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Übersetzung aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Sista paret ut« im Albert Bonniers Förlag, Stockholm.

ISBN 978-3-492-96908-6

Oktober 2016

© Arne Dahl 2014

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Published by agreement with Salomonsson Agency

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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1 – Das erste aktivierte Paar

Raubtier I

Tuamotu-Inseln, 2. Mai

Ein Fleck auf der Sonne. Damit fing alles an.

Damit begann auch die Zeitrechnung. Genau in diesem Augenblick.

Davor war lange keine Zeit vorhanden gewesen. Sie befand sich an einem Ort, an dem die Zeit nicht mehr existierte. Sie hätte die Fältchen in ihren Augenwinkeln zählen können, wenn es einen Spiegel gegeben hätte, dessen Oberfläche sich nicht ständig bewegte. Aber das Meer lag niemals ganz still da, und das Einzige, was auf der Insel verboten war, waren Spiegel.

Obwohl, richtig verboten waren sie nicht. Eher unerwünscht. Und alles, was unerwünscht war, wurde entfernt. Das war das Einzige, was sie für ihn tun konnte. Das war sie ihm schuldig.

Es war auch ein Ort, an dem man sich schnell auf die Nerven gehen konnte. Das war am Anfang auch häufig der Fall gewesen, aber jetzt nicht mehr. Nicht, seit sie ganz allein auf der Insel waren. Seitdem war er ihr Leben und sie seines.

Und da die Entsalzungsanlage jetzt funktionierte, waren sie Selbstversorger. Teiki kam immer seltener mit seinem Auslegerboot und hatte noch seltener Grundnahrungsmittel dabei. Am Anfang war viel los gewesen auf der Insel, die gesamte Energie galt der Errichtung der Gebäude und Konstruktionen, und Teiki hatte Solarzellen, Elektronik, Kabel, Sonnensegel, Baumaterial, Werkzeug, Taucherausrüstungen, Eimer mit Sonnenschutz, Angelutensilien – und Fleisch geliefert.

Fleisch hatte sie am meisten vermisst. In kürzester Zeit hatten sie zwar eine kleine Hühnerfarm aufgebaut, aber Schwein, Rind und Kalb blieben Mangelware, ihre Nahrung bestand zu fünfundneunzig Prozent aus Fisch.

Fleisch war genau genommen das Einzige, was Teiki nach wie vor lieferte. Fleisch und Wein. Industriestaatenüberfluss. Teiki kam ungefähr jede zweite Woche, vielleicht sogar noch seltener, sie wusste es nicht genau, Zeit existierte ja nicht. Das Fleisch hielt sich in der kleinen Tiefkühltruhe ein paar Wochen; sie war nach wie vor darüber erstaunt, dass man Wärme in Kälte umwandeln konnte. Oder was auch immer passierte, wenn die Solarzellen die Kühltruhe betrieben.

Die Solarzellen waren hinter einem Tarnnetz verborgen, das zwischen den Kokospalmen und ihrem kleinen Stück Land gespannt worden war. Auf dem kargen und sandigen Boden wuchs nicht viel, aber was erst einmal Wurzeln geschlagen hatte, wurde nicht nur sehr groß, sondern gedieh auch das ganze Jahr über. Es gab Bananen, Apfelsinen, Yamswurzeln, Wasserwurzeln und Brotfruchtbäume. Ihr war es sogar gelungen, eine Tomatenstaude zu ziehen. Italienische Flaschentomaten. Sie pflegte sie mit großem Aufwand. Sie ersetzten das Kind, das sie niemals bekommen würde. Pomodori.

Ansonsten gab es nur Fisch. Fisch, Fisch und nochmals Fisch. Fische, deren Namen sie in keiner der Sprachen kannte, die sie beherrschte. Fische in allen Farben des Regenbogens. Fische, die aussahen, als wären sie Albträumen entstiegen.

Während sie ihren Blick über das Fischerboot schweifen ließ – das zwar primitiv, aber dennoch robust und funktionell war, trotz seines selbst gezimmerten Rumpfs –, stieg in ihr der Gedanke auf, dass heute ein Fleischtag war. Heute Abend musste es unbedingt Fleisch geben. Irgendetwas würde doch noch in der Tiefkühltruhe zu finden sein.

Wie viel Zeit war seit Teikis letztem Besuch vergangen? Wein hatten sie schon eine ganze Weile nicht mehr, das einzige Rauschmittel, das ihnen noch zur Verfügung stand, war dieser ekelhafte Palmwein, den Teiki mit großer Beharrlichkeit den Palmen abpresste. Nein, sie brauchte heute richtigen Wein. Europäischen. Am liebsten italienischen. Barolo. Und dazu Fleisch. Kalb. Vitello.

Teiki, wo bleibst du?

Der Wein wurde in Pappkartons transportiert, das Fleisch in Plastik eingeschweißt, und dann bekamen sie noch diese Eimer geliefert. Die Eimer mit den Ködern. Sie hatte einmal zugesehen, als er einen der Eimer geöffnet hatte. Um zu fischen, benötigte man natürlich auch Unmengen von Ködern, aber mussten die in Blut baden? Es plätscherte in den Eimern, ein dunkles Plätschern, und der Inhalt erinnerte an die blutgetränkten Eingeweide von Säugetieren.

Die Köder sahen eher aus, als könnte man damit größere Raubtiere fangen als nur Fische. Aber es funktionierte, denn jedes Mal, wenn er mit dem primitiven Boot zurückkehrte, hatte er etwas gefangen. Viel zu viel Fisch. Er behauptete zwar, dass er sich mit Fischen auskennen würde, die genießbaren von den ungenießbaren unterscheiden könne, die geschmackvollen von den giftigen. Und doch dachte sie immer, wenn sie am Strand hockte und die Fische ausnahm und filetierte, unweigerlich an den Mondfisch. Sie dachte an den Fugu, sie dachte an ein Nervengift, das tausendfach stärker war als Cyanid, sie dachte an Tetrodotoxin.

Aber die Speisen schmeckten immer köstlich, und wenn er ab und zu mit einem Thunfisch zurückkam, dann erkannte auch sie, dass die unappetitlichen Köder doch ihren Zweck erfüllten. Aber ihr war es ein Rätsel, wie er den Kontakt mit den Haien vermied.

