Über die Autorin:

Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy-End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nach dem Studium der Psychologie begann sie selbst mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren 3 Kindern lebt sie in Texas.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86827-985-6

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2010 by Karen Witemeyer

Originally published in English under the title Head in the Clouds

by Bethany House Publishers, a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, USA

All rights reserved.

German edition © 2012 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

35037 Marburg an der Lahn

Deutsch von Rebekka Jilg

Cover design by Dan Thornberg, Design Source Creative Services

Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH /

Christian Heinritz

Satz und Datenkonvertierung E-Book: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

www.francke-buch.de

Prolog

Cisco, Texas

April 1883

Heute ist es so weit. Sie konnte es spüren.

Adelaide Proctor starrte den Mann auf der anderen Seite des Tisches gebannt an. In ihrem Magen tanzten die Schmetterlinge derart wild, dass sie kaum einen Bissen des Apfelkuchens hinunterschlucken konnte, den er gerade für sie bestellt hatte. Das geheimnisvolle Lächeln, das er ihr heute Morgen beim Frühstück in der Pension zugeworfen hatte, seine Einladung zum Essen heute Abend, damit sie über ihre Zukunft sprechen konnten …

Die Zukunft! Was konnte es anderes bedeuten? Henry Belcher würde ihr heute einen Heiratsantrag machen.

„Schmeckt Ihnen der Kuchen nicht, meine Liebe?“ Er legte seine Gabel beiseite und sah ihr in die Augen. Immer um sie bemüht, das war ihr Henry.

„Ich bin sicher, er ist köstlich“, sagte Adelaide, während sie die Augen senkte und über den Stoff der Tischdecke strich. „Es ist nur, dass Sie erwähnt hatten, dass Sie heute Abend etwas Wichtiges mit mir zu besprechen hätten. Und ich befürchte, dass mir diese Ankündigung den Appetit geraubt hat.“

„Natürlich. Wie gedankenlos von mir.“ Er schob den Teller mit seinem halb gegessenen Kuchen beiseite und streckte ihr eine Hand entgegen. „Ich hätte Sie nicht den ganzen Abend über in Ungewissheit lassen sollen.“

Mit zitterndem Atem legte Adelaide ihre Hand in die seine. Sein Daumen streichelte über ihren Handrücken – eine vertrauliche Geste, die die Hoffnung in ihr erblühen ließ. Und auch, wenn sich ihre Gefühle nicht überschlugen … nun ja, was machte das schon? Nicht alle Ehen waren auf Leidenschaft gegründet. Sie und Henry teilten etwas viel Beständigeres: gemeinsame Interessen und gegenseitigen Respekt. Sorgfältig gepflegt, würde daraus Liebe erwachsen, da war sie sich sicher.

„Sie sind mir in diesem letzten Jahr sehr wichtig geworden“, sagte Henry leise. „Jeden Monat, wenn ich meine Tour erneut starte, ersehne ich den Augenblick, wenn der Zug mich nach Cisco bringt und ich Sie wiedersehen kann. Sie haben so treu immer wieder Bücher für Ihre Klasse und sich selbst bestellt. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr Ihre Großzügigkeit mein Herz gerührt hat.“

Adelaide erwiderte seinen Blick mit pochendem Herzen. „Ich liebe die Literatur und ich … ich versuche, in meinen Schülern das gleiche Verlangen zu wecken.“ Sanft drückte sie seine Finger und betrachtete seinen Mund, den jetzt ein warmes Lächeln umspielte. „Sie haben keine Mühen gescheut, uns immer genau die richtigen Bücher zu besorgen. Andere fahrende Händler wollen immer nur ihre teuersten Ausgaben verkaufen. Aber nicht Sie. Ihnen sind Ihre Kunden wichtiger. Das habe ich vom ersten Augenblick an gemerkt.“

„Sie sind mir wichtig.“

Adelaides Herz summte wie ein Kreisel, der immer schneller wirbelte. Bevor der Zug Henry in die Stadt gebracht hatte, hatte sie daran gezweifelt, jemals einen Ehemann zu finden. Sie hatte einen Arbeitsvertrag für zwei Jahre als Lehrerin unterschrieben, der es ihr verbot, in dieser Zeit zu heiraten. Die wenigen Verehrer, die sich in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft für sie interessiert hatten, waren mittlerweile anderweitig verheiratet. Doch ihre Geduld würde sich nun endlich auszahlen.

Henry griff mit der anderen Hand über den Tisch und umschloss ihre Hand. „Ich schätze Sie sehr, Adelaide. Deshalb widerstrebt es mir, dass ich uns gleich den schönen Abend mit den Neuigkeiten verderben werde, die ich Ihnen leider mitteilen muss.“

„Den Abend verderben?“ Unsicherheit machte sich in ihr breit. „Wovon reden Sie?“

„Ich habe Nachricht von der Zentrale erhalten. Ich wurde befördert.“

Erleichterung erfüllte Adelaide und machte ihr Herz leicht. „Henry“, schalt sie ihn, „schämen Sie sich. Sie haben mich glauben lassen, es handle sich um furchtbare Nachrichten. Eine Beförderung ist doch ein Grund zum Feiern. Ich bin so stolz auf Sie.“

Henry tätschelte ihre Hand auf eine Weise, die sich weniger wie eine liebevolle Geste als vielmehr wie Mitgefühl anfühlte. „Sie verstehen nicht, meine Liebe. Ich werde dauerhaft in Fort Worth arbeiten. Ich werde nicht länger mit dem Zug unterwegs sein. Es wird keine Besuche in Cisco mehr geben.“

Adelaide machte sich nichts daraus, Cisco verlassen zu müssen. Verstand er das denn nicht? Sie würde gerne von ihrer Anstellung zurücktreten und nach Fort Worth ziehen, um mit ihm eine Familie zu gründen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie sich nach einem solchen Segen gesehnt.

„Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass ich Sie nicht wiedersehen werde.“ Henrys Gesichtsausdruck war so ernst, dass es Adelaide regelrecht Angst machte. Würde er ihr denn keinen Heiratsantrag machen? War er etwa so unsicher, dass er sich nicht traute, sie zu fragen, ob sie ihn ihren Schülern vorziehen würde?

Ja. Das muss es sein.

