenen, und stellt sieben methodologische Engpässe zusammen. Das Hauptproblem liegt darin, dass es sich bei der Sicht auf Kinder um die Sicht von Erwachsenen handelt statt um die der Kinder selbst. Das Recht von Kindern zur Teilnahme an wissenschaftlicher Forschung stößt auf Probleme, unter anderem aufgrund der Forderungen der Ethikkommission, die beurteilt, ob bestimmte Untersuchungen durchgeführt werden dürfen (Powell & Smith, 2009). Conroy und Harcourt (2009) besprechen, wie sensibel vorzugehen ist, wenn man kleine Kinder bittet, sich an einer Studie zu beteiligen. Ihre Zustimmung kann sich zum Beispiel nur um die sehr naheliegende Zukunft drehen, und Eltern willigen in so manches ein, dem Kinder keine Zustimmung erteilen würden, oder umgekehrt. Es ist unbedingt notwendig, eine Perspektive einzunehmen, die das Kind in den Mittelpunkt stellt (Grover, 2004).

Die Möglichkeit der Teilnahme an wissenschaftlichen Studien ist nicht losgelöst von der Haltung zu Kindern im Allgemeinen zu betrachten. Sinclair (2004) gibt an, dass die Teilnahme von Kindern an wissenschaftlichen Studien nur dann möglich ist, wenn sie in die Beziehung zu Kindern im Allgemeinen eingebettet ist. Wenn Kinder an Studien teilnehmen, muss man sich darüber im Klaren sein, dass sie es durchschauen, wenn Erwachsene so tun, als wären Kinder gleichwertig. Kinder haben im Alltag Erfahrung mit den Machtverhältnissen zwischen Kindern und Erwachsenen (Christensen, 2004).

Mit Kindern zu sprechen ist für viele Menschen eine tägliche Beschäftigung, jedenfalls während eines Teils ihres Lebens. Für diejenigen, die beruflich mit Kindern arbeiten, ist es sogar eine Kerntätigkeit. Dennoch lernen wir in der Ausbildung wenig darüber und müssen unsere Kenntnis vor allem aus eigener Erfahrung und der Erfahrung der Menschen um uns herum schöpfen. In entwicklungspsychologischen Büchern schenkt man der Sache wenig Beachtung, im günstigsten Fall ein bis zwei Seiten. Spezielle Aufmerksamkeit für offene Gespräche mit Kindern – zentrales Thema in diesem Buch – ist noch seltener. Meist handelt es sich bei den Studien um die Kommunikation mit Kindern in (1)Verhörsituationen und bei Zeugenaussagen.

Die Dominanz von Sprache(1)

Je jünger das Kind, desto unbeholfener scheinen sich Erwachsene im Gespräch mit Kindern zu fühlen (Übung 1.1, Anhang I). Ganz sicher, wenn es sich um schwierige oder schmerzliche Themen handelt. Für das Kind gilt das nicht minder. Je jünger es ist, desto merkwürdiger empfindet es oft die Kommunikation mit Erwachsenen. Dies beginnt bereits kurz nach der Geburt. Babys werden nicht mit Sprache, wohl aber mit der Möglichkeit zur Sprache geboren (Chomsky, 1973; Kegl, Senghas und Coppola, 1999). Einem Baby ist schon bald klar, dass ein Erwachsener nicht genug versteht, wenn es nicht in Worten ausgedrückt wird. Auch ohne dass man es ihm erklärt, begreift das Baby, dass es lernen muss, was dieser Brei an Lauten bedeutet, den Erwachsene von sich geben, und es versucht, sich selbst eine Sprache(2) zu eigen zu machen. Ein Baby kann sogar verschiedene Klänge abstrahieren, die zum selben Klangsystem gehören, aber von unterschiedlichen Menschen ausgesprochen werden. Lautgruppen wie »essen« oder »draußen«, von verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Stimmen ausgesprochen, werden als ein und derselbe Begriff erkannt. Es gelingt dem Baby, daraus ganz selbstständig, mit nur geringem Ansporn von Kindern und Erwachsenen aus seiner Umgebung und ohne dass es Regeln dazu bekommt, einen Wortschatz, einen Bedeutungsschatz und eine Grammatik zu entwickeln. Hört es unterschiedliche Klänge, wird es diese als einzelne Sprachen(3) gruppieren, »essen« und »draußen« zueinander und »manger« und »dehors« in eine andere Gruppe. So macht das Kind in diesem Beispiel unbewusst »Deutsch« und »Französisch« daraus. Bietet man dem Kind mehrere Sprachen an, zwei oder drei auf einmal, wird es diese im Prinzip sogar alle lernen.

