image

Tamera Alexander

Hoffnung am Horizont

 

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

ISBN 978-3-86827-994-8

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2006 by Tamera Alexander

Originally published in English under the title

Revealed

by Bethany House, a division of Baker Publishing Group,

Grand Rapids, Michigan, 49516, USA

German edition © 2012 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

Deutsch von Silvia Lutz

Umschlagbilder: © Dreamstime.com / Jean Hatch / Witthayap

Grafik im Innenteil: © iStockphoto.com / ulimi

Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH /

Christian Heinritz

Satz: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Stolberg

 

www.francke-buch.de

Über die Autorin:

Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.

Jesus erzählte ein weiteres Gleichnis. Er hatte dabei besonders die Menschen im Blick, die selbstgerecht sind und auf andere herabsehen. „Zwei Männer gingen in den Tempel, um zu beten. Der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zolleinnehmer. Selbstsicher stand der Pharisäer dort und betete: ‚Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie andere Leute: kein Räuber, kein Gottloser, kein Ehebrecher und schon gar nicht wie dieser Zolleinnehmer da hinten. Ich faste zweimal in der Woche und gebe von allen meinen Einkünften den zehnten Teil für Gott.‘

Der Zolleinnehmer dagegen blieb verlegen am Eingang stehen und wagte kaum aufzusehen. Schuldbewusst betete er: ‚Gott, vergib mir, ich weiß, dass ich ein Sünder bin!‘

Ihr könnt sicher sein, dieser Mann ging von seiner Schuld befreit nach Hause, nicht aber der Pharisäer. Denn wer sich selbst ehrt, wird gedemütigt werden; aber wer sich selbst erniedrigt, wird geehrt werden.“

Lukas 18,9-14

Prolog

Colorado-Territorium, 14. Mai 1870

Im Schatten der Rocky Mountains

 

Annabelle Grayson McCutchens schaute den todkranken Mann neben sich an und wünschte sich genau wie an dem Tag, an dem sie ihn geheiratet hatte, sie hätte ihren Mann mehr lieben können. Sie hätte die gleichen starken Gefühle für ihn gehabt, die er ihr entgegenbrachte. Nach all den Männern, mit denen sie in ihrer Vergangenheit zu tun gehabt hatte, war sie nun mit einem wirklich guten Mann verheiratet, der sie trotz allem, was sie getan hatte, liebte. Warum konnte sie diesem Mann ihr Herz nicht ganz öffnen, obwohl sie es wirklich wollte?

Jonathan versuchte einzuatmen. Annabelle wand sich innerlich, als sie bemerkte, wie sich die Luft mühsam durch seinen Hals bewegte und kaum seinen Brustkorb hob. Es rasselte dumpf, als die Luft auf die Flüssigkeit in seiner Lunge traf.

Großer Schmerz machte sich in ihr breit. Wie hatte dieser Berg von einem Mann so schnell umgeworfen werden können? Die Schmerzen in seinem Brustkorb begannen ohne Vorwarnung, und die Erschöpfung und die Hustenanfälle, die Jonathan seit einigen Wochen plagten, hatten in den letzten Tagen unheilvollere Ausmaße angenommen. Wie konnte das Herz eines Mannes einerseits so stark und gleichmäßig schlagen und andererseits so schnell schwächer werden?

Ein Windstoß bewegte die Wagenplane und lenkte Annabelles Blick nach oben zur Frühlingssonne, die halb versteckt hinter den höchsten Gipfeln der Rocky Mountains hing. Ein orangeroter leuchtender Schein überzog die weite Prärie des Ostens und bereitete die Landschaft auf die Abenddämmerung vor. Der Wagentreck, mit dem sie vor fast einer Woche in Denver aufgebrochen waren, hatte, wie es vor Anbruch der Fahrt für solche Situationen vereinbart worden war, einen Tag gewartet, ob Jonathan wieder zu Kräften käme. Aber als seine Schmerzen schlimmer wurden und die Aussicht auf eine Genesung immer hoffnungsloser schien, hatte Jack Brennan widerstrebend entschieden, dass der Treck weiterziehen müsse. Sie mussten die Zeit aufholen, die sie wegen ihres verspäteten Aufbruchs aufgrund ungewöhnlich starker Frühlingsregenfälle verloren hatten, um das Idaho-Territorium noch vor dem ersten Schneefall zu erreichen.

Nach mehreren Minuten wurde Jonathans Atmung wieder gleichmäßiger. Seine Augen waren geschlossen. Annabelle fragte sich, ob er wieder eingeschlafen sei.

„Du bist die hübscheste Frau, die ich mir je hätte wünschen können, Annie.“ Seine Stimme war sanft. Er hob eine Hand und strich mit den Fingern über ihre Stirn und dann an ihrer Wange hinab.

Sie lachte traurig und schüttelte über seine albernen Worte den Kopf. „Ja, ich bin ein richtig guter Fang. Nur gut, dass du mich so schnell geheiratet hast, denn es standen noch eine ganze Reihe anderer Bewerber bei mir Schlange.“ Als sie sah, wie er einen Mundwinkel verzog, lächelte Annabelle.

In jüngeren Jahren war sie hübsch gewesen, aber die Schönheit war etwas, das die Jahre – und die Entscheidungen, die sie getroffen hatte – aus ihrem Gesicht vertrieben hatten, und das wusste sie. Eine dünne, hervortretende Narbe lag über ihrem rechten Backenknochen und zog sich zackig bis zu ihrer Schläfe und zu ihrem Haaransatz hinauf. Mit dieser Narbe lebte sie seit fünfzehn Jahren. Sie war eine unauslöschliche Erinnerung daran, was manche Männer, die ein Bordell besuchten, als Vergnügen betrachteten.

„Was machst du da, Annabelle?“

Erst jetzt wurde sich Annabelle bewusst, dass sie verlegen ihre Haare auf dieser Gesichtsseite nach unten zog. Schnell ließ sie die Hand sinken und lachte in der Hoffnung, ihre Befangenheit damit verbergen zu können. Ihr Lachen klang gezwungen und nicht überzeugend. „Ich überlege nur, dass du Narben attraktiv finden musst, Jonathan McCutchens.“

Mit liebevoller Zärtlichkeit streichelte er ihre Wange. „Ich finde dich attraktiv, Mrs McCutchens. Nur dich.“

Seine Zärtlichkeit ließ sie die schlagfertige Antwort, die ihr auf der Zunge lag, hinunterschlucken, und der Schmerz in ihrem Herzen pochte in einem immer lauteren Rhythmus. Sie empfand für diesen Mann mehr, als sie in ihrem Leben je für einen anderen Menschen empfunden hatte, warum konnte sie also ihre Gefühle nicht zwingen, genauso stark zu sein wie seine? Aber sie hatte, so weit sie zurückdenken konnte, immer wieder erlebt, dass man Gefühlen nicht trauen durfte. Gefühle lebten für kurze Zeit auf, dann verblassten sie und wurden mit der Zeit sogar trügerisch. Deshalb hatte sie gelernt, sie nicht zu beachten und ihnen keinen großen Raum zu geben. Sie hatte einfach damit gerechnet, dass es in der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau anders wäre.