Denn es war ein Haigewässer. Jeden Morgen machte er sich auf den Weg mit dem schmalen selbst gebauten Boot aus instabilem Palmenholz und hatte einen Eimer mit blutigen Eingeweiden dabei. Und doch wurde er kein einziges Mal von Haien angegriffen. Was am Anfang ein Mysterium gewesen war, war im Lauf der Zeit Alltag geworden. Ein Alltag im Stillstand. Ein Alltag ohne Zeit.

Ein Leben ohne Zeit.

Bis heute.

Sie saß unten am Strand in einem Sonnenstuhl aus Treibholz und spielte mit ihren Zehen im Wasser. Sie trug einen Bikini, war sorgfältig mit Sonnenschutzmittel eingecremt und blickte in den Himmel hinauf, an dem die unendliche Sonne hing. Keine einzige Wolke war zu sehen. Dies hier war das Paradies. Aber die Sonne hatte einen Fleck.

Und damit begann alles.

Sie bemerkte den Sonnenfleck und musste an eine Sonnenfinsternis denken. Gab es nicht ganz unterschiedliche Varianten einer Sonnenfinsternis? Auch kleinere?

Einen Sonnenfleck?

Plötzlich stand er hinter ihr. Sie hatte die beherrschte, aber unmissverständliche Tonlage seiner Stimme schon lange nicht mehr gehört. Darum horchte sie augenblicklich auf, als er sagte: »Raubtier. Jetzt.«

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Er stand reglos da und sah in den Himmel. Es dauerte eine Sekunde, bis das Codewort zu ihr durchgedrungen war. Aber als er sie anlächelte und bestätigend nickte, stürzte sie sich augenblicklich in das türkisfarbene Meer.

Raubtier, das Wort wanderte durch ihren Kopf, während sie immer tiefer tauchte. Sie wusste nach wie vor nicht, was damit gemeint war.

Sie erreichte das Korallenriff, ein blaugrünes Universum aus sonderbaren fingerartigen Strukturen, die von farbenfrohen Fischschwärmen durchzogen waren, deren zuckende Bewegungen ganz eigenen physikalischen Regeln folgten.

Sie fand ihren Weg durch das Korallenriff. Zumindest glaubte sie das. Sie orientierte sich an den äußeren Kanten der Kalkformationen, verdeckt von den bunten Fischschwärmen. Irgendwo musste sie sein, die Grotte, sie musste hier ganz in der Nähe liegen. Ihr ging langsam die Luft aus.

Nein, das stimmte ja gar nicht. Die Grotte befand sich noch tiefer unten. Sie versuchte, sich zu orientieren. Sie wusste, dass der Sauerstoff in den Lungen meist viel länger reichte, als man dachte. Es war alles eine Frage der Einstellung. Also riss sie sich zusammen. Mahnte sich zur Ruhe. Sie wedelte einen Schwarm kleiner, fröhlicher blaugelber Fische beiseite und tauchte tiefer.

Schließlich entdeckte sie eine bekannte Korallenstruktur. Und nur wenige Meter links davon musste der Grotteneingang sein. Sie glitt an einer großen Koralle vorbei und sah tatsächlich nur unweit davon den dunklen Schatten des Eingangs. Es handelte sich um jene Art von Hohlraum, die sie bei einem normalen Tauchgang wie die Pest gemieden hätte. Aber das hier war kein normaler Tauchgang.

Ein schwaches Licht fiel auf die beiden Sauerstoffflaschen, die mit einem Metallband an der Korallenformation befestigt waren. Die zwei Tauchermasken und Mundstücke schwebten schwerfällig im Wasser wie schwarze Seeanemonen.

Hastig zog sie sich eine Maske über das Gesicht, legte den Kopf in den Nacken, lockerte den unteren Rand der Taucherbrille und blies Luft durch die Nase. Maskenleerung, dachte sie. Danach drückte sie die Maske fest aufs Gesicht, drehte das Luftventil auf und nahm einen ersten Atemzug.

Das fühlte sich göttlich an, das Leben wurde förmlich in sie hineingesogen. Sie löste die Taschenlampe, die mit starken Magneten auf der Rückseite der Flasche befestigt war, und leuchtete die Grotte ab. Nach und nach normalisierte sich ihre Atmung.

Raubtier, dachte sie erneut. Das war das Codewort für den sofortigen Aufbruch. Was hatte er entdeckt?

In diesem Augenblick wurde das Korallenriff vollkommen unerwartet von den Detonationen erschüttert. Zweimal in schneller Abfolge. Das zuvor klare türkisfarbene Wasser war jetzt bräunlich. Die Bodensedimente wurden aufgewirbelt und hatten das Wasser so eingetrübt, dass sie kaum mehr den Eingang der Grotte ausmachen konnte. Sie war umringt von kleinen Fischen, die von Panik gepackt um sie herumschossen.

Sie rührte sich nicht von der Stelle, sondern versuchte sich in eiskalter Gelassenheit. Sie wartete ab, bis der Lichtkegel der Taschenlampe wieder weiter als einen halben Meter reichte. Langsam sanken die Sedimente zurück auf den Meeresboden, die türkisfarbene Klarheit kehrte zurück. Auch der Eingang der Grotte wurde wieder sichtbar. Alle Fische hatten den Weg heraus gefunden, und sie konnte wieder ohne Schwierigkeiten den Luftdruckmesser ablesen. Sie würde noch für mehrere Stunden Luft haben.

Sie verharrte noch eine Weile dort. Dann erst löste sie die Sauerstoffflasche aus ihrer Befestigung und schnallte sie sich um. Sie nahm auch die zweite Flasche und Tauchermaske.

Raubtier, das Wort tauchte wieder in ihrem Kopf auf, und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ein eiskalter Schauer der Angst.

Dann machte sie sich auf den Weg.

*

Raubtier, schoss es ihm durch den Kopf, während er unverwandt in den Himmel starrte. Das Codewort für den sofortigen Aufbruch. Aber nicht nur das.

Er blickte aufs Wasser. Von ihr waren nur noch ein paar Luftblasen an der Oberfläche zu sehen. Es müsste gut gehen.

Dieser Teil sollte zumindest gut gehen.

