Über das Buch:
Persien, 473 v.Chr.: König Xerxes gibt Befehl, alle Juden in seinem Herrschaftsbereich töten zu lassen. Esra, bislang ein friedfertiger Gelehrter in Babylon, wird mit einem Mal zum Führer im Überlebenskampf des jüdischen Volkes. In einer Zeit voller gewaltiger Wagnisse findet er in Deborah eine Seelenfreundin und die Liebe seines Lebens. Als König Artaxerxes den Juden Babylons die Rückkehr nach Jerusalem erlaubt, scheint für Esra und Deborah ein Traum wahr zu werden. Doch das neue Leben bringt seine ganz eigenen Herausforderungen mit sich …

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt am Lake Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.

5

Babylon

Die Zeit verging mit einer Geschwindigkeit, die Esra den Atem raubte. Tage und Wochen jagten einander in wilder Flucht. Seit sie vor einem Monat von dem Erlass des Königs erfahren hatten, war Esra jeden Tag in seinem Studierzimmer gewesen und hatte nach Antworten gesucht, aber ohne Erfolg. Jetzt, während der Frühling aufblühte und der Tag ihrer Vernichtung immer näher kam, empfand er eine Verzweiflung, die an Panik grenzte. Die heiligen Schriften zu studieren und zu lehren, hatte ihn in der Vergangenheit erfüllt, aber es war eine intellektuelle Übung gewesen, keine Frage von Leben und Tod. Er hatte sich keine Sorgen darüber gemacht, dass seine Lebenszeit aufgefressen wurde, Stunde um Stunde, unaufhaltsam, wie Heuschrecken die Ernte vernichten.

Sein Volk hatte kaum noch neun Monate zu leben, weniger Zeit, als ein Kind brauchte, um im Leib seiner Mutter heranzuwachsen. Er hatte alle seine Unterrichtsstunden abgesagt und die Arbeit mit seinen gelehrten Kollegen vertagt, um in Abgeschiedenheit zu studieren, zu beten und zu beichten, zu fasten, zu weinen und dann wieder zu studieren. Aber Esra war den Gedanken Gottes noch kein Stück nähergekommen – oder einer Möglichkeit, wie sein Volk gerettet werden könnte. Stattdessen hatte er festgestellt, dass es ein riesiger Unterschied war, ob man den ganzen Tag über Gott sprach oder mit ihm; ob man von Gott und seinen Gesetzen wusste oder Gott wirklich kannte. Je mehr er lernte, desto weniger verstand er – und desto unfähiger fühlte er sich, sein Volk zu führen, wozu Judas ihn allerdings immer noch drängte.

Er blickte auf die Rolle des Jesaja hinunter, die ausgebreitet vor ihm lag. Die Worte des Propheten waren vorhin vor seinen Augen verschwommen, als er sie durch Tränen hindurch gelesen hatte: „Dennoch bist du, Herr, unser Vater! Wir sind der Ton und du bist der Töpfer! Wir alle sind Gefäße aus deiner Hand. Ach, Herr, sei nicht für immer zornig auf uns!“ Er hatte an seinen eigenen Vater gedacht, einen ausgezeichneten Töpfer, hatte sich seine kräftigen Hände vorgestellt, die so geschickt einen formlosen Klumpen Ton in ein nützliches Gefäß verwandeln konnten. Abba war auf seinen erstgeborenen Sohn Esra stolz gewesen, weil dieser vom Allmächtigen den Segen empfangen hatte, kein Töpfer zu sein, sondern ein Thoralehrer und das jüngste Mitglied der Großen Versammlung. Abba hatte seine drei Söhne immer an ihr Erbe als Priester erinnert, die ihren Stammbaum bis zu Moses Bruder Aaron zurückverfolgen konnten und bis zu Zadok, dem Hohepriester im Tempel von König Salomo. Wenn sie nicht hier in Babylon im Exil gewesen wären, hätte Esra im Tempel in Jerusalem als Hohepriester dienen können, als geistlicher Anführer seines Volkes. Aber seine Gelehrtheit und sein Stammbaum nützten ihm jetzt nichts. Er könnte genauso gut Töpfe formen und brennen, wie seine jüngeren Brüder es taten.

Er erhob sich und rollte die Schriftrolle zusammen, um sie wegzuräumen. Er musste die erdrückende Enge des Zimmers verlassen. Das Sackleinen unter seinem Hemd brannte auf seiner gereizten Haut wie Feuer, aber er weigerte sich, es abzulegen. Jedes Mal, wenn es kratzte, war ihm das nämlich eine Ermahnung, zu beten. Während er durch die stillen, verschlungenen Gassen des jüdischen Viertels von Babylon lief und die vertrauten Geräusche von meckernden Ziegen und weinenden Babys hörte, waren ihm nur zwei Dinge klar – und sie widersprachen einander. Der Allmächtige hatte einen Bund mit Abraham und seinen Nachkommen geschlossen, einen ewigen Bund, der sich nicht ändern würde. Und der persische König hatte die Vernichtung seines Volkes angeordnet, ein Erlass, der sich ebenso wenig ändern ließ.

Esras Füße trugen ihn zu einem Hain in der Nähe des Kanals, wo seine Brüder die Töpferei ihres Vaters weiterführten. Die hohen Palmen über der Lehmgrube ragten mit reglosen Wedeln in die windstille Luft. Er bahnte sich einen Weg um die gleißende Hitze des Ofens herum und durch einen Hindernisparcours aus Töpferwaren in verschiedenen Stadien der Herstellung. Schließlich kam er an die Stelle, an der Judas hinter seiner Töpferscheibe saß und ein Gefäß auf dem oberen Rad formte, während er das untere Rad mit dem Fuß in Bewegung hielt.

Judas blickte auf und nickte Esra zu, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete und die Finger in eine Schale mit Wasser tauchte, um den Ton geschmeidig zu halten. Das kniehohe Gefäß, das er anfertigte, würde glasiert und gebrannt werden und später dazu dienen, Getreide oder Olivenöl aufzubewahren.

Esra sah zu, wie der Ton sich unter Judas’ erfahrenen Händen ausdehnte und wuchs wie ein Lebewesen, das dem Druck seiner Finger und dem sanften Ziehen seiner Hände gehorchte. Er musste an Jesajas Worte denken: „Wir sind der Ton und du bist der Töpfer …“

Esra war in jungen Jahren bei seinem Vater in die Lehre gegangen und wusste, dass ein Gefäß nicht ohne Druck geformt werden konnte. Er wusste auch, wie wichtig es war, den Tonklumpen genau in der Mitte der Scheibe zu platzieren, bevor man begann. Wenn er nicht zentriert war, würde das entstehende Gefäß unförmig werden oder sogar beim Drehen von der Scheibe fliegen. Esra hatte das Zentrieren nie gemeistert und so waren seine Krüge unweigerlich unter dem Druck seiner Finger krumm und schief geworden. War das der Grund, weshalb sein Volk in die Irre gegangen war? Hatten sie aufgehört, ihr Leben auf die Mitte, auf Gottes Gesetz hin auszurichten, bevor sie von ihm geformt wurden? Vielleicht konnte Esra den Menschen das Gesetz gewissenhafter nahebringen, sie auf die Mitte ausrichten und –

„Was führt dich her?“, fragte Judas und riss Esra aus seinen Gedanken. Die Scheibe hatte aufgehört, sich zu drehen, und das Gefäß war fertig.