Oft hatte sie Gott angefleht, ihr ein stärkeres Verlangen nach Jonathan zu geben. Aber offenbar erhörte Gott solche Gebete nicht. Oder vielleicht erhörte er nur ihre Gebete nicht.

„Danke, dass du mich zum Mann genommen hast, Annie. Ich hatte so große Pläne für uns … und für unser Kind.“ Er hob die Hand, und sie legte sie auf die Stelle, an der ihr Sohn oder ihre Tochter unter ihrem Herzen heranwuchs. Jonathan streichelte zärtlich ihren flachen Bauch, als versuche er, das winzige Baby zu trösten.

Seine Hand bewegte sich in langsamen Kreisen über dem Kind, und sie schloss fest ihre Augen, als sich ungebetene Erinnerungen an die Oberfläche drängten. Sie saß wehrlos und stumm da, während tief sitzende Schuldgefühle und Scham sie erneut befielen. Schwangerschaften waren in Bordellen weit verbreitet, aber genauso weit verbreitet waren bestimmte Aloemittel und Pulver, mit denen ungebetene Schwangerschaften beendet wurden. Die Mittel, die die Frauen benutzten, hinterließen jedoch oft dauerhafte Schäden.

Dass sie überhaupt mit Jonathans Kind schwanger geworden war, war ein großer Segen, ein einziges Wunder.

„Es tut mir so leid, dass ich dich so zurücklasse, Annie. Es …“ Seine tiefe Stimme war vor Gefühlsregung ganz heiser. „Es läuft nicht so, wie ich es geplant hatte. Es tut mir leid …“

Sie schüttelte den Kopf und beugte sich näher über ihn. „Wag es ja nicht, das zu mir zu sagen, Jonathan McCutchens“, flüsterte sie und legte eine kühle Hand auf seine Stirn. Ein Seufzen kam bei ihrer Berührung über seine Lippen. „Wenn sich hier jemand entschuldigen muss, dann ich. Ich …“ Ihr Mund bewegte sich, aber die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Angesichts des Weges, den sie in ihrem Leben eingeschlagen hatte, würden die meisten Menschen das nicht verstehen, aber eine solche Intimität war für sie immer noch ungewohnt. „Es tut mir leid, dass ich nicht die Frau bin, die du verdient hast. Du bist der …“ Sie hatte Mühe, die Worte an dem unangenehmen Knoten in ihrer Kehle vorbeizuzwängen. „Du bist der beste Mann, dem ich je begegnet bin, Jonathan. Und ich danke dir, dass … dass du mich zu deiner Frau genommen hast.“

Er seufzte wieder, und sein Blick wanderte langsam über ihr Gesicht, als sähe er sie zum ersten Mal. Oder vielleicht zum letzten Mal. Dann deutete er mit zittriger Hand hinter seinen Kopf zur Vorderseite des Wagens. „In meinem Beutel dort ist etwas, das ich heute Morgen geschrieben habe.“

Annabelles Blick folgte seinem Finger, dann schaute sie ihn wieder an. Ohne zu fragen, ahnte sie, was es war. Sie bedachte ihn mit einem wissenden Lächeln und wartete, ob er noch mehr dazu sagen würde.

Jonathans Blick blieb ruhig.

Sein Wunsch, sie zu versorgen, war edel und großmütig, aber die Verachtung in den Augen seines jüngeren Bruders bei ihrer letzten Begegnung in Willow Springs stand ihr noch lebhaft vor Augen. Acht lange Jahre waren vergangen, seit die zwei Brüder sich vor jenem unerfreulichen Wiedersehen das letzte Mal gesehen hatten. Matthew Taylors Reaktion an jenem Oktoberabend vor sieben Monaten verriet ihr, dass das, was Jonathan in seinem Brief wahrscheinlich vorschlug, sich als unmöglich erweisen würde.

Die Erinnerung, wie die beiden Männer gestritten hatten, und das Wissen, dass sie der Grund für diesen Streit gewesen war, schmerzte sie immer noch zutiefst. Die beiden Brüder waren von derselben Mutter geboren worden, hatten aber verschiedene Väter und wiesen in ihrem Aussehen und Verhalten nur wenig Ähnlichkeit auf. Und schon gar nicht in ihrem Temperament.

Matthew wusste nicht, dass sie mit dem Kind seines älteren Bruders schwanger war. Aber das würde ohnehin an seiner Einstellung der Frau gegenüber, die sie gewesen war und die sie in seinen Augen immer bleiben würde, nichts ändern.

Mit einem leisen Seufzen beugte sie sich zu Jonathans Tasche und holte den Brief heraus. Sie öffnete den Brief nicht, sondern legte ihn auf ihren Schoß. Dann nahm sie Jonathans Hand, beugte sich nahe über ihn und flüsterte: „Du weißt, dass ich das nicht kann, Jonathan. Selbst wenn wir wüssten, wo er ist, könnte ich Matthew nicht bitten …“

Sein schwacher Griff wurde stärker. „Er ist nicht für Matthew. Der Brief ist … für den Pfarrer.“ Ein Hustenanfall erschütterte seinen ganzen Körper. Er rang nach Luft und drückte sich die Hand auf die Brust, bis der Husten vorbei war. „Ich habe alles aufgeschrieben. Alles. Der Pfarrer wird wissen, was zu tun ist … wie er dir helfen kann.“

Annabelle streichelte seine Hand und fragte sich, wie viel Zeit ihnen noch zusammen bliebe. Eine Frau in ihrem Wagentreck, die sich mit Herzkrankheiten auskannte, hatte ihr gesagt, dass er nur noch höchstens einen oder zwei Tage leben würde.

Annabelle schaute ihrem Mann ins Gesicht und erhaschte wieder einen Blick von dem, was sie an jenem Nachmittag im letzten Sommer gesehen hatte, als sie sich im Wohnzimmer des Pfarrers das erste Mal begegnet waren. Jonathan McCutchens war der ehrlichste Mann, den sie je kennengelernt hatte. Andererseits war sie in ihrem Leben nicht vielen ehrlichen Männern begegnet. Jonathan war freundlich und besaß eine Sanftheit, die man bei einem kräftigen Mann mit einer Größe von ein Meter fünfundachtzig nicht erwartet hätte. Und er war loyal, egal, welchen Preis ihn das kostete. Er hatte genug eigene Fehler in seinem Leben gemacht und kannte sich auch mit den Schattenseiten dieser Welt aus, auch mit dem Leben, das sie geführt hatte. Er behauptete, dass er sie vom ersten Augenblick an geliebt hatte, und obwohl sie nicht verstand, wie das sein konnte, gefiel ihr diese Vorstellung.

Während sie ihn in den immer länger werdenden Schatten im Wagen betrachtete, wünschte sich Annabelle, sie könnte sich selbst wenigstens einmal mit den Augen sehen, mit denen Jonathan sie sah. Aber sie kannte sich zu gut, um im Spiegel je etwas anderes als eine beschmutzte und besudelte Frau zu entdecken.

Etwas funkelte in Jonathans Augen und sie zwang sich zu einem Tonfall, der mehr nach einer Feststellung klang als nach der Frage, die sie beschäftigte. „Der Brief ist also für Pfarrer Carlson.“

Er nickte langsam. „Ich habe alles aufgeschrieben. Die Ranch und das Land, das in Idaho auf dich wartet, die Bank, bei der unser Geld liegt.“

Annabelle lächelte. Sie hatte nichts in diese Ehe mitgebracht, das einen materiellen Wert hatte, aber Jonathan sprach immer von unserem Geld.