Und dann gab es natürlich noch seinen Auftrag hier.

Erneut hob er den Kopf und sah zur Sonne hoch. Der Fleck war größer geworden. Er schärfte sein Bewusstsein, formte es zu einer Pfeilspitze der Entschlossenheit. Bereitschaft. Geistesgegenwart. Aber nicht nur das allein. Er rechnete. Er zählte die Sekunden.

Es konnte sich nur um das eine handeln. Das Raubtier. Die Drohne MQ-1 Predator.

Immerhin war es nicht der Sensenmann, der MQ-9 Reaper. Denn sonst würden sie unter Garantie sterben.

Als der Fleck auf der Sonne sichtbar geworden war, hatte er gewusst, dass es das Raubtier war und sie wenigstens eine geringe Chance hatten. Diese Drohne war ein älteres Modell der Remotely Piloted Aircraft, RPA. Sie war mit dem Höllenfeuer ausgerüstet, zwei lasergesteuerten Luft-Boden-Raketen, den AGM-114 Hellfires.

Er wartete. Der Fleck war längst kein Fleck mehr, er nahm Form an. Die Form eines Flugzeugs. Er wartete, bis er sicher war, dass der Pilot in der Bodenstation auf der anderen Seite des Globus ihn gesehen hatte. Das unbemannte Flugzeug zitterte in der Luft, als würde es sich ab jetzt voll und ganz auf ihn konzentrieren.

Dann rannte er los.

Er war zwar barfuß, aber er rannte so schnell, dass der glühend heiße, korallenweiße Sand ihn nicht verbrannte. Er lief zwischen den verlassenen Bungalows hindurch in Richtung Hühnerstall. Jetzt befand er sich auf freiem Feld. Er war sichtbar. Ein Blick über die Schulter sagte ihm, dass die Drohne deutlich größer geworden war. Näherte sie sich nicht viel zu schnell?

Er ließ den Hühnerstall und die Entsalzungsanlage hinter sich und näherte sich den Palmen und dem kleinen Acker mit den Solarzellen. Aber kurz davor bog er ab und stürmte auf ein Gebüsch zu. Ein zweiter Blick verriet ihm, dass die Drohne ebenfalls den Kurs gewechselt hatte. Und dass sie sehr nah war.

Er erreichte das Gebüsch. Hinter ein paar hochgewachsenen Pandanusbäumen kauerten Gestalten. Er warf sich hinter die buschigen Pflanzen und griff gleichzeitig nach einem Seil, das in dem sandigen Boden verborgen war. Auf dem Bauch liegend, hob er den Kopf und sah in den Himmel. Das Raubtier war gefährlich nahe. Die Drohne korrigierte ein letztes Mal ihre Flugrichtung. Die Raketen saßen am Rumpf der Maschine.

Zwei Sekunden, sagte er sich. Das digitale Signal von der Bodenstation zur Drohne hat eine Verzögerung von zwei Sekunden.

Er zerrte an dem Seil, stemmte die schwere Luke im Sandboden hoch und sprang in die Öffnung. Die Luke schlug über seinem Kopf zu, und er konnte gerade noch die Handflächen auf seine Ohren pressen. Denn unmittelbar danach waren zwei ohrenbetäubende Detonationen zu hören, die sein unterirdisches Versteck erschütterten. An den Rändern der Panzerluke rieselte feiner Sand zu Boden.

Auf allen vieren kroch er zum Kommandostand vor, packte den Joystick und fing die Drohne in dem Moment mit der Kamera ein, als diese einige Hundert Meter von der Insel entfernt abdrehte. Er arretierte den Sucher und ignorierte den Blutstropfen, der auf die Tastatur fiel und den Buchstaben »S« traf. Das Raubtier hatte gewendet und kam wieder zurück. Er hörte, wie die Drohne über seinen Standort flog, und sah sie in niedriger Flughöhe an der Kamera vorbeischweben, die im Wipfel der höchsten Kokospalme angebracht war. Als das Flugzeug ein drittes Mal herankam, flog es deutlich langsamer als zuvor, als würde es alles genau in Augenschein nehmen. Dann drehte es ein paar Kreise über der Insel.

Erst danach verschwand das Raubtier. Offensichtlich zufriedengestellt.

Bald war die Drohne wieder nichts weiter als ein Fleck auf der Sonne.

Sie hatte das Höllenfeuer gelegt.

Er spulte die Aufnahmen zurück. Eine der fest installierten Kameras war auf die Pandanusbäume gerichtet. Nichts rührte sich. Hinter ein paar hochgewachsenen Bäumen konnte er zwei kauernde Gestalten ausmachen. Er wechselte zu einer anderen Kamera. Diese war oben auf dem Hühnerstall montiert. Sie filmte ebenfalls die Pandanusbaumgruppe, nur von hinten. In dieser Einstellung war zu erkennen, dass die beiden Gestalten nur Puppen waren.

Kauernde, lebensechte Schaufensterpuppen.

Zeitgleich mit seinem Erscheinen in der Kameraaufzeichnung wurde auch die Drohne im oberen linken Bildrand sichtbar. Während er sich dabei beobachtete, wie er sich hinter das Gebüsch warf und exakt zwei Sekunden wartete, während die Drohne immer näher kam, wurden ihm zwei Dinge klar. Zum einen stellte er fest, dass die Puppen überzeugend echt und lebendig aussahen. Zum anderen hatte er registriert, dass noch alles vorhanden war. In ihm. Er war geistesgegenwärtig genug gewesen, ebendiese zwei Sekunden zu warten, um bestätigt zu bekommen, dass die Raketen justiert wurden. Das deutete darauf hin, dass seine Fähigkeiten mitnichten so eingerostet waren, wie er es gehofft hatte. Es war paradox. Um durchzukommen, benötigte er diese unversehrte Geistesgegenwart. Aber um wirklich zu überleben, musste er sie eliminieren.

