TANIA CARVER

DER STALKER

Thriller

Aus dem Englischen von
Sybille Uplegger

List

 

Die Originalausgabe erschien 2010

unter dem Titel »The Creeper« bei Sphere/Little,

Brown Book Group, London

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie

etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder

Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

 

 

List ist ein Verlag

der Ullstein Buchverlage GmbH

 

ISBN 978-3-8437-0075-7

 

© 2010 by Tania Carver

© der deutschsprachigen Ausgabe

2011 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ERSTER TEIL

 

1 Anfangs waren es nur Kleinigkeiten.

Dinge, die nicht mehr an ihrem Platz standen. Ein Becher auf dem Abtropfgitter neben der Spüle, von dem sie sicher war, dass sie ihn in den Schrank gestellt hatte. Ein nasses Handtuch im Bad, das eigentlich trocken hätte sein müssen.

Kleinigkeiten.

Verwirrend. Vielleicht sogar beunruhigend.

Aber nicht schlimm genug, um sich Sorgen zu machen.

Hätte Suzanne Perry geahnt, wie weit es gehen, in was für einen Alptraum ihr Leben sich verwandeln würde, hätte sie sich sehr wohl Sorgen gemacht. Mehr als das: Sie wäre so schnell und so weit gerannt, wie sie nur gekonnt hätte.

Suzanne war sechsundzwanzig Jahre alt. Sie lebte allein in einer kleinen Wohnung in der Maldon Road in Colchester und arbeitete als Logopädin im städtischen Krankenhaus. Ein paar Monate zuvor hatte sie sich von ihrem Freund getrennt. Seitdem war sie zwar hin und wieder mit Männern ausgegangen, suchte aber nicht nach etwas Festem.

Im Moment wollte sie einfach nur das Leben genießen.

Einmal die Woche ging Suzanne abends mit ihren Freundinnen weg, zuerst in ein paar Bars in der Stadt, danach vielleicht noch in einen Club. Sie tanzte gern. Sie hörte die Musik, die gerade populär war. In ihrem Wagen liefen Little Boots und Lady Gaga, deren Songtexte Suzanne beim Fahren mitsang. Sie mochte Filme, besonders Komödien. Und essen gehen – wenn sie es sich leisten konnte. An manchen Abenden wünschte sie sich, sie hätte einen Freund, an anderen konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als sich ganz allein mit einem kitschigen Frauenroman, einer Tafel Schokolade und einem Glas Weißwein aufs Sofa zu kuscheln.

Sie war attraktiv und freundlich, und ihrer Meinung nach hatte sie absolut nichts Besonderes an sich.

Aber irgendjemand sah das anders.

Irgendjemand fand, dass Suzanne Perry etwas sehr Besonderes an sich hatte.

Der Alptraum begann Anfang Juni. Suzanne lag in ihrem Bett und schlief. Die Türen waren verschlossen, die Fenster verriegelt. Sie fühlte sich sicher.

Sie irrte sich.

Die dicken schweren Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen, die hölzernen Jalousien waren geschlossen, wie jeden Abend. Suzanne hatte schon als Kind einen leichten Schlaf gehabt und brauchte nachts absolute Dunkelheit und Ruhe. Ihr Schlafzimmer war wie ein Isolationstank, und genau so gefiel es ihr.

Aber in dieser Nacht war etwas anders. Die Dunkelheit war anders. Nicht tröstend und warm, sondern kalt und schwer, als wäre etwas Fremdes in ihren schützenden Kokon eingedrungen. Sie wusste nicht, ob sie träumte oder wachte. Das Zimmer, in dem sie lag, war ihr Zimmer, aber gleichzeitig war es auch nicht ihr Zimmer.

Sie lag auf dem Rücken, den Kopf auf mehrere Kissen gebettet, und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die alptraumhafte Dunkelheit mit ihren tiefen, dumpfen Schatten empor, wo große bedrohliche Schemen auszumachen waren. Sie blinzelte und versuchte, sich zu bewegen. Es gelang ihr nicht. Sie blinzelte erneut. Ihr Kopf, angefüllt mit imaginären Schreien und Flüsterstimmen, pochte wie verrückt.

Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und kam auf sie zu. Ihr Herz begann zu rasen. Sie versuchte, sich auf die Seite zu drehen, von ihm wegzukriechen. Es ging nicht. Ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen.

Ganz langsam nahm der Schatten Form an. Eine Gestalt löste sich aus der Schwärze. Es war eine menschliche Gestalt, massig, mit zwei großen Augen, die so hell leuchteten wie Autoscheinwerfer. Suzanne versuchte, sich vor dem blendenden Licht zu schützen, aber sie konnte den Arm nicht bewegen. Sie kniff die Augen zu. Der Schatten kam näher. Suzanne machte die Augen nicht auf, obwohl ihr Herz nur so hämmerte. Ihr Gehirn setzte einen Befehl an ihren Mund ab: öffnen, schreien. Nichts geschah.

Sie ließ die Lider fest zugekniffen und versuchte, nicht zu atmen. Tat so, als wäre sie gar nicht da. Versuchte, sich zum Aufwachen zu zwingen.

Vergeblich.

Sie öffnete die Augen. Das Traumzimmer drehte sich um sie wie ein pechschwarzes Kaleidoskop. Allmählich wurde alles schärfer, und sie sah den Schatten direkt neben sich, seine leuchtenden Augen seitlich an ihrem Kopf. Sie konnte seinen Traumatem auf ihrer Traumwange fühlen.

Sie schloss die Augen wieder und versuchte, die Lippen zu bewegen, während ein einziger Satz wie eine Beschwörungsformel in ihrem Kopf kreiste: Es ist nur ein Traum … es ist nur ein Traum … es ist nur ein Traum …

Dann begann der Schatten zu sprechen. Tief, gurgelnd und tonlos, ein Rasseln und Keuchen, als ob aus einem Topf das letzte Wasser verdampft. Kehlige, schmerzerfüllte Worte waren es, die sie nicht verstand.

Sie versuchte, den Worten Sinn zu geben, sie zu Sätzen zusammenzufügen. Etwas an ihrem Klang kam ihr bekannt vor, als hätte sie sie in ihrem wachen Leben schon einmal gehört und würde sich an ihre Bedeutung erinnern können, wenn sie nur ganz scharf nachdachte. Doch die Worte entschwanden in die hintersten Winkel ihres Traums und waren unwiederbringlich verloren.

Erneut bewegte sich der Schatten, jetzt schwebte er über ihrem Körper. Er stank nach öligem, giftigem Rauch.

Dann war es auf einmal kein Rauch mehr, sondern wurde fest und grob und unnachgiebig.

Sie hielt den Atem an und versuchte erneut, um Hilfe zu rufen. Nichts. Sie versuchte, ihre Beine anzuziehen und aufzustehen. Nichts. Die Hände hochzunehmen, sie zu Fäusten zu ballen, um den Schatten abzuwehren. Nichts.

Kalte kräftige Hände berührten sie, strichen über ihre Haut. Ihr Traumkörper schreckte zurück und blieb doch wie gelähmt liegen. Ganz langsam wanderten die Hände hinunter zu ihren Schenkeln, zum Saum ihres T-Shirts.

Es ist nur ein Traum … nur ein Traum …

Die Hände schoben ihr das T-Shirt bis über die Hüften hoch.

Nur ein Traum … ein Traum …

Sie kniff die Augen zu, so fest sie konnte.

Erneut begann der Schatten zu sprechen. Wieder dieses bizarre, schmerzerfüllte Gurgeln.

Wach auf … wach auf …

Das Gurgeln wurde lauter, drängender.

Nur ein Traum … bitte, wach doch endlich auf … wach auf …

Dann ein Lichtblitz. Ein Schrei, nicht aus Suzannes Mund.

Dann Stille.

Suzanne schlug die Augen auf. Der Schatten war verschwunden. Sie war wieder allein in der Dunkelheit.

Ihr Herz hämmerte immer noch wie wild, ihr Atem ging schnell und stoßweise. Sie schloss die Augen und versuchte, in eine andere Sphäre des Schlafs abzutauchen. Eine, die tiefer und barmherziger war.

Suzanne schlief.

Durchdringender Lärm krachte in Suzannes Ohren.

Sie fuhr hoch und riss die Augen auf. Sah sich um. Stöhnte. Ihr Schlafzimmer. Sie schloss die Augen wieder.

