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Lynn Austin

Bibliothek der Träume

 

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

 

ISBN 978-3-86827-996-2

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2011 by Lynn Austin

Originally published in English under the title

Wonderland Creek

by Bethany House Publishers,

a division of Baker Publishing Group,

Grand Rapids, Michigan, 49516 , USA

All rights reserved

German edition © 2012 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

Deutsch von Dorothee Dziewas

Umschlagbilder: Leo Bruce Hempell / Dreamstime.com

© iStockphoto.com / yulkapopkova

Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH /

Christian Heinritz

Satz: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Stolberg

 

www.francke-buch.de

Über die Autorin:

Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist Aufgabe und Inspiration für sie. Wenn ihr neben dem Tagesgeschäft Zeit bleibt, macht sie Vortragsreisen und schreibt Bücher. In Deutschland hat sie inzwischen eine riesige Fangemeinde und gilt als eine der meistgelesenen Autorinnen im christlichen Romanbereich. Ihre Bücher sind ausnahmslos Bestseller und haben dem Genre über die Grenzen des christlichen Buchmarkts hinaus zum Durchbruch verholfen.

Kapitel 1

Blue Island, Illinois

1936

 

Wenn mein Leben ein Buch wäre, würde niemand es lesen. Die Leute würden sagen, es sei zu langweilig, zu vorhersehbar. Eine Geschichte, wie sie schon tausend Mal erzählt wurde. Aber ich war mit meinem Leben ganz und gar zufrieden – bis die hinteren Seiten aus meiner Geschichte herausgerissen wurden, bevor ich die Gelegenheit hatte, glücklich bis an mein Lebensende zu leben.

Das Ende kam, äußerst passend, bei einer Beerdigung. Nicht meiner eigenen Beerdigung – ich bin erst zweiundzwanzig Jahre alt –, sondern Elmer Watsons Beerdigung. Er war ein freundlicher alter Herr, der immer in die öffentliche Bücherei hier in Blue Island, Illinois, kam, in der ich zu diesem Zeitpunkt seit anderthalb Jahren als Bibliothekarin arbeitete. Ich kannte Mr Watson – das heißt, wahrscheinlich wäre es richtiger zu sagen, dass ich seinen Geschmack kannte, was Bücher und Zeitschriften betraf – und ich schätzte ihn sehr wegen seiner Lektürevorlieben.

Als ich hörte, dass er an diesem Tag beerdigt werden sollte, ging ich nach der Arbeit zum Beerdigungsinstitut und setzte mich ganz allein in die hinterste Reihe. Mein Vater, Pastor Horace Ripley, leitete die Trauerfeier. Allerdings beschloss gleich zu Anfang eine ganze Reihe von Mr Watsons langweiligen Verwandten – weit entfernte Cousins, Söhne, Neffen und Schwiegersöhne – aufzustehen und langatmige Geschichten darüber zu erzählen, wie Elmer einmal mit ihnen in irgendein Geschäft gegangen war oder ein Pferd von ihnen gekauft hatte, oder über sonst irgendeine andere nichtssagende Begebenheit. Keiner dieser Leute hätte eine gescheite Geschichte erzählen können, selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Ich war nicht die Einzige im Publikum, die gähnte.

Als ich merkte, dass die öden Lobreden sich noch endlos hinziehen würden, nahm ich ein Buch aus meiner Tasche und fing an zu lesen. Ich fand, dass ich es sehr unauffällig tat, indem ich hin und wieder aufblickte und zustimmend nickte, wenn einer von Mr Watsons feinen Charakterzügen gepriesen wurde. Ich hätte meinerseits hinzufügen können, dass er seine Bücher immer pünktlich zurückgegeben hatte, aber warum hätte ich den Gottesdienst unnötig verlängern sollen?

In diesem Augenblick schlich sich mein Freund, Gordon T. Walters, auf Zehenspitzen von hinten an und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Ich las schnell den Absatz zu Ende und legte das Lesezeichen zwischen die Seiten, bevor ich das Buch zuklappte.

Ich erwartete, dass Gordon meine Hand nehmen würde, aber das tat er nicht. Er saß in seinem bis oben hin zugeknöpften schwarzen Anzug so steif neben mir, dass er genauso gut eine Leiche hätte sein können wie der arme Mr Watson. Mit einem Lächeln auf den Lippen blickte ich zu Gordon auf, aber er sah mich mit einem Beerdigungsblick an und schüttelte den Kopf. Mir war nicht bewusst gewesen, dass er Mr Watson gekannt hatte, aber warum hätte er sonst so ernst dreinblicken sollen? Als der Gottesdienst endlich zu Ende war und wir durch eine Seitentür hinausgingen, erfuhr ich den Grund.

„Du hast während einer Beerdigung ein Buch gelesen?“, fragte er mit entsetzter Miene. „Alice, wie kannst du nur?“

„Nun … es war ein sehr gutes Buch“, sagte ich mit einem kleinen Schulterzucken. „Ich konnte nicht anders. Ich musste herausfinden, was mit der Heldin geschieht.“

„Wen interessiert schon, was in einem dämlichen Buch passiert? Das ist doch nicht echt. Es ist eine erfundene Geschichte. Aber eine Beerdigung, Alice – eine Beerdigung ist das richtige Leben!“ Gordon gestikulierte wild, als könnte er seiner Empörung allein mit Worten nicht genügend Ausdruck verleihen. Ich wollte seine Hand nehmen, aber das ließ er nicht zu. Wir müssen ein merkwürdiges Bild abgegeben haben, als wir so in einem Strahl der schwachen Februarsonne vor dem Bestattungsinstitut standen, in dem Gordon lebte und arbeitete. Dabei waren wir schon unter normalen Umständen ein merkwürdiges Paar – Gordon groß und dunkelhaarig, ich selbst klein und blond. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass einzelne Schneereste das Gras sprenkelten und in schmutzigen Haufen um den Parkplatz herumlagen. Gerade stiegen die schwarz gekleideten Trauergäste in ihre Autos, um zum Friedhof zu fahren. Manchmal brauchte Mr Walters Gordon, um den Leichenwagen zu fahren, aber heute offensichtlich nicht. Eigentlich arbeitete Gordon meistens im Büro, bestellte Särge, heftete Belege ab und bezahlte Rechnungen.