Als die Sequenz kam, in der er nach dem Seil griff und sich dann in die Luke warf, hielt er den Film an und tauschte ihn aus. Den neuen Film spulte er vor, bis das mitlaufende Datum von vorgestern auf gestern gesprungen war. Zum frühen Morgen des gestrigen Tages. Er wusste zwar noch gut, dass er die beiden Hohlkörper gefüllt hatte, aber dennoch wollte er es zur Sicherheit noch einmal überprüfen. Die Sonne hatte gerade den Horizont erklommen, als er im Bild auftauchte. Er trug einen weißen Eimer in der Hand und näherte sich den Pandanusgewächsen. Dann packte er den Hals der einen kauernden Puppe und schraubte ihr den Kopf ab. Nachdem er den Deckel des Eimers entfernt hatte, goss er die mit Bröckchen durchsetzte rote Flüssigkeit in den offenen Hals der Puppe. Danach brachte er den Kopf wieder an, richtete die langhaarige Perücke und wiederholte die Prozedur mit der zweiten, kurzhaarigen Puppe.

Ihm gefiel es nicht, dass er ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte. Aber wem nützte es, wenn sie sich Sorgen machte? Sie ging davon aus, dass die Figuren sein Hobby wären und in den Eimern Fischköder.

Erneut tauschte er den Film aus und ließ die aktuellsten Aufnahmen weiterlaufen. Er sah, wie er das Seil packte, die Luke aufriss und sich in den Schutzraum fallen ließ. Zwei Raketen schlugen praktisch direkt dort ein, wo er zwei Sekunden zuvor auf dem Boden gelegen hatte. Das Höllenfeuer.

Die Raketen hatten die Puppen getroffen. Zwei Volltreffer. Die Drohne schoss an der Kamera vorbei und verschwand aus dem Bild.

Er spulte zurück und ließ die Sequenz noch einmal in Zeitlupe laufen. Erst jetzt konnte er den Weg der Raketen verfolgen, bis diese die Brustkörbe der Puppen durchschlugen. Die Puppen wurden in ihre Einzelteile zerlegt. Zwei rote Wolken stoben mit geradezu unheimlicher Lautlosigkeit aus dem Gebüsch und legten sich als rote, eiförmige Flächen auf den korallenweißen Sand. Vereinzelt erkannte er Teile von Eingeweiden in all dem Roten.

Das Raubtier drehte eine Kurve und kehrte zurück. Sondierte die Oberfläche. Befand das Ergebnis für gut. Befand, dass die beiden Zielobjekte perfekt von den Raketen getroffen worden waren. Dann kehrte es, nach erfüllter Mission, zur Bodenstation zurück.

Er schloss die Augen und dachte kurz nach. Die Drohne war die einzige Möglichkeit für sie gewesen, ihm auf die Spur zu kommen – aus genau dieser Richtung. Darauf hatte er sich minutiös vorbereitet. Dass sie den MQ-1 Predator eingesetzt hatten statt den weitaus moderneren MQ-9 Reaper, sprach dafür, dass ihre Ressourcen dann doch begrenzt waren. Dann war wohl doch nicht das Militär hinter ihnen her, und daher war es durchaus möglich, dass sie doch nicht satellitenüberwacht wurden. Und ihre Verfolger würden eine Weile brauchen, um die Aufnahmen der Drohne zu sichten und zu analysieren.

Auf den ersten Blick würde der Film ihn zeigen, wie er ins Gebüsch hechtete, um sich zu verstecken. Dort wartete bereits die zweite Person, die unsinnigerweise hinter einem Pandanusbaum kauerte. Und es würde aussehen, als wären sie beide ausgelöscht worden.

Aber es würde einen zweiten Blick auf die Aufnahmen geben. Je früher sie sich auf den Weg machten, desto besser.

Er sah sich im Inneren des Schutzraumes um. Hier befanden sich all die Dinge, die ihm Teiki heimlich bei Nacht gebracht hatte. Waffen. Computer. Alarmsysteme. Nichts davon würden sie benötigen. Nichts davon würde sie verraten können. Zumindest nicht in dem Zustand, in dem die anderen die Sachen vorfinden würden.

Alles, was er wirklich benötigte, befand sich im Cyberspace. Das Einzige, was er mitnahm, waren zwei Paar Schwimmflossen, ein größeres und ein kleineres, sowie eine Rettungsfolie. Er beugte sich über die Tatstatur und sah den Blutfleck auf dem »S«, der sich bereits über seine Nachbarn, das »W« und das »X«, ausgebreitet hatte. Er berührte seine Ohren. Aus beiden tropfte Blut. Er war sich nicht sicher, wie geschädigt sein Gehör war. Und er wusste auch nicht, ob das Blut nicht die Haie anlocken würde. Er zerriss ein Stück Stoff, stopfte es sich in beide Ohrmuscheln und beugte sich erneut über die Tastatur. Auf dem Monitor klickte er eine Digitaluhr an und stellte 10:00 ein. Dann startete er das Zählwerk. 09:59 und los.

Er wickelte sich in die Rettungsfolie ein, sodass sie ihn vollkommen bedeckte, drückte die Panzerluke auf, verschloss sie wieder hinter sich und schlich auf der anderen Seite der Bucht hinunter zum Strand. Die ersten Meter lief er über geronnenes, verbranntes Blut, dann hatte er das Wasser erreicht. Er zog die Schwimmflossen an und ließ die Folie erst los, als er abtauchte. Ein paar Minuten lang dümpelte sie auf der Wasseroberfläche, dann versank auch sie und verschwand.

Er tauchte hinunter zu den großen roten Korallen. Als er sie in der Grotte warten sah, spürte er, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Er streckte ihr die Schwimmflossen hin, nahm die Tauchermaske und leerte sie, bevor endlich die Luft aus der Sauerstoffflasche seine brennenden Lungen erlöste. Sie blickten sich an. Er nickte und zeigte ihr die Richtung, weg von der Insel.

Sie schwammen und schwammen immer weiter. Nur weg. Dann warf er einen Blick auf die Uhr und gab ihr ein Zeichen. Er zeigte zur Wasseroberfläche, und sie stiegen auf.

Oben lagen sie auf dem Rücken und ließen sich treiben, ihre Blicke waren auf die Insel gerichtet. Ihre Insel.

Die in Flammen aufging. Die Bungalows, der Hühnerstall, ihr Acker, die Entsalzungsanlage, die Kokospalmen.

Ihre pomodori.

Alles stand in Flammen, es war ein besonderer, fast klarer Feuerschein. Und beinahe lautlos.