Beispiel

Martin, sieben Monate alt, lacht mich wohlwollend an, während ich Niederländisch mit ihm spreche. Als ich, als Zweisprachige, zum Französischen wechsle, kräht er vor Freude. Er hört, dass etwas Neues geschieht, und ist, in der für Babys typischen Begeisterung für neue Dinge, darüber entzückt. Diese Erfahrung habe ich bei Babys öfter gemacht.

Aber nicht jeder hat dieselben sprachlichen Talente und nicht jeder bekommt die gleichen Möglichkeiten geboten, Sprache zu entwickeln. Es gibt Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen (Delfos, 2004a). Die Sprachentwicklung bei Jungen verläuft oft träger (Rutter und Rutter, 1993; Delfos, 2009a).

Kinder sind besonders sensibel auf ihre Umgebung eingestellt und verstehen Situationen schon lange, bevor Wörter dazugehören (Donaldson, 1979). Sie nehmen Wörter ihrer Umgebung auch aus dieser Sensibilität für Situationen heraus auf und koppeln ihr Verständnis von der Situation an die Wörter, die sie hören.

Vor allem für kleine Kinder sind Bilder sehr wichtig und haben einen großen kommunikativen Wert. Cook und Hess (2007) zeigen, dass Fotos, die Kinder selbst aufnehmen, bedeutungsvoll sein können. Diese sind nicht statisch, sie haben Bedeutung für die Kinder selbst und können den Erwachsenen, die sie betrachten, eine Vorstellung von der Perspektive des Kindes in einem bestimmten Kontext zu einer bestimmten Zeit vermitteln.

In allen Sprachen(4) machen Kinder am Anfang Fehler, die sie selbst produzieren und die man ihnen nicht beigebracht hat. Fehler, die aus ihrem Abstraktionsvermögen entstehen, egal, ob es sich um ein intelligentes Kind handelt oder um ein Kind mit geringeren intellektuellen Fähigkeiten. Sie sagen »ich laufte« als »perfekte« Konjugation einer grammatikalischen Erkenntnis (überregulieren), wobei ihnen das kein Erwachsener beigebracht hat (de Villiers und de Villiers, 1999; Stemberger, 2004). Im Gegenteil: Macht das Kind einen solchen Fehler, wird es vom Erwachsenen verbessert, und es hört, dass es »ich lief« sagen muss. In diesem Moment lernt das Kind, dass das Verb »laufen« eine Ausnahme von der Regel ist. Daraufhin sagt das Kind in Zukunft »ich lief« und wendet dies auf das gesamte Verb und andere Verben an, die eine Ausnahme von der Konjugationsregel bilden (Rousseau, 1726; Chomsky, 1998). Wie groß diese Leistung ist, sehen wir, wenn ausländische Erwachsene unsere Sprache(5) lernen müssen und es in ihrer eigenen Sprache(6) keine Konjugation von Verben gibt, was übrigens bei fast allen nicht westlichen Sprachen der Fall ist. Diese Ausländer sagen hartnäckig »ich nicht wissen«, weil in ihrer Muttersprache Verben nicht konjugiert werden, und haben allergrößte Mühe, die Konjugation in der Fremdsprache zu erlernen. Wer als Erwachsener eine Sprache(7) lernt, schafft es selten, sie fließend und fehlerfrei zu sprechen.

