331366.jpg

Karen Witemeyer


Kann es wirklich
Liebe sein?


newFRANCKE-LOGO.tif

Impressum:



Über das Buch:

Texas 1870: Die junge Meredith Hayes hat beide Eltern verloren und lebt nun bei ihrem Onkel und dessen Frau. In ihrer Kindheit hatte sie eine schicksalhafte Begegnung mit Travis Archer, einem sonderbaren Jungen, der allein mit seinen Brüdern auf einer Ranch weit außerhalb der Stadt lebt. Seitdem sind viele Jahre vergangen, doch der Gedanke an Travis lässt Meri nicht los. Als sie erfährt, dass ein heimtückischer Anschlag auf die Archer-Ranch geplant ist, macht sie sich gegen alle Widerstände und Konventionen auf, um ihre heimliche Jugendliebe zu warnen. Dabei gerät sie in einen Strudel von Ereignissen, der sie auf der Ranch festhält und ihr Leben vollkommen durcheinanderbringt. Der abweisende, menschenscheue Travis avanciert zu ihrem Beschützer. Er verhält sich ehrenhaft und rücksichtsvoll – doch wird er Meris Liebe jemals erwidern?



Über die Autorin:

Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy-End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nach dem Studium der Psychologie begann sie selbst mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren 3 Kindern lebt sie in Texas.


Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.



ISBN 978-3-86827-980-1

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012 by Karen Witemeyer

Originally published in English under the title Short-Straw Bride

by Bethany House Publishers, a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, USA

All rights reserved.

German edition © 2013 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

35037 Marburg an der Lahn

Deutsch von Rebekka Jilg

Cover design by Dan Thornberg, Design Source Creative Services

Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH /

Christian Heinritz

Satz und Datenkonvertierung E-Book: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

www.francke-buch.de

Prolog

Anderson County, Texas, 1870

Die zehnjährige Meredith Hayes ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten, während sie sich ihrem Peiniger entgegenstellte. „Hiram Ellis! Gib mir sofort meine Butterbrotdose zurück!“

„Oh, tut mir leid, Meri. Meinst du die hier?“ Seine Stimme troff vor Sarkasmus, als er die kleine Metallbox vor dem Mädchen herumbaumeln ließ.

Meredith streckte sich danach aus, doch ihre Hände griffen ins Leere, da der Junge den Gegenstand der Begierde schon zurückgerissen und hinüber zu seinem kichernden Bruder geworfen hatte. Meredith rannte zwischen den beiden hin und her, doch sie war nie schnell genug, um die Dose zu erreichen.

Warum war sie immer diejenige, auf der alle herumhackten? Meredith stampfte frustriert mit dem Fuß auf. Sie hatte gedacht, sie hätte sich nach der Schule heimlich genug aus dem Staub gemacht, doch Hiram musste sie beobachtet haben. Er hatte sie auf dem Kieker, seit sie im letzten Frühjahr mit ihrer Familie in diese Gegend gezogen war. Vielleicht weil das Land, das sie gekauft hatten, einmal der Familie seines besten Freundes gehört hatte.

„Meri, Meri, lauf doch zu Daddy“, sang Hiram mit albern hoher Stimme, sprang um sie herum und schwenkte die Brotdose hin und her. Eine Gruppe Mädchen kam um die Ecke und blieb leise kichernd stehen. Meredith bat sie um Hilfe, doch sie standen nur grinsend da und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Sogar Anna Leigh, ihre Tischnachbarin und das einzige Mädchen, das Meredith für ihre Freundin gehalten hatte. Tränen der Wut traten ihr in die Augen, doch Meredith versuchte, sie zu unterdrücken. Sie würde Hiram nicht gewinnen lassen.

„Du bist ein Fiesling, Hiram Ellis.“

„Ja?“ Hiram hörte mit seiner Hüpferei auf und starrte sie finster an. „Und du bist die Tochter eines Schwindlers.“

„Mein Papa ist kein Schwindler. Er ist Lehrer wie deine Schwester auch.“

Hirams Gesicht verzog sich wie ein Kürbis, der angefangen hatte zu verrotten. „Meine Schwester unterrichtet weiße Kinder. Keine nichtsnutzigen dunklen.“

Meredith hob ihr Kinn und wiederholte die Worte, die sie ihren Vater unzählige Male hatte sagen hören. „Sie sind Freigelassene. Und sie haben genauso ein Recht auf Bildung wie du.“

„Wenn diese Freigelassenen immer noch Sklaven wären, wie es sich gehört, wäre Joey Gordons Pa nicht von den Yankees getötet worden und Joey wäre immer noch hier.“ Hiram warf ihr einen letzten bösen Blick zu und ging auf sie zu, seine Stiefel stampften auf die Erde. Meredith wich instinktiv einen Schritt zurück, bevor ihr einfiel, dass sie keine Angst vor ihm hatte.

„Du willst die dumme Dose wieder?“ Hiram knurrte die Frage, als er ein paar Schritte vor ihr stehen blieb. „Dann hol sie dir.“

Er rannte in Richtung Straßenrand und warf die Box mit Schwung in einen Pinienwald. Meredith verfolgte die Flugbahn und fragte sich, warum Gott so einem gemeinen Jungen so einen guten Wurfarm gegeben hatte.