Sie sah ihn an und fragte: »Wer war das?«

Er schüttelte den Kopf.

»Keine Ahnung. Unbekannt.«

»Wir könnten ihn X nennen«, schlug sie vor.

Er lachte trocken und sah ihr hinterher, als sie wieder abtauchte.

»X«, wiederholte er.

So einfach.

X.

Dann folgte er ihr.

Sie waren das erste aktivierte Paar.

Gustaf Horn

Stockholm, 20. Juli

Man könnte meinen, dass die beiden Landspitzen der zwei größten Inseln von Stockholm sprachhistorisch miteinander verbunden wären. Zumal der äußere westliche Teil von Södermalm seit dem Mittelalter »Horn« genannt wurde. Der Name bezieht sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf die spitze Form dieser westlichen Landzunge. Und als dort Mitte des 17. Jahrhunderts eine Zollstelle errichtet wurde, hieß sie selbstverständlich Hornstull. Die Namensgebung von Hornsberg auf Kungsholmen hingegen ging auf Gustaf Horn zurück, einen der bedeutendsten schwedischen Feldherren im Dreißigjährigen Krieg. Zeitgleich mit der Zollstelle Hornstull entstand auch Hornsberg auf Kungsholmen, eine Art Schloss, aber wohl eher ein Malmgård, die innerstädtische Variante der Herrenhäuser des 17. Jahrhunderts.

In der Zeit der Großmächte im 17. Jahrhundert dämmerte bald auch dem kleinen Land Schweden, dass es zu internationaler Bedeutung aufgestiegen war. Und besagter Gustaf Horn war nicht nur der Held der Schlacht bei Breitenfeld gewesen, die den Dreißigjährigen Krieg zugunsten der Protestanten entschieden hatte, sondern war auch in Lützen zugegen, als der damalige König Gustaf II. Adolf auf dem Schlachtfeld im Nebel umkam. Nach dem Tod des Königs wurde Horn zum Oberbefehlshaber ernannt, wurde aber kurz darauf in der Schlacht bei Nördlingen gefangen genommen und saß dann acht Jahre in Bayern in Kriegsgefangenschaft. Als er nach Schweden zurückkehrte, hatte sein Schwiegervater, Axel Oxenstierna, sein Land fast ein Jahrzehnt lang mit eiserner Hand regiert. Während Gustaf Horn einen Feldzug im Krieg gegen Dänemark anführte – den man später »Horns Krieg« nannte –, wurde die Thronfolgerin endlich mündig. Das neue Staatsoberhaupt war tatsächlich eine Frau, und Königin Kristina bezog bei ihrem Amtsantritt gleich Position und verteilte staatliches Land an ihre Günstlinge. Gustaf Horn bekam ein großzügiges Stück Land im Westen von Kungsholmen. Dort ließ er sich einen eleganten Hof mit einem erlesenen Garten nach dem Vorbild des Riddarhuset errichten, das damals das Versammlungshaus des Adels in der Altstadt von Stockholm gewesen war. Das Anwesen wurde später nach seinem Besitzer Hornsberg genannt.

Ein Problem stellte lediglich dar, dass Gustaf Horn viele solcher Anwesen besaß und bereits kurz nach der Fertigstellung von Hornsberg starb. Das Gebäude verfiel, und die Gartenanlage wurde anderweitig genutzt. Carl von Linné studierte ihren Artenreichtum, und Carl Michael Bellman schrieb mehrere Lieder über Hornsberg, aber das Anwesen verrottete. Eine Textilfabrik wurde darauf errichtet, die später zu einer Zuckerraffinerie umfunktioniert wurde, und Ende des 19. Jahrhunderts wurden die verbleibenden Gebäude abgerissen. Nicht etwa, um Licht und Luft zu schaffen, vielmehr um der Großen Brauerei genügend Platz zu bieten. Bier war zum Hauptgetränk der Stadtbevölkerung geworden und wurde in beeindruckenden Mengen gebraut. Bei der Produktion entstanden Nebenerzeugnisse und Abfallprodukte, Vitamin B und Enzyme. Das war der Anfang der Veränderung von Hornsberg hin zu einem Standort für die Biotechnologie.

Die Biotechnologie ist im Großen und Ganzen das Einzige, was erhalten blieb, als vor einigen Jahrzehnten dieses verfallene Industriegebiet rundum erneuert wurde. Heute ist Hornsberg ein herausgeputztes Stadtviertel für den jungen urbanen Mittelstand. Und in seinem Zentrum befinden sich mehrere biotechnologische Unternehmen.

Eines davon ist die Bionovia AB. Und dort saß in den wegen der Sommerferien praktisch menschenleeren Büroräumen, mit Aussicht auf den Ulvsundasjön, ein junger Mann ganz allein in einem Computerraum mit zwanzig PCs und Monitoren. Dieser junge Mann, der sich von anderen jungen Männern in nichts unterschied, hieß Gustaf Horn.

Aus Mangel an Arbeit hatte er im Internet eine Seite über seinen Namensvetter aus dem 17. Jahrhundert aufgerufen. Aber soweit er das bisher ermitteln konnte, bestand keinerlei Verwandtschaftsverhältnis zwischen ihm und dem Feldherrn. Als er sich um den Sommerjob beworben hatte, war er davon ausgegangen, dass er andauernd mit seinem Namen aufgezogen werden würde. Das Sonderbare war jedoch, dass niemand eine Bemerkung machte. Keiner seiner temporären Kollegen schien auch nur das Geringste über Gustaf Horn oder die Zeit der Großmächte zu wissen. Aber das störte ihn nicht weiter. Allerdings hätte er ganz gerne mit irgendjemandem gequatscht, doch nicht einmal der Abteilungsleiter hatte sich für etwas anderes interessiert als seinen Golfurlaub auf Ibiza. Gustaf Horn hatte gar nicht gewusst, dass es auf Ibiza Golfplätze gab. Für ihn war Ibiza vielmehr die Insel mit den weltweit meisten Geschlechtskrankheiten pro Kopf. Obwohl sich Golf und Geschlechtskrankheiten vielleicht gar nicht widersprachen.