Beispiel

1980 kommen vietnamesische Bootsflüchtlinge in die Niederlande. Sie geben sich sehr große Mühe, die Sprache zu lernen. Aber sie finden es seltsam: »Martine, warum sagt ihr ›ein Stuhl, zwei Stühle‹? Es ist doch klar, dass es mehr als eins ist? Warum sagt ihr ›ich laufe, du läufst, wir laufen‹? Es ist doch klar, dass es ums Laufen geht? Und warum sagt ihr ›ich lief‹? Wenn ihr ›gestern‹ dazu setzt, ist es doch eindeutig, dann braucht man doch nicht noch ›lief‹ dazu.« Ein erfrischender Blick auf die eigene Muttersprache. Im Vietnamesischen gibt es viel mehr Wörter für Beziehungen und Gefühle zwischen Menschen. Da fragt man sich, welche Sprache wohl reicher ist? (Übung 1.2, Anhang I).

Es gibt eine sensitive Periode(1) für Sprache(8) ((1)Montessori, 2012), innerhalb deren das Kind auf Sprache ausgerichtet ist und in der es diese Sprache fließend zu beherrschen lernt. Dieser Zeitraum erstreckt sich von der Geburt bis etwa sieben Jahre; danach gibt es eine sensitive Periode für die Verfeinerung der Sprache(9), vor allem in grammatikalischer Hinsicht, und für das Erlernen von Schreiben und Lesen(1), ab etwa sieben bis zehn Jahre.

Die Fähigkeit, Kommunikation(1) mithilfe von Sprache(10) zu erlernen, ist enorm groß, aber sie muss auch die Gelegenheit bekommen, sich zu entwickeln. Erwachsene unterliegen oft dem Irrtum, ein Kind, das die Wörter einer Sprache(11) aussprechen kann, sei auch in der Lage, Fragen zu formulieren, die es beschäftigen. Bis zu einem Alter von etwa zehn Jahren ist das sicher nicht der Fall. Kinder können zum Beispiel, wenn sie nicht ausdrücken können, was sie fragen wollen, Wiederholungsfragen stellen, das heißt, die Wiederholung derselben Frage. Erwachsene interpretieren dieses Verhalten nicht selten als Unaufmerksamkeit und reagieren, indem sie sagen, sie hätten bereits darauf geantwortet und das Kind solle gefälligst zuhören. Ein Kind, das immer dieselbe Frage stellt, kann ein Kind sein, das schlecht zuhört. Aber häufiger wird es ein Kind sein, das versucht, eine bestimmte Antwort zu erwirken, ohne in der Lage zu sein, die passende Frage dazu zu formulieren.

Beispiel

Inka ist vier, sie hat großes Interesse für Bodo, das Baby der Nachbarn. Immer wieder fragt sie: »Bekommt Bodo die Flasche?« Sie wiederholt die Frage täglich und bekommt die Antwort, dass Bodo die Flasche bekommt. Bis der Nachbarin auf einmal die Idee kommt, dass Inka vielleicht etwas ganz anderes fragen möchte. Sie fragt: »Willst du Bodo einmal die Flasche geben?« Inka seufzt vor Erleichterung: »Ja!«

Auch wenn das Kind eine ausführliche Antwort erhält, wiederholt es die Frage in der Hoffnung, die gewünschte Antwort zu bekommen. Wiederholungsfragen werden bis zu einem Alter von acht Jahren häufig gestellt.

Info

Kegl(1) hat gezeigt, dass junge taube Kinder, die miteinander aufwachsen, gemeinsam eine vollwertige, grammatikalische Gebärdensprache entwickeln. Dies im Gegensatz zu Taubstummen, die erst zusammenzogen, als sie Jugendliche waren. Sie entwickeln lediglich einen Wortschatz in Form von Gebärden (Kegl, Senghas & Coppola, 1999).

Erwachsene brechen viele Initiativen von Kindern zum Gespräch ab. Sie nehmen sich oft zu wenig Zeit, um das Kind selbst ausdrücken zu lassen, was es sagen will, und übernehmen das Gespräch (van Haaren, 1983) (Übung 1.3, Anhang I). »Wart mal«, liegt dem Erwachsenen ganz vorn auf der Zungenspitze. Van Haaren(1) geht davon aus, dass die Gesprächsführung mit Kindern ein gutes Maß dafür abgibt, wie kreativ ein Erwachsener sich gibt. Denn Kommunikation(2) mit Kindern verlangt Verspieltheit und die Loslösung von festen Mustern. Reden mit Kindern erfordert auch, dass man sich Ohnmacht und Angst abgewöhnt, um an Fantasien, Träumen, Symbolen, Ideen und Gefühlen teilzunehmen, so van Haaren(2). Das bedeutet, sich von der Starrheit und dem Leistungsdruck frei zu machen, immer normieren, interpretieren, gewinnen und konkurrieren zu müssen.