Die Butterbrotdose streifte einen Ast und verschwand hinter einer Anhöhe. Ein hohler Klang tönte durch den Wald, gefolgt von mehreren kleinen Schlägen, als die Dose auf der anderen Seite des Hügels hinunterkullerte.

Meredith zuckte zusammen. Mama würde sie einen Kopf kürzer machen, wenn sie die Box in ramponiertem Zustand zurückbringen würde. Noch schlimmer wäre es nur, wenn sie die Dose gar nicht mehr mit nach Hause bringen würde.

Meredith warf Hiram einen letzten finsteren Blick zu und stapfte vorwärts.

„Meri, nein!“ Anna Leigh rannte an ihre Seite und ergriff ihren Arm. „Das darfst du nicht. Es ist Archerland.“

Archerland? Meredith sah sich um, um sich zu orientieren, und schluckte schwer, als ihr diese Tatsache bewusst wurde.

„Niemand betritt Archerland. Nicht, wenn einem sein Leben lieb ist.“ Anna Leigh schüttelte den Kopf und sah sich um, als könnten die Bäume jederzeit lebendig werden und ihre Äste ausfahren, um die Kinder an sich zu reißen. „Lass es einfach gut sein.“ Sie trat zurück und wollte Meredith mit sich ziehen. Doch als Meredith keine Anstalten machte, ihr zu folgen, ließ sie seufzend ihren Arm los.

So schlimm konnte es doch nicht sein. Oder? Meredith spähte durch die Bäume hindurch in Richtung des Hügels, hinter dem ihre Dose verschwunden war. Ihr Herz schlug fest gegen ihre Rippen. Weit war es nicht. Wenn sie rannte, konnte sie wieder zurück sein, bevor die Archers überhaupt merkten, dass sie da war. Andererseits wusste jeder im Anderson County, dass die Archerjungs richtige Raufbolde und komplett durchgeknallt waren. Was, wenn sich einer von ihnen da draußen versteckte und nur auf sie wartete?

„Ich habe gehört, dass sie blutrünstige Hunde haben, die dich in dem Moment riechen, in dem du einen Fuß auf ihren Grund und Boden setzt.“ Hiram sprach mit leiser, rauer Stimme. „Hunde, die dir sofort dein Bein abbeißen.“

Meredith zwang sich dazu, ihn gar nicht zu beachten. Er versuchte nur, ihr Angst zu machen. Aber sie konnte die Vorstellung von knurrenden Hunden, die sie umzingelten, nicht ganz abschütteln.

„Du kennst doch Seth Winston … und seine Hand?“

Meredith wandte sich nicht um, doch sie nickte. Der Mann führte den Laden neben der Schule ihres Vaters. Er hatte an der rechten Hand nur drei Finger.

„Travis Archer hat ihm die beiden Finger abgeschossen, als Winston ihm nach dem Tod des alten Archers sein Beileid aussprechen wollte. Es wäre noch schlimmer gekommen, wenn Winston nicht um sein Leben gerannt wäre. Und glaub nicht, dass es dir anders ergehen würde, nur weil du ein Mädchen bist. Sie haben Miss Elviras Pferdewagen mit Schrot durchsiebt, als sie die Kinder von dort wegholen und zu Pflegefamilien bringen wollte. Sie hätte fast ein Auge verloren.“

„Immerhin …“ Merediths Kehle zog sich zusammen. Sie hustete und setzte noch einmal an. „Immerhin sind sie nicht schwerer verletzt worden.“

„Nur, weil sie entkommen konnten.“ Hiram trat näher an sie heran und sprach ihr nun direkt ins Ohr. „Fünf andere Männer hatten nicht so ein Glück. Sie kamen mit verschiedenen Anliegen hierher. Keiner von ihnen wurde jemals wieder gesehen.“ Hiram machte eine Pause und Meredith konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. „Ihre Leichen liegen hier irgendwo vergraben.“

In den Büschen zu ihrer Linken raschelte es. Meredith sprang erschrocken auf.

Hiram lachte.

Sie sollte nach Hause gehen. Die Brotdose einfach als verloren betrachten und nach Hause gehen. Mama würde es verstehen … doch sie würde schrecklich enttäuscht sein.

„Du traust dich nicht“, sagte Hiram und lenkte Merediths Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Du traust dich nicht, die Dose zurückzuholen.“

„Mach es nicht, Meri“, bat Anna Leigh.

„Ach, sie macht es nicht. Sie hat viel zu viel Angst.“ Hirams gemeines Grinsen forderte Merediths Stolz heraus.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn böse an. „Ich hole sie. Ihr werdet schon sehen.“

Die Mädchen hinter ihr schnappten erschrocken nach Luft und sogar Hiram wirkte ein bisschen unsicher, was Merediths Entschluss nur weiter festigte. Sie marschierte auf die Bäume zu, wandte sich noch ein letztes Mal zu den staunenden Ellisjungs um und flitzte dann in die Richtung, in der ihre Brotdose verschwunden war. Ihre Schuhe knirschten auf getrockneten Piniennadeln und Ästen, während sie rannte, ihr Atem klang laut in ihren Ohren, als sie die kleine Anhöhe hinauflief.