„Ich musste etwas anderes sehen. Eine andere Perspektive gewinnen.“ Oder wich er Gottes Schweigen aus, das laut in seinen Ohren zu dröhnen schien? Sein Bruder löste den Krug mit einem dünnen Faden von der Töpferscheibe und kam dann hinter seinem Arbeitsplatz hervor, um Arme und Schultern zu dehnen.

„Hast du einen Grund für den Erlass des Königs gefunden?“

„Noch nicht.“

Judas tauchte seine Hände in einen Eimer mit Wasser, um sie abzuspülen. In der Tongrube vor ihnen trat ein Lehrling auf dem matschigen Boden herum, um Wasser in die tonhaltige Erde einzuarbeiten. Zwei andere Lehrlinge knieten neben einem Holzbrett und kneteten den Ton, um die Luft herauszupressen, bevor daraus ein Gefäß geformt wurde. Die Kunst des Knetens hatte Esra auch nie gemeistert. Aber die Thora? Er konnte lange Abschnitte aus allen fünf Büchern aus dem Gedächtnis aufsagen. Judas hockte sich neben die Bretter, um den ausgepressten Ton zu begutachten, und fühlte mit den Fingern die Konsistenz. Er schüttelte den Kopf. „Ihr müsst noch weitermachen.“

Ihr jüngster Bruder Ascher arbeitete am Ofen, in Turban und Lendentuch gekleidet. Sein schlanker Leib glänzte vom Schweiß in der intensiven Hitze. Ascher war noch kein ganzes Jahr verheiratet und er war vor Freude ganz außer sich gewesen, als er ihnen erzählt hatte, dass seine Frau ein Kind erwarte. Esra erinnerte sich daran, wie er von einem Fuß auf den anderen gehüpft war, als er die Nachricht verkündet hatte. Jetzt hatte Aschers Freude sich in Verzweiflung gewandelt. Er schien mit jedem Tag ein wenig mehr zu verkümmern, wie ein Ast, der zu dicht über den Flammen hängt, weil er wusste, dass er seine Frau und sein ungeborenes Kind nicht beschützen konnte. Warum sollte Gott sein Kind – alle ihre Kinder – zu einem solch kurzen Leben verdammen?

Ascher verließ seine Arbeit, um mit seinen Brüdern zu reden. Während er näher kam, wickelte er seinen Turban ab und wischte sich mit dem Ende des Tuches den Schweiß aus dem Gesicht. „Ich habe zu Judas gesagt, dass es Zeitverschwendung ist, den ganzen Tag zu töpfern“, sagte er. „Wir könnten doch aufhören und die wenigen Monate, die uns noch bleiben, genießen.“

„Und ich habe ihm erklärt, dass wir trotzdem Geld verdienen müssen, um unsere Familien zu ernähren“, sagte Judas.

Ascher schnaubte verächtlich. „Klar. Mästen wir doch alle wie die Kälber im Stall, obwohl wir zum Tode verurteilt sind. Vielleicht sollten wir ein Bankett veranstalten!“

„Willst du, dass wir alle verhungern, bevor unsere Feinde die Gelegenheit haben, uns zu töten?“, fragte Judas. „Das Verhungern ist eine schmerzhafte Art zu sterben.“

„Und abgeschlachtet zu werden, das ist nicht schmerzhaft?“

„Hört auf … bitte …“ Esra hob die Hände.

„Gibt es denn überhaupt noch eine Hoffnung?“, fragte Ascher. „Das möchte ich gerne wissen.“

„Wie der Psalmist schrieb, liegt unsere Hoffnung in der unerschöpflichen Liebe des Allmächtigen“, sagte Esra. Aber glaubte er das wirklich oder waren es nur leere Worte?

„Ich hoffe, du hast dich dazu entschlossen, uns zu führen“, sagte Judas. „Wir brauchen mehr denn je einen starken Anführer.“

Esra hob die Hände. „Wie kann ich führen, wenn ich keine Antworten habe?“

„Dann finde Antworten! Gib uns Hoffnung oder Erklärungen oder irgendetwas“, sagte Judas. „Du bist der Experte, was Gott betrifft, der große Theologe. Deine Zweifel sind uns egal, sag uns nur, was Gott uns da antut!“

„Hast du von Rebbe Nathan gehört?“, fragte Ascher, bevor Esra antworten konnte.

„Nein … was ist mit ihm?“

„Er ist als Leiter der Gemeinde zurückgetreten. Er hat so heftige Schmerzen in der Brust, dass er bettlägerig ist.“

„Wir haben heute Morgen über seine Nachfolge gesprochen“, sagte Judas, „und die anderen Männer wollen, dass ich dich frage.“

Esra stöhnte. „Du bist der geborene Anführer in dieser Familie, nicht ich.“

Judas rieb sich die Stirn und hinterließ eine Lehmspur darauf. Als er sprach, hörte Esra die Emotion in seiner Stimme, die unvergossenen Tränen, die ihm die Kehle zuzuschnüren drohten. „Ich kann kein Anführer sein. Ich brauche meine ganze Energie, um für Deborah und die Mädchen stark zu sein. Mehr kann ich nicht tun. Ich kann nicht auch noch für unser Volk stark sein. Du musst uns helfen, Esra. Du hast keine Familie wie wir anderen.“

So schwierig es auch war, seinem eigenen Tod ins Auge zu sehen, wusste Esra doch, dass dieser Leidensweg für Männer wie Judas und Ascher, die Frauen und Kinder hatten, ungleich schlimmer war. Esra würde die letzten Monate nicht damit zubringen müssen, die Menschen zu trösten, die er liebte. Er konnte Tag und Nacht aufbleiben, wie er es jetzt schon tat, und an seinem Studiertisch über den Schriftrollen einschlafen, die flackernde Lampe neben sich. Und er konnte allein trauern und weinen, anstatt vor anderen so zu tun, als wäre er stark. Und doch beneidete Esra seine Brüder jetzt mehr denn je. Wie wäre es, in den Armen einer liebenden Frau Trost zu finden? Wer würde ihn in seinen letzten Augenblicken im Arm halten?

„Esra …“, sagte Judas in die Stille hinein. „Du bist wieder mal unendlich weit entfernt.“

„Tut mir leid. Meine Gedanken scheinen sich in letzter Zeit sinnlos im Kreis zu drehen.“ Mit jedem Tag fiel es ihm schwerer, sich zu konzentrieren. Auch wenn er immer gerne durch Gesetzeslabyrinthe gewandert war und die verschlungenen Pfade der schriftlichen und mündlichen Thora erforscht hatte, schien es bei diesem Dilemma keinen Ausgang zu geben. Er sah nur Sackgassen. Esra massierte seine Schläfen mit Daumen und Zeigefinger und versuchte, den pochenden Kopfschmerz fortzudrücken.