Wie konnte sie ihn ermutigen, ohne zu forsch zu wirken? Adelaide biss sich auf ihre Unterlippe und lehnte sich vor. „Sie haben mir schon so viel Interessantes von Fort Worth berichtet – den Konzerten, den modernen Hotels, den Empfängen der reichen Firmenbesitzer –, dass ich glaube, dass Sie sich in dieser Stadt sehr wohlfühlen werden.“ Sie senkte ihren Blick. „Ich würde mich glücklich schätzen, einen solchen Ort meine Heimat nennen zu dürfen.“

Adelaide schielte in Henrys Richtung, um seine Reaktion zu sehen. Das traurige Lächeln blieb auf seinem Gesicht. Nach einem Jahr Bekanntschaft hätte sie eigentlich in der Lage sein müssen, seine Stimmung besser einzuschätzen, doch um die Wahrheit zu sagen, hatte sie kaum mehr als ein paar Wochen in seiner Gesellschaft verbracht. Das kam dabei heraus, wenn man sich mit einem fahrenden Händler verabredete. Mit dem Zug unterwegs zu sein, war sein Beruf. Sie hatte ihn höchstens ein- oder zweimal im Monat gesehen. Doch schon diese kurze Zeit hatte sie davon überzeugt, dass die Vorsehung ihn zu ihr gebracht hatte.

Henry seufzte schwer und entzog ihr seine Hände, als er sich zurücklehnte. „Ich wünschte, ich könnte Sie mitnehmen.“

Warum machst du es nicht einfach? Adelaide ballte die Hand, die er eben noch gehalten hatte, zur Faust. Will er mich verlassen?

Bevor die Panik sie überwältigen konnte, lächelte Henry – ein sanftmütiger Gesichtsausdruck frei von Sorge und Enttäuschung. „Wer weiß?“, sagte er. „Vielleicht bringt uns das Schicksal wieder zusammen?“

Adelaide entspannte ihre Hand und atmete langsam wieder ein. Alles würde gut werden. Bestimmt. Etwas hielt Henry zurück, doch ihm lag immer noch etwas an ihr. Sonst hätte er wohl kaum auf eine gemeinsame Zukunft hingewiesen. Vielleicht war das nur Gottes Art, ihre Hingabe zu prüfen.

Als sie nun wieder Henry anblickte, richtete sie sich auf und nickte. Eines Tages würden sie sich wiedertreffen. Sie würde darauf warten. Es war egal, was ihn daran hinderte, ihr heute Abend einen Antrag zu machen. Sie würden es überwinden. Das Glück, nach dem sie sich immer gesehnt hatte, war zum Greifen nah. Sie würde es sich nicht von den hundert Meilen oder einem zögernden Verehrer kaputt machen lassen.

Kapitel 1

Einen Monat später …

Auf der anderen Seite dieser Gleise wartete das größte Abenteuer ihres Lebens. Oder die größte Demütigung, die sie jemals zustande gebracht hatte. Wie auch immer, es gab keinen Weg zurück.

Adelaide Procter atmete tief und entschlossen ein … und hätte bei dem Gestank nach Rinderdung, der sie umgab, beinahe gewürgt. Sie hüstelte und zog ihre Nase kraus, doch unbeirrt schritt sie voran. Es war egal, dass Fort Worth nach Mist roch und dunkle Wolken den Nachmittagshimmel verdunkelten. Sie war hierhergekommen, um ihren Traum zu verwirklichen, und nichts würde sie davon abhalten können.

Adelaide schob sich vorsichtig durch die Menschen, die sich auf dem Bahnsteig drängelten. Heimkehrende Reisende schlossen geliebte Menschen in die Arme. Bahnangestellte entluden Koffer mit Briefen und andere Fracht. Hotelpersonal pries den jeweiligen Arbeitgeber bei den Neuankömmlingen an und versprach gehobene Unterkünfte. Adelaide ignorierte sie alle. Die innere Unsicherheit trübte ihre Begeisterung.

Plötzlich umwirbelte sie eine Windböe und zerrte an ihrem Strohhut. Sie drückte ihn zurück auf den Kopf und blieb einen Augenblick stehen, um ihn wieder richtig festzustecken. Während sie noch mit ihrer Hutnadel beschäftigt war, stieß die Lokomotive hinter ihr einen gewaltigen Schwall weißen Dampfes aus und setzte sich langsam in Bewegung. Verloren in der Menschenmenge und unsicher, wohin sie sich wenden sollte, vermisste Adelaide schon jetzt das ruhige Leben einer Kleinstadt. Schließlich ließ sie sich von den schnatternden und gestikulierenden Menschen um sich herum weitertreiben.

Schon spürte die junge Frau, wie die ersten Finger des Heimwehs nach ihr griffen. Vor wenigen Stunden erst hatte sie Cisco verlassen. Tante Louise hätte bestürzt den Kopf geschüttelt, wenn sie ihre Nichte so hätte sehen können. Von einer jungen Dame, die immerhin vier Jahre in Boston verbracht hatte, um sich zu bilden und ihre gesellschaftlichen Umgangsformen zu verbessern, hätte man erwartet, dass sie sich in einer großen Stadt wie Fort Worth sofort wie zu Hause fühlte. Doch in ihrem Inneren war Adelaide immer noch das Mädchen vom Lande. Weder die Bildung noch geschliffene Umgangsformen hatten das ändern können. Sehr zu Tante Louises Bestürzung.

„Verzeihung, Ma’am.“ Ein Junge, der nicht älter als fünfzehn sein konnte, lenkte einen Wagen mit Koffern und Ledertaschen auf sie zu. Sie trat einen Schritt zur Seite, um ihn passieren zu lassen. Er nickte knapp und verschwand in der Menge.

Sein junges Gesicht allerdings blieb ihr vor Augen und erinnerte sie an ihre frühere Verantwortung. Jungen mit Schulbüchern auf den Pulten und Eidechsen in den Hosentaschen. Sie unterdrückte einen wehmütigen Seufzer und war überrascht, dass sie so etwas wie Bedauern empfand.

Adelaide streckte sich und schüttelte den Kopf. Bedauern? Dies war nicht der Augenblick für Grübeleien und Verzagtheit. Es war Zeit, ihren Traum zu verwirklichen. Irgendwo hier in der Stadt war Henry und sie würde ihn ausfindig machen. Eines Tages würde sie wieder unterrichten. Wenn nicht in einem Klassenzimmer, dann ihre eigenen Kinder. Ihre und Henrys Kinder. Bei diesem Gedanken machte ihr Herz einen kleinen Sprung. Der heutige Tag würde für sie den Anfang eines Märchens bedeuten. Die erste Seite einer Geschichte, die mit den Worten Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage enden würde.