Oben angekommen, blieb sie japsend stehen und hielt sich die Seite, um sich dann nach ihrer Brotdose umzuschauen. Zu ihrer Linken glänzte etwas im Sonnenschein. Meredith lächelte und beeilte sich wieder. Das ist doch gar nicht so schlimm.

Ihre Finger schlossen sich um den Griff der zerbeulten Box, doch als sie sich umwandte, um zurückzugehen, versperrte ihr der Hügel die Sicht auf die Straße. Plötzlich fühlte sie sich einsam, während die Geräusche des Waldes um sie herum erklangen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Rechts von ihr knackte ein Ast. Links raschelte es. Dann hörte sie in der Ferne plötzlich Hundegebell.

Die Archerhunde!

Meredith floh und kraxelte hektisch den Hügel hinauf. Doch der sandige Boden gab nach. Ihre Füße verloren den Halt. Sie versuchte, sich mit den Händen festzuklammern. Keine Chance.

Wieder erklang ein Bellen. Diesmal näher.

Meredith wandte sich von dem Hügel ab und rannte nur noch vor dem Gebell davon. Schließlich erreichte sie eine Stelle, die nicht mehr so steil war und von der aus sie die Pinien sehen konnte, die nahe bei der Straße standen. Schnell flitzte sie durch die Bäume hindurch in Richtung der rettenden Grenze.

Als sie aufblickte, um zu sehen, wie nahe sie schon an der Straße war, trat ihr rechter Fuß plötzlich auf etwas Metallisches. Ein lautes Klacken erklang, stählerne Zähne schnappten nach ihrem Bein und schlossen sich um ihren Unterschenkel.

* * *

„Gutes Mädchen, meine Sadie.“ Travis Archer beugte seinen drahtigen jugendlichen Körper hinab und streichelte den fast ausgewachsenen Hund. „Vielleicht erziehen wir dich doch noch zu einem Jagdhund.“

Sie bellte immer noch zu viel, wenn sie aufgeregt war, und verscheuchte damit das Wild, doch immerhin konnte sie schon erfolgreich anzeigen, wenn sie ein Tier gewittert hatte, und darauf war Travis stolz.

„Lass es uns noch einmal versuchen, Mädchen. Vielleicht finden wir doch noch eine hübsche Beute. Jim hat keine Lust mehr, immer nur Eichhörnchen –“

Ein schrecklicher Schrei unterbrach Travis und sorgte dafür, dass sich die Haare an seinen Armen aufstellten. Seit seine Mutter bei der Geburt seines Bruders Neill gestorben war, hatte er nicht mehr so einen gequälten Laut gehört.

Sadie bellte und schnellte wie eine Kugel davon. Travis rief ihr nach, doch die Hündin ignorierte seinen Befehl und schoss in Richtung Westen – auf die Straße zu. Mit geschultertem Gewehr rannte er hinter ihr her. Wenn eine neuerliche Bedrohung auf seinem Land angekommen wäre, würde er alles dafür tun, seine Brüder zu beschützen.

Das Bellen verschärfte sich und es klang, als wäre Sadie stehen geblieben. Travis verlangsamte seine Schritte und legte das Gewehr an. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein rücksichtsloser Kerl sein Land unter den Nagel reißen wollte, weil er dachte, dass vier Jungen keine ernst zu nehmenden Gegner wären. Er war noch nicht erwachsen, aber er war Manns genug, das zu verteidigen, was ihm gehörte. Niemand würde ihn und seine Brüder von hier vertreiben. Niemand.

Travis schlängelte sich durch die Bäume und sah Sadies schwarzes Fell. Er kannte den Ort. Hier hatte er, neben einigen anderen Stellen, Kojotenfallen aufgebaut. Er hatte sogar Warnschilder aufgestellt, aber es gab immer Idioten, die sich über alle möglichen Dinge hinwegsetzen mussten. Travis stählte sich gegen eventuell aufkeimendes Mitleid und legte den Finger auf den Abzug, während er den letzten Baum zwischen sich und seinem Ziel umrundete.

„Die Hände dorthin, wo ich sie sehen kann, Mister, oder ich verpasse Ihnen eine …“ Die Drohung erstarb auf seinen Lippen.

Ein Mädchen?

Entsetzen durchflutete ihn und er lockerte den Griff um die Waffe. Der Lauf tippte auf den Boden.

„B-bitte nicht schießen. B-b-bitte.“ Das Mädchen richtete ihre wasserblauen Augen auf ihn. „Ich w-wollte nichts B-B-Böses.“ Ihr tränenverschmiertes Gesicht ließ Schuldgefühle in ihm aufkommen, während sie tapfer versuchte, ihr Schluchzen hinunterzuschlucken.