„Gott ist gerecht, aber er ist auch gnädig“, sagte er schließlich. „Selbst wenn wir diese Strafe verdient haben, können wir ihn um Erbarmen anflehen. Entweder verschont er uns oder er tut es nicht. Ich weiß nicht, was ich als Anführer sonst noch tun könnte, außer allen zu sagen, dass sie fasten und beten sollen.“

„Es gibt jede Menge Dinge, die du sonst noch tun kannst“, schrie Judas. „Hör auf, Ausreden vorzubringen wie Mose, und entscheide dich endlich, uns zu führen!“

„Hilf uns, das alles zu verstehen“, fügte Ascher hinzu. „Gib uns Hoffnung.“

„Ich will euch keine falschen Hoffnungen machen –“

„Woher weißt du denn, dass es falsche Hoffnungen sind?“, fragte Ascher.

Esra starrte auf seine Füße, weil er seinem Bruder nicht in die Augen sehen konnte. Als er schließlich den Blick wieder hob, sah er, dass Judas’ Miene sich verhärtete, während er Ascher anstieß. „Sieh mal … sie sind wieder da.“ Judas zeigte auf zwei babylonische Männer, die auf der anderen Seite des Hofes standen und auf den Ofen und die aufgereihten Gefäße zeigten, als würden sie die Töpferei kritisch begutachten.

„Wer ist das? Was wollen sie hier?“, fragte Esra.

„Unsere Töpferarbeiten“, sagte Judas. „Sie wollen sie stehlen, nachdem sie uns getötet haben. He!“, schrie er und rannte durch den Hain auf die Männer zu. „Das ist mein Grundstück! Ich habe euch doch neulich schon gesagt, dass ihr hier nichts zu suchen habt!“ Esra und Ascher beeilten sich, ihm zu folgen.

„Nicht mehr lange“, sagte einer der Fremden. Er hatte die Frechheit zu lächeln.

„Das stimmt“, fügte der andere hinzu. „In acht Monaten seid ihr tot und dann gehört all das uns.“

„Aber vielleicht töten wir euch ja nicht alle“, sagte der erste Mann. „Ich glaube, ich werde deine hübsche Frau noch ein bisschen behalten, bis ich sie leid bin.“

Judas stürzte auf den Mann zu, aber Ascher war schneller und packte Judas von hinten. „Lass mich los!“, schrie Judas. „Ich werde diese Hunde umbringen!“ Esras ganze Kraft war nötig, um Ascher zu helfen und gemeinsam ihren Bruder zurückzuhalten.

Einer der Babylonier beugte sich vor, während Judas versuchte, sich zu befreien, und spuckte ihm ins Gesicht. „Wir sind diejenigen, die hier das Töten übernehmen, Jude!“

Esra zitterte vor hilfloser Wut, während er zusah, wie die Babylonier sich abwandten. Sein ganzes Leben lang hatte er die Heiden mit ihrem nutzlosen Aberglauben, ihrer trotzigen Ignoranz und ihren schockierenden Moralvorstellungen verachtet. Aber der ungerechte Erlass des Königs hatte seine Verachtung in einen Hass verwandelt, der so heftig war, dass sein ganzer Körper davon bebte. Schließlich riss Judas sich los und wischte sich den Speichel aus dem Gesicht. „Ich gehe nach Hause“, sagte er und Esra wusste, dass er nach Deborah und seinen Töchtern sehen wollte, um sich zu vergewissern, dass sie in Sicherheit waren.

Esra zog sich in sein Studierzimmer zurück und schloss die Tür. Keinen Augenblick länger wollte er unter seinen nichtjüdischen Feinden verweilen und sehen, wie sie ihr sorgloses Leben führten und schadenfroh seine Vernichtung planten. Wie konnte der Heilige diesen Tieren erlauben, sein Volk auszurotten?

Er sank auf seinen Hocker und wartete darauf, dass seine Wut sich legte. Er hatte nicht den Wunsch, die jüdische Gemeinde an Rebbe Nathans Stelle zu führen. Er war ein Gelehrter und kein Anführer. Aber brachte er vielleicht wirklich nur Ausreden vor, so wie Mose es am brennenden Dornbusch getan hatte? Esra erinnerte sich an die Verheißung, die Gott Mose gegeben hatte, als er sagte: „Ich werde mit dir sein.“

Er saß lange allein in seinem Zimmer, während eine Idee langsam Gestalt annahm, angetrieben von seinem Zorn auf die Heiden. Dann stand er auf, bevor er es sich anders überlegen konnte, und ging in die Studierhalle, in der zwei andere Gelehrte und eine Handvoll Schüler saßen und diskutierten. „Geht und holt all die anderen Rabbiner und Lehrer für mich her, und alle Schüler, die ihr finden könnt. Sagt ihnen, sie sollen so schnell wie möglich hierherkommen. Ich habe einen Vorschlag zu machen.“

Eine Stunde später stand er vor einem Saal voller Lehrer wie er selbst, die mit ihren Schülern gekommen waren. Die Erinnerung an den Hohn ihrer Feinde war ihm noch lebhaft im Gedächtnis. „Unser Volk fragt sich, warum der Allmächtige diesen Erlass des Königs zugelassen hat“, sagte er. „Was hat das für einen Sinn? Wird er wirklich zusehen, wie alle Nachkommen Abrahams sterben? Ich habe nach Antworten gesucht, aber die Aufgabe ist zu groß, als dass ich sie in der kurzen Zeit, die uns bleibt, allein bewältigen könnte. Aber wenn wir gemeinsam arbeiten, können wir vielleicht den Grund herausfinden, warum wir vom Allmächtigen verlassen werden. Vielleicht können wir gemeinsam einen Weg suchen, wie wir den Heiligen erweichen und erwirken können, dass er uns gnädig ist.“ Er hielt inne, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und dachte dabei an den Speichel der Feinde in Judas’ Gesicht.