„Es tut mir leid“, sagte ich zu ihm, „aber wenn ein Buch so gut geschrieben ist wie dieses, dann kommt es mir so vor, als wäre es das richtige Leben, und ich –“

„Aber bei einer Beerdigung lesen? Das ist ein einmaliges Ereignis im Leben. Elmer Watson wird nie wieder beerdigt werden.“

„Das hoffe ich doch“, murmelte ich so leise, dass er es nicht hören konnte. „Jedenfalls bin ich mir sicher, dass es ihm nichts ausgemacht hätte. Er kam immer in die Bücherei, um Bücher auszuleihen. Er war ein sehr netter Mann.“

„Du hättest seiner Familie mehr Respekt entgegenbringen können.“

„Sie konnten mich doch nicht einmal sehen. Ich habe ganz hinten gesessen.“ Ich verstand Gordons Entrüstung nicht und wusste nicht, warum er eine so große Sache daraus machte. „Komm schon“, sagte ich und nahm seinen Arm. „Bring mich nach Hause.“

„Nein.“ Er schob meine Hand weg. „Warum bist du überhaupt zu der Beerdigung gekommen, wenn du ihm nicht die letzte Ehre erweisen wolltest? Und du warst eindeutig nicht ehrerbietig, Alice. Wenn du dein dämliches Buch lesen wolltest, hättest du zu Hause bleiben sollen.“

Ich hatte bis jetzt versucht, die Angelegenheit auf die leichte Schulter zu nehmen, weil ich wirklich nicht verstand, warum er so entsetzt war. Inzwischen fühlte ich mich durch seine unvernünftige Reaktion jedoch angegriffen. „Ich hatte ja nicht vor zu lesen – du tust so, als wäre ich ein schrecklicher Mensch. Aber ich hatte das Kapitel heute in der Mittagspause angefangen, und dann musste ich mittendrin aufhören, weil die Pause vorbei war. Den ganzen Nachmittag wäre ich vor Neugier fast gestorben – entschuldige die Formulierung –, weil ich wissen wollte, wie es weitergeht. Und als die Lobhudeleien kein Ende nehmen wollten und ich immerzu an die Charaktere in dem Buch denken musste, habe ich beschlossen, nur ganz kurz nachzusehen und … und woher sollte ich denn wissen, dass ich der Geschichte nicht würde widerstehen können? Es ist ein großartiges Buch, Gordon.“

Er schien keines der Worte, die aus meinem Mund gekommen waren, gehört zu haben. Noch immer sah er mich mit dem finsteren Blick an, der von seinen Vorvätern vervollkommnet und in den Porträts, die von ihnen im Foyer des Bestattungsunternehmens hingen, verewigt worden war. „Ich war schon bei Hunderten von Beerdigungen“, sagte er, und das war keine Übertreibung, weil er in der Wohnung über dem Beerdigungsinstitut geboren worden war. „Aber ich habe noch nie gesehen, dass jemand während der Trauerfeier ein Buch gelesen hat.“ Er war wirklich aufgebracht. Ich musste die Sache ernster nehmen.

„Es tut mir leid, Gordon. Von jetzt an werde ich dem Lesen von Romanen bei Beerdigungen entsagen.“

„Du wirst …. was? Was willst du sagen?“

„Ich sagte, ich werde dem Lesen entsagen. Das bedeutet, dass ich es nicht mehr tun werde.“ Ich hatte auf eine Gelegenheit gewartet, das Wort entsagen zu verwenden, seitdem ich es in einer Literaturzeitschrift entdeckt hatte. Es klang so gebildet, so melancholisch – nach wehmütigem Blick und gerunzelter Stirn. Und ich fand, dies war die perfekte Gelegenheit, es auszuprobieren. Woher hätte ich wissen sollen, dass das Wort Gordon nur noch mehr auf die Palme bringen würde?

„Zum Donner noch mal, Alice! Manchmal benimmst du dich, als würdest du dich für besser halten als alle anderen Menschen.“

„Moment – willst du damit sagen, dass ich dünkelhaft bin?“

„Vielleicht … wenn ich wüsste, was das bedeutet. Bedeutet es hochnäsig?“

„Also, es ist doch nicht meine Schuld, dass ich einen großen Wortschatz habe. Der kommt vom Lesen.“

„Hast du eigentlich schon mal darüber nachgedacht, dass du zu viel lesen könntest?“

„Das ist doch albern“, sagte ich lachend. „Niemand kann zu viel lesen. Genauso gut könntest du sagen, jemand atmet zu viel.“

Gordon seufzte und ließ die Schultern hängen. Dann schüttelte er den Kopf. Ich rechnete damit, dass er sagen würde: Du hast recht, reden wir nicht mehr darüber. Aber das tat er nicht.

„Ich kann das nicht mehr, Alice.“

„Was kannst du nicht mehr?“

„Über blöde Dinge wie Bücher und hochgestochene Wörter streiten. Du lebst in einer anderen Welt als ich. Alles, worüber du redest, stammt aus Büchern und nicht aus dem richtigen Leben. Ich möchte ein Mädchen, das mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Und das vor allem nicht den ganzen Tag die Nase in irgendeinem Buch vergräbt.“

„Ich arbeite in einer Bücherei“, erklärte ich ihm. „Bücher sind mein Lebensinhalt, so wie Beerdigungen deiner sind. Beklage ich mich, weil du den ganzen Tag von Särgen und Leichen umgeben bist?“

Gordon grüßte mit einem Nicken einige Trauergäste, die an uns vorbei zu ihren Autos gingen. Als sie fort waren, wandte er sich wieder zu mir um und sagte: „Ich finde, wir sollten Schluss machen.“

„Was?“ Ich verspürte einen Anflug von Panik. Wir hatten uns schon häufiger gestritten, aber an diesen Punkt waren wir noch nie gekommen. „Bist du böse, weil ich Wörter benutze, die du nicht verstehst, oder weil ich mich nicht beherrschen konnte und während der langweiligen Teile der Trauerfeier ein winziges bisschen gelesen habe?“

„Beides. Wir haben nichts gemeinsam.“

„Aber … aber wir sind seit fast einem Jahr zusammen und –“ Ich biss mir auf die Lippe, bevor ich damit herausplatzen konnte, dass unsere Eltern davon ausgingen, dass wir heiraten würden.

„Du willst immer nur über die Handlung in dem Buch reden, das du gerade liest. Ich weiß mehr über deine Lieblingsfiguren als über dich. Und jetzt stellt sich heraus, dass du lieber etwas über eine erfundene Person liest, als den letzten Ehrerweisungen an einen echten Menschen zuzuhören. Du lebst in einer Traumwelt, Alice, und nicht in dieser.“

„Das tue ich nicht!“

„Erinnerst du dich noch daran, wie du in einem Buch gelesen hast, anstatt auf den Weg zu sehen, und gegen einen Laternenpfahl gelaufen bist? Du hattest eine riesige Beule auf der Stirn. Beinahe wärest du bewusstlos geworden.“

„Das war aber nicht meine Schuld. Ich wollte das Buch nur deshalb unterwegs lesen, weil ich es an dem Tag wieder zurückgeben musste. Es gab eine lange Warteliste in der Bücherei – ich bin nämlich nicht die Einzige, die gerne liest, musst du wissen.“

„Du kannst von Glück sagen, dass du nicht vor eine Straßenbahn gelaufen bist.“ Er unterbrach sich, um einer älteren Dame den Arm zu reichen und zu ihrem Wagen zu helfen. Dann kam er wieder zu mir zurück. „Und weißt du noch, wie du die Küche deiner Mutter in Brand gesteckt hast, weil du versucht hast, gleichzeitig zu lesen und ein Hühnchen zu braten?“

„Ein Geschirrtuch. Ich habe ein Geschirrtuch angesengt.“ Ich lachte und wollte den Zwischenfall mit einer wegwerfenden Handbewegung abtun, aber Gordon hielt meinen Blick fest und zwang mich, die Wahrheit zuzugeben. „Na gut … das Feuer hat auf die Küchengardine übergegriffen – aber das hätte jedem passieren können.“

„Ich gebe auf.“ Gordon hob resigniert die Hände und ließ sie dann fallen, sodass sie auf seine Oberschenkel klatschten.