„Wissen Sie schon, wo Sie wohnen, Miss?“ Ein Mann in einer grünen Uniform trat geschäftsmännisch lächelnd an sie heran. „Clark House ist das nächste Hotel am Bahnhof“, sagte er mit lauter Stimme. „Es ist nur ein paar Schritte von hier direkt an der Hauptstraße gelegen. Garantiert saubere Räume. Gutes Essen. Eine respektable Unterkunft für eine junge Dame wie Sie. Ich könnte auch gleich Ihr Gepäck dorthin bringen.“

Clark House. Irgendetwas an diesem Namen kam ihr bekannt vor. Adelaide hob den Kopf, um den Mann vor sich genauer zu betrachten. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, dass sie den Charakter eines Menschen besser einschätzen konnte, wenn sie ihm direkt in die Augen sah. Leider waren die meisten Männer nicht klein genug, um diesen Rat so einfach zu befolgen, wie es sich anhörte, deshalb musste sie sich damit begnügen, ihn von unten zu mustern. Er trug eine Kappe, auf die man die Worte Clark House gestickt hatte. Er wirkte seriös.

„Gibt es dort eine Pferdevermietung in der Nähe?“

Bevor er ihr antworten konnte, trat ein Mann in blauer Dienstkleidung neben sie. „Tag, Miss. Wenn Sie ein Pferd brauchen, ist das Day Hotel genau das Richtige für Sie. Freighter’s Wagon Yard befindet sich direkt daneben und Turner’s Livery genau gegenüber. Viele Möglichkeiten, damit eine Lady wie Sie sich die Stadt anschauen kann.“

„Danke, aber ich –“

„Turner’s Livery ist eigentlich viel näher an Clark House Miss“, mischte sich der Mann in Grün wieder ein und warf dem anderen einen vernichtenden Blick zu. „Ich wäre glücklich, Sie dort –“

„Ach, glauben Sie den beiden kein Wort, Lady.“

Wunderbar. Jetzt mischte sich auch noch ein Mann in roter Uniform ein. Adelaide blickte vom einen zum anderen. Sie waren wie Raubvögel, die nacheinander hackten, um ihre Krumen zu bekommen. Und je länger sie ihre Entscheidung hinauszögerte, desto hungriger wurden sie und kreisten sie mehr und mehr ein. Adelaide trat einen Schritt zurück.

„Was Sie brauchen, ist ein Zimmer im Clayton“, erklärte der Rote. „Unsere Preise sind viel günstiger als die dieser Halsabschneider. Wir haben auch gutes Essen.“

Die Männer schubsten sich gegenseitig, während sie versuchten, ihre Hotels an den Mann oder besser gesagt an die Frau zu bringen. Adelaides Blick schnellte zwischen ihnen hin und her. Panik stieg in ihr auf. Dann ließ ein Ausruf sie aufmerksam werden.

„Ich versichere Ihnen, dass das Restaurant des Clark Houses zu den besten der Stadt gehört. Selbst Fort Worths Elite diniert dort.“

Jetzt wusste sie, wo sie den Namen des Hotels schon einmal gehört hatte – von Henry. Wenn das Essen in der Pension in Cisco Henry nicht gefallen hatte, hatte er immer von seinem Lieblingsrestaurant in Fort Worth geschwärmt. Dem Clark House. Und vor allem von dem Beefsteak, das er dort immer aß. So zart, dass es auf der Zunge zerfiel und man nicht einmal kauen musste.

Adelaide hatte ihre Entscheidung getroffen. Wenn Henry das Restaurant im Clark House besuchte, würde sie dort wohnen. Wer weiß, vielleicht konnten die Angestellten dort ihr sogar Henrys Adresse geben.

„Ich werde ins Clark House gehen, meine Herren.“

Der Grüne grinste seine Konkurrenten triumphierend an, dann strich er seine Weste glatt und wandte sich wieder Adelaide zu. Er bedachte sie mit einem majestätischen Nicken. „Wunderbar. Ich kümmere mich um alles.“

Die anderen Männer brummten ärgerlich, ließen jedoch von ihr ab und wandten sich wieder der Menge zu, um sich das nächste unwissende Opfer zu suchen. Adelaide öffnete erleichtert ihre Handtasche und zog zwei Koffertickets hervor. Sie reichte sie dem Mann zusammen mit ein wenig Kleingeld. „Wenn Sie bitte so freundlich wären, meine Koffer zu holen. Ich hole meine Stute ab.“

„Sehr gut, Miss.“ Er steckte die Münzen ein und holte einen Block hervor. „Ihr Name, bitte?“

„Adelaide Proctor.“

Sein Stift bewegte sich schnell über das Papier. „Ich kümmere mich darum, dass Ihr Zimmer vorbereitet wird und ein Schlüssel für Sie am Empfang bereitliegt.“ Er blätterte um und schrieb noch mehr auf. „Wenn Sie diese Notiz in Turner’s Livery vorzeigen, bekommen Sie einen Nachlass auf Ihre Buchungen.“ Er riss die Seite aus dem Block und reichte sie ihr. „Gehen Sie einfach einen Block am Clark House vorbei. Dann auf der rechten Seite.“

„Danke.“

Der Mann machte sich auf den Weg zum Gepäckwagen und überließ es Adelaide, sich auf dem Bahnhofsgelände zurechtzufinden. Jetzt, wo die Menschenmassen sich verlaufen hatten, hatte sie einen besseren Blick auf die verbliebenen Waggons auf den Gleisen und erspähte einen Arbeiter, der gerade einige Pferde entlud. Sofort erkannte sie Sabas glänzenden Schweif, als ihre Stute vorsichtig und nervös die Holzrampe hinuntertänzelte. Der Stallbesitzer in Cisco hatte versucht, sie davon zu überzeugen, ihm ihre Stute zu verkaufen, bevor sie nach Fort Worth gegangen war, aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht. Ihr Vater hatte ihr Saba als Fohlen zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt. Im gleichen Jahr war er gestorben. Saba verband Adelaide mit dem einzigen Elternteil, den sie jemals gekannt hatte. Sie hatte dieses Band unmöglich trennen können.

Als sie am Rande des Bahnsteigs angekommen war, hob sie den Saum ihres Reisekleides gerade so hoch, dass er nicht in den festgetretenen Schmutz hing, und ging auf den Pferdewaggon zu. Der Arbeiter hatte Saba zu einem Trog geführt. Adelaide ließ ihre Stute in Ruhe trinken, bevor sie sie schließlich zum Mietstall führte.

Um sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihr Pferd stundenlang in einem stickigen Waggon untergebracht hatte, erbat sich Adelaide einen Striegel von einem Stalljungen und pflegte das Fell ihrer Stute selbst.

„Was denkst du, Mädchen? Ist das hier ein guter Ort, um ein neues Leben anzufangen?“ Staub rieselte aus Sabas ebenholzfarbenem Fell, als Adelaide den Striegel in langen Zügen darübergleiten ließ. „Ich weiß, dass Henry nicht der Romantiker ist, von dem ich immer geträumt habe, aber er wird ein guter Versorger sein.“

Saba schnaubte unbeeindruckt.