„Es dürfte noch genug für deinen Lebensunterhalt übrig sein, nachdem der Pfarrer einen Scout bezahlt hat, der dich sicher auf die Ranch bringt. Die Ranch ist noch sehr jung, Annie, aber sie wird gute Gewinne abwerfen. Carlson kann …“ Er bekam keine Luft mehr und keuchte schwer.

Annabelle konnte an seinem Husten hören, dass die Krankheit seine Lunge immer mehr in Mitleidenschaft zog. Sie rollte eine zweite Decke zusammen und stopfte sie unter seinen Kopf und seine Schultern und hoffte, dass er so leichter atmen könnte. „Pscht … ich komme schon zurecht, Jonathan. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich finde schon einen Weg“, versicherte sie ihm und wollte diese Worte selbst gern glauben.

Jonathans Atem kam keuchend und mühsam. Sein Blick war entschlossen. „Carlson kann einen vertrauenswürdigen Mann einstellen, der dir hilft, dich einer anderen Gruppe anzuschließen, die in den Norden zieht. Der Pfarrer wird das für dich erledigen. Davon bin ich überzeugt.“

Seine Zunge bewegte sich über seine aufgesprungenen Lippen, und Annabelle benetzte sie wieder mit einem feuchten Tuch. Obwohl Jonathan keine negativen Gefühle gegenüber seinem Bruder hegte – anderen zu vergeben war für ihn so selbstverständlich wie zu atmen –, wusste sie, dass die zerbrochene Beziehung eine tiefe Narbe bei ihm hinterlassen hatte. War Matthew eigentlich bewusst, wie sehr Jonathan ihn liebte und wie tief ihn ihr Zerwürfnis verletzt hatte?

„Ich will, dass dir alles gehört, was mein ist, Annie. Alles, was ich gern mit dir teilen wollte. Gib Pfarrer Carlson einfach den Brief … bitte.“

Sie tupfte seine fiebrige Stirn ab und nickte schließlich.

Sie konnte ihm ansehen, dass er nicht überzeugt war, ob sie seiner Bitte tatsächlich nachkäme. Sie hatte nie versucht, ihn zu täuschen. Bis auf jenes eine Mal. Aber als er ihr in jener Nacht in die Augen geschaut hatte, hatte er die Wahrheit gewusst.

Mit großer Kraftanstrengung hob Jonathan den Kopf. „Annabelle, gib mir dein Wort, dass du nach Willow Springs zurückfährst und tust, worum ich dich gebeten habe.“

Nach allem, was du für mich getan hast, Jonathan. Nach allem, was du geopfert hast … Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich gebe dir mein Wort, Jonathan.“

Er legte sich auf die Matratze zurück und die Anspannung in seinen Gesichtszügen ließ ein wenig nach.

„Möchtest du mehr Suppe? Oder mehr Grog für deinen Husten? Ich habe ihn auf dem Feuer warm gehalten.“

Er nickte, ohne zu sagen, was von beidem er wollte. Sie wusste, was ihm mehr helfen würde, und stand auf, um es zu holen. Als sie wieder in den Wagen stieg, setzte sie sich neben ihn und schob ihm löffelweise die Honig-Whiskey-Mischung zwischen die Lippen. Er hob, nachdem er mehrmals mühsam geschluckt hatte, die Hand und sie stellte die Medizin beiseite.

Kaum eine Minute später fielen ihm die Augen zu. Er war eingeschlafen. Für eine Weile.

Sie ließ den Blick über seine Stirn und Schläfen wandern und dann über sein bärtiges Kinn. Nach äußeren Maßstäben war er ein unauffälliger, einfacher Mann, niemand, nach dem sich alle Frauen umdrehten, wenn er durch die Straße ging. Aber wenn sie an die schöneren Männer dachte, die ihr in ihrem Leben begegnet waren, wurde ihr bewusst, dass keiner von ihnen es mit diesem Mann aufnehmen konnte.

Sie nahm seine große, von der Arbeit raue, schwielige Hand. Er rührte sich nicht. Ich wünsche mir so sehr, ich könnte dich so begehren, wie eine Ehefrau ihren Mann begehren sollte, Jonathan McCutchens. In ihrer Hochzeitsnacht hatte Jonathan sie geliebt, als wäre sie eine unberührte junge Frau. Und sie hatte versucht, ihm zu geben, was er ihrer Meinung nach wollte, schnell und sicher, wie man es sie gelehrt hatte. Doch sie hatte nicht mit seiner Geduld oder seinem ernsthaften Bemühen, auf sie einzugehen und ihr Vergnügen zu bereiten, gerechnet. So etwas hätte sie nie erwartet. Auch darin hatte sie ihn enttäuscht.

Obwohl sie doch nur versucht hatte, ihn nicht zu verletzen, war es das letzte Mal gewesen, dass sie ihm etwas vorgetäuscht hatte.

Sie atmete langsam die Luft aus.

Sein Griff um ihre Finger verstärkte sich, und erst jetzt bemerkte Annabelle, dass er sie beobachtet hatte. Seine tiefe, unübersehbare Hingabe, die so völlig unverdient für sie war, versetzte ihr einen Stich ins Herz.

„Legst du dich neben mich, Annie?“

Ein leichter Wind schlug gegen die Wagenplane. „Ist dir kalt? Willst du noch eine Decke?“ Sie wollte aufstehen, um sie aus einer Kiste, die weiter vorne stand, zu holen.

Er hielt sie sanft am Handgelenk fest und zog sie neben sich nach unten. „Nein … ich will nur meine Frau neben mir fühlen und dich eine Weile bei mir haben.“

Eine Weile.

Diese einfache Bitte verstärkte das schmerzhafte Pochen in ihr nur noch mehr. Bis zum Ende, willst du damit sagen. Sie hob die Decke hoch und legte sich neben ihn. Annabelle achtete darauf, ihr Gewicht nicht auf seinen Brustkorb zu verlagern, sondern drückte sich nahe an ihn, sodass er ihren Körper neben seinem fühlen konnte. Sie strengte sich an, um seinen Herzschlag zu hören und um diesen Rhythmus tief in ihr Gedächtnis einzugraben.