„Du vergibst mir also, dass ich bei der Beerdigung gelesen habe?“, fragte ich, während ich ganz nah vor ihm stand und zu ihm aufblickte. „Ich habe nur ein Kapitel gelesen – oder vielleicht anderthalb.“

„Ich finde, wir sollten Schluss machen.“

„Gordon!“

„Es tut mir leid.“ Er wandte sich ab.

Ich konnte es nicht glauben. Krampfhaft suchte ich nach etwas, das ich sagen könnte. „Also gut! Wenn das deine Meinung ist, na schön – ich bin genau derselben Meinung!“, sagte ich schließlich mit einem triumphierenden Tonfall, aber er war nur gespielt. Durch meine helle Haut verrieten meine Wangen jedes Gefühl sofort, und jetzt glühten sie vor Demütigung. Wie konnte er es wagen, mit mir Schluss zu machen?

Voller Wut stapfte ich die drei Häuserblocks nach Hause, wobei mir meine Tasche mit dem störenden Buch gegen die Seite schlug. Ich konnte meine Mutter in der Küche rumoren hören und es roch nach angedünsteten Zwiebeln, aber ich stieg dennoch die Treppe zu meinem Zimmer hinauf und schloss die Tür. Mutter bat mich seit jenem Zwischenfall, den Gordon erwähnt hatte, nicht mehr um Hilfe beim Kochen.

Nur um Gordon zu ärgern, setzte ich mich auf mein Bett, schlug das Buch auf und las an der Stelle weiter, an der ich bei der Trauerfeier aufgehört hatte. Während ich mich in der nächsten Stunde in dem Schicksal einer anderen Person verlor, hatte meine Wut die Gelegenheit sich abzukühlen. Am Ende rettete der Held die Heldin und die Geschichte schloss mit einem Happy End. Ich schlug das Buch mit einem zufriedenen Seufzer zu. Kurz darauf kam mein Vater nach Hause und Mutter rief uns zum Essen.

Den Streit erwähnte ich meinen Eltern gegenüber nicht. Ich war mir sicher, dass Gordon in ein, zwei Tagen wieder Vernunft annehmen würde. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, sie um Rat zu fragen. Sie schienen wie füreinander geschaffen zu sein und stritten sich nie. Und ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter Gordons Partei ergreifen würde. Sie war immer noch sauer auf mich wegen des Feuers in der Küche. Beinahe hätte sie einen Anfall bekommen, während sie in den ersten kritischen Augenblicken versucht hatte, die fettigen Flammen zu löschen und eine Ausbreitung des Feuers zu verhindern. Und als die Nachbarn Rauch aus unserem Fenster quellen gesehen und die Feuerwehr gerufen hatten, war Mutter das unendlich peinlich gewesen. Ihr Ruf als Köchin war beschmutzt worden. Das war meine Formulierung gewesen, nicht ihre – aber ich fand, es war ein guter Ausdruck. Besudelt hätte es auch gut beschrieben.

„Du bist heute aber still“, sagte Mutter, während wir zusammen den Abwasch machten. Ich verwendete zum Abtrocknen eines der neuen Geschirrtücher, die sie hatte kaufen müssen. Bei unserem Versuch, die Flammen auszuschlagen, hatten wir gleich mehrere ruiniert. Auch deshalb war Mutter wütend gewesen: „Weißt du nicht, dass das Land in einer Wirtschaftskrise steckt, Alice? Niemand hat Geld für neues Haushaltszubehör übrig, und wir auch nicht. Dein Vater gibt jeden Cent, den wir erübrigen können, den armen Mitgliedern in seiner Gemeinde, und du verschwendest gutes Geld.“

„Gordon und ich haben uns gestritten“, erzählte ich ihr jetzt. „Deshalb bin ich so still. Er hat meine Gefühle verletzt. Er sagte, ich läse zu viel, und er hat mir vorgeworfen, ich lebte in einer Traumwelt.“

„Ach was!“ Ich sah, wie meine Mutter die Augen verdrehte, dabei sollte sie mich doch trösten, anstatt auf Gordons Seite zu sein. Was ich jetzt brauchte, war ein Verband, der liebevoll auf mein wehes Herz gelegt wurde, keinen Sarkasmus. Obwohl mein Herz eigentlich noch gar nicht wehtat. Ich glaubte nicht, dass Gordon das, was er gesagt hatte, wirklich so meinte.

Nachdem Mutter und ich mit dem Geschirr fertig waren, beschloss ich, nach nebenan zu gehen und meine beste Freundin Freddy Fiore zu besuchen. Eigentlich heißt sie Frederica, wie eine Prinzessin aus einer italienischen Liebesgeschichte, aber alle nennen sie Freddy. Wir kennen uns seit der ersten Klasse, und nachdem wir die Highschool hinter uns gebracht hatten, waren wir gemeinsam auf der Cook-County-Fachschule, um Lehrerin zu werden. Keine von uns hatte damals einen festen Freund oder Heiratsaussichten, also beschlossen wir, uns weiterzubilden.

Wie sich herausstellte, war Freddy eine großartige Lehrerin – die Art, an die sich jedes Kind sein Leben lang gerne erinnert. Meine Lehramtskarriere hingegen erwies sich als Katastrophe. Mir wurde schnell klar, dass ich mich mit meiner „verträumten“ Persönlichkeit und leisen Stimme überhaupt nicht für diesen Beruf eignete. Die Schüler ignorierten mich völlig. Außerdem war mir meine Größe von nur eins siebenundfünfzig ein Hindernis. Viele der Jungen in der Ein-Raum-Schule, in der ich das Unterrichten übte, überragten mich um Haupteslänge und lachten nur über meine Versuche, sie zur Räson zu bringen.

Meine Freundin Freddy, die beinahe so groß ist wie Gordon, war in einer Familie mit vier Brüdern aufgewachsen und hatte keine Mühe, sich Achtung zu verschaffen. Sie erhielt begeisterte Beurteilungen und eine Anstellung als Lehrerin der zweiten Klasse an unserer alten Grundschule. Mir riet die Leitung der Fachschule vorsichtig, dem Lehrerdasein zu entsagen, und schlug mich für eine Stelle in unserer Stadtbücherei vor. Es war genau das Richtige für mich.

Ich klopfte an Freddys Terrassentür und trat dann ein, wie ich es immer tat. Sie war im Wohnzimmer und las ihrer Mutter, die an einer mysteriösen Muskelschwäche litt, ein Buch vor. Freddys Vater war vor einigen Jahren gestorben. Ich wartete ungeduldig, bis Freddy das Kapitel beendet hatte. Mittlerweile platzte mein Herz beinahe, so dringend wollte ich meinen Kummer loswerden.

„Kann ich dich eine Minute sprechen?“, fragte ich, sobald Freddy das Buch zuschlug.