„Ich werde dich nicht erschießen.“ Travis legte vorsichtig das Gewehr auf den Boden. „Siehst du?“ Er streckte ihr seine Handflächen entgegen und ging vorsichtig auf das Mädchen zu, das sich an einen Baum gelehnt hatte. „Ich dachte, du wärst jemand anderes. Ich will dich nicht verletzen.“ Doch nach dem Blut zu urteilen, das auf ihre mitgenommenen Schuhe floss, war es bereits zu spät.

„W-was ist mit deinem Hund?“ Sie beäugte Sadie, als wäre sie ein Höllenhund.

„Sadie, bei Fuß.“ Die Hündin hörte auf zu bellen und sprang schwanzwedelnd an Travis Seite. Er bedeutete ihr, sich hinzusetzen, und ging dann langsam auf das verschreckte Mädchen zu. „Ich werde die Falle von deinem Bein lösen. In Ordnung?“

Sie saugte nervös an ihrer Unterlippe und beobachtete mit großen Augen, wie er sich näherte, nickte dann aber. Travis entspannte sich. Er hätte nicht gewusst, wie er hätte reagieren sollen, wenn sie in hysterisches Schreien ausgebrochen wäre. Doch anscheinend trug sie einen vernünftigen Kopf auf den Schultern. Travis lächelte sie an und wandte seine Aufmerksamkeit dann der Falle zu.

Sein Magen rebellierte. Das Ding hatte sich über ihrem rechten Knöchel geschlossen. Sie wimmerte ein wenig, als er nach dem Öffnungsmechanismus griff, da sie neuerliche Schmerzen zu erwarten schien. Die Metallkette rasselte, als sie sich bewegte.

„Versuch, ganz still zu halten“, wies er sie an. „Selbst wenn sich die Falle öffnet, zieh deinen Fuß nicht heraus. Warte, bis ich dir helfe. Dein Bein könnte gebrochen sein und wir wollen die Sache ja nicht noch schlimmer machen. Verstanden?“

Wieder ein tapferes Nicken.

Travis griff nach den Federn, die die Falle öffnen würden, als das Mädchen fragte: „Kann ich … mich an dir festhalten?“

Für einen Moment schloss Travis die Augen, dann schluckte er und nickte langsam. „Natürlich, Kleine.“

Ihre Hände legten sich um seinen Nacken, als er sich zu ihr beugte, und sie stützte ihren Kopf an seine Schulter.

Er räusperte sich. „Bereit?“

Ihre Wange rieb auf dem Stoff seines Ärmels hin und her, als sie nickte. „Mhm.“

Travis betätigte die Federn, bis die Falle sich öffnete. Als sie wieder in ihrer ursprünglichen Position war, zog er das Bein des Mädchens vorsichtig heraus.

„Ich muss dein Bein anschauen, um zu sehen, wie schlimm es ist.“ Ihre Arme lagen immer noch um seinen Nacken und Travis setzte sie vorsichtig an einen Baum. „Ruh dich hier aus.“

Er befreite sich aus ihrem Griff und besah sich ihr Bein genauer. Die Haut war an mehreren Stellen verletzt worden, wo sich die Stahlzähne in ihr Bein gebohrt hatten, doch das Mädchen hatte still gehalten, deshalb schien die Verletzung relativ glimpflich ausgefallen zu sein. Trotz allem wollte er auf Nummer sicher gehen.

„Kannst du den Fuß bewegen?“

Das Mädchen bewegte das Bein vorsichtig und sog vor Schmerz die Luft ein. „Es tut weh.“ Ihre Stimme brach und sie schluchzte.

„Dann lieg ganz ruhig.“ Travis knirschte mit den Zähnen. Vielleicht war das Bein doch angebrochen. „Ich hole ein paar Äste, um dein Bein zu fixieren, und dann bringe ich dich nach Hause. In Ordnung? Mach dir keine Sorgen.“

Auf dem Totenbett hatte er seinem Vater versprochen, das Archerland niemals zu verlassen, sondern ihren Besitz und seine Brüder mit allen Mitteln zu verteidigen. Und Travis hatte in den letzten zwei Jahren genau das getan. Doch heute würde er sein Versprechen brechen müssen. Er musste sich um dieses Mädchen kümmern. Er musste sie nach Hause bringen.

Travis erhob sich und sah sich nach geeigneten Ästen für sein Vorhaben um, während er innerlich schwor, dass er alle Fallen von seinem Grund und Boden verbannen würde. Niemals würde er wieder jemanden einem solchen Risiko aussetzen. Er hatte gedacht, dass eventuelle Eindringlinge sich ohne Probleme selbst befreien konnten und mit einem verletzten Bein das Weite suchen und niemals wiederkommen würden. Die Fallen waren zu klein, um einen ausgewachsenen Mann ernsthaft zu verletzen, vor allem, wenn er Stiefel trug. Aber ein Kind? Ein Mädchen? Mit so etwas hatte Travis nicht gerechnet.

Als er zurück zu dem Baum kam, wirkte das Mädchen gefasster. „Wie heißt du?“, fragte er und wollte sie ablenken, während er sich um ihr Bein kümmerte.