„Ach, pst.“ Adelaide zog sich einen Holzschemel heran und stellte sich darauf, um auch Sabas Mähne zu striegeln.

Auch wenn Henry nicht so leidenschaftlich wie Charlotte Brontës Mr Rochester oder so ritterlich wie Jane Austens Mr Darcy war, hatte er doch seine Vorzüge.

Es war höchste Zeit, dass sie ihre kindischen Träumereien aufgab. Seit Jahren wartete sie darauf, dass ein Held aus den Seiten eines Romans entstieg und ihr Herz im Sturm eroberte. Doch das war nie geschehen. Und sie war es leid, zu warten. War es müde, übergangen zu werden, weil die Männer sich eher für die gute Familie als für den Charakter interessierten. Sie würde sich ab sofort ihr eigenes Schicksal schmieden. Sie mochte nicht ihren Helden gefunden haben, doch einen zufriedenstellenden Ersatz.

* * *

Nachdem sie ihr Zimmer im Clark House bezogen und ihr Reisekleid abgelegt hatte, kleidete Adelaide sich in ein zitronengelbes Batistkleid, das sofort ihre Stimmung hob. Anschließend machte sie sich auf den Weg in den Speisesaal des Hotels, um ihr Abendessen einzunehmen.

Als sie dort ankam, gab es keinen freien Tisch, also ließ sie sich im angrenzenden Wartebereich nieder. Ein junges Mädchen saß auf einem Sofa in der Mitte des Raumes und errötete sichtbar, als ihr der junge Mann neben ihr ein Kompliment zuraunte. Ein etwas älteres Paar stand am anderen Ende des Raumes und unterhielt sich angeregt über die Landschaftsmalereien, die die Wände schmückten. Adelaide fiel auf, wie selbstverständlich die Frau ihre Hand in die Armbeuge des Mannes gelegt hatte. Der wiederum betrachtete die Frau liebevoll lächelnd.

Neid machte sich in ihr breit und sie wandte schnell den Blick ab. Unsicher legte sie ihre Hände in den Schoß. Es gab nichts Schrecklicheres, als die einzige alleinstehende Frau in einem Raum voller Paare zu sein.

Eine alte Zeitschrift lag neben ihr auf einem kleinen Tischchen. Sie griff danach und hoffte auf ein wenig Ablenkung. Ihre Augen bewegten sich mechanisch über die Seiten, doch die Worte nahm sie überhaupt nicht wahr. Sie würde sich einfach hinter der Zeitung verstecken, bis ihr Tisch frei war oder die Paare den Raum verlassen hatten. Was auch immer zuerst geschah.

Ihr Sessel stand so, dass sie einen guten Blick auf den Eingangsbereich des Restaurants hatte, wenn sie den Kopf ein bisschen drehte. Und sich ein paar Zentimeter zurücklehnte. Und ihren Fuß an einem Tischbein einhakte, damit sie nicht die Balance verlor, während sie auf der Stuhlkante hing.

Der Kellner warf nur ganz selten einen Blick in ihre Richtung, aber sie wollte bereit sein, damit er ihren besten, bedauernswertesten, bittendsten Gesichtsausdruck sah, wenn er sie doch einmal ansah. Er sollte sich schnell um ihren Tisch kümmern. Am liebsten wäre sie sofort wieder auf ihr Zimmer gegangen, aber das Schinkensandwich, das sie sich für die Zugfahrt gemacht hatte, war längst verdaut. Wenn sie den nächsten freien Tisch bekam, würde sie schnell wieder von hier fliehen können. Je schneller dieser Tag endete, desto eher konnte sie sich auf die Suche nach Henry machen. Dann wäre sie diejenige, deren Hand wie selbstverständlich auf dem Arm eines Mannes lag, der ihr bewundernde Blicke zuwarf. Jawohl. Sobald sie Henry gefunden hatte, würde alles besser werden.

„Einen guten Abend noch, Mr Belcher“, hörte sie den Kellner laut sagen. „Ich hoffe, das Essen war wie immer zu Ihrer Zufriedenheit?“

Mr Belcher? Adelaides Herz klopfte laut. Henry? Sie ließ die Zeitung in ihren Schoß sinken. Das Rascheln des Papiers verhinderte, dass sie die Antwort des Mannes hörte. Sie beugte sich weiter zur Seite und reckte den Hals, um einen Blick auf den Mann werfen zu können, doch eine Dame und ein kleiner Junge standen im Weg. Adelaide streckte sich noch weiter, da sie unbedingt einen Blick auf den Mann erhaschen wollte. Er schien die richtige Größe zu haben, seine Frisur sah der Henrys auch ähnlich und …

Das Tischbein, um das sie ihren Fuß gehakt hatte, drückte schmerzhaft in ihre Haut, doch wenn sie sich noch ein bisschen weiter nach hinten lehnen würde … nur ein ganz winziges Stück. Und sich jetzt noch ein bisschen zur Seite neigte …

Plumps.

Adelaide fand sich plötzlich in einem würdelosen Haufen von Kissen und Zeitungspapier auf dem Boden wieder. Mit knallrotem Gesicht sprang sie auf und versuchte, das Kichern des Mädchens zu ignorieren.

„Du liebe Güte! Geht es Ihnen gut, meine Liebe?“

Die Dame, die ihr eben noch die Sicht versperrt hatte, kam herbeigeeilt, um ihr zu helfen. Adelaide winkte rasch ab und zerknüllte die Zeitung in ihrer zitternden Hand.

„Es geht mir gut. Danke.“

„Nun, wenn Sie sicher sind …“

Sie nickte rasch. Genau in diesem Augenblick wandte sich der Mann um, den sie für Henry gehalten hatte.

Und tatsächlich – er war es. Als sie seine bekannten Züge sah, war ihre Erleichterung grenzenlos. „Henry! Sie sind es tatsächlich!“ Sie hatte ihn gefunden. Gleich an ihrem ersten Abend in dieser neuen Stadt. Gott hatte sie zu ihm geführt. Wie wunderbar!

Sie ging auf ihn zu, doch ihre Schritte wurden langsamer, als die Farbe aus seinen Wangen wich. Irgendwie hatte sie erwartet, dass sich sein Gesicht bei ihrem Anblick aufhellen würde und nicht, dass er erschrocken zurücktaumelte. Es musste der Schock sein, sie nicht in ihrem gewohnten Umfeld zu treffen.

„Miss Proctor, wie wunderbar, Sie zu sehen. Machen Sie hier Urlaub?“

Seine Stimme klang seltsam gezwungen, Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn. Adelaide wusste nicht, was sie mit dieser Reaktion anfangen sollte. Er war sonst immer so selbstsicher und beherrscht gewesen. Hatte sie ihn wirklich so sehr überrascht? Bevor sie höflich fragen konnte, was ihn so aus der Bahn geworfen hatte, trat die liebenswürdige Frau neben ihn, die ihr gerade noch zu Hilfe hatte kommen wollen.