„Klar.“ Sie stellte für ihre Mutter das Radio an, und dann gingen wir in die Küche und setzten uns an den Tisch. Kaum jemand bot in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten noch Tee oder Kaffee an. Bisher hatte ich über die Trennung von Gordon nicht geweint, aber jetzt, wo Freddy, meine warmherzige, mitfühlende Freundin mir am Tisch gegenübersaß, fingen die Tränen endlich an zu fließen.

„Was ist denn, Allie? Was ist los?“

„Gordon hat mit mir Schluss gemacht!“

„Warum? Was ist passiert?“

„Wir haben uns gestritten, und dann hat er gesagt, dass wir uns trennen sollten.“

„Das war doch nicht sein Ernst, oder? Ihr hattet doch schon öfter Meinungsverschiedenheiten und er hat es überwunden. Erinnerst du dich noch an damals, als du ihn mit dem falschen Namen angeredet hast? Du hast den des Helden aus deinem aktuellen Buch verwendet, nicht wahr?“

„Das war ein echtes Versehen. Es hätte jedem passieren können.“

Freddy zog eine Augenbraue hoch. „Ich fand, dass Gordon außergewöhnlich nachsichtig war.“

„Das stimmt schon … Aber heute war er nicht sehr nachsichtig mit mir. Er hat die Sache mit dem Feuer erwähnt. Und die Gelegenheit, bei der ich gegen die Laterne gelaufen bin und mir beinahe eine Gehirnerschütterung zugezogen hätte.“ Ich zog das Taschentuch aus meinem Ärmel und tupfte mir die Augen. „Er sollte mir all diese Sachen nicht vorwerfen. Sollen wir nicht vergeben und vergessen?“

„Soll ich zum Bestattungsinstitut rübergehen und mit ihm reden?“, fragte Freddy. Ich hatte mich schon immer darauf verlassen können, dass sie mir zu Hilfe kam.

„Würdest du das tun?“

„Natürlich. Wann wäre ein guter Zeitpunkt?“

„Heute Abend. Ich bleibe bei deiner Mutter, wenn du willst. Gordon hat heute keine Totenwache und er und ich wollten eigentlich einen Film sehen, aber dann … dann hat er mit mir Schluss gemacht!“ Ich endete mit einem Schluchzer. Freddy drückte meine Hand. Dann stand sie auf und zog ihren Mantel an.

„Ich tue, was ich kann.“

Sie war beinahe drei Stunden fort. Als Freddy schließlich nach Hause kam, war ihre Mutter im Schaukelstuhl eingeschlafen, aber ich war mir unsicher gewesen, ob ich ihr ins Bett helfen sollte oder nicht. Ich wusste nie, wie man kranken Menschen half.

„Warum hat das so lange gedauert?“, fragte ich, als Freddy zur Tür hereinkam. „Was hat Gordon gesagt?“ Wieder gingen wir in die Küche, um zu reden.

„Zuerst wollte Gordon überhaupt nicht darüber reden. Ich glaube, er ist ziemlich wütend. Als ich beim Beerdigungsinstitut ankam, wollte er gerade allein ins Kino gehen, also habe ich ihn gefragt, ob ich mitkommen dürfe. Ich dachte, wenn ich ein bisschen Zeit mit ihm verbringe, dann redet er vielleicht anschließend über dich.“

„Gute Idee. Du bist also mit ihm ins Kino gegangen?“

„Zuerst musste ich ihm versprechen, dass ich dort keinen Aufstand machen würde, so wie du es letzte Woche getan hast.“

„Siehst du? Er macht aus jeder Mücke einen Elefanten. Ich habe keinen Aufstand gemacht und ich weiß bis heute nicht, warum die Platzanweiser gesagt haben, wir müssten gehen.“

„Gordon sagte, ihr hättet gehen müssen, weil du mitten im Film angefangen habest, dich lautstark darüber zu beschweren, dass der Film ganz anders sei als das Buch, und als alle – auch Gordon – versuchten, dich zum Schweigen zu bringen, seien die Platzanweiser eingeschritten. Gordon ist immer noch sauer, weil er das Ende des Films nicht sehen konnte.“

„Er brauchte das Ende nicht zu sehen. Ich habe ihm schließlich erzählt, wie das Buch ausgeht, und das war viel besser als der Film. In dem Film haben sie alles geändert, sogar die Beweggründe des Helden. Kannst du dir das vorstellen? Dieser Film war so absurd, dass ich mich einfach aufregen musste.“

„Wie auch immer – Gordon regt sich auch noch darüber auf. Aber er sagte, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe, sei die Tatsache, dass du bei der Trauerfeier für Elmer Watson ein Buch gelesen hast.“

„Der arme Mr Watson. Er hat die Zeitschrift National Geographic geliebt. Ich weiß, er hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, dass ich während seiner Beerdigung lese. Die Trauerreden wollten überhaupt kein Ende nehmen.“

Freddy streckte die Hände über den Tisch hinweg und ergriff meine beiden. „Du musst wissen, dass ich auf deiner Seite bin, Allie. Wir sind schon seit einer Ewigkeit beste Freundinnen, das weißt du. Aber so wie Gordon es mir auf dem Heimweg erklärt hat … er ist sich einfach nicht sicher, ob das mit euch funktionieren kann. Er und seine Eltern sind Bestattungsunternehmer. Und das bedeutet, dass du auch in dieses Unternehmen einsteigen würdest, wenn er dir einen Heiratsantrag macht.“

„Wir sind ja noch nicht mal verlobt.“

„Ich weiß. Aber er kennt alle die ungeschriebenen Gesetze in der Bestattungsbranche und er sagt, du hättest eine Grenze überschritten. Würdest du dich nicht auch aufregen, wenn jemand in die Bücherei käme und etwas Respektloses täte?“

„Du meinst, wenn jemand ein Eselsohr in die Seite macht, anstatt ein Lesezeichen zu benutzen?“

„Ich glaube, es wäre nicht ganz dasselbe … jedenfalls nicht in Gordons Augen.“

„Also gut. Du kannst ihm sagen, dass ich von jetzt an verspreche, nie mehr ein Buch bei einer Beerdigung zu lesen, solange ich lebe. Meinst du, er ist dann zufrieden?“

„Ich weiß nicht … Er sagte, dass du nicht besonders viel Mitgefühl für Menschen in Trauer zeigtest.“

„Nur weil ich bei einer Beerdigung ein armseliges Kapitelchen gelesen habe?“

Freddy ließ meine Hände los. Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum, als hätte das Holz Splitter. „Es war nicht nur das. Er hat mir von deinem Buchplan erzählt. Dass du, wenn die Angehörigen der Verstorbenen kommen, um die Beerdigung zu besprechen, fragen wolltest, ob sie die Bücher ihrer Lieben deinem Kentucky-Projekt spenden könnten.“

„Ist das denn so unvernünftig? Ich bin mir sicher, dass die meisten Leute das gern tun würden.“ Ich hatte im Life-Magazin einen Artikel gelesen, in dem stand, dass die Menschen im Hinterland von Kentucky Bücher und Zeitschriften brauchten. Nachdem ich den Artikel der Leiterin der Bücherei gezeigt hatte, war sie damit einverstanden gewesen, dass ich eine Sammelkiste in der Nähe der Ausleihe aufstellte, damit Besucher ihre gebrauchten Bücher spenden konnten. „Im Ernst, Freddy. Warum kann man nicht auch in einem Bestattungsinstitut Bücher sammeln? Findest du das eine so schlechte Idee?“