„Hier ist mein Vorschlag: Wir werden die heiligen Bücher unter allen aufteilen, die willens sind, mitzuarbeiten. Dann werden wir sie Tag und Nacht studieren, eine Schriftrolle nach der anderen, und versuchen zu ergründen, was der Allmächtige uns verheißen hat. Wir werden nach Antworten dafür suchen, wo wir in die Irre gegangen sind und warum Gott das Böse siegen lässt. Wir werden die Gesetzesbücher und die Propheten und die Geschichte unseres Volkes studieren und am Ende jedes Tages werden wir unsere Ergebnisse zusammentragen. Gemeinsam werden wir die einzelnen Teile zusammenfügen und vielleicht wird Gott uns das große Ganze zeigen. Immer wenn wir zum Abendgebet zusammenkommen, werde ich das, was wir herausgefunden haben, unseren Brüdern weitergeben, um sie zu ermutigen. Sie betteln um Hoffnung und Orientierung ... Ich sehe, es ist gerade Zeit für das Abendgebet“, sagte er mit einem Blick auf den Stand der Nachmittagssonne. „Wenn ihr mir bei dieser Arbeit helfen wollt, kommt morgen früh hierher.“

Esra ging voran auf dem kurzen Weg zum Versammlungshaus und sein junger Schüler Simon gesellte sich zu ihm. „Rebbe Esra, ich habe gerade die Verheißungen des Heiligen in den Prophezeiungen des Jeremia gelesen. Gott hat gesagt, dass er erst dann alle Nachkommen Israels verstoßen würde, wenn die Himmel gemessen und die Festen der Erde ergründet werden könnten.“

„Gut, Simon. Sehr gut. Das ist genau die Art von Verheißung, die wir suchen.“

„Und in einer anderen Prophezeiung hat Gott gesagt, dass er zwar alle Völker, unter die wir verstreut wurden, vernichten wird, uns aber würde er niemals ganz ausrotten.“

Esra blieb stehen und legte eine Hand auf die Schulter seines Schülers. „Du wirst uns eine große Hilfe sein, Simon. Danke.“

Wenige Minuten später stieg Esra auf die Bima, um zu den versammelten Männern zu sprechen, wobei er die Bedenken, die er immer noch in Bezug auf seine Anführerrolle hatte, zu ignorieren versuchte. „Ich werde die Gebete führen, bis Rebbe Nathan wieder gesund ist“, begann er, „aber zuerst möchte ich –“

„Warum sollen wir denn beten?“, rief jemand aus der Menge. „Es ist doch offensichtlich, dass Gott uns nicht zuhört.“

Es dauerte einen Augenblick, bis Esra seine Fassung wiedererlangt hatte. „Also … wir können Gott bitten, uns um Abrahams und seines Bundes willen zu verschonen. Selbst wenn wir diese Strafe verdient haben, weil wir unseren Teil der Bundesvereinbarung nicht erfüllt haben, ist Gott barmherzig und –“

„Aber das Gesetz des Königs kann nicht widerrufen werden!“

„Das stimmt. Aber der Allmächtige hat bewiesen, dass er mächtiger war als der Pharao, oder nicht? Er ist auch mächtiger als der persische König und er kann uns retten –“

„Ja, er ist mächtig genug, um uns zu retten – aber tut er es auch?“

Esra zögerte. „Wenn es sein Wille ist“, antwortete er schließlich. Er wusste, dass dies eine unbefriedigende Antwort war. Er und die anderen Gelehrten mussten sich etwas Besseres einfallen lassen.

„Wenn Gott uns liebt, wie konnte er dies dann geschehen lassen?“, rief eine andere Stimme. „Warum hat er den Ägyptern gestattet, uns zu misshandeln und unsere Söhne in den Nil zu werfen?“

„Vielleicht will er, dass wir uns ihm zuwenden“, sagte Esra. „Vielleicht wären wir damit zufrieden gewesen, in Ägypten zu leben, wenn der Pharao nicht sein Edikt erlassen hätte. Und vielleicht sind wir hier in Babylon auch zu bequem geworden.“

„Warum sind die Juden, die in Jerusalem leben, dann mit uns zusammen zum Tod verurteilt?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Esra seufzend. Er hatte seinen Schülern beigebracht, gute Fragen zu stellen und tief in Gottes Wort zu forschen. Aber die Fragen, die jetzt auf ihn einstürmten, entsprangen der Angst und nicht einer intellektuellen Neugier. Sie waren auch schwieriger zu beantworten. Esra konnte verstehen, dass das Entsetzen und die Verzweiflung der Gemeinde den armen Rebbe Nathan überwältigt hatten. Aber als Esra an die beiden Heiden dachte, die vorhatten, Judas’ Geschäft zu stehlen und seine Frau zu vergewaltigen, festigte seine Wut sich zu einer Entschlossenheit, so wie Ton im Ofen hart gebrannt wird. Er räusperte sich, und als er sprach, klang seine Stimme lauter als vorher. „Der Allmächtige hat zu Abraham gesagt: ‚Dieser Bund gilt für alle Zeiten, für dich und für deine Nachkommen. Es ist ein Versprechen, das niemals gebrochen wird: Ich bin dein Gott und der Gott deiner Nachkommen.‘ Für alle Zeiten. Das bedeutet, dass ein Rest unseres Volkes überleben wird. Vielleicht nicht wir. Es können Juden aus einem anderen Teil des Reiches sein. Aber eines weiß ich ganz sicher: Gottes Volk wird überleben – irgendwo, irgendwie!“

„Aber wir könnten diese Überlebenden sein?“

„Ja. Und deshalb müssen wir von jetzt an bis zum dreizehnten Adar unsere Sünden bereuen und um Gnade flehen. Und was immer auch geschieht, ob wir leben oder sterben, wir müssen beten, dass Gott einen Rest unseres Volkes retten wird.“

6

Babylon

Deborah kniete neben dem Bett ihrer Schwägerin und wischte ihr die Stirn mit einem kühlen Tuch ab. „Du musst Ruhe bewahren, Miriam. Es ist weder für dich noch für das Baby gut, wenn du dich aufregst.“

„Aber ich will mein Leben zurück“, weinte sie. „Das Leben, das ich vor diesem schrecklichen Erlass hatte. Das Leben, von dem ich immer geträumt habe, mit Ascher und einem Haus voller Kinder. Unser Baby ist noch nicht einmal geboren und jetzt wird es sterben, bevor es die Gelegenheit hat zu leben!“

„Schhh … denk nicht an diese Dinge.“ Angst, das hatte Deborah entdeckt, war ansteckend. Es vergingen manchmal Stunden, wenn sie Mahlzeiten zubereitete oder sich um ihre Töchter kümmerte, in denen sie den Engel des Todes beinahe vergessen konnte. Aber Miriams panische Worte brachten ihr sein heiseres Flüstern und seine angsterregende Berührung wieder ins Bewusstsein. Deborahs unvermeidliche Begegnung mit dem Todesengel würde schlimm genug sein, aber er hatte kein Recht, schon jetzt in ihre Seele einzudringen und ihr Albträume über ihre letzten Augenblicke zu bescheren. Albträume, in denen sie sich an ihren Mann und ihre Töchter klammerte und verzweifelt versuchte, sie und sich selbst zu retten, obwohl sie wusste, dass es nicht möglich war.

Miriam packte die Schüssel und hielt erneut ihren Kopf darüber, um sich zu übergeben. Krank vor Sorge und vor morgendlicher Übelkeit hatte sie nichts mehr im Magen, was sie hätte von sich geben können. „Du musst dich wieder hinlegen“, sagte Deborah zu ihr, während sie ihr das Gesicht wusch. „Versuch zu schlafen, Miriam. Denk an etwas Schönes.“

„Ich will nicht sterben! Und ich kann nicht aufhören, daran zu denken, weil ich mich frage, was passieren wird, ob sie uns alle zusammentreiben oder mit ihren Schwertern hierherkommen werden und –“

„Hör auf!“ Deborah widerstand dem Drang, sie zu schütteln. „Du musst damit aufhören, Miriam! Sonst stirbst du schon hundertmal, bevor der Tag schließlich kommt – und vielleicht kommt er ja gar nicht! Solange wir atmen, können wir auch hoffen, nicht wahr? Wir müssen Gott vertrauen.“

Miriam schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Ihr Schluchzen war so herzzerreißend, dass Deborah ihre eigenen Tränen hinunterschlucken musste. Ihre Töchter waren bei Miriams Mutter draußen im Hof und Deborah war fest entschlossen, sie niemals solche abgrundtiefe Angst und Trauer sehen zu lassen. Ascher hatte sie angefleht, Miriam zu trösten, aber es erwies sich als unmöglich. Sie nahm Miriams Hand und versuchte es erneut.