Der Lärm allerdings war immer noch da. Es war die Stimme des Radiomoderators Chris Moyles, der sie auf seine ganz eigene, zutiefst unsympathische Art und Weise darauf hinwies, dass es Zeit zum Aufstehen war.

Erneut öffnete sie die Augen. Irgendetwas stimmte nicht. Es dauerte einen Moment, bis sie herausgefunden hatte, was es war: Durch den Spalt zwischen ihren Verdunkelungsvorhängen fiel Sonnenlicht.

Suzanne stöhnte wieder. Normalerweise lag sie nach dem Aufwachen noch eine Weile im Bett und genoss die letzten Reste wohliger Schläfrigkeit, die sie noch einhüllten. Sie zögerte den Moment des Aufstehens immer so lange wie irgend möglich hinaus, bevor sie schließlich widerwillig die Decke zurückschob und unter die Dusche ging.

Aber nicht an diesem Morgen. Nicht nach dem Alptraum, den sie gehabt hatte. Heute wollte sie nicht eine Sekunde länger als nötig im Bett bleiben.

Als sie die Bettdecke zurückschlug, merkte sie, dass ihr Arm eingeschlafen war. Sie schwang ihre Beine auf den Boden. Sie schmerzten und fühlten sich schwerer an als sonst, steifer. Als sie versuchte, sich aufzusetzen, wurde ihr schwindlig. Sie blinzelte, als das Zimmer um sie herum einfach nicht stillstehen wollte. Schließlich ließ sie sich zurück aufs Bett fallen.

Sie fühlte sich, als hätte sie am Abend zuvor erst stundenlang im Fitnessstudio geschwitzt und wäre danach mit Zoe und Rosie im Pub versackt. Als wäre sie danach einfach ins Bett gefallen und hätte sich die ganze Nacht über nicht einen Zentimeter von der Stelle bewegt.

Aber natürlich war es nicht so gewesen.

Sie hatte den Abend zu Hause verbracht, Coronation Street im Fernsehen gesehen und dabei einen Schokoriegel gegessen. Ein paar Telefonate, dann ein ausgiebiges Schaumbad. Sie war früh mit einem Kate-Atkinson-Roman ins Bett gegangen. Kein Workout und nur ein kleines Glas Wein. Es war noch ein Rest in der Flasche gewesen.

Suzanne unternahm einen zweiten Versuch aufzustehen, und diesmal gelang es ihr, obwohl ihre Beine zitterten und das Zimmer sich immer noch drehte. Vielleicht habe ich mir was eingefangen, dachte sie. Wahrscheinlich Schweinegrippe. Sie stolperte zum Fenster, stützte sich mit einer Hand auf der Fensterbank ab und zog die Vorhänge auf. Mal sehen, was für ein Tag draußen auf sie wartete.

Aber sie kam gar nicht dazu, aus dem Fenster zu schauen.

Die Jalousien waren hochgezogen, was auch erklärte, warum Licht ins Zimmer gefallen war. An der Fensterscheibe klebte etwas. Sie runzelte die Stirn. Sie verstand weder, was dieses Ding da zu suchen hatte, noch, wieso die Jalousien nicht unten waren. Dann zog sie den Gegenstand vom Fenster ab und betrachtete ihn genauer.

Und spürte, wie ihr Herz ins Trudeln geriet.

Es war ein Foto. Von ihr, wie sie schlief. Das Oversized-T-Shirt, das sie nachts immer trug – dasselbe, das sie jetzt gerade anhatte –, war ihr bis über die Hüften hochgezogen und entblößte ihre Schenkel bis zur Scham.

Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Herz pumpte, als könne es nicht genug Sauerstoff durch ihren Körper schicken. Das Zittern in ihren Beinen wurde stärker.

Sie drehte das Foto um. Die Kehle wurde ihr eng, und Angst durchfuhr sie wie ein Stromstoß. Auf der Rückseite stand etwas in säuberlichen Großbuchstaben geschrieben. Sie las es.

ICH WACHE ÜBER DICH

Mit der Wucht eines Faustschlags kam ihr der Alptraum wieder in Erinnerung. Der Schatten. Die Scheinwerferaugen. Die Stimme.