„Du kennst diese Frau, mein Lieber?“

Nannte sie hier jeden Liebe oder Lieber?

Henry zog langsam ein Tuch aus seiner Westentasche und tupfte seine Brauen ab. „Ja. Miss Proctor ist Lehrerin in Cisco, einem Zwischenhalt auf meiner alten Route. Sie war eine meiner besten Kundinnen. Liebt Romane, wenn ich mich recht entsinne.“

Er lachte gekünstelt, was Adelaide sich nicht im Mindesten besser fühlen ließ. Ein schmerzhaftes Ziehen hatte sich in ihrem Magen breitgemacht.

„Ich verstehe.“ Die Frau lächelte warm, aber vorsichtig. Sie streckte ihre rechte Hand aus und legte sie auf die Schulter des kleinen Jungen, der die Erwachsenen mit offenem Mund anstarrte. Dann platzierte sie ihre Linke in Henrys Armbeuge. Wie die Dame im Warteraum es eben bei ihrem Begleiter getan hatte.

Ein unsichtbares Gewicht legte sich auf Adelaides Brust, bis sie kaum noch atmen konnte. Nein. Bitte, Gott. Das kann doch nicht wahr sein.

„Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Miss Proctor.“ Die Frau verstärkte den Griff um Henrys Arm. „Ich bin Caroline Belcher. Henrys Ehefrau.“

Kapitel 2

Die Bibel sagt, dass die Wahrheit eine Person frei mache, doch Adelaide hatte sich noch nie in ihrem Leben gefangener gefühlt. Am liebsten hätte sie Henry ins Gesicht geschlagen und ihm vor die Füße gespuckt. Die Frau am Arm des Mannes, an dessen Seite sie selbst hätte stehen sollen, hätte sie am liebsten erwürgt. Und dann wollte sie noch um ihren zerbrochenen Traum weinen. Doch sie tat nichts dergleichen. Nach allem, was passiert war, war die Frau sehr freundlich zu ihr gewesen. Der Junge, der sie mit großen Augen anstarrte, verdiente es, dass der Glaube an seinen Vater nicht erschüttert wurde. Dass aus dieser Begegnung für sie selbst ein Desaster entstanden war, reichte völlig.

Adelaide kämpfte gegen die Galle an, die ihr in den Hals stieg, und verzog ihren Mund zu etwas, das hoffentlich wie ein Lächeln wirken würde. „Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mrs Belcher.“

Die Frau nickte freundlich. „Sind Sie länger in der Stadt?“

„Nein. Meine Angelegenheiten hier haben sich schneller erledigt, als ich angenommen hatte. Ich werde in Kürze wieder abreisen.“

Am liebsten wäre sie sofort auf Sabas Rücken davongaloppiert. Aber der Anstand gebot, dass sie höflich plauderte und verbarg, dass in ihrem Inneren gleich ein Sturm der Gefühle losbrechen wollte.

„Wir müssen jetzt wirklich gehen, Caroline. Du weißt, wie viel Büroarbeit zu Hause noch auf mich wartet.“ Die Quelle ihrer Misere wurde zu ihrer Rettung, als Henry seine Familie in Richtung Tür schob. Natürlich sorgte er sich mehr darum, sich selbst zu schützen als sie, doch sie war einfach nur froh, dass sie ihn endlich los war.

„Guten Abend, Miss Proctor“, rief er noch über die Schulter, ohne ihr in die Augen zu sehen.

„Auf Wiedersehen, Mr Belcher.“

In dem Moment, als die Familie die Straße betrat, raffte Adelaide ihren Rock und stürmte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Ihr leerer Magen zählte nicht mehr. Die neugierigen Hotelgäste zählten nicht. Die Tatsache, dass sie immer noch die halb zerknüllte Zeitschrift in ihrer Hand hielt, zählte nicht. Alles, was jetzt für sie zählte, war, diesem Ort zu entkommen.

Als die Zimmertür hinter ihr ins Schloss gefallen war, warf Adelaide sich auf ihr Bett und fing an zu schluchzen. Sie erstickte ihre Tränen in dem weißen Kissen, das das Zimmermädchen so wunderbar arrangiert hatte, und weinte, bis es völlig durchweicht war. Als sie keine Tränen mehr hatte, stieg Ärger in ihr auf. Erst wurde sie wütend auf das Kissen, weil es jetzt so nass und unansehnlich war, und warf es zornig durch den Raum. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der arglosen Matratze zu und schlug mit den Fäusten auf sie ein.

Wie hatte er ihr Vertrauen so missbrauchen können? Er hatte sie stets in dem Glauben gelassen, er sei unverheiratet. Dieser Schuft! Sie hatte alles für ihn aufgegeben. Ihre Arbeitsstelle. Ihre Freunde. Ihre Selbstachtung. Wahrscheinlich hatte dieser Halunke an jedem Bahnhof von Longview bis Abilene eine Verehrerin. Frauen, die ihn auf seinen einsamen Reisen ablenken konnten. Witwen. Unverheiratete. Einsame Frauen, die anfällig für seinen Charme waren. Frauen, die sich schnell in die Irre führen ließen. Frauen … wie sie.

Ein kummervolles Seufzen entrang sich ihrer Brust. Wie hatte sie nur so eine Närrin sein können? Sie hätte stutzig werden sollen, weil er nie detailliert über eine gemeinsame Zukunft gesprochen, sondern immer nur vage Andeutungen gemacht hatte. Und da stand sie nun, mit laufender Nase, verquollenen Augen, schweren Armen, weil sie eine Hotelmatratze attackiert hatte – alles für einen Mann, den sie eigentlich nie geliebt hatte.

Um ehrlich zu sein, war sie nicht wütend, weil sie Henry verloren hatte. Sie beklagte den Verlust ihrer Träume, die er repräsentiert hatte. Romantik. Eine Familie. Eine Schulter, an die sie sich lehnen konnte, und ein liebevolles Lächeln, das nur ihr galt. Sie hatte ihm seine Quacksalberei abgekauft, in der Hoffnung, dass es das Heilmittel für den Kummer ihres Herzens sei. Doch sein Stärkungsmittel hatte sich als einfaches Zuckerwasser herausgestellt – anfangs süß und am Ende doch völlig wertlos.

Ermüdet ließ sie sich wieder auf das Bett sinken und rollte sich zu einer Kugel aus Selbstmitleid zusammen. Sie legte den Kopf auf die zerknitterte Tagesdecke und blickte in Richtung Zimmerdecke.