„Ich muss dir ein paar Dinge sagen, Annie, und ich …“ Er brach mitten im Satz ab, legte einen Moment seinen rechten Arm auf seine Brust und atmete schwach ein, bevor er sich schließlich wieder entspannte. „Und ich weiß, dass du auf dieses Gespräch nicht erpicht bist.“ Seine Stimme hing sanft in der aufziehenden Dunkelheit und vibrierte nahe an ihrem Ohr, das auf seinem Brustkorb lag. „Mein Bruder ist jung. Er hatte als Junge nicht die besten Chancen. Das habe ich dir ja schon erzählt. Die Verletzungen, die er in so jungem Alter erlitten hat, gingen tief und sind nie verheilt. Ich war älter, deshalb habe ich es wahrscheinlich besser verkraftet als er. Er muss immer noch viel lernen, aber er wird es schaffen. Du und ich, Annie, wir …“ Er lachte kurz in sich hinein und Annabelle erinnerte sich an ihre Reaktion, als sie sein Lachen das erste Mal gehört hatte. Wie ein plötzlicher Regenschauer an einem staubigen Sommertag erfrischte sie dieser Klang und machte ihr die Last, die in diesem Moment auf ihr lag, ein wenig leichter. „Du und ich, wir sind Matthew gegenüber im Vorteil. Wenigstens sehe ich es so.“

„Im Vorteil?“ Sie lachte kurz. „Oh ja, ich kann mir vorstellen, welchen Vorteil ein Mann wie du und eine Hu…“ Sein Arm umfasste sie kräftiger. Annabelle beherrschte sich und presste die Lippen zusammen. So oft konnte Jonathan ihre spitzzüngigen Worte mit einem sanften Blick oder einer leichten Berührung zum Schweigen bringen.

Jonathan war kein Heiliger, und sie schon gar nicht. Matthew Taylor hingegen machte auf sie den Eindruck eines aufrichtigen Bürgers, allseits beliebt und geachtet, auch wenn er von ihr keine hohe Meinung hatte. Sie hatte ihn ein paarmal gesehen, wenn er Kathryn Jennings geholfen hatte. Da war er ihr gegenüber äußerlich freundlich gewesen, aber in seinen Augen hatte sie die Wahrheit gesehen und sein Blick hatte sie daran erinnert, wie tief sie gefallen war. Welchen Vorteil sie und Jonathan gegenüber einem Mann wie Matthew haben sollten, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, strich Jonathan ihr zärtlich über das Haar. „Uns beiden wurde so viel vergeben! Wir haben erlebt, was wir ohne Jesus sind, und wie es um uns bestellt ist, wenn unsere ganze Schuld an uns haftet. Solange ein Mensch das nicht erkennt, kann er nicht so dankbar sein, wie er es sein sollte. Er kann anderen Menschen nicht die nötige Barmherzigkeit entgegenbringen, weil er noch nicht erkannt hat, wie nötig er sie selbst braucht.“

Annabelle schmiegte sich in seine Umarmung und dachte über seine Worte nach. Die Frau des Pfarrers in Willow Springs hatte an dem Morgen, an dem Larson und Kathryn Jennings vor eineinhalb Jahren zum zweiten Mal geheiratet hatten, etwas Ähnliches zu ihr gesagt. Annabelle konnte sich noch gut an den kalten Schnee an ihrem Hochzeitstag erinnern, der wie Nadelstiche auf ihren Wangen gebrannt hatte, nachdem Larson Jennings im wahrsten Sinn des Wortes dem Grab entstiegen und zu seiner Frau zurückgekehrt war.

„Wem viel vergeben ist, der liebt viel.“ Eine tiefe Weisheit sprach aus Hannah Carlsons Augen, als sie das glückliche Paar betrachtet hatten. „Larson ist das beste Beispiel dafür. Eifersucht und Misstrauen haben ihn fast blind gemacht für die Frau, die Gott für ihn ausgewählt hatte. Aber jetzt ist seine Liebe zu ihr größer als je zuvor, weil er seine eigenen Schwächen und auch die von Kathryn erkannt hat. Sie lieben sich trotz dieser Schwächen. Genau genommen, lieben sie sich gerade wegen dieser Schwächen sogar noch mehr, auch wenn das rein menschlich betrachtet unlogisch klingt.“ Hannahs Blick war zu ihrem Mann gewandert. „Ein Ehepaar kann sich nicht so lieben, wie Gott es für sie vorgesehen hat, solange sie sich nicht wirklich kennen. Eine solche Liebe braucht Zeit, um langsam zu wachsen. Meistens dauert das ein ganzes Leben lang. Und dann wieder verschlägt einem die Macht der Liebe ganz plötzlich den Atem.“

Annabelle beneidete Larson und Kathryn Jennings um die Liebe, die sie miteinander verband. Die beiden hatten ihr geholfen, einen neuen Weg einzuschlagen und zu der Frau zu werden, die sie jetzt war.

Wem viel vergeben ist, der liebt viel.

Hannah hatte ihr später die Bibelstelle gezeigt, aus der dieser Satz stammte. Annabelle hatte eine Haarschleife zwischen die Seiten gelegt, um die Stelle wiederzufinden. Die Schleife lag immer noch an dieser Stelle ihrer Bibel. Sie dachte daran, aufzustehen und ihre Bibel zu holen, aber sie wollte nicht von Jonathans Seite weichen. Sie blieb ruhig neben ihm liegen und spürte das langsame Heben und Senken seines Brustkorbs.

Sie berührte die dichten, braunen Haare an seinen Schläfen und strich sie mit weichen Bewegungen zurück. Er drehte ihr den Kopf zu und sah sie an, und sie staunte erneut über die Tiefe seiner Gefühle. „Du hast mich freigekauft, Jonathan“, flüsterte sie, obwohl sie nicht wusste, ob er sie überhaupt hören konnte. „Du hast nicht nur das gesehen, was ich war und wer ich war.“ Und wer du immer sein wirst, meldete sich das bekannte anklagende Flüstern in ihrem Kopf. Aber so wie Hannah es sie gelehrt hatte, verbannte Annabelle diese Stimme sofort wieder aus ihrem Denken. „Du hast mich erlöst, Jonathan. Ohne dich wäre ich in diesem Bordell gestorben.“

In der Stille des Planwagens erkannte sie plötzlich die Ironie dieser Worte. Sie waren verlassen und allein mitten in der Prärie. Sie war endlich freigekauft und von ihrem alten Leben erlöst, aber Jonathan, der Mann, der den Preis für ihre Freiheit bezahlt hatte, blickte dem Tod ins Auge. Das Leben war einfach nicht fair.

„Ich habe dich nicht erlöst, Annie. Das hatte Jesus schon längst getan.“ Er strich mit seinen rauen Fingern über ihre Wangen. „Ich habe nichts anderes getan als dich geliebt, und das war leicht.“

Während er ihr Kinn in seine Handfläche legte, kämpfte Annabelle gegen die Gefühle an, die wie eine große Flutwelle irgendwo tief in ihrem Inneren anstiegen. Tränen waren ihr fremd. Sie waren irgendwie verräterisch. Sie hatte ihre Gefühle so viele Jahre lang verdrängt und verstecken müssen, um zu überleben. Aber jetzt erzwangen sich die Tränen einen Weg, als wäre in ihr nicht mehr genug Platz für ihren großen Schmerz. Vielleicht hatte sie aber auch keinen Grund mehr, ihre Gefühle zu verstecken.