„Ich muss dir die Wahrheit sagen, Allie – es ist eine schreckliche Idee.“

„Warum?“

„Als mein Vater starb, ist es mir schwer genug gefallen, mit meiner Trauer so weit fertigzuwerden, dass ich eine schöne Beerdigung organisieren konnte. Es wäre viel zu früh gewesen, wenn mich jemand dazu gezwungen hätte, darüber nachzudenken, was aus seinen Bücher werden soll.“

„Aber die armen Leute in Kentucky haben nichts zu lesen. Kannst du dir ein so furchtbares Leben vorstellen? Wer braucht schon Bücher, wenn er gestorben ist? Warum sie nicht weggeben, damit sie lebendigen Menschen helfen können?“

„Ich weiß, ich weiß. Aber es ist einfach etwas … unsensibel … jemanden danach zu fragen, wenn er gerade eine Trauerfeier plant.“

„Mr Watson hat Landkarten geliebt“, überlegte ich laut. „Er hatte einen wunderschönen Atlas. Wenn ich gewusst hätte, dass er bald sterben würde, hätte ich ihn vorher bitten können, in seinem Testament zu verfügen, dass seine Bücher gespendet werden.“

Freddy räusperte sich. „Aber zurück zu Gordon. Es tut mir wirklich leid, aber ich glaube nicht, dass ich ihn umstimmen konnte. Mir kam es so vor, als hätte er all diese Dinge lange in sich hineingefressen.“

„Warte mal. Weiß er denn nicht, dass es falsch ist, nachtragend zu sein? Hast du ihm das gesagt?“

„Er ist nicht nachtragend, Allie. Er sagte, als er anfing, das alles zusammen zu betrachten, sei ihm klar geworden, dass ihr beide vielleicht nicht sehr gut zueinanderpasst.“

Wieder kamen mir die Tränen. „Und das meint er ernst? Er macht wirklich Schluss mit mir? Für immer?“ Freddy nickte. „Kannst du nicht irgendetwas tun, um es wieder hinzubiegen?“, flehte ich.

„Ich kann es noch einmal versuchen – wenn du dir sicher bist, dass du das wirklich willst.“

„Was meinst du damit? Warum sollte ich es nicht wollen? Gordon und ich sind seit beinahe einem Jahr zusammen.“

„Gordon hat ein paar berechtigte Zweifel, über die du nachdenken solltest. Bist du bereit, weniger zu lesen, damit ihr zusammenbleiben könnt? Und ich weiß, dass du dich auch über seine Fehler beschwert hast, zum Beispiel darüber, dass er nie etwas liest, nicht einmal die Zeitung. Alle diese Dinge müsstet ihr klären. Du würdest Kompromisse eingehen müssen.“

„Warum?“

„Ich habe gehört, dass das in der Ehe nun einmal so ist – dass man sich für den Menschen, den man liebt, verändert. Stell dir vor, du müsstest wählen, nie mehr zu lesen oder Gordon zu verlieren. Wofür würdest du dich entscheiden?“

„Ich könnte nie das Lesen aufgeben!“ Allein der Gedanke entsetzte mich. „Ich liebe Bücher, Freddy! Vielleicht könnte ich mich darauf einlassen, keine Bücher mit ins Beerdigungsinstitut zu bringen. Aber wir sprechen hier von zwei völlig verschiedenen Formen der Liebe – meiner Liebe zu Büchern und meiner Liebe zu Gordon. Liebst du deine Arbeit nicht auch? Könntest du zwischen dem Unterrichten und der Ehe wählen?“

„Wenn ich einem Mann begegnen würde, den ich liebe, dann würde ich das Unterrichten sofort für ihn aufgeben“, sagte Freddy und stand auf. „Hör zu, Allie. Geh nach Hause und schlaf über die Sache. Es ist schon spät. Vielleicht sieht Gordon das alles ja morgen auch schon ganz anders.“

„Gehst du noch mal zu ihm und sprichst mit ihm? Ich bleibe morgen Abend auch wieder bei deiner Mutter.“

„Natürlich.“

Ich ging nach Hause und machte mich zum Schlafen fertig. Noch immer konnte ich mir nicht vorstellen, dass es zwischen Gordon und mir aus sein sollte. Alle sagten, er sei eine gute Partie. Er war nicht besonders attraktiv, aber er hatte eine sehr gute Arbeit, die nicht unter der Wirtschaftskrise litt. Die Menschen starben weiter, egal, ob die Börse einbrach oder zu Höhenflügen ansetzte.

Gordon und ich waren schon so lange zusammen, dass die Leute in Blue Island uns als Paar betrachteten. Wir gingen zusammen zu Bücherei-Veranstaltungen und Picknicks, und am vierten Juli standen wir gemeinsam an der Hauptstraße und sahen dem Umzug zu. Es wäre mir furchtbar peinlich, wenn die Leute mich anstarren und hinter meinem Rücken flüstern oder mich fragen würden: Wo ist Gordon? Warum ist Gordon nicht bei dir? Was sollte ich dann sagen?

Und in der Kirche erst! Alle in der Gemeinde meines Vaters wussten, dass ich mit Gordon ausging. Er saß jeden Sonntag neben mir. Wie sollte ich jemals wieder den anderen Gemeindemitgliedern ins Auge sehen oder erhobenen Hauptes in den Gottesdienst gehen?

An diesem Abend hatte ich Mühe einzuschlafen. Und zu allem Übel war ich am Ende meines Buches angelangt, sodass ich nichts zu lesen hatte.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen erschien ich müde und vom Schlafmangel ganz benommen bei der Arbeit. Ich könnte behaupten, dass ich mir wegen Gordon die halbe Nacht lang die Augen ausgeheult hätte, aber das wäre gelogen. Ich war nach unten gegangen und hatte mir die Sherlock-Holmes-Sammlung meines Vaters ausgeliehen und dann beinahe bis ein Uhr morgens gelesen. Es gibt nichts, das einen von den eigenen Problemen besser ablenkt als ein niederträchtiges Verbrechen und die Herausforderung, sich mit dem Geist eines klugen Detektivs zu messen.

Bevor die Bücherei an diesem Tag ihre Pforten für die Öffentlichkeit öffnete, rief Mrs Beasley das Personal an einem der Konferenztische zusammen. „Bitte setzen Sie sich – und beeilen Sie sich. Wir müssen kurz etwas besprechen.“

Ich setzte mich zu meinen älteren Kolleginnen und gähnte, während ich darauf wartete, dass die Besprechung begann. Mrs Beasley wirkte gesetzt und humorlos, aber das erschien mir nicht ungewöhnlich. Bibliothekare sind ernste Menschen und frönen nur selten müßiger Heiterkeit. Ich glaube, das liegt daran, dass wir von der ungeheuren Menge an guten Büchern, die darauf warten gelesen zu werden, so überwältigt sind, dass für Müßiggang nur wenig Zeit bleibt. Meine persönliche Liste von Büchern, die man gelesen haben muss, stellte schon eine ziemliche Herausforderung dar; nicht auszudenken, unter welchem Druck meine Chefin stehen musste.