„Warum hast du das geschehen lassen, Herr?“ Ihre Stimme, rau und schwach, zitterte bei dieser Frage. „Du hast einen hinterlistigen Mann Jagd auf eins deiner Kinder machen lassen. Warum hast du mich nicht vor ihm beschützt, anstatt dass ich mich völlig zum Narren mache?“

Wieder wurde sie von der großen Ungerechtigkeit überwältigt, die ihr zuteilgeworden war, und schlug die Matratze ein letztes Mal. Dann zeigte sie anklagend mit dem Finger in Richtung Decke. „Ich habe gebetet, Gott. Das weißt du. Wochenlang habe ich dich gefragt, was ich wegen Henry unternehmen soll. Ich habe um Weisheit gebeten. Ich habe um Führung gebeten. Und alles, was ich von dir bekommen habe, war Schweigen. Wie sollte mir das bitteschön helfen?“

Sie vernahm keine Antwort. Gott schien ihr im Moment nichts zu sagen zu haben und sie wusste nicht, warum. Ihn anzuschreien machte die Sache sicher auch nicht besser, doch selbst David hatte in schweren Zeiten in seinen Psalmen geklagt, also schien das doch ein legitimes Mittel zu sein. Trotzdem fühlte sich ihre Tirade ein bisschen respektlos an.

Leise murmelte Adelaide eine Entschuldigung und lehnte sich mit dem Rücken an den Bettrahmen. Seufzend zog sie die Knie an und schlang die Arme darum. Ihr Kopf sank auf die Knie, während sie trauerte. Warum hat Gott mich verlassen? Sie wusste, dass er seinen Kindern nie ein sorgenfreies Leben versprochen hatte, aber er hatte zugesagt, immer für sie da zu sein. Warum war er es nicht? Warum schwieg er?

Zu ausgelaugt, um Gottes Wege weiterhin verstehen zu wollen, griff Adelaide nach einem Bettpfosten und zog sich auf die Beine. Sie taumelte zu ihrem Koffer, zog ein frisches Baumwollnachthemd hervor und presste es gegen die Brust, während sie langsam ans Fenster trat und auf die Straße starrte.

Der Himmel hatte sich seit ihrer Ankunft aufgeklart, doch eine große Wolke schien sich dort hartnäckig zu halten. Sie hing direkt über dem Saloon auf der anderen Straßenseite und erinnerte sie an eine Bibelgeschichte, die sie ihre Schüler gelehrt hatte. In der Bibel hatte die Wolke Gottes natürlich über dem Heiligtum und nicht über einem Saloon geschwebt, doch es war ein Zeichen der Führung. Ein winziges Flattern rührte sich in ihrem Herzen. Wollte Gott ihr sagen, dass er auch jetzt bei ihr war?

Adelaide starrte die Wolke an und wartete … auf irgendetwas. Irgendeine Nachricht, die ihr aufzeigte, wie ihr nächster Schritt aussehen sollte. Aber die Wolke hing einfach nur da, als hätte sie jemand am Himmel festgeklebt. Diesig, unbestimmt und völlig nutzlos. Adelaide seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Sie warf ihr Nachthemd aufs Bett und ließ sich in den gepolsterten Sessel fallen, der in der Zimmerecke stand. Die Füße zog sie wieder an sich, wie sie es auch als kleines Kind immer schon im Büro ihres Vaters getan hatte.

Wenn sie doch nur zurück nach Cisco gehen und so tun könnte, als sei das alles nicht geschehen. Aber das war unmöglich. Die örtliche Schulbehörde hatte ihre Stelle bereits wieder vergeben. Sie würde sich also nicht ernähren können. Außerdem wäre die Schmach zu groß. Getuschel über ihre blamable Männerwahl würde die Runde machen und ihren guten Ruf zerstören. Nein. Sie konnte nicht zurück.

Adelaide öffnete die Augen und starrte geradeaus. Sie würde nicht in Panik geraten, also atmete sie tief durch und erinnerte sich an ihren klaren Verstand, der ihr immer gut geholfen hatte, wenn es zum Beispiel in ihrem Klassenzimmer Probleme gegeben hatte. Nun gut. Herauszufinden, wohin Beth Hansens Brotdose jeden Tag nach der Pause verschwunden war, war wohl mit ihrer momentanen Situation kaum zu vergleichen, doch vielleicht konnten ihr geordnete Gedanken jetzt weiterhelfen.

Also gut. Sie wusste, wohin sie nicht gehen konnte – zurück nach Cisco. Das verringerte ihre Möglichkeiten auf ein paar Tausend andere. Also wie sollte sie sich für eine entscheiden?

Sie blickte über die Schulter hinweg in Richtung Fenster. Die Wolke stand immer noch am Himmel. Warum konnte sie den Gedanken nicht abschütteln, dass sie extra für sie dort war? Wieder entstand dieses Flattern in ihrem Herzen, dieses Mal stärker als zuvor. Gott hatte schon in der Bibel immer wieder Wolken benutzt, um sein Volk zu führen. Vielleicht tat er das nun mit ihr.

Aber eine Wolke? Adelaide schnaufte und verschränkte die Arme vor der Brust. Konnte es ein unklareres Zeichen geben? Ein brennendes Signalfeuer am Himmel wäre sicher eindeutiger gewesen. Diese Nachricht hätte man nicht missverstehen können. Klar. Deutlich. Zuversichtlich.

Wolken verschleierten Dinge. Sie verdrängten die Sonne und machten alles undurchsichtig. Mit einer Wolke vor sich würde sie nie mehr als einen Schritt voraussehen können.

Denn als Glaubende gehen wir unseren Weg, nicht als Schauende.

Der Spruch schoss ihr durch den Kopf und verdrängte ihre zweifelnden Gedanken. Vielleicht sprach Gott doch zu ihr. Nur nicht so, wie sie es erwartet hatte.

Je mehr sie an Mose und die Israeliten dachte, die durch die Wüste gewandert waren, desto mehr wurde ihr die Rolle der Wolke bewusst. Sie hatte die Menschen damals nicht nur geleitet, nein, sie hatte Gottes Gegenwart enthalten. Durch sie hatte Gott mit Mose gesprochen und das Heiligtum mit seiner Herrlichkeit erfüllt. Das Volk Israel hatte seine Reise erst dann fortgesetzt, wenn sich die Wolke in Bewegung setzte. Sie hatten sich auf diese Wolke verlassen und waren nicht ohne sie weitergezogen.

Adelaide richtete sich in ihrem Sessel auf und begriff endlich. Sie war ohne die Wolke losgezogen. Sie senkte ihren Kopf.