Wer Kleinkinder beobachtet, die noch nicht sprechen, kann an ihrem Verhalten erkennen, dass sie unglaublich viel verstehen. Ihre Fähigkeit, Sprache(12) verstehen zu können, ist der Produktion derselben weit voraus. Der aktive Wortschatz(1) – die Anzahl von Wörtern, die das Kind benutzt – reflektiert bei Weitem nicht den passiven(1) – die Anzahl von Wörtern, die das Kind kennt. So gibt es zum Beispiel eine Verzögerung von fünf Monaten zwischen dem Verstehen von 50 Wörtern bei einem Kind (von 13 Monaten), und deren Produktion (mit 18 Monaten) (Menyuk, Liebergott und Schultz, 1995). In ihrem frühen Wortschatz überflügeln Mädchen gleich alte Jungen (Reznick und Goldfield, 1992).

Beispiel

Marec, ein fast zweijähriges Kind politischer Flüchtlinge, wurde plötzlich von seinen Eltern getrennt und in ein Krankenhaus einer total anderen Sprachumgebung aufgenommen. Seine Eltern durften ihn nicht besuchen; sonstige Angehörige gab es nicht. In den ersten Tagen äußerte Marec noch einige Klänge, die aus seiner eigenen Sprache(13) stammten. Als man darauf nicht reagierte, weil man die Klänge nicht verstand, ergriff der Junge keine Initiative mehr, um sich sprachlich zu äußern, und plapperte ausschließlich Wörter nach, die er um sich herum hörte. So jung das Kind auch war, hatte es untrüglich verstanden, dass sein eigenes Sprachsystem nicht passte, und verlegte sich auf das Erlernen der neuen Sprache(14).

Erwachsene nehmen selten die Perspektive des Kindes ein. Vor allem in Situationen im Krankenhaus ist gute Kommunikation sehr wichtig (Capjon & Bjørk, 2010). Es ist oft rührend und komisch, zu beobachten, wie das Kleinkind, das selbst ausgezeichnet versteht, was der andere sagt, vor lauter Wut ratlos werden kann und die Fäuste vor unterdrücktem Zorn ballt, wenn es nicht selbst die Sprache(15) produzieren kann, die es braucht, um von dem Erwachsenen verstanden zu werden. Es ist sogar so, dass Wutanfälle und das Schlagen anderer Kinder bei vielen Kindern ab drei Jahren abnehmen. Also von dem Moment an, wenn sie sich einigermaßen sprachlich verständlich machen können.

Lernkapazität und Lernbereitschaft(1) bei Kindern

Maria Montessori(2) (2012) ist der Ansicht, dass Erwachsene dem Kind, das ganz allein ein Sprachsystem entwickeln kann, mehr Respekt zollen müssen. Sie sagt, so wie Erwachsene in der Schule dem Kind das Alphabet als riesigen Leckerbissen anbieten, klinge ein Mangel an Respekt durch. Sie wollen dem Kind Unterricht darin erteilen und vergessen dabei völlig die kolossale eigene Lernkapazität des Kindes, das bereits selbstständig eine Sprache(16) gelernt hat und sich aus dem Nichts heraus bereits lange vor dem ersten Schultag einen großen Teil der Phonologie, der Semantik, der Grammatik und der Pragmatik zu eigen gemacht hat (Berk, 2003)

Auch die Lernbereitschaft(2) von Kindern ist riesengroß. Vor allem junge Kinder sind bereit, neue Gebiete zu betreten, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu bietet. Das kann variieren vom Erlernen einer Sprache(17) bis zum Schaukeln, vom Sauberwerden bis zum Rechnen, vom Abwaschen bis zur Bedienung eines Computers.