„Du warst genau die Frau, die ich wollte, Annie. Du warst von Anfang an ehrlich zu mir. Ich wusste, was du für mich empfunden hast. Aber man kann nicht geben, was man nicht hat.“ Seine Stimme wurde leise, aber sein Tonfall enthielt nicht die geringste Spur von Bitterkeit. „Ein Mensch kann einen anderen nur lieben, wenn er gelernt hat, sich selbst zu lieben. Diese Wahrheit hat mir Gott vor langer Zeit gezeigt. Du hast den Samen zu lieben in dir, Annie. Er braucht nur Zeit, um zu keimen und Wurzeln zu schlagen, das ist alles. Ich habe wahrscheinlich gedacht …“ – er zuckte leicht mit den Achseln –, „… dass ich genug Liebe für uns beide habe, bis dieser Samen aufgeht.“

Annabelle schloss für einen Moment die Augen und ließ seine Worte auf sich wirken. Sie war dankbar für die Güte, die in seinen Worten lag. Aber sie spürte auch, dass ihr Herz schneller schlug, und konnte sich den Schmerz in ihrer Brust nicht erklären. Was Jonathan gesagt hatte, entsprach der Wahrheit:

Sie konnte nicht lieben …

„Man kann nicht geben, was man nicht hat.“ Das hatte er gesagt. Sie wünschte sich so sehr, dass sie das ändern könnte, besonders da er so geduldig und großzügig war und nie etwas von ihr gefordert hatte. Ihre Beziehung zu ihm war ganz anders als ihre Erfahrungen mit anderen Männern.

Als sie versuchte zu begreifen, was er mit seinen Worten meinte, begann etwas, das tief in ihr vergraben war, sich langsam zu entfalten. Sie wusste, dass sie vielleicht keine zweite Chance mehr bekäme, das auszusprechen, was in ihr Gestalt annahm. Sie stützte sich langsam auf einen Ellbogen, sah ihm ins Gesicht und hoffte, sie könnte in Worte fassen, was in ihr vorging. „Ich habe in meinem ganzen Leben nie etwas getan, womit ich mir deine Zuneigung verdient hätte, Jonathan.“ Zitternd legte sie eine Hand auf seine Brust und sah, wie seine Augen sie liebevoll anblickten. „Aber du sollst wissen … wenn ich noch die Gelegenheit dazu hätte, würde ich gerne den Rest meines Lebens damit verbringen, dich immer mehr lieben zu lernen.“

Sie blinzelte und eine Träne lief ihr über die Wange.

Jonathans Blick verdunkelte sich. Er schaute sie schweigend an. Dann glätteten die Falten auf seiner Stirn sich nach und nach und er lächelte. „Du hast die Liebe, Annie.“ Er wischte die Träne weg und lachte leise. „Ich sehe in deinen Augen, wie sie beginnt.“

Annabelle wünschte sich, es wäre wahr, beugte sich über ihn und küsste ihn auf den Mund. Seine Lippen schmeckten nach Honig und Whiskey. Trotz ihres früheren Berufs war ihr diese Art von Vertrautheit fremd. Noch einmal fanden ihre Lippen sanft die seinen und sie bemerkte, wie viel ihm das bedeutete. Sie stimmte ihm im Stillen zu. Wahrscheinlich hatte er recht. Wenigstens in Bezug auf eines: Sie musste über Liebe wirklich noch viel lernen. Aber wie lernte man, sich selbst zu lieben? Besonders jemand wie sie! Musste ein Mensch nicht zuerst liebenswert sein, bevor er geliebt werden konnte?

Sie lehnte sich wieder an ihn und eine Weile sprach keiner von ihnen ein Wort. Dann seufzte Jonathan langsam und lange. Es schien ihn seine ganze Kraft zu kosten. Annabelle erhob sich leicht, um sich zu vergewissern, dass er noch bei ihr war. Der Tod war wie ein vertrauter Fremder. Sie kannte das Wirken seiner Hände, und obwohl sie ihn noch nie aus der Nähe gesehen hatte, spürte sie ihn kommen.

Die Dämmerung legte sich über das Land. Dicht auf ihren Fersen folgte die Dunkelheit, und auch wenn sie es nicht sah, fühlte sie, dass Jonathan sie anschaute.

„Ich liebe dich, Annabelle McCutchens, und auch dort, wohin ich gehe, … werde ich dich weiterlieben.“

Sie stützte sich zum zweiten Mal auf, beugte sich über ihn und drückte ihm mit zugeschnürter Kehle einen federleichten Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich auch, Jonathan.“ Sie liebte ihn wirklich. Auf ihre Weise. „Ich bin dir dankbar, dass du mich zu deiner Frau gemacht hast und dass ich dein Kind bekommen darf. Glaube mir, ich werde dafür sorgen, dass unser Baby weiß, was für ein guter Mann sein Vater war.“

Jonathan atmete schnell ein. „Oder ihr Vater. Ich würde mich über ein Mädchen genauso sehr freuen wie über einen Jungen.“

Sie lächelte, dann zögerte sie, da sie spürte, dass er sich auf eine Weise, die sie nicht erklären konnte, von ihr entfernte. Eine alte Angst stieg in ihr auf. „Hast du Angst?“, flüsterte sie.

Er schaute sie mit gerunzelter Stirn an. „Vor dem Tod?“

Sie nickte langsam.

Nach einer Minute schüttelte er den Kopf. „Nein. Aber ich wünschte, ich hätte meine Tage auf Erden bewusster gelebt.“ Er verzog das Gesicht, dann atmete er aus und entspannte sich wieder. „Wenn ich das getan hätte, hätte ich vielleicht auch etwas Besseres aus meinem Leben gemacht.“

Sie schwiegen beide.

Annabelle wünschte sich so sehr, sie könnte mehr für ihn tun. Sie legte sich wieder hin und betrachtete den Nachthimmel, der durch die Öffnung des Planwagens zu sehen war. Sterne überzogen wie winzige Lichter den Himmel und leise flüsternd wehte der Wind über ihren Körper. Obwohl Jonathan sie in vielerlei Hinsicht wirklich freigekauft hatte, lag ihre Rettung nicht in den Armen des Mannes, der sie jetzt festhielt, und war auch nicht in seiner Liebe zu finden, so sehr diese Liebe auch zu ihrer Befreiung beigetragen hatte. Ihre Erlösung verdankte sie einem anderen Mann. Diesem Mann war sie nie von Angesicht zu Angesicht begegnet, aber sie wusste, dass er real war.

Sie drückte sich enger an Jonathan und sein Arm umschlang sie fester.

„Ist dir kalt?“

Sie zuckte leicht mit den Achseln. „Nur ein bisschen.“ Selbst jetzt dachte er an sie. Was sie von Jonathan wollte, was sie von ihm brauchte, bevor er starb, war nicht die Wärme seines Körpers, sondern die Flamme, die kräftig und hell in ihm brannte. Die Flamme, die einen Mann wie ihn veranlasst hatte, eine Frau wie sie zu beachten. Die Flamme, die in ihr schon allein durch seine Nähe den Wunsch weckte, ein besserer Mensch zu sein.

Später in der Nacht wachte Annabelle mit einem Gefühl auf, das sie nicht genau erklären konnte. Ein kühler Maiwind bewegte die Wagenplane in der Dunkelheit und sie lag eine Weile still da und lauschte dem gleichmäßigen Prasseln der Regentropfen auf das Wagendach über ihr.

Sie hob die Hand, um Jonathan zu berühren. Da wusste sie es.

Genauso leise, wie er in ihr Leben getreten war, war Jonathan McCutchens wieder aus ihrem Leben entschwunden.