Hände überall auf ihrem Körper.

In Suzannes Kopf drehte sich alles, ihre Beine gaben nach, ihre Lider schlossen sich flatternd.

Es war kein Alptraum gewesen. Es war wirklich passiert.

Suzanne wurde ohnmächtig.

2 »Tja«, meinte Detective Sergeant Mickey Philips und versuchte sich an einem abgeklärten Grinsen. »Jemand mochte sie wohl nicht besonders …« Das Grinsen verschwand, als sein Gesicht jäh die Farbe verlor und nun eher nach schimmligem Kitt aussah. Er beugte sich über die Reling, und ein Schwall Erbrochenes ergoss sich in den Fluss.

»In die Tüte!« Die Warnung von Detective Inspector Phil Brennan kam zu spät.

»Sorry …« Die Entschuldigung war begleitet von Röcheln und Spucken.

Kopfschüttelnd wandte sich Phil Brennan von seinem Detective Sergeant ab und der Leiche zu. Philips war neu, aber auch sonst hätte er dem Mann seine Reaktion nicht übelnehmen können. In seinen Jahren beim MIS, der Abteilung für Kapitalverbrechen, hatte Phil jede Menge Unangenehmes gesehen, aber der Anblick, der sich ihm an diesem Morgen bot, war definitiv einer der schlimmsten.

Es war die Leiche einer Frau, allerdings sah sie jetzt eher aus wie etwas aus einem Fleischerladen oder Horrorfilm. Schlachthausabfälle. Die Frau war nackt und auf grausamste Weise verstümmelt. Sie war gefoltert worden. Der gesamte Körper, sogar das Gesicht, war kreuz und quer mit Striemen bedeckt, die meisten davon tief. Eine Peitsche, dachte Phil. Ein Messer. Vielleicht sogar eine Kette.

Aber zwei Dinge stachen Phil bei all dieser Verwüstung ganz besonders ins Auge. Das erste war die Vagina der Frau. Sie war noch brutaler zugerichtet als der Rest ihres Körpers, zwischen dessen weit gespreizten Beinen ein Lichtmast aufragte. Das zweite war ein Wort, das der Täter der Leiche in die Stirn geritzt hatte:

HURE

»Ich glaube«, meinte Phil, »hier wollte jemand ganz sichergehen, dass seine Botschaft auch ankommt …«

Er stand an Deck eines alten Feuerschiffs, das im Fluss Colne am King Edward Quay in Colchester festgemacht war. Ein Banner entlang der Frontreling verriet, dass es von den Seekadetten zu Übungszwecken genutzt wurde.

Die beiden Ufer des Flusses schienen zwei komplett unterschiedlichen Welten anzugehören. Diesseits am Kai reihte sich ein eingeschossiges Gebäude ans nächste, allesamt Gewerbebetriebe mit eingezäunten Höfen, von denen keiner so aussah, als würde er viel Geld abwerfen: ein Schrottplatz, eine Autowerkstatt, einige kleine Fabriken. Bunte Schautafeln kündeten weithin sichtbar von Plänen zur städtebaulichen Sanierung.

Auf der gegenüberliegenden Seite standen Apartmentgebäude aus Glas, Metall und Holz, einige kühl und minimalistisch, andere verspielt und farbenfroh. Mit seiner modernen Skyline war das neue Hafenviertel ein Paradebeispiel erfolgreicher Stadtsanierung am Hythe.

Auf der einen Seite die Vergangenheit, auf der anderen die Zukunft, dachte Phil. Alt und verfallen hier, neu und prunkvoll dort. Und dazwischen eine Tote auf einem Feuerschiff.

Phil schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, die ihn schon auf dem Weg zur Arbeit die ganze Zeit gequält hatten. Sein Privatleben hatte hier nichts zu suchen. Er hatte einen Job zu erledigen.