Vom Äußeren her ähnelte Mrs Beasley einem untersetzten kleinen Terrier, mit Lefzen und allem. Aber der Art nach zu schließen, wie viele unserer Kunden sie zu fürchten schienen, hätte sie eher einem Schäferhund gleichen können. Ich hatte noch nie verstanden, warum die Leute so auf sie reagierten.

„Machst du Witze?“, hatte Freddy gesagt, als ich sie irgendwann einmal danach gefragt hatte. „Mrs Beasley tut so, als gehörten alle Bücher in der Bibliothek ihr persönlich. Man hat das Gefühl, dass sie einem das Lesen überhaupt nicht gönnt. Man könnte meinen, die Bücherei wäre ein heiliger Ort und sie die Hohepriesterin, wenn man sich ansieht, wie alle auf Zehenspitzen herumschleichen und mit gedämpfter Stimme sprechen.“ Ich konnte Freddys Einschätzung nicht teilen. Hinter dem terrierhaften Äußeren unserer Bibliotheksleiterin steckte eine kluge, belesene Frau, und dass sie mit Adleraugen auf die Bücher aufpasste, nahm ich ihr nicht übel. Wie manche Leute die Druckerzeugnisse behandelten, war das reinste Verbrechen.

Heute fing Mrs Beasley an, indem sie sich räusperte. Auch das war kein beunruhigendes Zeichen. Bibliothekare sind nicht übermäßig schwatzhaft, deshalb haben wir hin und wieder einen Frosch im Hals, weil wir unsere Stimmbänder so selten benutzen. „Gestern Abend war ich bei der Vorstandssitzung der Bücherei“, begann sie, „und ich befürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten. Der Vorstand hat beschlossen, dass die Bücherei Einsparungen vornehmen muss.“

Alle starrten sie an. Es gab keine dramatischen Schluchzer oder Aufschreie. Wir waren eine stoische, zurückhaltende Truppe und konnten unsere Gefühle gut verbergen – außer natürlich, wenn wir eine schrecklich traurige oder rührende Geschichte lasen. Bei einem tragischen Ende hatte ich gelegentlich schon laut geschluchzt.

„Der Vorstand sagte, dass die anhaltende Wirtschaftskrise die Einsparungen nötig mache. Weil so viele Häuser in unserer Stadt zwangsversteigert wurden, gebe es deutlich weniger Steuereinnahmen aus Grundbesitz als noch vor wenigen Jahren. Wie wir alle mitbekommen haben, schließen außerdem immer mehr Firmen und jeden Tag sehen wir ein neues leeres Schaufenster in der Innenstadt, also verliert die Stadtverwaltung dort auch Steuern. Überall im Land müssen Menschen derzeit den Gürtel enger schnallen, und auch wir können uns nur noch das Nötigste leisten.“

„Aber Bücher sind nötig!“, sagte Mrs Davidson, die Kollegin, die für die Kinderabteilung zuständig war. Ich hatte gerade das Gleiche gedacht.

„Ich weiß. Und Sie haben recht“, sagte Mrs Beasley. „Dem Vorstand habe ich meine Meinung auch gesagt.“

„Die Menschen werden unsere Bücherei mehr brauchen denn je“, fuhr Mrs Davidson fort, „vor allem, wenn sie arbeitslos sind und es sich nicht leisten können, Bücher zu kaufen. Wo sonst kann man sich heutzutage noch kostenlos unterhalten? Wir sollten während der Wirtschaftskrise expandieren und noch mehr Bücher kaufen, anstatt zu sparen.“

Mrs Beasley nickte so enthusiastisch, dass ihre Hängebacken wackelten. „Genau das habe ich dem Vorstand auch gesagt, aber die Herren finden, dass die Bücherei bereits genügend Bücher hat, die jeder in der Stadt lesen kann, wenn er will. Sie sagten, unsere Kunden müssten sich einfach an kürzere Öffnungszeiten gewöhnen. Und sie haben verkündet, dass auch Mitarbeiter entlassen werden.“

„Was? Wer?“, fragte Mrs Davidson aufgeregt.

„Ich befürchte, wer zuletzt eingestellt wurde, muss als Erster gehen.“

„Das bin ich!“, quiekte ich. „Ich wurde als Letzte eingestellt!“

„Ja, Miss Ripley. Es tut mir sehr leid.“

Ich wäre am liebsten aufgestanden und hätte geschrien, dass das ungerecht war, aber laute Stimmen waren in der Bücherei nicht erlaubt.

„Die Einsparungen werden uns alle betreffen, nicht nur Miss Ripley. Durch die kürzeren Öffnungszeiten werden wir weniger arbeiten und auch weniger verdienen.“

Natürlich hatte ich von der Wirtschaftskrise gehört. Ich hatte in der Zeitung Bilder von Baracken und Armensiedlungen gesehen und gelesen, dass Fabriken schließen mussten und Männer arbeitslos wurden. Mittlerweile standen mehrere Häuser in unserer Straße leer, darunter auch eins, das den Simmons gehört hatte. Freddy und ich waren mit den Töchtern der Familie zur Schule gegangen. Als Mr Simmons seine Arbeit verloren hatte, hatte die Bank ihre Hypothekenforderung geltend gemacht und sie mit all ihrem Hab und Gut auf die Straße geworfen. Mir waren Arbeitslosigkeit und Essensschlangen und Suppenküchen durchaus bekannt, aber abgesehen von den Obdachlosen, die an unserer Hintertür erschienen, um zu betteln, hätte ich mir nie träumen lassen, dass die Wirtschaftskrise mein Leben betreffen könnte. Und jetzt war ich arbeitslos.

Ich würde natürlich nicht verhungern oder obdachlos werden, weil ich bei meinen Eltern im Pfarrhaus lebte. Mein Vater, der als Pastor eine sichere Position hatte, hörte zwar jeden Tag von tragischen Schicksalen, aber meine Familie hatte es warm und immer genug zu essen. Meine beiden älteren Schwestern – die nach Ansicht meiner Eltern vernünftiger waren als ich – hatten Farmer geheiratet und lebten mehrere Kilometer außerhalb von Blue Island auf dem Land. Ihre Bauernhöfe versorgten uns mit ausreichend Eiern, Butter, Obst und Gemüse.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Mrs Beasley zu. „Wir wollen hoffen und beten, dass die Veränderungen nur vorübergehend sind“, sagte sie gerade. „Vielleicht kommt uns ja eines von Präsident Roosevelts sozialen Hilfsprogrammen zugute. In der Zwischenzeit wird die Bücherei von jetzt an nur an zwei Abenden in der Woche geöffnet sein und mittwochs und samstags nur halbe Tage …“

Bla, bla, bla. Ich hörte nicht mehr zu. Die neuen Öffnungszeiten betrafen mich nicht. Ich war arbeitslos. Das einzig Positive an dieser Nachricht war, dass ich nicht mehr jeden Freitagabend arbeiten musste, was Gordon freuen würde, weil wir dann mehr Zeit miteinander verbringen konnten. In diesem Moment fiel mir ein, dass Gordon ja überhaupt keine Zeit mehr mit mir verbringen wollte. Der geballte Schock über all diese schlechten Nachrichten war zu viel. Mir war, als wäre ich mit dem nächsten Laternenpfahl zusammengestoßen.