 

* * *

 

Den Rest der Nacht lag Annabelle hellwach da. Sie war still und bewegte sich nicht, aber ihr Körper berührte Jonathan nicht mehr. Als sich der schwache hellrote Schein der Morgendämmerung über die Prärie legte, zog sie die Decke enger um sich und drehte sich auf die Seite, konnte aber die eisige Kälte trotzdem nicht vertreiben.

Der Regen der Nacht erfüllte die kühle Morgenluft mit einem ungewohnt süßen Duft, der aber die Einsamkeit, die in der Welt außerhalb dieses Wagens auf sie wartete, nicht erträglicher machen konnte.

Da Jonathans Herz sein rhythmisches Schlagen eingestellt hatte, wünschte sie sich beschämt, sie wäre mit ihm gestorben. Gleichzeitig konnte sie fast hören, wie er sie aufforderte, nicht aufzugeben und weiterzumachen. Aber die Stimme, die sie nur in ihrer Fantasie hörte, verstummte angesichts der Angst, die ganz real in ihr aufstieg.

Sie schloss die Augen und zwang sich, sich darauf zu konzentrieren, was außerhalb der schützenden Stille des Planwagens geschah, wo die Natur neu zum Leben erwachte: Ein kleines Tier lief raschelnd durch das spärliche Präriegras, ein leichter Wind bewegte die Wagenplane, und in der Ferne muhte ihre Milchkuh, und die Glocke, die um den Hals des Tieres gebunden war, läutete. Sie hatte die Milchkuh gestern am Spätnachmittag an den Wagen gebunden, aber der Eigensinn des Tieres war offenbar stärker gewesen als Annabelles Knoten. Wieder einmal. Jonathan hatte recht: Sie musste ihren Knoten noch ein wenig üben.

Während sie daran dachte, wie er sie damit aufgezogen hatte, setzte sich Annabelle langsam auf und drehte sich um. Mit einer vorsichtigen Berührung streichelte sie die regungslose Brust ihres Mannes, ohne ihrer Hand zu erlauben, zu lange zu verweilen.

Sie sah ihm ins Gesicht. Es strahlte Frieden und Ruhe aus. Doch er war tot.

Ihre Stimme war nur ein leises Flüstern. „Was soll ich nur in dieser neuen Welt ohne dich machen, Jonathan? Wie soll ich mich darin zurechtfinden?“

Wenn sie ehrlich war, wollte sie das gar nicht. Ohne ihn und seine liebevolle Anleitung wollte sie nicht weitermachen.

Ein dumpfer Schmerz lief ihr über den Rücken und zwang sie, sich anders hinzusetzen. Sie hörte etwas rascheln.

Der Brief.

Sie hielt das gefaltete Blatt Papier ins frühe Morgenlicht und erkannte schwach Jonathans Handschrift. Fast konnte sie die Worte erkennen.

Der Brief war nicht versiegelt. Er steckte in keinem Umschlag.

Sie kniff einen Moment die Augen zusammen, um etwas entziffern zu können, wandte dann aber den Blick wieder ab. Sie ließ den Brief sinken, faltete ihn zusammen und steckte ihn in ihr Mieder. Zusammen mit dem laut ausgesprochenen Versprechen, den Brief Pfarrer Carlson zu überbringen, hatte sie im Stillen ihrem Mann ein zweites Versprechen gegeben, das im Tod genauso bindend war wie im Leben.

Kapitel 1

Annabelle trieb ihre Pferde auf der südlichen Route zurück zum Pikes Peak kräftig an und machte in Denver nur Halt, um Jonathans Leichnam für die Beerdigung vorbereiten zu lassen. Am siebten Tag nach Jonathans Tod erreichte sie kurz vor Sonnenuntergang den Ortsrand von Willow Springs. Erleichterung vermischte sich mit der Traurigkeit in ihrer Brust, als sie die bekannte Stadt wiedersah. Sie hatte gedacht, sie hätte diesen Ort für immer verlassen. Sein Anblick weckte viele Erinnerungen in ihr, zum Beispiel an etwas, das Jonathan zu ihr gesagt hatte, als sie im letzten Herbst ihren Umzug nach Denver vorbereiteten.

„Du bist jetzt eine neue Frau, Annabelle McCutchens. Die Menschen in Denver kennen uns nicht.“ Er hatte immer so gesprochen, als stünde sie auf einer Stufe mit ihm. Daran hatte sie sich nie ganz gewöhnen können. „Sie gehen davon aus, dass du das bist, was man äußerlich an dir sieht, und sie haben recht.“ Er strich mit seiner Hand leicht über ihre dunklen Haare, aus der sie die rote Farbe herausgewaschen hatte, streichelte ihr Gesicht und schaute in ihre blauen Augen, die jetzt nicht mehr mit Wimperntusche und Kajalstift künstlich betont wurden. „Sie werden sehen, was ich sehe: eine Dame. Eine schöne, junge Ehefrau, die mit ihrem gut aussehenden Ehemann in die Stadt zieht.“

Annabelle wurde bei der Erinnerung an diese Worte und an das verspielte Augenzwinkern, mit dem er sie bedacht hatte, warm ums Herz. In seinen letzten Stunden hatte Jonathan ihr klargemacht, dass er gern hier in Willow Springs zur letzten Ruhe gelegt werden würde. Während sie durch die Stadt zum Haus des Pfarrers fuhr, musste sie unweigerlich daran denken, wie sie sich kennengelernt und hier in der Nähe des Fountain Creek geheiratet hatten. Sie brachte ihren Mann nach allem, was er für sie getan hatte, gern zu ihrem ersten gemeinsamen Zuhause zurück. Aber in ihrem Herzen wusste sie, dass Jonathan McCutchens schon längst zu Hause war.

Sie sah im Geiste die schöne Pinienkommode vor sich, die er ihr als Hochzeitsgeschenk gebaut hatte und die jetzt, zusammen mit anderen Dingen, die sie zurückzulassen gezwungen gewesen waren, verlassen in der Prärie stand. Nur wenige Tage nachdem sie Denver verlassen hatten, waren Jonathans Brustschmerzen schlimmer geworden. Einige Männer aus Jack Brennans Wagentreck hatten das Möbelstück aus dem voll beladenen Planwagen gehoben, damit Jonathan sich im Wagen, wo er vor der Hitze des Tages geschützt war, ausruhen konnte. Inmitten der vielen Lebensmittel, die sie dabeihatten, war trotzdem kaum genug Platz für Jonathan gewesen. Wenn er jetzt noch hier wäre, würde er ihr sicher sagen, dass sie nicht um die Kommode trauern sollte, die zu den Dingen gehört, die auf Dauer sowieso keinen Bestand haben. Das wusste sie natürlich, aber trotzdem …

Sie lenkte den Wagen in eine Seitenstraße und erblickte Pfarrer Carlson schon aus einiger Entfernung, wie er neben dem weißen Pfarrhaus Holz hackte.

Er drehte sich kurz um und warf einen flüchtigen Blick in ihre Richtung, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte. Doch dann wurde er ganz still. Er drehte noch einmal den Kopf. Die Axt in seiner Hand glitt zu Boden.