Beispiel

Der vierjährige Simon, der noch ins Bett machte, sollte langsam anfangen, nachts sauber zu werden. Er reagierte sehr wohlwollend und sagte: »Sag einfach, wie das geht, und ich mache es dann.« Seine Mutter war von dieser Frage sehr überrascht und musste die Antwort schuldig bleiben. »Wie soll ich es denn lernen, wenn du es nicht erklären kannst?«, war Simons Reaktion.

Kindern kann das Lernen so viel Spaß machen, dass sie ganz darin aufgehen und ihre Umgebung vergessen. Wenn sie danach etwas beherrschen, tritt Normalisierung(1) ein ((3)Montessori, 2012), das Gefühl, wieder ganz zu sich zu kommen. Sie schauen sich um und werden sich dann erst wieder einer Welt bewusst, der sie kurzfristig entrückt waren.

Kleine Kinder hängen viel weniger an bestimmten Mustern. Sie sind gut in der Lage, sich einem Problem aus verschiedenen Perspektiven zu nähern und treten der Welt mit weniger Vorurteilen entgegen als Erwachsene.

Das junge Kind nimmt vor allem mit seinen Sinnesorganen wahr, besonders mit dem Geruchs- und(1) dem Tastsinn(1). Erfahrungen werden nicht oder kaum in Worten festgelegt. Das junge Kind ist auch biologisch anders ausgestattet als der Erwachsene. Es »schaut« zum Beispiel mit dem Mund und hat dadurch mehr Geschmacksknospen im Mund als ein Erwachsener. Beim kleinen Kind ist sogar von einer ganz anderen Form der Wahrnehmung die Rede, einer Form, die der Erwachsene nicht oder kaum mehr kennt ((1)Schachtel, 1973). Es soll so sein, dass Erfahrungen aus der Kinderzeit eher durch Geruch(2) oder Befühlen(2) hervorgerufen werden können und es nicht leicht ist, sie durch Sprache(18) auszudrücken. Cook und Hess (2007) geben noch einen weiteren Grund an, weshalb Erinnerungen aus unserer Kindheit so schwer zu erreichen sind: Obwohl Kindheit etwas ist, das alle Menschen teilen, droht das Kind in uns von den Konventionen erwachsener Sozialisation begraben zu werden. Wir müssen hierbei auch berücksichtigen, dass das menschliche Junge »zu früh« geboren wird und noch etwa fünfundzwanzig Jahre nach der Geburt weiterreift (Gesell & Ilg, 1949; Tanner, 1978; Brouwers-de Jong, Burgmeijer & Laurent de Angulo, 1996).

Um für den Reifungsprozess(1) Platz zu lassen, aber auch um den Schädel während der Geburt ein bisschen ineinander schieben zu können, befindet sich im oberen Schädelbereich eine Öffnung, die so genannte Fontanelle, die sich erst nach ein bis zwei Jahren schließt. Ein Reifungsprozess(2), der übrigens auch bedeutet, dass von einer integrierten Form des Wahrnehmens wie bei Erwachsenen noch keine Rede sein kann. Linke und rechte Gehirnhälfte funktionieren(1) bis zum Alter von sieben Jahren beispielsweise noch stark voneinander getrennt. Erfahrungen werden in Geruchs- oder Farbfragmenten und dergleichen in unterschiedlichen Gehirnbereichen aufbewahrt und stehen untereinander nur wenig in Verbindung. Erst im Alter von etwa sieben Jahren gelangt die Integration der Gehirnhälften zum Abschluss, wenn auch eine Veränderung im Genmuster sichtbar wird (Fulker, Cherry und Chardon, 1999)

Info

Ein aufschlussreiches Beispiel der (Ver-)Formung des Gedächtnisses durch Voreingenommenheit bildet die Untersuchung von Allport(1) & Postman(1) (1947). Sie zeigten Kindern und Erwachsenen zwei Fotos von Männern, einen schwarzen und einen weißen Mann. Der weiße Mann hatte ein Messer in seiner Hand. Kinder erinnerten sich im Allgemeinen korrekt, dass der weiße Mann ein Messer trug; die Erwachsenen nannten den schwarzen Mann als denjenigen, der das Messer in der Hand hatte.