DS Mickey Philips richtete sich ächzend wieder auf. Phil sah ihn an. »Besser?«

Der jüngere Mann nickte. Sein Gesicht war gerötet – teils vor Anstrengung, teils vor Scham. »Tut mir leid. Irgendwann gewöhnt man sich wohl dran.«

Phils Miene verzog sich. »Sobald das passiert, sollten Sie es als Gottes Fingerzeig ansehen, dass es höchste Zeit ist, zu kündigen und als Kaufhausdetektiv bei Marks & Spencer anzufangen.«

»Klar. Verstehe, Boss.« Mickey Philips riskierte einen Blick Richtung Leiche. »Ist das … Glauben Sie, dass sie es ist, Boss?«

Phil folgte seinem Blick. Die ersten Fliegen hatten sich eingefunden, und er verscheuchte sie mit der Hand. Ein sinnloses Bemühen, sie würden bald wiederkommen. »Ich hoffe es«, sagte er. »Ich meine – ich hoffe es natürlich nicht, aber andererseits möchte ich mir auch nicht vorstellen, dass wir es mit zwei verschwundenen Frauen zu tun haben.«

Mickey nickte.

Phil wandte sich ab und sah nach oben. Die Sonne stand bereits hoch. Der Himmel war so strahlend blau wie das Ei eines Rotkehlchens, die Luft voller Wärme und Verheißung. Doch für Phil warf das hellste Licht die dunkelsten Schatten. Er sah alles mit den Augen eines Detectives. Er konnte das nicht ändern, seine Arbeit brachte es mit sich. Wo andere die Lebenden sahen, sah er die Toten. Oft hatte er sogar das Gefühl, dass die Geister der Toten zu ihm sprachen und ihn um Gerechtigkeit und Frieden anflehten. Auch jetzt hörte er eine Stimme im sanften Knarren des schaukelnden Bootes: Finde ihn, damit ich ruhen kann.

Julie Miller war am Donnerstag der Vorwoche verschwunden. Vor zwölf Tagen.

Phil hatte nicht direkt mit dem Fall zu tun gehabt, da eine gewöhnliche Vermisstensache nicht unter die Zuständigkeit des MIS fiel, es sei denn, es bestand der Verdacht, dass ein Verbrechen im Spiel war. Aber er hatte davon gehört. Miller war Ende zwanzig, hatte einen festen Freund und arbeitete als Ergotherapeutin im Colchester General Hospital. Besaß eine Eigentumswohnung und einen Kleinwagen. Eines Abends war sie spurlos verschwunden. Die Polizei war der Sache nachgegangen und hatte in ihrer Wohnung keinerlei Hinweise auf einen Kampf, eine gewaltsame Entführung oder gar auf Mord gefunden. Der verzweifelte Freund war ausgiebig befragt und anschließend freigelassen worden. Polizisten hatten stundenlang Videomaterial der städtischen Überwachungskameras gesichtet, das Julie auf dem Weg zur und von der Arbeit zeigte. Nichts. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

Julie Miller war jung, hübsch, weiß und bürgerlich – das Lieblingsprofil der Presse. Entsprechend schnell klinkten sich die Medien in den Fall ein, sendeten Aufrufe, zeigten Fotos. Julies Eltern und ihr Freund hatten sogar eine Pressekonferenz gegeben und unter Tränen an die junge Frau appelliert, nach Hause zurückzukommen. Doch es gab immer noch kein Lebenszeichen von ihr.

So was passiert häufiger, als man meint. Dass Menschen einfach verschwinden. Derlei Worte waren kein Trost für ihre Eltern, dennoch hörten sie sie wieder und wieder. Stets dieselbe Erklärung, die keine war. Entweder sie taucht irgendwann von selbst wieder auf, sagten die Leute, oder nicht. Niemand wusste, was man sonst noch tun sollte, außer darauf zu hoffen, dass Julie bald eine Postkarte aus einem fernen, heißen Land schicken würde.

»Und? Ist das unsere Ausreißerin?« Detective Chief Inspector Ben Fenwick kam den Steg herauf, und nicht einmal sein Papieroverall nebst Latexhandschuhen, Schuhüberziehern und Kapuze konnte ihm etwas von seiner Selbstgefälligkeit nehmen.