„Hör zu, Miriam. Du kennst doch bestimmt die Worte einiger Psalmen. Warum sagst du sie nicht auf, wenn du Angst hast? Das tue ich immer.“ Deborah versuchte krampfhaft, sich an einen Psalm zu erinnern, aber das Fieber der Angst lähmte ihre Gedanken. Sie saß an Miriams Seite, bis sie sich endlich beruhigte, dann nahm sie ihre Mädchen und kehrte niedergeschlagen zu ihrem Haus zurück.

Sie war nur kurz von zu Hause fort gewesen, aber als sie durch das Tor trat, sah sie Judas, der in seiner Töpferschürze im Hof auf und ab lief und sich aufgeregt mit den Fingern durch sein lockiges schwarzes Haar fuhr. „Deborah, Gott sei Dank!“, sagte er, als er sie sah. Er eilte auf sie zu und zog sie in seine Arme, ohne zu warten, bis sie das Baby abgesetzt hatte. Die Heftigkeit seiner Umarmung hätte sie beide erdrücken können. „Wo warst du?“, fragte er. „Als ich heimkam und ihr nicht hier wart, hatte ich schreckliche Angst!“

„Ich war bei Miriam. Warum hattest du Angst? … Und seit wann kommst du mitten am Vormittag nach Hause? Was ist los?“

„Nichts. Ich … mir war einfach danach, herzukommen.“

Sie glaubte ihm nicht. Deborah betrachtete die Miene ihres Mannes, als er Abigail hochhob, die sich an sein Bein klammerte. Sie sah Sorgenfalten auf Judas’ Stirn, die sie vorher nicht bemerkt hatte, und streckte die Hand aus, um sie zu glätten.

„Ascher hatte mich gebeten, mit Miriam zu reden. Es ging ihr nicht gut und –“

„Du bist nicht alleine zu ihrem Haus gelaufen, oder?“

„Natürlich. Die Mädchen und ich –“

„Deborah, nein! Von jetzt an darfst du das Haus nicht mehr alleine verlassen. Auf keinen Fall!“

Sie starrte ihn an. Warum regte er sich deswegen so auf? Judas war immer aufbrausend gewesen, aber in letzter Zeit schien er sein Temperament kaum noch zügeln zu können. Sie hätte am liebsten mit ihm gestritten und ihm gesagt, dass sein Befehl, sie solle sich zu Hause verstecken, unvernünftig sei. Doch sie wusste, dass sie vorsichtig sein musste, um nicht auf einen Bienenstock zu treten.

„Die Mädchen brauchen ihren Mittagsschlaf“, sagte sie so ruhig wie möglich. „Bleib hier. Ich komme gleich zurück.“ Sie brachte die Kinder ins Haus und legte sie hin, wobei sie ihnen eine Belohnung versprach, wenn sie leise waren und gehorchten. Als sie wieder hinaustrat, schritt er immer noch unruhig auf und ab. „Du wirst unseren Boden noch abnutzen. Er ist nur aus Lehmziegeln … Und jetzt erzähl mir, was los ist, Judas.“

„Dieser Erlass macht mich nervös, das ist alles. Ich kann den Gedanken, dass dir und den Mädchen etwas zustößt, einfach nicht ertragen.“

Sie trat zu ihm und er zog sie in seine vertraute Umarmung. Er war ein wunderbarer Ehemann, der stark war, aber auch zärtlich, gut aussehend ohne Überheblichkeit, großzügig und fleißig – und mehr als bereit, sie zu lieben, obwohl sie zu eigensinnig war, um dem Bild einer idealen Ehefrau zu entsprechen. Judas hatte natürlich auch seine schlechten Angewohnheiten, zum Beispiel sein aufbrausendes Temperament. Aber alle Ehemänner hatten Fehler und keine von Judas’ Schwächen tat ihrer Liebe zu ihm Abbruch. Niemals, nicht eine Sekunde lang, hatte sie bezweifelt, dass er sie ebenfalls liebte. Aber in letzter Zeit hatte er die Rolle des Aufsehers und Beschützers eingenommen anstatt der eines Partners, trotz seines Versprechens.

„Hör zu, Judas“, sagte sie, als sie spürte, dass seine Muskeln sich entspannten. „Wenn du willst, dass ich den ganzen Tag eingesperrt zu Hause sitze, dann musst du mir einen guten Grund dafür nennen.“

Er schwieg so lange, dass sie schon dachte, er würde nicht antworten. Doch dann ließ er sie los. „Zwei Babylonier erscheinen immer wieder bei der Arbeit und begutachten unser Geschäft. Sie kommen jeden Tag, um uns zu verhöhnen, und sagen, wir würden bald tot sein und alles würde ihnen gehören.“ Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als versuchte er, es sauber zu wischen.

„Beachte sie gar nicht. Sie können dich nur wütend machen, wenn du es zulässt. Gib ihnen diese Macht nicht. David hat sich aus Goliaths Spott auch nichts gemacht.“

Judas runzelte die Stirn und die Sorgenfalten wurden noch tiefer. „Wenn ich mich recht entsinne, hat David sich diesen Spott aber nicht gefallen lassen. Er hat Goliath einen Stein an den Kopf geschleudert und ihn getötet – und das muss ich vielleicht auch tun, wenn ich diese Schweine noch einmal in unserer Nähe sehe.“

Sie fuhr mit den Händen über seine muskulösen Arme, um ihn zu besänftigen. „Was sollte das nützen? Wenn du zwei Babylonier tötest, werden die Behörden dich wegen Mordes festnehmen. Wie willst du mich dann beschützen?“

„Ich kann es nicht ertragen, so hilflos zu sein, Deborah.“

„Vertrau auf Gott.“

Er seufzte und wandte sich ab. „Ich habe nicht deinen Glauben. Ich muss etwas tun! Ich muss sie töten, bevor sie uns töten!“

Sein Zorn angesichts des Spottes der Babylonier erschien ihr übermäßig. Und warum wollte er sie den ganzen Tag zu Hause einsperren? Dann kam ihr ein anderer Gedanke. „Haben die Männer die Mädchen und mich bedroht? Willst du deshalb nicht, dass ich das Haus verlasse?“ An seiner verlegenen Miene sah sie, dass sie richtig geraten hatte. „Kein Wunder, dass du so wütend bist.“ Sein Edelmut rührte sie, und wäre es möglich gewesen, hätte sie ihn dafür noch mehr geliebt.