Wenn Kinder heranwachsen, merken sie, dass Erwachsene eine fest umrissene, sprachliche Art haben, mit der sie die Welt beschreiben, und Schachtel(2) ist der Ansicht, man übe großen Druck auf Kinder aus, damit sie sich dieser Art anpassen. Abweichen von der Norm löst beim älteren Kind, aber auch bei Erwachsenen Angst aus. Hierdurch entsteht ein großes Bedürfnis nach Anpassung, und das Kind wird sich immer häufiger sprachlich ausdrücken, weil es der Erwachsene so verlangt.

Es gibt eine breite Skala von Kommunikationsmöglichkeiten, wobei der Geruch(3) vielleicht sogar eine der wichtigsten in der Steuerung unseres Verhaltens ist, aber dennoch neigen Erwachsene vielfach dazu, sich auf sprachliche Kommunikation(1)(3) zu beschränken, im Gegensatz zum Kind, das begieriger von den verschiedenen Möglichkeiten Gebrauch macht und beispielsweise durch Spiel oder Gebärden etwas verdeutlichen kann. Für das Kind ist Sprache(19) außerdem nicht ausschließlich Kommunikationsmittel, sondern auch ein Instrument zur Herstellung von Ordnung. Das kann man am lauten Sprechen(1), der (1)inneren Sprache kleiner Kinder, gut feststellen (Vygotskij, 1996). Dieses laute Sprechen begleitet die Tätigkeiten von Kindern. Es hilft ihnen, diese Aktivität zu begreifen, zu ordnen und zu koordinieren: »Jetzt stecke ich dieses Klötzchen hier rein …«

Je älter das Kind, desto größer wird der Druck, sprachlich zu funktionieren; nicht sprachliches Funktionieren wird sogar regelmäßig von Erwachsenen als unhöflich bezeichnet. »Nicht zeigen, sag doch, was du willst.« Mit dem Älterwerden nimmt die Verwendung mancher Ausdrucksformen ab. So lehnt man sich zum Beispiel nicht mehr einfach an jemanden an, wenn man Halt braucht, oder zeigt nicht mehr auf etwas, statt es zu benennen.

Beispiel

Kai (5) fragte eine Frau, die damit beschäftigt war, ein Zimmer leer zu räumen: »Und wo stellst du diese Kiste hin?« Die Erwachsene konnte in ihrer Betriebsamkeit nicht auf das Wort kommen. Wäre es ein Erwachsener statt eines Kindes gewesen, der die Frage stellte, dann hätte dieser in dem Moment hilfsbereit einige Möglichkeiten zum Ausdruck gebracht: »Unter die Fensterbank? Dahinten links?« Kai verstand, dass das Sprachsystem in der ganzen Geschäftigkeit nicht so funktionierte, und sagte freundlich: »Zeig mal«, und fasste danach den Ort, auf den gezeigt wurde, korrekt in Worte.

Die Arbeitsweise der Kinderkrippen in Reggio Emilia(1) (Edwards, Gandini & Forman, 1998; Keesom, 1998) zeigt, wie einschränkend die Neigung Erwachsener zu verbaler Kommunikation(4)(2) für Kinder (aber auch für sie selbst) ist. In dieser italienischen Stadt arbeiten Künstler und Pädagogen zusammen, um Kinder in ihrer Ausdrucksweise und ihrem Lernprozess zu begleiten. Der Reggio-Ansatz möchte die intellektuelle Entwicklung des Kindes fördern und stützt sich systematisch auf symbolische Ausdrucksweisen. Das Ergebnis ist verblüffend. Durch Kreativität können uns Kinder unglaublich viel deutlich machen, und ihre »Kunst« spricht die Vorstellungskraft derartig an, dass das Werk der Kinder von Reggio Emilia(2) als Ausstellung unter dem Namen »Die hundert Sprachen von Kindern« weltweit großen Eindruck machte. Die Arbeitsweise von Reggio Emilia(3) kann als eine Weiterentwicklung des Denkens von Maria Montessori(4) gesehen werden. Im Mittelpunkt steht zwar die Ausrichtung auf die Kinder und ihre Entwicklungsmöglichkeiten, aber diese befindet sich innerhalb der breiten Skala von Ausdrucksmöglichkeiten. Also werden im Reggio-Ansatz auch Zeichnen und Erzählen eingesetzt und vor allem die Zusammenarbeit und Interaktion mit anderen Kindern. Letzteres fand bei Maria Montessori(5) (2012) kaum Aufmerksamkeit. Sie war mehr auf die individuelle kognitive Entfaltung des Kindes ausgerichtet.