„Gott, vergib mir meine Ungeduld. Ich habe getan, was ich für das Beste hielt, und mich nicht in deine Hände begeben. Ich habe dir nicht genug vertraut, um auf ein Zeichen von dir zu warten.“

Langsam und zitternd atmete sie ein. „Ich habe es wirklich alles in den Sand gesetzt, oder? Ich brauche dich jetzt mehr als je zuvor. Zeig mir, wohin ich gehen und was ich tun soll. Und bitte schenk mir genug Vertrauen, damit ich dir auch folgen kann, wenn ich noch nicht erkenne, wohin der Weg mich bringt. Im Namen Jesu, amen.“

Adelaide fühlte sich jetzt ruhiger, aber auch ein wenig betäubt. Wie mechanisch machte sie sich fertig fürs Bett. Erst der Spritzer kalten Wassers aus der Schale auf der Kommode und das raschelnde Nachthemd erfrischten ihren Geist. Sie schnappte sich das Kissen, das sie vorhin noch so stiefmütterlich behandelt hatte, und schüttelte es auf. Nachdem sie es wieder ordentlich auf ihrem Bett drapiert hatte, kroch sie unter die Decke und zog sie hoch. Papier knisterte.

Sie hob die Tagesdecke an und fand darunter die Zeitung, die sie aus dem Warteraum des Restaurants mitgenommen hatte. Adelaide faltete sie sorgsam zusammen und fing an, sie glatt zu streichen. Das arme Ding war eindeutig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hatte schrecklich gelitten.

Als sie sich daran machte, die Seiten zu ordnen, sprang ihr eine Anzeige ins Auge.

Gesucht:

Hauslehrerin für Tochter eines Farmbesitzers

Erfahrung und Referenzen nötig

Persönlich vorstellen bei Mr James Bevin

Ecke Houstonstraße und 13. West

Schwindel stieg in Adelaide auf und ließ eine Gänsehaut auf ihren Armen entstehen. Ihre Wolke hatte sich soeben in Bewegung gesetzt.

* * *

Am nächsten Morgen eilte Adelaide aufgeregt in Korsett und Unterhose in ihrem Zimmer umher und betrachtete ihre Kleider, die sie nebeneinander über den Möbeln drapiert hatte. Drei lagen auf dem Bett, zwei über dem Sessel und eins hing über dem Spiegel der Kommode. Wie konnte es sein, dass sie ihr gesamtes Leben ohne zu zögern hinter sich ließ, um einem Mann zu folgen, sich aber beim besten Willen nicht für ein Kleid entscheiden konnte, wenn es darauf ankam? Ein frustriertes Seufzen entfuhr ihr. Das ist verrückt. Ich muss mich einfach nur entscheiden.

Das Reisekleid von gestern und das gelbe Batistkleid waren zu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, deshalb fielen sie heraus. Ihr cremefarbenes Reitkleid war für den Anlass nicht angemessen. Blieben das safranfarbene Kattunkleid, das goldene Wollkleid und das sonnengelbe Musselinkleid. Für das Wollkleid war es mit Sicherheit zu warm, jetzt, wo der Frühling in den Sommer überging. Sie liebte den Blumendruck auf dem Kattunkleid, doch wahrscheinlich wirkte das einfarbige Musselinkleid seriöser. Eine Minute lang überlegte sie noch, dann griff sie nach dem sonnengelben Stoff.

Eine halbe Stunde später machte Adelaide sich mit ihren Referenzen und Qualifikationsnachweisen und der Wegbeschreibung des Rezeptionisten auf den Weg zu Mr Bevin.

Das Gebäude, in dem er arbeitete, wirkte von außen langweilig und nichtssagend, doch als sie es betrat, umfing sie sofort eine freundliche und warme Atmosphäre. Das Büro war in dunklen Farben eingerichtet. Ein Hauch von Zigarrenqualm hing in der Luft. Braune Ledersessel bildeten eine gemütliche Sitzecke, über der sich das Gemälde einer englischen Fuchsjagd befand. Adelaide trat näher an das Bild, um es zu betrachten. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie konnte die Hunde förmlich bellen hören.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Adelaide fuhr erschrocken herum und verschob dabei das Bild an der Wand. Hektisch richtete sie es wieder. Ein eifriger junger Mann setzte sich hinter einen polierten Mahagonischreibtisch und musterte sie durch runde Brillengläser.

Sie räusperte sich. „Ich bin hier, um Mr Bevin zu sehen.“

„Haben Sie einen Termin?“ Er hob eine Augenbraue und erinnerte Adelaide sehr an die arroganten jungen Männer, die sie in Boston kennengelernt hatte.

Sie richtete sich hoch auf und wandte ihren Kopf leicht zur Seite, als sei der Mann unter ihrer Würde. „Informieren Sie Mr Bevin bitte, dass Miss Adelaide Proctor auf seine Einladung hin erschienen ist. Er hat keine genaue Uhrzeit genannt, als er mich um mein Erscheinen bat, also ging ich davon aus, dass er mich unverzüglich sehen wollte. Wenn Sie jetzt so gut wären, Mister …“ Sie bedeutete ihm aufzustehen, wie eine Königin, die ihre Untertanen kommandierte.

Gerade als der Mann sich erhob, ruinierte ein unterdrücktes Glucksen aus Richtung der Tür ihren Auftritt. Ein weiterer Mann, ungefähr um die vierzig Jahre alt, stand im Türrahmen, der zu einem weiteren Büro zu führen schien.

Oh nein! Das musste Mr Bevin sein und sie versuchte gerade, mit ihren hochnäsigen Worten seinen Assistenten einzuschüchtern. Das konnte nicht gut gehen! Trotzdem lächelte er sie an und nickte.

„Kommen Sie bitte in mein Büro, Miss Proctor. Ich bitte Sie, das Missverständnis zu entschuldigen. Ich muss vergessen haben, dass wir uns heute treffen wollten, und habe es dementsprechend auch versäumt, meinen Assistenten darüber zu informieren.“ Sein angenehmer Tonfall beruhigte sie. Und vor allem das sympathische Lächeln, das seine Lippen immer noch umspielte.

Mit erhobenem Kopf, der jedoch trotzdem nur bis zu seinem Kinn reichte, schritt sie an ihm vorbei und nahm in einem Ledersessel Platz. Er schloss die Tür hinter sich und ging um seinen Schreibtisch herum, um sich dahinter zu setzen.