„Meredith.“

Er zog ein Taschentuch hervor und knotete es fest um die Stöcke an ihrem Bein. „Ich bin Travis.“

Du bist Travis?“ Sie sagte es so ungläubig, dass er innehielt und sie anstarrte. Sie wurde rot und stammelte: „Es ist nur … ähm … ich dachte, du wärst gemeiner … und größer … oder so was.“

Travis schüttelte den Kopf und gluckste leise. „Genau das will ich. Die Leute sollen so über mich denken. Dann sind meine Brüder und ich sicherer.“

Er sah sich um, ob er noch etwas fand, was er als Bandage benutzen konnte. Da sich nichts anbot, nahm er sein Taschenmesser und schlitzte seinen Hemdärmel an der Schulter auf. Mit einem Ruck riss er ihn ab und zog ihn sich vom Arm. Er kniete sich wieder hin und wickelte den Stoff um Merediths Knöchel.

„Weißt du, was du für mich tun könntest, Meredith?“

„Was?“

Er überprüfte noch einmal, ob der Knoten auch fest saß, und lächelte seine Patientin dann an. „Wenn du zurückkommst und deine Freunde Fragen stellen, dann mach mich so groß und gemein wie möglich. Dass ich dir geholfen habe, nach Hause zu kommen, kann unser Geheimnis bleiben. Okay?“

Ihre Augen funkelten und sie lächelte ihn frech an. Die Last auf seinem Herzen wurde leichter.

„Halt dich an meinem Nacken fest – ich heb dich jetzt hoch.“ Travis legte einen Arm um ihren Rücken und schob den anderen unter ihre Knie.

„Warte! Meine Butterbrotdose.“

Er hielt inne. „Deine was?“

„Meine Butterbrotdose. Hiram hat sie in die Bäume geworfen. Deshalb bin ich auf dein Land gekommen. Ich kann nicht ohne sie nach Hause.“ Sie wand sich und wollte nach hinten greifen.

„Halt still“, befahl Travis, da er nicht wollte, dass sie sich noch schlimmer verletzte. „Ich hole sie.“ Er schnappte sich die verbeulte Dose und reichte sie ihr. Meredith presste sie an sich und Travis beschloss, ihr eine neue zu besorgen, falls er diesen Hiram jemals treffen würde. Bei der Gelegenheit würde er ihm auch gleich eine Abreibung verpassen.

Wieder legte Travis seine Arme um Meredith und hob sie vom Boden hoch. Die Kleine gab keinen Laut von sich und nur an ihrem verstärkten Griff merkte Travis, dass sie Schmerzen hatte. Er wählte einen Weg, der so leicht anstieg, dass sie nicht zu sehr durchgeschüttelt wurde, auch wenn ihn das mehr Zeit kostete. Es war wirklich verrückt – dieser Drang, sich um sie zu kümmern. Er hatte die letzten beiden Jahre damit verbracht, die Außenwelt abzuwehren. Und jetzt schaute ihn dieses Mädchen mit ihren blauen Augen an und er hatte das Gefühl, das einzige Stück Außenwelt beschützen zu müssen, das seinen Weg auf sein Land gefunden hatte.

Als er die Grenze seines Grundstücks erreichte, hielt Travis inne, atmete tief ein und sah hinauf zum Himmel.

Sorry, Pa. Ich muss es einfach tun.

Dann verließ er, mit einem Gebet für die Sicherheit seiner Brüder auf den Lippen, das Archerland.

Kapitel 1

Palestine, Texas, 1882

„Ich glaube nicht, dass ich das tun kann, Cass.“ Meredith sah ihre Cousine, die hinter ihr stand, im Frisierspiegel an.

Cassandra nahm eine Haarnadel zwischen ihren Lippen hervor und befestigte eine weitere Strähne von Merediths geflochtenem Chignon. „Was tun?“

„Einen Mann heiraten, der mich nur wegen des Landes heiratet, das ich mit in die Ehe bringe.“

„Woher weißt du, dass das alles ist, was er will?“ Cassandra beugte sich vor, bis ihr Gesicht neben Merediths war, und zwinkerte ihr im Spiegel zu. „Wenn du mich fragst, ist er sehr in dich verliebt, wo er dich doch seit drei Monaten jeden Samstagabend besucht.“

Besuche, bei denen er mehr Zeit damit verbrachte, mit ihrem Onkel über die Holzindustrie zu diskutieren, als sich mit ihr zu unterhalten. Würde ein verliebter Mann nicht jede Minute nutzen wollen, um mit der Frau zu reden, die er heiraten will, anstatt mit ihrem Vormund?