„Wann werden alle diese Änderungen denn in Kraft treten?“, fragte Mrs Davidson.

„Ende dieses Monats. Wir müssen die neuen Öffnungszeiten der Bücherei sofort bekannt machen und unseren Kunden Zeit geben, sich an die Umstellung zu gewöhnen.“

„Aber das ist ja schon diese Woche!“, rief ich und vergaß dabei völlig, meine Büchereistimme zu benutzen. Es gab wenig Hoffnung, dass ich eine andere Stelle finden würde, wo so viele Menschen arbeitslos waren. Außerdem wollte ich keine Verkäuferin oder Lehrerin oder Telefonistin sein. Ich liebte meine Arbeit. „Das ist schrecklich“, stöhnte ich. Mir war nicht klar, dass ich die Worte laut ausgesprochen hatte, bis Mrs Beasley eine Hand auf meine Schulter legte.

„Ich weiß, Miss Ripley. Und es tut mir wirklich sehr leid. Ich habe für Sie gekämpft, für uns alle. Das müssen Sie mir glauben. Aber überall im Land sind die Zeiten hart.“

Es war höchste Zeit, die Tür aufzuschließen und an die Arbeit zu gehen. Die ersten Kunden hatten sich schon auf der Eingangstreppe und im Säulengang versammelt, wo sie sich den Schneematsch von ihren Schuhen klopften. Mrs Beasley beendete die Dienstbesprechung. „Und bitte keine langen Gesichter, wenn es geht. Wir sind es unseren Kunden schuldig, fröhlich zu sein. Schließlich treffen die kürzeren Öffnungszeiten sie ja auch recht hart.“

Normalerweise verbrachte ich die erste halbe Stunde bei der Arbeit mit der „Regallese“, wobei ich überprüfte, ob die Bücher alphabetisch geordnet und die Signaturen in der richtigen Reihenfolge waren. Einige Kunden hatten die lästige Angewohnheit, ein Buch herauszuziehen und es dann an der falschen Stelle wieder ins Regal zu stopfen – manchmal stellten sie es sogar auf ein anderes Bord! Ich fing damit an, die Romane geradezurücken, aber ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Es ist gar nicht so leicht, alphabetisch zu denken, wenn man gerade die Arbeit und den Freund verloren hat. Was blieb mir jetzt noch?

Ich beschloss, stattdessen Karteikarten zu beschriften. Diese Arbeit liebte ich, weil ich dabei all die neuen Titel begutachten konnte, die frisch aus der Druckerpresse kamen. Ich konnte der erste Mensch sein, der sie aufschlug – und sie auslieh und las, wenn ich wollte. Die Bücher waren steif und makellos sauber und hatten diesen unvergleichlichen Duft, der einem jeden neuen Buch eigen war. Für mich gab es nichts Schöneres auf der Welt. Ich hatte schon neue Bücher aufgeschlagen und den Duft wie ein Parfüm eingeatmet.

Ich spannte eine frische weiße Karteikarte in meine Schreibmaschine und nahm das erste Buch in die Hand. Beim Aufschlagen der Titelseite achtete ich gewissenhaft darauf, dass ich den Buchrücken nicht beschädigte. Meine Ordnungsliebe kam mir bei der Arbeit zugute; es machte mir Spaß, die nötigen Informationen gerade und korrekt auf die Karte zu schreiben. Aber wo außer in der Bücherei könnte ich eine Anstellung finden, bei der ich meine besonderen Begabungen einsetzen konnte?

Ich muss zugeben, dass ich an diesem Vormittag eine Menge Zeit damit vergeudete, Löcher in die Luft zu starren, während ich versuchte, nicht zu weinen, damit die Tinte auf den Karteikarten nicht verlief. Als ich von der Arbeit nach Hause kam und meiner Mutter die Neuigkeit erzählte, trocknete sie sich die Hände ab und nahm mich in den Arm. „Das ist aber schade, Alice. Ich weiß, wie sehr du deine Arbeit geliebt hast.“

„Wie lange wird diese dumme Wirtschaftskrise denn noch dauern?“, fragte ich.

„Ich befürchte, das weiß niemand, Liebes.“

Meine Tränen strömten, als ich später am Abend nach nebenan zu Freddy ging und ihr die schreckliche Nachricht überbrachte. „Sprichst du bitte noch einmal mit Gordon?“, flehte ich sie an. „Vielleicht hat er Mitleid mit mir, wenn er hört, was in der Bücherei passiert ist, und überlegt sich das mit uns noch einmal anders.“

Damit rechnete ich fest. Ich ging davon aus, dass Gordon sofort herkommen würde, um mich zu trösten, sobald Freddy ihm die tragische Neuigkeit übermittelte. Aber es verstrich eine Stunde, dann zwei Stunden. Auf das Radioprogramm, das Freddys Mutter sich anhörte, konnte ich mich ohnehin nicht konzentrieren, deshalb nahm ich mir einen roten Stift, als ich einen Stapel Diktate auf dem Tisch liegen sah und korrigierte sie für Freddy. Das war das Mindeste, was ich tun konnte, wenn sie ihren Abend für mich opferte. Als ich die Arbeiten fertig benotet hatte, war sie immer noch nicht wieder da, also machte ich mich an den nächsten Stapel, den mit den Mathetests. Wieder einmal war ich froh, dass ich nicht Lehrerin geworden war. Die Arbeit war einfach zu langweilig. Und wenn ich den Rest meines Lebens damit zubringen müsste, jeden Abend langweilige Klassenarbeiten zu korrigieren, hätte ich zudem keine Zeit mehr zum Lesen.

Als Freddy schließlich nach Hause kam, wusste ich, dass sie keine guten Nachrichten für mich hatte. Ich konnte es daran sehen, wie sie sich mit den Fingern durch ihre dicken Locken fuhr. Das tat sie immer, wenn sie frustriert war.

„Was ist passiert?“, fragte ich.

„Es tut mir leid, Allie. Ich habe es versucht, ehrlich.“

„Wird Gordon mir niemals vergeben?“

„Er ist nicht wütend auf dich, Allie. Er will nur nicht mehr mit dir zusammen sein. Aber ich soll dir sagen, dass ihm die Sache mit deiner Arbeit leidtut.“

Freddy ließ mich an ihrer Schulter weinen. „Kannst du nicht noch mal mit ihm sprechen?“, flehte ich. „Bitte?“

„Ich … äh … ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.“

„Warum nicht?“

Sie ließ mich los und trat ein paar Schritte zurück, als wollte sie einen gewissen Abstand zwischen uns schaffen. „Also, als wir unsere Milchshakes ausgetrunken hatten und ich nach Hause gehen wollte, fing Gordon an mir zu erzählen, wie sehr er es genossen habe, mit mir zu reden, und … na ja, er hat gefragt, ob ich nächste Woche mit ihm ins Kino gehen will.“

„Was?!“ Ich geriet in Panik, so wie damals, als die Flammen in der Küche meiner Mutter außer Kontrolle geraten waren. Jetzt war es mein Leben, das außer Kontrolle war.