„Sie müssen Mr Lyons entschuldigen. Er ist manchmal ein wenig großspurig, aber sein Vater ist ein Freund von mir und bat mich, ihn bei mir aufzunehmen.“

Etwas von ihrer Forschheit verschwand. „Ich hätte mich nicht aufregen dürfen. Ich entschuldige mich für meine Unhöflichkeit.“

Mr Bevins Stuhl knarzte, als er sich nach vorne lehnte und sein Kinn in die Hand stützte. „Eigentlich finde ich, dass Sie ganz gut mit ihm umgegangen sind. Man muss schlagfertig sein, vor allem hier in Texas. Und jetzt … erzählen Sie mir doch von der Verabredung, die mir entfallen ist, und warum ich Sie so dringend bei mir sehen wollte.“

Adelaide spürte, wie sie errötete. „Also … es war eher so eine Art öffentliche Einladung. Keine, die an mich speziell adressiert war. Ich habe die Anzeige in der Gazette gelesen und würde mich gerne als Hauslehrerin bewerben.“

„Pfiffig ausweichend und gleichzeitig ehrlich. Eine bewundernswerte Kombination.“

Sein Verhalten half ihr, sich zu beruhigen. Tatsächlich erinnerte sie das freundliche Lächeln und das Grau an seinen Schläfen an ihren Vater. Natürlich wäre ihr Vater nicht in eine so vornehme Weste gehüllt gewesen, aber sie fühlte sich immer wohler.

„Sind Sie denn für diese Position qualifiziert, Miss Proctor?“

„Ja, Sir.“ Sie holte ihre Referenzen hervor und schob ihm die Papiere über den Schreibtisch hinweg zu. „Ich habe 1880 meinen Abschluss am Bostoner Lehrerseminar gemacht und dann zwei Jahre in Cisco, Texas, unterrichtet.“

Sie schloss ihre Handtasche so ungeschickt, dass die Metallschnalle ihre Haut einklemmte. Als Mr Bevin ihre Empfehlungsschreiben gelesen hatte, waren die Tränen wieder aus ihren Augen verschwunden.

„Ihre Kollegen und Vorgesetzten haben eine hohe Meinung von Ihnen, sowohl fachlich als auch menschlich.“ Er ließ die Briefe sinken und sah sie über den Schreibtisch hinweg an. „Es hört sich an, als hätte man sich gewünscht, dass Sie in Cisco bleiben. Darf ich fragen, warum Sie von dort weggegangen sind?“

„Ich dachte, ich würde heiraten.“

Als die Worte ihren Mund verlassen hatten, hätte Adelaide sie am liebsten umgehend wieder eingefangen. Die Aufregung musste ihren Verstand verwirrt haben. Jeder halbwegs normale Mensch hätte doch einfach nur persönliche Gründe angegeben und das nicht weiter ausgeführt. Warum hatte sie sich nicht zwei Sekunden Zeit genommen, um nachzudenken und eine angemessene Antwort zu finden, anstatt den ersten Gedanken hinauszuposaunen, der ihr in den Sinn kam?

„Dann gehe ich davon aus, dass daraus nichts geworden ist?“ Sein Tonfall klang ein bisschen neugierig, doch nicht nach Mitleid, und dafür war sie ihm dankbar.

„Gott scheint andere Pläne für mich zu haben“, sagte sie und hoffte, dass er das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerken würde.

„Ach, Sie sind also gläubig. Mr Westcott bevorzugt es, Christen einzustellen. Das wird Ihnen zugutekommen.“ Er stützte die Hände auf die Schreibtischkante und erhob sich. „Es gibt zwei andere Bewerberinnen, die ich für geeignet halte. Doch Mr Westcott besteht darauf, dass er die entscheidenden Gespräche selbst führt – nachdem er gesehen hat, wie jede Bewerberin mit seiner Tochter umgeht. Wir nehmen den Acht-Uhr-Zug morgen früh. Wenn Sie immer noch interessiert sind, stelle ich Ihnen ein Ticket zur Verfügung.“

Er streckte ihr die Hand entgegen und half ihr beim Aufstehen. Nachdem Adelaide sich bei Gott über seine langsame Vorgehensweise und die Geduld beschwert hatte, die sie in den letzten Wochen hatte aufbringen müssen, war sie nun fast überwältigt von der Geschwindigkeit, mit der die Dinge um sie herum geschahen.

„Ich muss mich nur noch um eine sichere Fahrt für Saba bemühen“, sagte sie und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.

Mr Bevin hob eine Augenbraue. „Sagen Sie mir bitte nicht, dass Sie ein Kind haben, Miss Proctor.“

Benommen versuchte sie, seinen Worten einen Sinn zu entnehmen. „Ein Kind? Nein, Sir. Ich habe ein Pferd.“

Nach einem sprachlosen Moment lachte er so laut auf, dass die Wände zu wackeln schienen. „Ein Pferd, sagt sie. Ha! Nun, Miss Proctor, ich empfehle Ihnen, das Tier entweder zu verkaufen oder so lange unterzustellen, bis Mr Westcott seine Entscheidung getroffen hat. Er –“

„Ich bezahle die Fahrt natürlich.“ Sie kramte in ihrer Tasche nach dem erforderlichen Geld. „Saba kommt mit mir.“

Sie hielt ihm die Münzen hin und wartete auf seine Reaktion. Er legte den Kopf zur Seite, musterte sie einen Augenblick und nahm dann das Geld entgegen.

„Nun gut. Ich kümmere mich darum.“ Er trat an ihr vorbei und legte die Hand auf den Türknauf. „Mit dem Zug können wir nur die halbe Strecke fahren. Danach müssen wir noch ein paar Tage über Land reisen. Ein Ersatzpferd wird uns sicher dienlich sein.“

„Danke, Mr Bevin.“

Er öffnete die Tür zum Vorzimmer. Zum ersten Mal seit vielen Minuten konnte Adelaide wieder tief durchatmen.

„Ach, Miss Proctor? Da gibt es noch eine Sache.“

Sie wandte sich um, um ihn anzuschauen. „Ja?“

„Sollte sich Mr Westcott für Sie entscheiden, machen Sie sich auf eine schwierige Aufgabe gefasst.“

Vielleicht war seine Tochter ein Wirbelwind, der seine Gouvernanten bisher mit Eidechsen und Schlangen terrorisiert hatte. Doch durch so etwas würde Adelaide sich mit Sicherheit nicht abschrecken lassen. Sie war auf einer Farm groß geworden, also gab es nichts, was sie erschrecken konnte.

„Mit ein paar Kinderstreichen komme ich schon zurecht“, gab sie voller Selbstbewusstsein zurück.

„Es sind keine Kinderstreiche, mit denen Sie sich gegebenenfalls auseinandersetzen müssten. Es ist die Kommunikation.“

Sie wartete darauf, dass Mr Bevin sich genauer ausdrückte.

„Das Kind ist fast fünf und muss immer noch die Buchstaben lernen.“

„Ich verstehe nicht, wo das Problem ist. Ich habe vielen Kindern das Schreiben –“ Sie hielt inne, als er langsam den Kopf schüttelte.

„Miss Proctor, das Kind ist stumm.“