Meredith seufzte und wandte sich zu ihrer jüngeren Cousine um. „Ich weiß, dass ich mich freuen sollte. Onkel Everett hat mir wieder und wieder vorgeschwärmt, was Roy Mitchell doch für ein exzellenter Fang sei, und deine Mutter wäre fast ohnmächtig geworden, als sie erfahren hat, dass er mir einen Antrag gemacht hat. Aber irgendetwas fühlt sich nicht richtig an.“

„Vielleicht, weil deine Einwilligung in eure Hochzeit bedeuten würde, einen Kindheitstraum loszulassen.“

Meredith wand sich unter dem wissenden Blick ihrer Cousine. Cassandra war die Einzige, der Meredith jemals von ihrer Vernarrtheit in Travis Archer erzählt hatte. Eine Vernarrtheit, die nur auf einer einzigen Begegnung beruhte. Es war wirklich kindisch. Welches Mädchen würde schon von einem jungen Mann schwärmen, dessen Falle ihr fast den Fuß abgetrennt hätte? Doch etwas an Travis Archer hatte einen dauerhaften Eindruck in ihrem Herzen hinterlassen.

Cassandra verstand das.

Während der Ferien und diverser Familienbesuche hatten die beiden Cousinen immer unter Cassandras Bettdecke gesteckt und romantische Geschichten über ihre Helden gesponnen, die sie vor Geröll- lawinen und in Panik versetzten Rindern bewahrten und sogar vor ein oder zwei Eisbären, wenn die beiden Mädchen besonders kreativ gewesen waren. Merediths Held hatte immer Travis Archers Gesicht gehabt. Selbst jetzt konnte sie sich nicht zurückhalten und fragte sich, wie er wohl nach zwölf Jahren aussehen würde. Als Jugendlicher hatte er wirklich gut ausgesehen. Wie würde er als Mann auf sie wirken?

Meredith sprang abrupt auf und trat an ihren offenen Schrank, wo sie ihre Kleider durchwühlen konnte, anstatt dem prüfenden Blick ihrer Cousine ausgesetzt zu sein. Außerdem konnte sie Travis zurück in die Vergangenheit drängen, wo er hingehörte.

„Du meine Güte, Cass. Ich bin viel zu realistisch, um mich an solch alberne Schwärmereien zu klammern. Ich habe diese Gedanken schon vor Jahren verbannt.“

Cassandra griff um sie herum in den Schrank hinein und nahm das rosafarbene Kleid, das Meredith nur zu ganz besonderen Anlässen trug. „Du hast Travis vielleicht aus deinen Gedanken verbannt, aber ich glaube, er ist immer noch in deinem Herzen.“

Meredith nahm ihrer Cousine widerwillig die Korsage und den passenden Rock dazu ab. Doch anstatt sich umzuziehen, schlang sie ihre Arme um sich und ließ sich rücklings auf ihre Matratze fallen. „Du hast recht.“

Und was brachte ihr das? Sie hatte diesen Mann seit damals nicht mehr gesehen. Sie bezweifelte sogar, dass er sich überhaupt an sie erinnerte. Falls er es tat, wusste er wahrscheinlich nur noch von einem kleinen, zerzausten Mädchen, das beim Herumschleichen in eine seiner Fallen getappt war. Nicht gerade eine Vorstellung, die romantische Gefühle beflügelte. Außerdem verließ keiner der Archers jemals sein Land. Auf Travis zu warten wäre so sinnvoll, wie im Juli auf einen Schneesturm zu hoffen.

„Gib Mr Mitchell eine Chance, Meri. Vielleicht gehört er zu der Sorte Männer, die ihre Gefühle nicht so gut ausdrücken können.“ Cassandra setzte sich neben sie aufs Bett und tätschelte ihr Knie. „Heute Mittag werdet ihr beide ganz alleine sein. Papa wird nicht da sein, um ihn mit seinem Geschäftsgerede abzulenken. Lern ihn besser kennen. Vielleicht wirst du überrascht sein, was er dir alles zu bieten hat.“

Meredith sah ihre Cousine von der Seite her an und ein Lächeln umspielte ihren Mund. „Weißt du, eigentlich sollte ich von uns beiden diejenige sein, die weise ist.“

„Ich bin vielleicht drei Jahre jünger als du“, sagte Cassandra mit einem Zwinkern, „aber das heißt nicht, dass ich nicht auch das eine oder andere über Männer weiß.“

„Stimmt, das kann ich nicht abstreiten. Du hast in den letzten zwei Jahren mehr Erfahrungen mit Verehrern gesammelt als ich in den letzten fünf.“ Meredith lächelte und stupste ihre Cousine mit der Schulter an. „Denk nur daran, wie Freddie Garrett dir überallhin folgt.“

„Freddie Garrett ist gerade mal fünfzehn, du Gans. Der zählt nicht.“ Cassandra schnappte sich ein Kissen und schlug auf Merediths Arm ein. Meredith konnte das natürlich nicht auf sich sitzen lassen und erwiderte den Angriff mit einem weiteren Kissen. Schließlich sprangen die beiden umher und kicherten, bis sie so starkes Seitenstechen bekamen, dass sie aufhören mussten.

„Ich glaube, du musst meine Frisur noch mal richten“, schnaufte Meredith und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das widerspenstige Ding fiel sofort wieder zurück auf ihre Nase, was die beiden jungen Frauen erneut zum Lachen brachte.