Aber Geschlechtskrankheiten waren in Gustaf Horns momentanem Leben nicht relevant. Er war zweiundzwanzig, hatte das erste Jahr seines Studiums zum Systemanalytiker an der Universität beendet, hatte Semesterferien und war Single. Der Sommerjob in der IT-Abteilung von Bionovia hatte sich wie ein Traumjob angehört, und in gewisser Hinsicht war er das auch. In seinem Lebenslauf würde er sich sehr gut machen. Aber der Posten war leider unendlich langweilig. Gustaf Horn hatte keine direkten Kollegen, saß allein in diesem Raum, und seine einzige Aufgabe bestand darin, »den Datenverkehr zu überwachen«. Die Instruktionen, wie das vonstattengehen sollte, waren allerdings alles andere als ausführlich gewesen. Dafür war er quasi allein verantwortlich.

Die Bionovia AB war ein relativ junges Unternehmen im biotechnologischen Bereich, und ihr Sitz hatte sich in Lichtgeschwindigkeit von Räumen in einer Bürogemeinschaft zu einer eigenen Firmenzentrale in einem glänzenden Neubau am Hornsbergs strand gemausert. Die Firma war spezialisiert auf die Interaktion der verschiedenen Moleküle und Systeme in einer Zelle, sowohl in der Nanopartikel-Molekularforschung als auch in der Proteinforschung. Hier wurden unter anderem auf Plasmabasis hergestellte Proteinarzneimittel hergestellt. Das war Gustaf Horns Wissensstand, aber immer wenn er sich das in Erinnerung rief, klang es in seinen Ohren, als würde er es auswendig aufsagen. Eigentlich hatte er keine Ahnung, was das alles bedeutete. Er war ein echter Computernerd und stolz darauf.

Es war Hochsommer. Er vermied den Blick auf das glitzernde Wasser, wo die Hausboote am anderen Ufer neben dem Strandrestaurant Pampas dümpelten. Aber mittlerweile langweilten ihn die Geschichten über die bewegte Vergangenheit von Hornsberg, seinen Namensvetter aus dem 17. Jahrhundert und Bellmans Gedichte. Er hatte versucht, im Tagebuch von Gustaf Horns Tochter Agneta zu lesen. Es galt als das wichtigste Zeugnis schwedischer autobiografischer Texte des 17. Jahrhunderts und hatte den umwerfenden Titel Die Beschreibung meiner bejammernswerten und äußerst abscheulichen Wanderjahre sowie aller meiner großen Unglücke und großen Herzenssorgen und Abscheulichkeiten, die mir derweil unzählige Male begegnet sind, von meiner frühsten Kindheit an, und wie Gott mir stets geholfen hat, mit viel Geduld alle diese Abscheulichkeiten zu überstehen. Aber nach einer Weile hatte ihn auch das gelangweilt. Und Computerspiele konnte er hier nicht öffnen, dafür hätte er sich einloggen müssen.

Er starrte auf den Monitor. Zog die Maus an der verschlüsselten Liste nach oben und nach unten. Den Datenverkehr der vergangenen Woche hatte er bereits überprüft, und besonders viel Neues war seitdem ganz offensichtlich nicht geschehen. Es war Ende Juli, und da herrschte Flaute in der Biotechnologiebranche. In Ermangelung einer besseren Idee begann er, sich durch das vergangene halbe Jahr der Aufzeichnungen zu scrollen. Auch das war im höchsten Maße langweilig. Er würde diese Tätigkeit sofort gegen jede erdenkliche Geschlechtskrankheit tauschen. Natürlich nur unter der Bedingung, sich mit dieser Krankheit auch auf eine angemessene Weise angesteckt zu haben.

Diese Listen bestanden hauptsächlich aus Posten. Jeder einzelne bezeichnete eine Cyberaktivität zwischen Bionovia und der Außenwelt. Die Reihen von Buchstaben und Ziffern verrieten, bis zu welchem Sicherheitsniveau der anfragende Computer vorgedrungen war, was wiederum – in Echtzeit oder im Nachhinein – mit verschiedenen Listen abgeglichen wurde, die aus zertifizierten und identifizierten Codes bestanden. Je höher das Sicherheitsniveau war, desto kürzer und umfangreicher wurde die Liste der Zugangsberechtigten. Um in das höchste Niveau zu kommen – das »Niveau acht« genannt wurde und in dem Bionovia seine vertraulichsten Unternehmensgeheimnisse versteckte –, war es erforderlich, einen lückenlos dokumentierten Suchpfad vorzulegen. Bereits auf Niveau fünf wurde schon bei der geringsten Unstimmigkeit der Alarm ausgelöst, dabei handelte es sich da meistens nur um einfache Formen von trojanischen Pferden und falsch benutzte Eingabemasken. Aber auch auf Niveau sechs und sieben kam es zu vereinzelten Versuchen, sich etwa über Tastaturspione Zugang zu verschaffen. Laut dem Abteilungsleiter – dem Ibiza-Golfer, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte – war der schwerwiegendste Angriff vonseiten einer neuen Sorte von Spyware gekommen, die vor etwa einem halben Jahr auf Niveau acht herumgeschnüffelt habe. Allerdings war damals jeder erdenkliche Alarm im Haus losgegangen und der Eindringling schnell identifiziert worden: ein vierzehnjähriger russischer Hacker, der mittlerweile in einer Jugendstrafanstalt saß.

Gustaf Horn konzentrierte sich jetzt auf Niveau acht. Die Listen waren mehrfach kontrolliert und bereits archiviert worden. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass andere als die sehr beschränkte Anzahl von Befugten dort eingedrungen waren. Er blätterte durch die Reihen von bereits kontrollierten Ziffern und Buchstaben, überprüfte jedes noch so kleine Zeichen, und ganz plötzlich hatte er das Gefühl, als hätte jemand in ihm einen Schalter umgelegt.

Gustaf Horn hatte sich zeit seines bewussten Lebens mit Computern beschäftigt. Er gehörte zu jener Gruppe von jungen Männern, die sich in ihrer Kindheit und Jugend nur äußerst selten im Freien aufhielten. Statt die sozialen Codes zu erlernen, war er ein Experte in Computercodes geworden. Und sein Umgang mit diesen Codes war mindestens so subtil und nuanciert wie das Vermögen anderer Menschen im sozialen Umgang miteinander. Von außen betrachtet ging es nur um digitale Logik, Einsen und Nullen – und doch war das Entdecken eines Musters für ihn jedes Mal wie ein Mysterium.