„Sie wissen alles über dich, Deborah, als ob … als ob sie dich beobachtet hätten. Sie haben unser Haus beobachtet!“

Ihr Magen zog sich zusammen. Mit einem Mal fühlte sie sich missbraucht, obwohl niemand sie angefasst hatte. Mit einem Todesurteil zu leben, war schlimm genug, aber würde sie in den wenigen Monaten, die ihr noch blieben, immerzu auf der Hut sein müssen? „Ich werde nicht in Angst leben“, sagte sie und gab sich mutiger, als sie sich fühlte. „Das habe ich auch Miriam gesagt: Wenn wir uns von der Angst bestimmen lassen, werden wir hundertmal sterben, bevor der eigentliche Tag kommt. Du darfst dir keine Sorgen um mich machen, Judas. Ich bin stärker, als du glaubst. Vertrau auf Gott.“

„Vertrau auf Gott … vertrau auf Gott“, ahmte er sie nach. „Hör auf, das zu sagen, als könnte ich ihm so einfach vertrauen, wie ich mit dem Finger schnipse. Außerdem ist es ganz schön schwierig, ihm weiter zu vertrauen, nachdem er zugelassen hat, dass wir zum Tode verurteilt wurden. Selbst Esra gibt zu, dass sein Vertrauen erschüttert ist. Deins etwa nicht? Wenn du ganz ehrlich bist?“

Tränen traten in ihre Augen. Doch. Auch ihr Vertrauen war erschüttert. Aber sie würde es nie vor jemandem zugeben, nicht einmal vor sich selbst. „Hör zu, wenn Gott nicht vertrauenswürdig ist … wenn alles, was wir aus den heiligen Schriften über ihn wissen, eine Lüge ist … dann können wir uns genauso gut hinsetzen und auf der Stelle sterben, denn dann ist unser Leben nicht lebenswert.“ Sie hielt inne, um ihre Tränen abzuwischen, und es frustrierte sie, dass sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. „Ich habe mich entschlossen, ihm zu vertrauen, selbst wenn wir alle sterben, denn Gott muss einen Grund dafür haben. Das muss er einfach!“

Judas streckte die Hand nach ihr aus und zog sie wieder an sich. „Hör zu, du verrückte Frau. Ich bin ja froh, dass du Gott vertraust – du hast mehr als genug Glauben für uns beide. Aber versprich mir, dass du das Haus nicht ganz allein verlässt. Geh mit einer der anderen Frauen, wenn du schon ausgehen musst. Bitte, Deborah, versprich es mir.“

Wieder drehte sich ihr der Magen um bei dem Gedanken, beobachtet zu werden. „Ja“, sagte sie schließlich. „Ja, ich verspreche es.“

7

Bethlehem

Amina entfernte die nächste Schaufel Ziegenmist aus dem Stall und ließ ihn auf den Haufen fallen. Dann machte sie eine Pause. Zwischen den nachmittäglichen Geräuschen schwirrender Insekten und zwitschernder Vögel glaubte sie, gedämpfte Huftritte auf der unbefestigten Straße zu hören und das Brüllen eines Esels. Sie lauschte konzentriert. Ja, der heisere Schrei von Abbas Esel war unverkennbar. Die Angst ließ Aminas Herz schneller schlagen. Abba war zurück.

Er war mehr als eine Woche lang fort gewesen und in dieser Zeit hatte Amina sich etwas entspannt, weil sie keine Angst vor ihm zu haben brauchte. Jetzt sah sie sich nervös um und vergewisserte sich, dass Abba nichts bemängeln konnte – obwohl er kaum jemals einen Grund zu brauchen schien, um wütend auf sie zu sein. Sie stand ganz still und lauschte, ob sie seine Stimme und die Stimmen ihrer Brüder hören konnte, um ihre Laune nach der langen Reise einzuschätzen.

Lachen. Sie hörte Gelächter und atmete erleichtert aus, bevor sie die Schaufel an ihrem Ort verstaute und lief, um Wasser für die Esel zu holen. Als sie mit dem Krug um die Ecke bog, standen Abba und ihre Brüder mit nicht nur einem Esel, sondern mit gleich dreien vor dem Haus. Die Tiere schwankten unter aufgetürmten Lasten. Amina rannte mit dem schweren Krug und goss das Wasser in den Trog. Innerhalb weniger Augenblicke hatten die Esel aufgeleckt, was sie ihnen gegeben hatte, und sie eilte, um noch mehr Wasser zu holen. Sayfah brachte Wasser für die Männer, während Mama Aminas älteren Brüdern durch die schweißnassen Haare fuhr und sie mit der Zuneigung und Aufmerksamkeit überschüttete, die Amina selbst niemals empfing.

„Ladet die Tiere ab“, sagte Abba zu Aminas Brüdern, nachdem sie alle ihren Durst gestillt hatten. „Tragt alles hinein. Aber vorsichtig!“

„Was ist denn das alles?“, fragte Mama. „Was hast du mitgebracht?“

Abba grinste. „Waffen. Die schönsten Schwerter und Speerspitzen und Pfeilspitzen, die ich je gesehen habe. Die Männer von Ashdod sind ausgezeichnete Handwerker.“ Aminas Brüder banden die unförmigen Bündel los und verstauten sie im Lagerraum neben Töpfen mit Weizen und Olivenöl. Sie wusste, dass die Säcke schwer waren, weil beide Brüder gemeinsam anfassen mussten, um einen davon zu tragen. Endlich waren die Esel von ihrer Last befreit.

„Ich habe mich auf dem Weg mit den Vorstehern mehrerer Dörfer getroffen“, erklärte Abba Aminas Mama, während Sayfah seinen Becher zum dritten Mal füllte. „Sie haben einige gute Ideen, wie wir den Erlass des Königs ausführen und die Juden effizient hinrichten können. Ich berufe heute Abend hier eine Versammlung ein, um den anderen zu erzählen, was ich erfahren habe, und ihnen die Waffen zu zeigen.“

Darum war es bei Abbas Reise also gegangen. Amina hatte nicht gewusst, warum sie abgereist waren oder wohin. Seit der Nacht der Feier hatte er auch die Tötung der Juden nicht mehr erwähnt. Es war also doch nicht nur ein schlimmer Traum gewesen. Die ganze Zeit hatte Abba ans Töten gedacht. Das bedeutete, dass er immer noch vorhatte, auch Hodaya, die freundliche jüdische Frau vom Markt, umzubringen.

Die Männer waren nach ihrer langen Reise hungrig und Amina half Mama, eine Mahlzeit zuzubereiten und gleich aufzutragen. Abba war immer noch bester Laune, als er sich zum Essen setzte, und er rief Mama und sagte, sie solle sich im Hof zu ihm setzen, er hätte Neuigkeiten zu besprechen. Amina und ihre Schwester standen lauschend im Schatten, bereit ihn zu bedienen, wenn er sie rief.