Er kam zum Wagen und half ihr beim Absteigen. Aus seiner Miene sprachen Fragen und Besorgnis. Patrick Carlson schaute an ihr vorbei in den Wagen hinein. Annabelle beobachtete sein Gesicht, in dessen Zügen sich der Schock widerspiegelte, als er von Jonathans Tod hörte, sich mit Unglauben vermischte und dann nach und nach einem traurigen Akzeptieren wich.

Er nahm den Brief, den sie ihm gab. Während er ihn las, legte sich eine unsichtbare Last auf seine Schultern. „Wann hat Jonathan das geschrieben?“

„An dem Tag, an dem er starb. Ich musste ihm versprechen, Ihnen den Brief zu bringen.“ Hilfe anzunehmen, besonders von Männern, war Annabelle noch nie leichtgefallen. Der Pfarrer stellte natürlich keine Bedrohung für sie dar, aber als sie den Ernst in seinen Augen sah, wünschte sie fast, sie hätte den Brief gelesen, bevor sie ihn ihm gegeben hatte. „Ich hoffe, Jonathans Bitte ist keine zu große Belastung für Sie, Herr Pfarrer. Worum er Sie auch bittet, er hat Sie damit bestimmt nicht belasten wollen.“

„Sie haben diesen Brief nicht gelesen?“

Sie schüttelte den Kopf und schaute auf ihre Hände hinab, die sie vor ihrem Bauch verkrampft hatte. „Jonathan hat nicht gesagt, dass ich ihn nicht lesen könne. Er hat nur gesagt, dass er ihn an Sie geschrieben hat, also hielt ich es für besser, wenn ich lieber nicht …“ Als Pfarrer Carlson ihren Arm berührte, hob sie das Kinn.

„Dieser Brief besagt, dass Jonathan Sie sehr geliebt hat, Annabelle, und dass er für Sie sorgen wollte …“ Eine leise Frage und ein leichtes Funkeln traten in seine Augen. „Und für sein ungeborenes Kind.“

Annabelle beantwortete die nicht ausgesprochene Frage mit einem Kopfnicken. „Wir fanden es kurz bevor wir Denver verließen heraus. Er hat sich sehr gefreut.“

„Hannah wird es das Herz brechen, wenn sie von Jonathan hört, aber wenn Sie ihr auch Ihre guten Neuigkeiten mitteilen, wird sie sich sehr freuen, Annabelle.“ Er deutete zum Weg, der zum Haus führte. „Geht es Ihnen … gut?“

Sie ging neben ihm her und verstand seine nicht ausgesprochene Frage. „Größtenteils ja. Wenn die Müdigkeit und die Übelkeit in den letzten zwei Wochen nicht gewesen wären, wüsste ich gar nicht, dass etwas anders ist.“

„Hannah kann das zweifellos gut nachempfinden. Und sie kann Ihnen viel bessere Ratschläge geben als ich.“ Sein Tonfall wurde wieder sehr ernst. „Ich nehme an, Jack Brennan und sein Treck sind in den Norden weitergezogen?“

„Ja, nachdem sie einen Tag mit uns gewartet hatten. Jack Brennan ist ein guter Mann, und seine Leute haben getan, was sie konnten.“ Sie erzählte ihm von ihrer Rückfahrt durch Denver und dass der Bestattungsunternehmer Jonathan für die Beerdigung vorbereitet und einen Sarg für ihn gebaut hatte. „Wir können mit der Beerdigung nicht mehr lange warten.“

Patrick schaute zum Wagen zurück. „Ich kann mich gern um alles kümmern, wenn Sie einverstanden sind.“ Als sie nickte, nahm er ihren Arm, führte sie die Verandastufen hinauf und rief dann Hannahs Namen. Er drehte sich zu Annabelle um. „Jonathans Tod tut mir so leid, Annabelle! Aber noch bevor Sie oder Jonathan von seinem Schicksal wussten, litt Gottes Herz schon mit Ihnen beiden. Ich hoffe, Sie glauben mir das.“

Obwohl sie das nicht ganz verstand, nickte Annabelle und hoffte, ihr mangelndes Wissen über Gott würde das wenige Vertrauen, das sie hatte, nicht zunichtemachen. Bis vor Kurzem hatten sie und Gott nie wirklich viel miteinander gesprochen, und auch jetzt hatte sie das Gefühl, als würde in den letzten Tagen nur sie reden.

Die Angeln der Haustür quietschten und sie drehte sich um.

Hannah kam aus dem Haus. Das erfreute Lächeln, das über ihr Gesicht zog, gab Annabelle das unerwartete Gefühl, nach Hause zu kommen. Als Annabelle ihr flüsternd den Grund für ihre Rückkehr erklärte, legte Hannah die Arme um sie und zog sie an sich heran.

Die Sicherheit der Umarmung einer anderen Frau, die wortlose Sprache, die darin lag, tröstete Annabelle so sehr, dass die starke Fassade, die sie sich seit Jonathans Tod sorgfältig zugelegt hatte, sehr schnell in sich zusammenstürzte.

 

* * *

 

Spät an diesem Abend verließ Annabelle im Schutz der Dunkelheit das Haus der Carlsons und eilte durch die bekannten Seitenstraßen von Willow Springs ans andere Ende der Stadt. Als sie um die Ecke bog und das Bordell vor ihr auftauchte, blieb sie stehen. Es wiederzusehen, besonders nachts, das laute Lachen und die blechernen Töne, die auf dem Klavier gespielt wurden, zu hören, gab ihr das sonderbare Gefühl, völlig fehl am Platz zu sein. Die Fenster mit den roten Vorhängen im ersten Stock waren schwach beleuchtet, aber sie wusste, dass die Zimmer nicht leer waren.

Um diese Uhrzeit waren sie bestimmt nicht leer.

Ihr Blick wanderte zum dritten Fenster von hinten und sie wartete. Wie viele Nächte hatte sie, seit sie Willow Springs verlassen hatte, wach gelegen und sich Sorgen um Sadie gemacht, das junge Mädchen, dessen Vergangenheit viel zu viel Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Geschichte hatte. Jonathan war bereit gewesen, auch Sadie aus dem Bordell freizukaufen, als Annabelle ihn darum gebeten hatte, aber die Bordellmutter hatte sich in Bezug auf das Mädchen auf keine Verhandlungen eingelassen. Sadie war fünfzehn, hatte hüftlange, rabenschwarze Haare, eine glatte, braune Haut und dunkle, mandelförmige Augen. Ihre Jugend und ihre exotische Schönheit machten sie zu einer der begehrtesten Frauen im ganzen Haus. Annabelle würde nie verstehen, warum einige Männer ein so junges Mädchen wollten.

Der gleiche nagende Schmerz, der sie jedes Mal befiel, wenn sie an Sadie dachte, zog ihren Magen zusammen und kroch dann langsam ihren Brustkorb hinauf. Wie hatte sie dieses Kind hier zurücklassen können? Sie hatte Sadie beschützt, besser gesagt, sie hatte versucht, sie zu beschützen, seit das Mädchen vor fast vier Jahren ins Bordell gekommen war.

Annabelle steuerte auf die verdunkelte hintere Veranda zu und war fest entschlossen, diesen Fehler kein zweites Mal zu machen. Die Tür war nicht verschlossen.