Und was er jetzt vor sich sah, war ein solches Muster. Aber es würde zweifellos sehr schwer werden, diesen Umstand zu erklären. Und das ließ ihn zögern. Er wollte niemanden anrufen, er hatte eine ganze Liste von Argumenten, die dagegensprachen. Aber er war gezwungen, es zu tun. Dieses Muster verlangte, dass er sich über seine Sozialphobie hinwegsetzte.

Gustaf Horn öffnete das Skype-Fenster auf seinem Rechner und holte einmal tief Luft. Dann rief er an.

Verschwommene Bewegungen tauchten auf dem Monitor auf, und es dauerte einen Augenblick, ehe er begriff, was sein Chef in der Hand hielt. Es war ein Vierer-Eisen. Die Sonne schien auf den hellgrünen, kurz geschnittenen Rasen, und der Abteilungsleiter schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn und starrte überrascht auf sein Handy.

»Horn?«, sagte er mit einer Skepsis in der Stimme, die Gustaf Horn unter normalen Umständen den Boden unter den Füßen weggerissen hätte. Ihn vernichtet hätte. Aber diese Umstände waren alles andere als normal.

Mit erstaunlicher Leichtigkeit entgegnete Gustaf Horn: »Herr Jägerskiöld. Können wir ungestört reden?«

Die Augen in dem sonnenverbrannten Gesicht blinzelten ein paarmal angestrengt, bevor im Hintergrund ein paar Sätze auf Englisch gewechselt wurden und das Bild gewaltig zu tanzen begann. Nach einer Weile wurde es schattig, wahrscheinlich hatte er sich unter eine Palme gestellt.

»In Ihrem eigenen Interesse sollte es sich um etwas Wichtiges handeln, Horn«, zischte der Mann mit der verbrannten Lederhaut.

»Ich bin mir ganz sicher, dass Bionovia in den letzten sechs Monaten mindestens drei Hackerangriffen ausgesetzt war«, sagte Gustaf Horn.

Jägerskiöld setzte sich offenbar.

»Niveau?«, fragte er, allerdings klang es nicht wie eine Frage.

»Ich hätte mich nicht gemeldet, wenn es sich nicht um Niveau acht handeln würde.«

»Und wenn Sie ›ganz sicher‹ sagen, dann meinen Sie also ...?«

»Ganz sicher.«

Jägerskiöld drehte sein Handy, und Horn hatte fünf Sekunden lang nur die Wurzeln der Palme vor Augen, die sich wurmgleich umeinanderwanden. Dann kam sein Chef zurück in den Bildausschnitt und fragte: »In den letzten sechs Monaten, sagen Sie? Sie müssen entschuldigen, wenn ich so skeptisch klinge, aber wie sollen die unser Sicherheitssystem überwunden haben?«

»Die haben sich sehr clever getarnt«, antwortete Gustaf Horn. »Der Eindringling hat die Identität vorheriger Besucher angenommen. Erst wenn man die Pfade zurückverfolgt, entstehen Diskrepanzen, und die ergeben ein Muster.«

»Aber Sie haben keine Anzeichen von Spyware gefunden?«

»Nein, damit kommt das Programm allein zurecht. Es scheint sich um sporadische Angriffe zu handeln. Eindringen in den Sicherheitsbereich, kopieren, ausloggen. Und es hat nie länger als eine halbe Stunde gedauert. Ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«

Jägerskiöld nickte. Er nickte eine ganze Weile, bis er sagte: »Wenn wir unseren Geschäftsführer in seinem Urlaub auf Ornö stören sollen, dann müssen Sie mir garantieren, dass Sie sich nicht geirrt haben. Garantieren!«

»Ich verstehe«, erwiderte Gustaf Horn und begriff, um was es hier ging.

Sein oder Nichtsein. Weiterzuarbeiten oder nie wieder im ganzen Leben in dieser Branche einen Job zu finden.

»Und?«

»Ich garantiere es.«

»Bleiben Sie dran.«

Gustaf Horn wartete, die abrupte Stille löste eine erneute Unsicherheit in ihm aus. Hat er ein bisschen überreagiert? Hätte er nicht zur Sicherheit noch einmal alles überprüfen sollen? Das Bild auf dem Monitor zitterte und zuckte, und dann tauchte ein zweites Gesicht auf.

Gustaf war Hannes Grönlund, dem Geschäftsführer von Bionovia, bisher nicht persönlich begegnet. Es überraschte ihn, dass der Mann so jung aussah. Er trug einen Hipsterbart und ein T-Shirt, dessen Aufdruck verkündete: My shirt is more ironic than yours. Er saß an Deck eines Bootes, hatte einen blauen Drink in der Hand, und im Hintergrund erkannte Gustaf einen gigantischen schwarzen Außenbordmotor mit mindestens dreihundertfünfzig PS.

»Nein, Peder«, sagte er gerade und nippte an seinem Drink. »Das hatten wir so nicht vereinbart.«

»Höhere Gewalt«, entgegnete Jägerskiöld von dem Videofenster direkt daneben.

Hannes Grönlund stellte seinen Drink beiseite, wedelte ungehalten mit der Hand und verschwand dann aus dem Bild. Nur der klarblaue Himmel war zu sehen. Dann kehrte sein Gesicht zurück, und er sagte: »Leg los.«

»Es gab in den letzten sechs Monaten mindestens drei unentdeckte Zugriffe auf Niveau acht.«

»Sagt wer?«

»Die Sommeraushilfe«, antwortete Peder Jägerskiöld.

»Eine Sommeraushilfe in der IT-Abteilung?«

»Ja. Er ist dem Gespräch zugeschaltet.«

Gustaf Horn spürte, wie sich der Blick des Mannes auf dem oberen rechten Videofenster in ihn bohrte.

»Gustaf Horn mein Name«, stellte er sich vor.

»Und was haben Sie entdeckt?«, fragte Hannes Grönlund knapp.