„Ich habe in der Nähe von Jerusalem mit dem Anführer des Dorfes gesprochen, in dem mein Bruder lebt“, sagte Abba. „Er hat Interesse daran, Sayfah als Frau für einen seiner Söhne zu nehmen.“ Sayfah stieß einen erschrockenen Schrei aus.

„Schhh … Sayfah, er wird dich hören!“, flüsterte Amina. Ihre Schwester umklammerte Aminas Arm so fest, dass es wehtat.

„Aber ich will nicht heiraten!“

„Schhh!“

„Sie wird seinen dritten Sohn heiraten, nicht seinen Erstgeborenen“, fuhr Abba fort. „Aber trotzdem wird er in wenigen Monaten ein sehr reicher Mann sein. Es gibt jede Menge Gold im jüdischen Tempel in Jerusalem und die Männer von Abdels Dorf wollen es für sich beanspruchen, nachdem sie die Juden hingerichtet haben. Es wird für alle genug Gold geben.“

„Weiß dieser Mann, dass er noch ein Jahr auf Sayfah warten muss?“, fragte Mama. „Sie ist erst elf und noch keine Frau.“

„Das weiß er. Aber es wird für beide Seiten eine gute Partie sein. Der Handel ist beschlossen.“

„Nein!“, stöhnte Sayfah. Sie lehnte den Kopf schwer an Aminas Schulter und brach in Tränen aus. Beinahe hätte sie Amina zu Fall gebracht.

„Sayfah … schhh!“, flehte Amina. „Abba wird wütend, wenn er dich hört.“ Und dann könnte er seine Wut an ihnen beiden auslassen. Sayfah hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Schluchzen zu dämpfen. Sie und Amina wussten beide, dass die Ehe bedeutete, eine Sklavin der neuen Schwiegermutter zu werden und jeder Laune des Ehemannes zu gehorchen oder eine Tracht Prügel zu riskieren. Die Schwestern hatten sich flüsternd über diese Dinge unterhalten, wenn sie nachts im Bett lagen, und sie hatten beide schreckliche Angst vor der Ehe. So schwierig ihr Leben als Mädchen schon war, würde es als junge Ehefrau eines fordernden Mannes und einer Schwiegermutter, die einen tyrannisieren konnte, noch viel schlimmer werden. Die Ehe bedeutete außerdem, dass sie ihre Eltern und einander verlassen mussten. Und dass sie Babys bekamen.

„Was ist mit Amina?“, fragte Mama. „Hast du schon eine Entscheidung getroffen, was sie betrifft?“ Amina hielt die Luft an und wartete auf Abbas Antwort.

„Noch nicht. Ich gebe ihr noch ein Jahr, in dem sie beschließen kann, ohne Hinken zu laufen. Wenn sie sich weigert, sehe ich mich gezwungen, etwas deswegen zu unternehmen. Niemand zahlt eine Mitgift für einen Krüppel.“

Tränen brannten in Aminas Augen, aber sie drängte sie zurück. Abba hasste jedes Anzeichen von Schwäche. Sie wiederholte im Geiste die Worte der jüdischen Weberin, damit sie diese nicht vergaß. „Gott hat dich dazu geschaffen, etwas Besonderes zu tun, das sie nicht tun können.“

„Sayfah!“, rief Abba plötzlich. „Komm her, Sayfah.“

Sie starrte Amina an, die Augen vor Angst weit aufgerissen. „Was soll ich machen?“

„Wisch dir die Augen trocken“, flüsterte Amina. „Beeil dich! Du musst zu ihm gehen.“

„Ich will nicht! Ich habe Angst.“

„Sayfah, komm hierher!“, rief er wieder.

„Er wird sehen, dass ich geweint habe, und dann schlägt er mich“, flüsterte Sayfah, während sie mit der Hand über ihr Gesicht fuhr. Es stimmte. Ihre Augen waren rot und geschwollen, ihre Wangen tränenverschmiert – aber eine respektvolle Tochter sollte mit Dankbarkeit und Freude auf eine so wichtige Ankündigung ihres Vaters reagieren.

Amina stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte. „Ich gehe. Ich sage ihm, dass du zur Latrine gegangen bist. Aber bleib nicht so lange.“ Sie trat in den Hof hinaus und versuchte dabei, gerade und aufrecht zu gehen und nicht zu hinken. Aber ihre Knie zitterten vor Angst, sodass es ihr beinahe unmöglich war. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen. „Sayfah ist gegangen, um sich zu erleichtern“, sagte sie und blickte auf ihre Füße hinunter. „Sie kommt gleich.“

Sayfah betrat den Innenhof eine Minute später, ein steifes Lächeln im Gesicht, als sie sich ihrem Vater näherte. Sie blieb einige Schritte entfernt stehen und starrte auf den Boden, anstatt ihn anzusehen. „Ja, Abba?“

„Komm her, damit ich dich ansehen kann … Dreh dich um“, sagte er und machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger. Sayfah gehorchte. „Nicht schlecht … nicht schlecht … Du wirst eine Schönheit werden, wie deine Mutter.“ Amina hatte ihre Schwester immer um die großen braunen Augen beneidet und um das glänzende schwarze Haar, das in Wellen über ihre Schultern fiel. Sayfahs Rücken war gerade, ihre Beine lang und wohlgeformt und ihre Haut hatte einen goldbraunen Ton. Aber selbst von der Stelle aus, an der Amina stand, konnte sie sehen, dass das Kinn ihrer Schwester vor Angst bebte.

„Ich habe einen Mann für dich gefunden. Wir werden mit den Verhandlungen beginnen, sobald die Sache mit den Juden vorbei ist.“

Amina hielt die Luft an und hoffte, Sayfah würde leise und respektvoll antworten, anstatt ihre Gefühle zu offenbaren. Aber Sayfahs Angst vor der Heirat war offenbar größer als ihre Vorsicht. „Nein, Abba!“, jammerte sie. „Ich will nicht von zu Hause fort und heiraten. Bitte zwing mich nicht dazu, Abba, bitte!“

Sein Zorn war schnell und schrecklich. Amina sah, wie er sich auf ihre Schwester stürzte, und sie rannte aus dem Hof, um sich im Ziegenstall zu verstecken. Sie musste sich die Ohren zuhalten, um Abbas Schläge und Sayfahs erbärmliches Schreien nicht hören zu müssen.

Später in der Nacht hielt Amina ihre Schwester im Arm, bis diese sich in den Schlaf geweint hatte. Aber Amina konnte nicht schlafen. Was hatte Abba gemeint, als er sagte, er müsse etwas unternehmen, wenn sie nicht aufhören würde zu hinken? Wegen der dramatischen Ereignisse dieses Abends hatte sie gar nicht mehr an Abbas Versammlung mit den anderen Männern aus dem Dorf gedacht. Da hörte sie, wie die Männer im Hof zusammenkamen. Ihre Brüder trugen die Waffen aus dem Lagerraum herbei, um sie der Versammlung zu zeigen. Amina lag wach und lauschte dem schwachen Klirren von Metall und dem zustimmenden Murmeln.