Zuverlässigkeit und Suggestibilität(1)

Über Gesprächsführung mit Kindern ist, wie bereits gesagt, wenig geschrieben worden. Daher können wir uns in diesem Buch nur zu einem kleinen Teil auf vorhandene Literatur und Forschung stützen. Was über Gesprächsführung bekannt ist, betrifft vor allem das Maß der Zuverlässigkeit bei Aussagen von Kindern. Diese Zuverlässigkeit hat man lange Zeit besonders negativ beurteilt. Bis vor kurzem ging man davon aus, dass Kinder, vor allem junge, leicht zu beeinflussen(1) sind. Sie seien sehr empfänglich für Suggestion(1). Suggestibilität(2) ist das Ausmaß, in dem jemand durch einen anderen dazu gebracht werden kann, zu glauben, dass etwas geschieht oder dass jemand anders aussieht als in Wirklichkeit(1) oder in der Erinnerung. Beispielsweise glauben lassen, dass etwas stattgefunden hat, was in Wirklichkeit nicht geschehen ist (Loftus und Davies, 1984). Bis zum Alter von drei Jahren zeigen sich Kinder allerdings als sehr wenig empfänglich für Suggestion(2), wenn es sich um ein stressiges Ereignis handelt, das sie erlebt haben, und sie können ziemlich genau angeben, was sie erlebt haben (Davies, 1991; Peterson, 1999; Fivush, Sales, Goldberg, Bahrick und Parker, 2004). Die Suggestibilität(3) von Kindern nimmt im Alter zwischen vier bis acht Jahren ab und wieder leicht zu ab etwa dreizehn Jahren (Nurcombe, 1986). Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Grad an Suggestibilität(4) und dem Niveau der moralischen Entwicklung(1). Kinder sind allerdings im Durchschnitt nicht unehrlicher als Erwachsene und nicht weniger zuverlässig als Zeuge (Nurcombe, 1986). Es zeigt sich sogar, dass Kinder bessere Zeugen sein können als Erwachsene; dies gilt besonders für Kinder zwischen fünf und sechs Jahren (Elbers & ter Laak, 1989). Als Grund dafür wird genannt, dass Kinder dieses Alters in ihrem Denken an ein Ereignis weniger schematisch herangehen und daher einen vorurteilsfreieren Blick auf dieses Ereignis haben als Erwachsene; dies fördert eine objektivere und genauere Wahrnehmung. Das zeigte auch die weiter oben genannte Studie mit dem Weißen und dem Messer (Allport und (2)Postman, 1947). Was die Zuverlässigkeit von kindlichen Äußerungen über ein Ereignis dagegen vermindert, ist, dass sie im Alter von fünf bis sechs Jahren noch sehr beeinflussbar(2) sind und Suggestivfragen(1) gegenüber offen, erst recht, wenn es sich um Merkmale von Personen oder Dingen handelt. Sie gehen davon aus, dass es der Erwachsene ernst meint und er sie nicht hinters Licht führen will. Als Folge davon stellen sie eine Äußerung eines Erwachsenen nicht gleich infrage. Sie erzählen auch spontan weniger (Übung 1.4, Anhang I).

Beispiel

Ein junges Kind, das man fragt, ob die Luftballons in der Klasse rot oder blau sind, wird schnell eine Farbe nennen, auch wenn keine Ballons in der Klasse hängen. Das Kind wird die Frage des Erwachsenen nicht prinzipiell bezweifeln, um sich zu fragen, ob da überhaupt Ballons hängen. In der Frage steht ja nicht zur Diskussion, ob da Luftballons hängen, und so wird suggeriert, dass sie dort hängen. Folglich steht nur zur Diskussion, welche Farben die Ballons haben. Wird dasselbe Kind gefragt, ob Luftballons in der Klasse hängen und, wenn ja, welche Farbe sie haben, wird das Kind antworten, dass dort keine Ballons hängen und auch keine Farben nennen.