Erinnerungen stürmten auf sie ein, sobald Annabelle in die Küche trat. Abgestandener Zigarrenrauch und der Gestank nach altem Whiskey schienen von den Wänden und dem Holzboden auszuströmen. Ein übertrieben süßlicher Fliedergeruch von dem Parfum, das die Mädchen benutzten, hing in der abgestandenen Luft, aber er konnte den Geruch aus altem Schweiß und menschlichen Ausdünstungen nicht vertreiben.

Das Haus kam ihr anders vor. Schäbiger, älter, erbärmlicher, als sie es in Erinnerung hatte. Aber ein schneller Blick machte ihr klar, dass nicht das Haus sich verändert hatte, sondern sie.

„Betsy wird sich sehr freuen, dich wiederzusehen. Und sie wird stinksauer sein.“

Annabelle erkannte die Stimme und drehte sich zu Flora um. Sie saß auf einem Küchenstuhl, hatte ihre Beine mit den Spitzenstrümpfen auf die Tischkante gelegt und hielt eine Zigarette in der Hand. Die Blondine mit dem harten Gesichtsausdruck lächelte, aber ihr Lächeln war alles andere als freundlich.

„Hallo, Flora. Hat Betsy mich so sehr vermisst?“

Flora blies einen dünnen Rauchfaden aus. Ihre Augen zogen sich zusammen. „Sag schon, wohin hast du sie gebracht? Betsy hat Gillam losgeschickt. Er hat jedes Haus zwischen hier und Denver durchsucht.“

Annabelle runzelte verständnislos die Stirn.

Flora stand lachend auf und drückte ihre Zigarette aus. „Du warst schon immer eine gute Lügnerin, Annie. Das muss man dir lassen. Betsy hat geflucht wie ein Bierkutscher, als sie herausfand, dass sie fort ist.“

„Dass wer fort ist?“

„Hör auf, dich zu verstellen, Annabelle. Wir wissen alle, dass du und der Mann, mit dem du weggegangen bist, dahintersteckt.“ Sie zog die Braue in die Höhe. „Wir konnten nur nicht herausfinden, wie ihr es angestellt habt und wo ihr sie versteckt.“

Ein starkes Unbehagen ergriff Annabelle. Sie warf einen Blick zur Tür, die zu den Zimmern hinaufführte. „Wovon sprichst du, Flora?“

Der Argwohn in Floras Gesicht wurde schwächer. Sie schaute Annabelle durchdringend an, dann fluchte sie leise. „Du weißt wirklich nicht, wovon ich spreche, nicht wahr?“ Die Härte verschwand aus ihrem Gesicht. „Sadie ist vor fast vier Monaten verschwunden. Wir wachten im Januar eines Morgens auf und fanden …“ Sie zögerte und kniff die Lippen zusammen. „Wir fanden Blut auf ihrem Kopfkissen, Annabelle. Und Sadie war fort.“

Kapitel 2

Am nächsten Tag starrte Annabelle, flankiert von Hannah Carlson und Kathryn Jennings, auf den frischen Erdhügel über dem Grab ihres Mannes. Sie hatte das Gefühl, gleich zwei geliebte Menschen verloren zu haben. Zuerst Jonathan und jetzt auch noch Sadie. Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte es wieder einmal bedauert, dass sie Sadie hier zurückgelassen hatte, und sich besorgt gefragt, wo das Mädchen jetzt war, und ob sie überhaupt noch lebte. Die Chancen dafür sahen nicht gut aus.

Als sie an Jonathan und an das, was er für sie getan hatte und für Sadie hatte tun wollen dachte, war es Annabelle, als ob sie von einem unsichtbaren Band an diesem Ort vor dem Grab ihres Mannes gefesselt sei. Wie konnte ein Mann wie du eine Frau wie mich lieben, Jonathan?

Sie versuchte zuzuhören, als Patrick das Leben ihres Mannes würdigte, aber die Schlaflosigkeit der letzten Nächte sorgte dafür, dass sich immer wieder ungebetene Gedanken einschlichen und sie von seinen Worten ablenkten. Diese Gedanken bestürmten sie, buhlten um ihre Aufmerksamkeit und drängten Patricks Worte in den Hintergrund.

Die Stimme eines Mannes, wie aus weiter Ferne, aber trotzdem deutlich zu verstehen, störte ihre Aufmerksamkeit am meisten.

„Sie liebt dich nicht, Johnny. Sie benutzt dich nur und tut das, was sie am besten kann. Das weißt du doch, oder?“

Annabelle hatte an jenem Abend Jonathans Gesicht nicht erkennen können, sondern durch einen Spalt in der groben Holztür den Zorn im Blick seines Bruders Matthew gesehen. Jonathans stoische Ruhe hatte ihn nur noch wütender gemacht.

„Ich weiß, dass Annabelle mich nicht liebt, Matthew. Wenigstens noch nicht. Aber ich vertraue darauf, dass sie lernen wird, mich zu lieben.“

Während Matthews Beleidigungen sich tief in ihre Seele einbrannten, durchbohrte die Wahrheit, die Jonathan ohne jeden Vorwurf ausgesprochen hatte, ihr Herz. Sie liebte ihn nicht so, wie eine Frau ihren Mann lieben sollte.

Matthews dunkle Augen waren fast schwarz geworden und er hatte die Fäuste geballt. Annabelle stand zitternd im Schatten des winzigen Hinterzimmers und hatte sich von Kopf bis Fuß wie die Hure gefühlt, als die Matthew Taylor sie bezeichnete. Wie oft waren die Sünden, die angeblich im Fountain Creek von ihr abgewaschen und darin versenkt worden waren, wieder ans Ufer gekrabbelt, um sie erneut zu quälen.

Das war das letzte Mal gewesen, dass Jonathan und Matthew miteinander gesprochen hatten, und ihre Worte und der Klang ihrer Stimmen hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben.

„… und Herr, wie befehlen dir heute die Seele von Jonathan Wesley McCutchens an. Du hast den ersten Menschen, Adam, aus Erde geschaffen, und unser irdischer Körper ist wie Adams Körper vergänglich. Aber dein Wort verspricht, dass du deinen Kindern, wenn sie sterben, nach dem Bild Christi einen neuen, himmlischen Leib geben wirst. Und im Glauben daran, Herr, vertrauen wir, dass Jonathan jetzt in diesen neuen Leib gekleidet und in dieser Minute bei dir ist.“

Schweigen folgte. Als Annabelle aufblickte, sah sie, dass Pfarrer Carlson sie beobachtete. Er forderte sie mit einer Handbewegung auf, näherzutreten. Sie trat mit einem Strauß roter und weißer Akeleien vor, die fast zerdrückt waren, weil sie sie so fest in ihren Händen gehalten hatte. Sie legte sie vor dem grob gezimmerten Holzkreuz ab, auf dem Jonathans vollständiger Name stand.

Als sie zurücktrat, sah sie, dass Larson Jennings’ Blick auf etwas hinter ihr gerichtet war. Sie folgte seinem Blick zu einem Grab, das nicht weit von der Stelle entfernt war, an der sie sich versammelt hatten. Sie kannte dieses Grab gut, denn sie war vor nicht allzu langer Zeit mit Kathryn mehrmals dort gewesen. Larson kannte es auch gut, denn auf diesem Grab hatte einmal ein Kreuz mit seinem Namen gestanden.