„Wir haben genügend Waffen für alle gekauft“, sagte Abba. „Und ich habe mit den anderen Ortsvorstehern über ihre Pläne gesprochen. Die meisten von ihnen haben vor, die jüdischen Siedlungen im Voraus zu umzingeln, damit keiner entkommen kann.“

„Wir werden sie wie Schafe in einem Stall zusammenpferchen“, sagte jemand.

„Die Mauer und die Tore von Jerusalem wurden nicht wieder aufgebaut“, fuhr Abba fort. „Die Juden könnten die Stadt gar nicht verteidigen, selbst wenn wir sie ließen.“

„Ist es wahr, dass die Tempelschätze aus Unmengen von Gold und Silber bestehen?“, fragte jemand.

„Das stimmt. Und wenn die Hinrichtungen in Bethlehem vorbei sind, können wir uns an den Kämpfen in Jerusalem beteiligen.“

Amina steckte sich die Finger in die Ohren und vergrub ihren Kopf unter der Bettdecke, damit sie nicht noch mehr hören musste. Über dem gedämpften Murmeln und Lachen schlief sie schließlich ein.

Am nächsten Morgen gingen Amina und ihre Mutter zum Markttag nach Bethlehem. Abba befahl Sayfah, zu Hause zu bleiben, als Strafe dafür, dass sie keine Achtung gezeigt hatte. „Seht euch an all den jüdischen Waren satt“, sagte er zu ihnen, bevor sie losgingen. „Denkt daran, das alles wird bald uns gehören.“

Die Frauen aus Aminas Dorf taten den Juden gegenüber freundlich, während sie auf dem Markt um Waren feilschten, aber Amina wusste, dass es eine Lüge war. Sie ließ die anderen Kinder vorauslaufen und suchte die Stände nach Hodayas Verkaufsstand ab. Die gestapelten Rollen mit den schönen Wollstoffen waren leicht zu finden, denn das Gewebe war so viel feiner und farbenfroher als alles, was Amina jemals tragen würde.

„Ah, guten Morgen, Amina“, sagte Hodaya, als sie das Mädchen sah. „Ich habe mich schon gefragt, ob ich dich heute sehen würde.“

Amina schob sich hinter einen der Stapel, wo man sie nicht sehen konnte. „Ich muss dir etwas sagen“, flüsterte sie. Sie blickte sich um und ihr Herz schlug so schnell wie die Flügel eines Vogels. „Die Männer in unserem Dorf werden euch töten. Ich habe gehört, wie mein Vater und andere es geplant haben. Abba hat Schwerter und Waffen gekauft und –“

„Ich weiß, Kleines. Ich weiß.“ Hodays sanftes Lächeln erstarb und Tränen traten in ihre Augen. „Wir wissen von dem Erlass des Königs.“

„Hast … hast du Angst?“

„Nicht so sehr um mich selbst, aber um meine Enkel habe ich schreckliche Angst. Die jüngste Enkelin ist ungefähr so alt wie du und ich weiß, wie sehr sie sich fürchten wird. Ich hasse die Vorstellung, dass ihr kurzes Leben in großer Angst enden wird. Ich habe ein gutes, langes Leben gehabt, aber die Kinder –“ Sie konnte nicht weitersprechen. Amina streckte die Hand aus, um den Arm der alten Frau zu berühren, als Hodaya sich über die Augen fuhr. „Es tut mir leid“, sagte die Frau nach einer Weile. „Ich versuche um ihretwillen stark zu sein, aber die Wochen fliegen dahin und der Tag kommt immer näher … da ist es manchmal sehr schwer.“ Sie putzte sich die Nase mit einem Taschentuch.

„Du musst weglaufen“, flüsterte Amina. „Ich will nicht, dass Abba dich tötet.“ Aber als sie Hodayas Krücke sah, die neben ihr an der Wand lehnte, wusste sie, dass die alte Frau nicht würde fliehen können. Hodaya bückte sich und drückte Amina lange und fest. Zuneigung war etwas so Seltenes für Amina, dass sie sie aufsog, wie warmes Brot schmelzende Butter in sich aufnimmt.

„Es ist sehr lieb von dir, dass du dir Sorgen um mich machst“, sagte Hodaya. „Du hast ein wundervolles, gütiges Herz.“

„Ich hasse meinen Vater dafür, dass er dich töten will“, sagte Amina, als sie sich schließlich voneinander lösten.

„Nein, hasse ihn nicht. Es ist nicht seine Idee, uns zu töten. Der Befehl kam vom persischen König und es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten.“

„Könnt ihr euch nicht verstecken?“

„Ich bin nicht sicher. Die Männer in unserem Dorf beten deswegen und einige Leute reden davon, dass sie in die Wüste fliehen wollen.“

„Du solltest auch mitgehen. Und wenn du Schwierigkeiten beim Laufen hast, könntest du doch auf einem Esel reiten.“

„Ja, liebes Kind. Das werde ich. Ich reite immer auf einem Esel, wenn wir zu Gottes Tempel nach Jerusalem ziehen. Wir gehen so oft wie möglich dorthin, um zu beten und ihn um Gnade anzuflehen. Ich habe Freunde dort, die Priester sind, und sie glauben, dass unser Gott uns retten will. Ich weiß nicht, wie er das tun wird, und ich weiß, dass es im Moment hoffnungslos erscheint, aber sie sagen, wir sollen Gott vertrauen.“

Amina hörte Gelächter und eilige Schritte und sie duckte sich, um sich zu verstecken, als die anderen Kinder vorbeiliefen. „Spielst du heute nicht mit ihnen?“, fragte Hodaya. „Und wo ist deine Schwester? … Wie hieß sie noch gleich?“

„Sayfah. Abba hat sie nicht gehen lassen. Er bestraft sie, weil sie zu ihm gesagt hat, dass sie nicht heiraten will.“

„Heiraten! Wie alt ist sie denn?“

„Elf. Abba hat ihr einen Mann aus einem anderen Dorf ausgesucht und sie muss ihn heiraten, sobald sie zwölf wird. Er sagt, ihr Mann würde reich sein, nachdem –“ Nachdem sie die Juden getötet hatten. Amina schlug sich die Hand vor den Mund und bereute, was sie gerade hatte sagen wollen.

Hodaya zog Amina kurz an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Du bist ein liebes Mädchen. Lass nicht zu, dass die Hässlichkeit des Lebens etwas daran ändert.“

„Ich muss gehen.“ Wenn sie nicht ginge, würde sie anfangen, um Hodayas willen zu weinen. Dann würde Mama wissen wollen, was passiert war.

„Danke, dass du gekommen bist, um mich zu warnen“, sagte Hodaya. „Und möge Gott dich für deine Freundlichkeit segnen.“

„Ich … ich hoffe, wir sehen uns wieder.“ Amina stellte sich auf die Zehenspitzen, um Hodayas weiche Wange zu küssen, dann eilte sie fort und es brach ihr das Herz. Als sie das Ende des Ganges mit den vielen Marktständen erreicht hatte, wandte sie sich ein letztes Mal zu ihrer Freundin um.