Cassandra war die Erste, die sich wieder beruhigte. „Na gut, komm schon“, sagte sie und kicherte. „Wir ziehen dich an und dann schaue ich, ob deine Frisur noch zu retten ist.“

Zwanzig Minuten später stand Meredith in ihrem besten Kleid und einer wunderbar arrangierten Frisur am Fenster und sah auf die Straße hinaus. Vor ein paar Minuten hatte sich ihre Cousine mit einem Kuss auf die Wange verabschiedet und ihr alles Gute gewünscht, damit Meredith sich noch einmal sammeln konnte, bevor ihr Verehrer eintraf. Das Problem war nur, dass ihre Gedanken so durcheinander waren, dass sie befürchtete, sie niemals rechtzeitig sortieren zu können.

Roy Mitchell hatte viele bewundernswerte Züge. Er war ehrgeizig und wohlhabend und würde einer Ehefrau einen guten Lebensstandard bieten. Sein dunkles Haar und die braunen Augen konnten sich sehen lassen und seine Manieren waren makellos. Doch trotz allem weckte er keine großen Gefühle in ihr. Und soweit sie es beurteilen konnte, weckte sie auch keine in ihm.

Was soll ich nur machen, Herr? Soll ich Roy heiraten und darauf hoffen, dass meine Gefühle für ihn noch entstehen, oder hast du jemand anderen für mich im Sinn? Bitte zeig mir deinen Willen!

Ein forsches Klopfen erklang an der Tür, doch bevor Meredith antworten konnte, sauste schon ihre Tante ins Zimmer und zog prüfend ihre Augenbrauen hoch. „Ich bin froh, dass du genug gesunden Menschenverstand gezeigt und dich für dieses besondere Ereignis hübsch gemacht hast.“

Meredith biss sich auf die Zunge. Nachdem sie nun schon seit einigen Jahren unter dem Dach dieser missbilligenden Frau lebte, hatte sie gelernt, so wenig wie möglich zu sprechen, wenn ihre Tante wieder einmal auf sie losging.

„Komm her, Kind, und dreh dich, damit ich dich sehen kann.“

Während sie das Kind zu ignorieren versuchte, tat Meredith, wie ihr geheißen worden war. Ihre Tante schnalzte mit der Zunge und seufzte so tief wie eine Märtyrerin, der man ein tonnenschweres Kreuz zu tragen gegeben hatte.

„Kannst du nichts machen, um dieses grauenvolle Hinken zu verstecken? Wir dürfen nicht riskieren, dass Mr Mitchell es sich anders überlegt, bevor eure Verlobung offiziell ist. Ich habe bereits dafür gesorgt, dass dir nichts dazwischenkommt. Cassandra hat strikte Anweisung, sich nicht blicken zu lassen. Wir wollen doch nicht, dass Mr Mitchell Vergleiche anstellen kann, die für dich von Nachteil sind, nicht wahr?“

Tante Noreen senkte ihren Blick, als spürte sie Merediths Zweifel. „Du tust am besten nichts, was diese Verlobung gefährdet“, sagte sie und fuchtelte mit ihrem Finger unter Merediths Nase herum. „Everett und ich haben zu viel in diese Sache investiert, als dass du herumtrödeln dürftest. Der Mann erwartet heute eine Antwort von dir. Und die sollte besser ein Ja sein.“

Als Meredith Gott um Führung gebeten hatte, hatte sie nicht erwartet, dass er sie ihr mit einem von Noreens Ausbrüchen vor die Füße werfen würde. War das wirklich die Antwort, nach der sie gesucht hatte? Sprach Gott durch Tante Noreen zu ihr oder verfolgte ihre Tante nur ihre eigenen Pläne? Es machte Meredith nichts aus, gegen ihre Tante zu rebellieren, aber gegen Gott zu rebellieren war eine vollkommen andere Sache.

Da sie dem wedelnden Finger entkommen musste, um ihre Gedanken zu sortieren, ging Meredith zu ihrem Schrank hinüber, um sich ein Umhängetuch zu suchen. Auf dem Weg dahin humpelte sie umso stärker. Als Tante Noreen aufstöhnte, musste Meredith lächeln. Sie wusste, dass es kleinlich war, aber sie würde sich von dieser Frau nicht tyrannisieren lassen, ohne sich zu wehren.

In Wirklichkeit spürte sie den Schmerz in ihrer Hüfte kaum. Nur an den Tagen, an denen sie sich überanstrengte, machte er sich deutlicher bemerkbar. Vor Jahren hatte der Arzt festgestellt, dass der Knochen im Unterschenkel durch die Verletzung in der Stahlfalle nicht in der Lage war, genauso zu wachsen wie der andere, weshalb ihr rechtes Bein ein klein wenig kürzer war als das linke. Mit angepassten Schuhen, deren Sohlen und Absätze auf der rechten Seite eineinhalb Zentimeter höher waren, konnte sie mittlerweile ohne Probleme zurechtkommen. Leider neigte Tante Noreen dazu, Berge zu sehen, wo andere Menschen allerhöchstens Maulwurfshügel bemerkten, vor allem, wenn es um Merediths Unzulänglichkeiten ging.