„Ich habe natürlich Nein gesagt“, beeilte Freddy sich zu sagen. „Ehrlich, der Kerl hat vielleicht Nerven. Ich bin deine beste Freundin, um Himmels willen!“

„Ich gehe heim.“ Ich nahm meinen Mantel und schob meine Arme in die Ärmel.

„Bitte sei mir nicht böse, Allie. Ich habe Gordon gesagt, dass er ein Schuft ist, weil er mit dir Schluss gemacht hat, und ein noch größerer Schuft, weil er mich gefragt hat, ob ich mit ihm ausgehe. Ich hätte überhaupt nicht mit ihm gesprochen, wenn du mich nicht darum gebeten hättest.“

„Ich bin nicht sauer.“ Und das war ich auch nicht. Ich war eifersüchtig. „Ich muss nach Hause und mich hinlegen.“ Mein Herz fühlte sich an, als würde die Welt es als Sandsack benutzen, und es konnte ganz eindeutig keine weiteren Schläge mehr verkraften.

„Lass uns am Wochenende irgendetwas Nettes unternehmen, in Ordnung, Allie? Nur wir beide?“

Es gab nicht viele nette Dinge, die man in Blue Island, Illinois, unternehmen konnte, aber ich willigte ein. Außerdem umarmte ich Freddy zum Abschied, um ihr zu zeigen, dass wir immer noch Freundinnen waren, bevor ich am Boden zerstört heimging.

An meinem letzten Arbeitstag waren alle traurig, weil ich ging. „Aber wir sagen nicht Lebwohl“, beharrte Mrs Beasley. „Ich bin mir sicher, Sie kommen wieder, um sich Bücher auszuleihen. Und Sie holen doch auch die Bücher für Kentucky ab, nicht wahr?“ Sie zeigte auf die bis zum Bersten gefüllte Kiste mit gespendeten Bänden, die in der Nähe der Ausleihe stand. Im Hinterzimmer gab es noch vier weitere solcher Kisten, dazu drei Tüten mit Zeitschriften. „Wann wollen Sie die Bücher denn nach Kentucky schicken?“, fragte sie.

„Bald. Ich bin mir nicht sicher.“ Ich hatte meine Begeisterung für das Projekt zusammen mit dem Grund verloren, jeden Morgen aufzustehen. Als Abschiedsgeschenk durfte ich mir eines der nagelneuen Bücher ausleihen, die ich an diesem Tag katalogisiert hatte. Es würde das letzte Mal sein, dass ich in den Genuss dieses Vorrechts kam.

Am Sonntag saß ich zum ersten Mal seit fast einem Jahr in der Kirche neben meiner Mutter und nicht neben Gordon. Inzwischen wussten sicherlich alle in der Stadt von unserer Trennung. Um mich herum konnte ich sehen, wie die Gerüchteküche anfing zu brodeln, wie die Leute die Köpfe zusammensteckten und flüsterten und nickten und mit dem Kinn in meine Richtung zeigten. Es war unerträglich. In dem Augenblick, in dem mein Vater den Segen gesprochen hatte, floh ich in die Sakristei, weil meine Wangen verrieten, wie sehr ich mich schämte, und lief zur Hintertür hinaus.

Meine Eltern gaben mir eine Woche, um mir selbst leidzutun und jeden Morgen lange zu schlafen. Dann jedoch hatten sie genug. Am Montagmorgen kam Mutter um sieben Uhr in mein Zimmer gerauscht und zog die Jalousien hoch, sodass der Raum von Licht durchflutet wurde.

„Es ist Zeit, dass du aufhörst zu jammern, Alice. Ich weiß, dass du ein paar schwere Verluste erlitten hast, aber du wirst sie nicht verwinden, indem du lange schläfst und den ganzen Tag Bücher liest.“

„Was soll ich denn sonst machen?“, murmelte ich und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen.

„Es gibt jede Menge zu tun. Dein Vater und ich haben eine Liste erstellt.“

Das war kein gutes Zeichen. Meine Eltern waren erfahrene Listenschreiber, die glaubten, jedes Problem im Leben könne mit der richtigen Liste gelöst werden. Egal, wie gewaltig die Herausforderung war, sie glaubten, dass das Unmögliche zu schaffen sei, indem man es in einzelne Punkte zerlegte, die man dann einen nach dem anderen abhakte. Wenn meine Eltern Präsident Roosevelt eine ihrer Listen erstellt hätten, wäre die Wirtschaftskrise längst beendet gewesen.

„Zieh deinen Morgenmantel an, Alice, und komm zum Frühstück.“

Ich gehorchte. Was blieb mir anderes übrig?

„Deine Mutter hat mir erzählt, dass du nicht mehr mit Gordon zusammen bist“, sagte mein Vater, als ich mich auf meinen Stuhl am Küchentisch fallen ließ. „Das tut mir leid. Soll ich mit –“

„Nein!“ Mein Vater und Gordons Vater waren befreundet, weil sie in der Branche Tod und Trauer eng zusammenarbeiteten. Ich hatte den Verdacht, dass es von Anfang an ihre Idee gewesen war, Gordon und mich zusammenzubringen. „Sprich mit niemandem über uns! Bitte!“

Er seufzte und warf mir seinen milden, seelsorgerlichen Blick zu. „Wenn du das wirklich willst, Alice. Aber –“

„Bitte, Papa. Ich werde schon allein damit fertig.“

Er kaute eine Weile an seinem Toast und schüttelte traurig den Kopf, bevor er sagte: „Deine Mutter und ich haben eine Liste gemacht.“

Das kam einer Kriegserklärung gleich. Er würde versuchen, mich für eine seiner guten christlichen Taten zu rekrutieren – die hatten auf seinen Listen immer oberste Priorität. Ich musste diesen Angriff unter allen Umständen abwehren.

„Ich kann meine eigene Liste machen. Bis heute Mittag hast du sie auf dem Schreibtisch. Versprochen.“

Er schien mich gar nicht gehört zu haben. „Jetzt, wo du nicht mehr in der Bücherei arbeitest, hast du ja Zeit. Ich kenne viele benachteiligte Menschen in unserer Stadt, denen du helfen könntest.“

„Ich arbeite nicht gerne mit benachteiligten Menschen. Sie sind mir unangenehm.“

„Alice Grace!“, sagte Mutter entsetzt. „Wie kannst du nur so etwas sagen!“

„Es tut mir leid, aber wenn sie mich mit ihren großen traurigen Augen ansehen, ist mir das unangenehm. Es fühlt sich an, als wäre es meine Schuld, dass ich alles habe und sie nichts. Ich weiß dann nicht, was ich tun oder sagen soll.“

Daran, wie mein Vater mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte, konnte ich sehen, dass er allmählich die Geduld verlor. „Wie lange willst du denn noch im Selbstmitleid schwelgen, Alice?“