Es stellt sich die Frage, ob Kinder diese Suggestibilität nicht durchschauen. Ein schönes Beispiel ist der Weihnachtsmann-Film. Die Lehrerin einer Vorschulklasse verkleidet sich vor den Augen der Kinder als Weihnachtsmann. Anschließend werden die Kinder gefragt, wo die Lehrerin sei. Die Kinder sagen, sie sei weg. Dieses Beispiel wird gern angeführt, um zu zeigen, dass Kinder Fantasie und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten können. Dennoch bedarf es hier näherer Überlegung. Betrachtet man den Film genauer, ist zu sehen, dass die Kinder nach der Frage über den Verbleib der Lehrerin kurz zögern. Sie schauen sich abwartend an, suchen danach, wie sie reagieren sollen. Dann traut sich einer, der sagt, die Lehrerin sei nicht da, und die anderen schließen sich ihm an. In diesem Zögern steckt vermutlich die Verwunderung über die Bedeutung der Frage. Dass die Lehrerin das Weihnachtsmannkostüm übergezogen hat, ist den Kindern wahrscheinlich klar, also muss die Frage eine andere Bedeutung haben. Derjenige, der sich als Erster traut, hat möglicherwiese die Schlussfolgerung gezogen, es müsse sich um ein Spiel handeln, und spielt es mit. Diese Interpretation basiert auf dem nonverbalen Verhalten der Kinder und es ist die Frage, ob diese Interpretation stimmt. Viel weniger plausibel ist jedoch, dass den Kindern nicht klar sein könnte, wer in dem Kostüm steckt.

Erwachsene sind übrigens ebenfalls empfänglich für suggestive(2) Fragen, wie unter anderem die Untersuchungen von Loftus(1) und ihren Kollegen zeigen (Loftus, 1995). »Was halten Sie von der angestiegenen Kriminalität unter Jugendlichen?«, ergibt andere Antworten als »Glauben Sie, dass die Kriminalität unter Jugendlichen zugenommen hat, und was halten Sie in dem Fall davon?« Das Risiko suggestiver(3) Fragen spielt eine wichtige Rolle bei der Zusammenstellung von Fragebögen. Die Frage: »Wie groß ist der König von Frankreich?«, löst ganz andere Antworten aus als »Hat Frankreich einen König und, wenn ja, wie groß ist er?«. Kinder in der Grundschule üben Suggestivfragen mithilfe von Scherzen, zum Beispiel: »Wie lang ist ein Chinese?« Eine Suggestivfrage(4), die ein Erwachsener einem Kind stellt, wird von dem Kind normalerweise als ernsthafte Frage mit einem hohen Wahrheitsgehalt aufgenommen. Außerdem nehmen junge Kinder Aussagen oft wörtlich, weil sie es nicht besser wissen. Hinter einer suggestiven(5) Aussage werden sie daher weniger schnell etwas anderes suchen. Sie nehmen eine Frage wörtlich: »Wie hast du das bloß so toll zeichnen können?« »Mit Bleistift!«

Beispiel

Nicole liest dem eineinhalbjährigen Benni etwas über Schaukeln vor. Im Buch ist eine Schaukel abgebildet. »Setzt sich Benni auch auf die Schaukel?«, fragt sie. Der greift bereitwillig nach dem Buch und setzt sich drauf.

Weil jüngere Kinder den groben Zügen eines Ereignisses mehr Aufmerksamkeit schenken als den Einzelheiten (Elbers & ter Laak, 1989), sind sie leichter beeinflussbar(3), wenn es um die Details(1) geht, zum Beispiel die Eigenschaften von Dingen oder Personen statt der Handlung. Suggestivfragen(6), die Einzelheiten eines Ereignisses oder Eigenschaften von Personen betreffen, wird das Kind dadurch weniger schnell als suggestiv erkennen.

Beispiel