Meredith legte sich einen elfenbeinfarbenen Schal um und starrte auf den Stoff, während sie vorsichtig das Gespräch mit ihrer Tante aufnahm. „Mein Vater hat mich immer dazu ermutigt, meinen Ehemann mit großer Sorgfalt auszuwählen, da die Verbindung für den Rest des Lebens gilt. Ich werde mich nach diesem Rat richten. Roy Mitchell hat viele gute Eigenschaften, aber ich brauche mehr Zeit, um ihn kennenzulernen, bevor ich eine definitive Entscheidung treffen kann.“ Sie blickte auf und sah, dass Tante Noreens Gesicht einen finsteren Ausdruck angenommen hatte. „Das heutige Essen wird mir sicher dabei helfen, mir klarer zu werden“, fügte Meredith eilig hinzu.

„Du brauchst noch mehr Zeit?“ Die Frau klang, als würden die Worte sie ersticken.

Tante Noreen warf einen Blick in den leeren Flur und ging dann auf Meredith zu. „Habe ich um mehr Zeit gebeten, als dein Vater mich vor fünf Jahren darum gebeten hat, dich aufzunehmen, damit du das Palestine Institut für Frauen besuchen konntest?“, zischte sie. „Nein. Und zwei Jahre später, als die unstandesgemäße Beschäftigung deines Vaters mit diesen … diesen Schwarzen zu dem unrühmlichen Ende gekommen ist, das ich vorausgesagt hatte, haben Everett und ich dir da nicht ein Heim gegeben?“

Meredith schluckte schwer und versuchte nicht daran zu denken, wie das Fieber zuerst ihren Vater und dann auch ihre Mutter dahingerafft hatte. Sie hatten ihr nicht gestattet, nach Hause zu kommen und sie zu besuchen, da sie befürchtet hatten, sie würde sich anstecken. Trotzdem war sie zu ihnen gefahren, aber als sie vor der Tür standen, hatte ihr Vater sich geweigert zu öffnen. Schließlich hatten sie einander durch das Fenster angeschaut und ihr Vater hielt seine Hand gegen die Scheibe gepresst – die Augen eingesunken und darum bittend, dass sie wieder ging. Sie hatte keine Wahl gehabt. Sie war zurück zu ihrer Tante und ihrem Onkel gefahren und hatte in Cassies Armen geweint.

„Du wurdest von uns ernährt“, murmelte Tante Noreen und brachte Meredith damit zurück in die Gegenwart. „Das Einkommen deines Onkels hat dir ein Dach über dem Kopf gesichert. Du hattest mehr als genug Zeit.“

Noreen schniefte und verschränkte die Arme, sah zögernd zur Tür hinaus und fokussierte ihren Blick dann wieder auf Meredith. „Du hast es sicher nicht bemerkt, aber das Geschäft deines Onkels hat in den letzten Jahren einige Rückschläge einstecken müssen. Wir brauchen die Stabilität, die eine Verbindung mit Roy Mitchell uns bietet. Er hat versprochen, Partner deines Onkels zu werden, wenn die Sache mit dem Land klappt. All sein Holz würde er in den Hayes-Mühlen schneiden lassen. Aber das Geschäft hängt an deiner Heirat. Keine Heirat, keine Partnerschaft.“

Roy Mitchell brauchte ihr Land – das Land, das ihr Vater in der Obhut ihres Onkels gelassen hatte, bis sie heiratete oder fünfundzwanzig wurde.

„Willst du wirklich Cassandras Zukunft aufs Spiel setzen, nur weil du dir deiner Gefühle nicht sicher bist?“

Meredith blinzelte. Würde sie wirklich Cassandra verletzen, wenn sie Roy Mitchells Antrag ablehnte?

Schritte erklangen im Flur und einen Augenblick später erschien Cassandras fröhliches Gesicht in der Tür.

„Papa schickt mich, um dich zu holen, Meri. Dein Verehrer ist da.“

Tante Noreen sah sie bedeutungsvoll an und schob sie in Richtung Tür. „Geh nach unten. Lass Mr Mitchell nicht warten.“

Während Meredith die Treppe hinunterging, kam ihr wieder Cassies fröhliches Lächeln in den Sinn, so unschuldig und voller romantischer Träume. Schuld stieg in Meredith auf und stach ihr ins Herz.

Cassandra verdiente nur das Beste, und wenn eine Heirat mit Roy ihrer Cousine diese Möglichkeit bot, sollte Meredith das Opfer vielleicht bringen.

Doch als sie den Salon betrat und Roy auf sie zukam, konnte sie die Panik, die sich in ihrem Magen breitmachte, kaum abschütteln.

Herr, ich habe dich um Führung gebeten und bis jetzt scheint alles auf eine Hochzeit mit Roy hinauszulaufen. Aber wenn du einen anderen Plan hast – irgendeinen –, wäre ich wirklich froh darüber.

Roy streckte ihr seinen Arm entgegen und Meredith zwang sich zu einem höflichen Lächeln, während sie ihre Hand an den dafür vorgesehenen Ort legte.