»Ein Eindringen, wie schon gesagt, aber sehr clever getarnt.«

»Gibt es Anzeichen, von wo?«

»Nein, ich habe so etwas noch nie gesehen. Mir ist nur das Muster aufgefallen. Drei verschiedene Rechner mit Zugangsberechtigung hatten sich eingeloggt – ganz gewöhnliche längere Benutzereinheiten –, aber denen folgten jeweils drei kurze. Und offensichtlich von dem jeweiligen Rechner. Und einer davon ist – ja – Ihrer.«

»Ihrer? Unserer?«

»Ihrer.«

»Meiner?«

»Am 4. März hat sich Hannes Grönlund auf Niveau acht eingeloggt, für zwei Stunden und vierzehn Minuten. Vier Minuten später hat sich derselbe Rechner erneut eingeloggt, dieses Mal nur für zweiundzwanzig Minuten. Als hätten Sie einfach nur eine Kleinigkeit vergessen und würden Ihre Unterlagen vervollständigen. Und dasselbe Muster – auch mit vierminütigem Abstand – wiederholt sich noch an zwei weiteren Stellen.«

»Wie bitte?«, fragte Hannes Grönlund. »Da greift sich jemand die Identität und die Zugangsdaten von demjenigen ab, der gerade eingeloggt war?«

»Ganz genau«, bestätigte Gustaf Horn. »Allerdings scheint das stattzufinden, während derjenige eingeloggt ist. Dann wartet er, bis der Nutzer sich wieder ausloggt, nimmt seine Identität und loggt sich wieder ein. Vier Minuten später.«

»Was zum Teufel ist da los!«, schrie Grönlund auf. »Peder!«

Im linken Videofenster räusperte sich der Sicherheitschef Peder Jägerskiöld. Er hatte nach wie vor seinen Golfschläger in der Hand, diesen aber umgedreht und sein Kinn auf den Schlagkopf gestützt.

»Muster«, wiederholte er nach einer Weile. »Unglaublich gute Arbeit von Gustaf Horn, aber, Hannes, wir müssen jetzt über andere Muster sprechen.«

»Vollkommen richtig«, sagte Hannes Grönlund, »sehr gut beobachtet, Gustaf. Wir werden uns in Kürze darüber unterhalten. Aber Sie dürfen diesen Zwischenfall unter keinen Umständen einem Dritten gegenüber erwähnen. Ich hoffe, das verstehen Sie?«

»Das verstehe ich«, antwortete Gustaf Horn.

»Sehr gut. Wir melden uns in Kürze bei Ihnen, wie wir damit weiter verfahren. Kannst du Gustafs Fenster schließen, Peder?«

»Selbstverständlich«, sagte Jägerskiöld.

Die Inhalte der Videofenster verschwanden vom Monitor. Eigentlich hätte auch die Tonspur verstummen müssen.

Aber das tat sie nicht. Jägerskiöld musste es versäumt haben, sie abzuschalten. Zu Beginn der darauffolgenden Unterhaltung erwog Gustaf kurz, ob er selbst den Ton ausstellen sollte. Aus Gründen der Diskretion. Aber er tat es nicht. Er hörte zu.

»Und so etwas kann also eine Sommeraushilfe bemerken, Peder?«

»Das ist einerseits sehr unglücklich«, erwiderte Jägerskiöld. »Aber andererseits auch wieder nicht.«

»Und inwiefern, bitte?«

»Na, diese Information ist doch quasi tabu. Wenn dieser Jüngling jemals wieder einen Job in der IT-Branche haben will, dann muss er die Klappe halten. Das hat er kapiert.«

»Wie sind die reingekommen?«

»Keine Ahnung. Ich werde mich sofort darum kümmern.«

»Nach dieser Golfrunde?«

»Natürlich nicht. Ich werde mir umgehend eine sichere Verbindung besorgen.«

»Ich wette, es sind die Chinesen«, sagte Grönlund.

»Vermutlich. Der fünfzigste Versuch, oder? Könnte es das Projekt Myo sein?«

»Das liegt auf Niveau acht. Natürlich besteht das Risiko. Aber du hast gesagt, du könntest es schützen.«

»Verdammt«, brüllte Jägerskiöld. »Ihr hättet es auch besser sichern müssen. Aufteilen. Das habe ich ja versucht, euch zu erklären.«

»Du bist nicht wirklich in der Position, mir Vorwürfe zu machen, Peder. Es ist immerhin dein Sicherheitssystem, das hier versagt hat. Aber es ist mein Projekt, das wahrscheinlich gestohlen wurde. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was wir in dieses Projekt Myo investiert haben?«

»Mir ist durchaus bewusst, was da passiert ist.«

»Und wie sieht dein nächster Schritt aus?«

Der Sicherheitschef Jägerskiöld seufzte laut und entgegnete dann: »Tja, wenn es wirklich die Chinesen sind, weiß ich nicht, ob meine Kontakte weit genug reichen.«

»Du kannst doch nicht im Ernst vorschlagen, dass wir uns an die wenden sollen ...«

»Nein, nein, nein, verdammt. So schlimm ist es nicht. Aber ...«

»Aber?«

»Aber unsere Auftragnehmer können uns diesen Teil der Welt nicht vorbehaltlos garantieren.«

»Warum bezahlen wir sie dann?«

»Weil sie die Besten sind. Aber die Chinesen ...«

»Polizei?«

»Nein, ich kümmere mich darum. Wir müssten schnell herausbekommen können, ob es ... ja, ob es das Militär ist.«

»Zwei Tage, Peder. Nicht mehr. Dann gehe ich zur Polizei.«

»Ich habe verstanden«, sagte Peder Jägerskiöld.

Dann verschwanden auch die beiden leeren Videofenster vom Bildschirm in Hornsberg. Gustaf Horn starrte auf den blanken Monitor. Lange saß er so da, bis er den Blick hob und über den Ulvsundasjön gleiten ließ. Und plötzlich befand er sich im Schloss von Hornsberg. Die Königin hatte ihm das Land geschenkt, und er hatte den renommierten Architekten Jean de la Vallée gewonnen, um eine Kopie des Riddarhuset im Westen von Kungsholmen zu errichten. Er saß im obersten Stock seines Schlosses und blickte über die glitzernden Wogen. Für einen sehr kurzen Augenblick war er der Herrscher von Stockholm.

Hornsberg ist mein, dachte Gustaf Horn.

Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Rechner zu.