»Ich denke schon, Sir«, antwortete Phil, der wusste, dass Fenwick nichts lieber mochte, als mit »Sir« angesprochen zu werden, weil das den Anschein von Unterwürfigkeit erweckte. »Ich meine, ich hoffe es.«

Fenwick nickte, das Gesicht eine Maske professionellen Ernsts. »Ja. V-erstehe«, sagte er, stellte sich neben Phil und zuckte zusammen, als sein Blick auf die Leiche fiel. »Nicht auszudenken, wenn es noch eine gäbe, was?«

Wenige Minuten zuvor hatte Phil genau denselben Gedanken geäußert – aus Sorge um das potentielle Opfer. Fenwick, das wusste Phil aus Erfahrung, hatte es getan, weil er um seine Statistiken besorgt war.

Phil mochte Fenwick nicht – eine Abneigung, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Ihrer Arbeit zuliebe hatten sie allerdings eine Art Waffenstillstand geschlossen. Da Phil engagiert und intelligent war und zuverlässig Ergebnisse lieferte, ertrug Fenwick seinen aufmüpfigen Untergebenen als notwendiges Übel. Phil seinerseits hielt Fenwick für einen Heuchler. Er vertrat alles, was gerade offiziell als politisch korrekt galt, und redete von Fortschritt und Chancengleichheit bei der Polizei, aber unter seinem maßgeschneiderten Anzug und seinem teuren Haarschnitt war er genauso reaktionär und verschlagen wie die ältesten Dinosaurier im Polizeiapparat.

Erst jetzt fiel Phil auf, dass Fenwick eine Begleiterin mitgebracht hatte, die, ebenfalls im Overall, neben ihm stehen geblieben war. Fenwick wandte sich ihr zu.

»Das hier ist Detective Sergeant Martin. Rose Martin. Sie hat die Vermisstensache bearbeitet.« Fenwick lächelte breit. »Sie ist hier, um ihre Expertenmeinung abzugeben.«

DS Rose Martin trat vor, bedachte Phil und Mickey zur Begrüßung mit einem knappen Lächeln und blickte auf die Leiche hinunter. Instinktiv zuckte sie zurück und schaute weg. Phil befürchtete schon, sie würde genauso reagieren wie Mickey, doch sie hatte sich sofort im Griff, blickte wieder hin und bückte sich, um besser sehen zu können. Phil bewunderte sie dafür. Mickey hingegen, so schien es, nahm ihre Gelassenheit ein wenig verstimmt zur Kenntnis.

»Und, was meinen Sie?«, wollte Phil wissen. »Sie kennen sie besser als wir. Ist sie es?«

Rose Martin richtete sich auf. Den Blick weiterhin auf die Leiche gerichtet, nickte sie. »Ich glaube schon. Ja, ich würde sagen, das ist Julie Miller.«

Phil nickte.

Sein Privatleben würde definitiv warten müssen.

3 Phil betrachtete seine schwitzenden Kollegen. Er war sich bewusst, was für ein gespenstisches Bild sie abgeben mussten: die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, Handschuhe an den Händen, Überzieher an den Füßen. Druiden des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die an einem modernen Opferaltar huldigten.

»Nun, eine natürliche Todesursache können wir wohl ausschließen«, versuchte sich Fenwick an einem Scherz.

Niemand lachte.

»Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen«, erwiderte Mickey Philips und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Natürlicher geht’s doch wohl nicht.«

Phil sah seinen neuen DS scharf an. Auf den ersten Blick ließ der Kommentar vor allem auf eins schließen: dass Philips nach dem peinlichen Zwischenfall von eben wieder zu alter Lässigkeit zurückgefunden hatte. Seine Augen jedoch sagten etwas anderes. Die scheinbar flapsige Bemerkung war eine ernstgemeinte Antwort auf Fenwicks geschmacklosen Witz gewesen. Prompt wurde der junge Mann Phil ein wenig sympathischer.

»Phil«, sagte Fenwick laut im Bemühen, Autorität zu demonstrieren. »Ich möchte, dass Sie die Ermittlungen in diesem Fall leiten.«

Phil nickte.

»Und ich halte es für eine gute Idee, wenn Rose – also DS Martin – mit von der Partie ist. Sie hat schon seit knapp einer Woche mit dem Fall zu tun. Weiß, wie der Hase läuft.«

Wie der Hase läuft, dachte Phil. Fürst Floskel reitet wieder.

»Okay.« Normalerweise legte Phil Wert darauf, seine Teammitglieder selbst auszusuchen, weil er sich hundertprozentig sicher sein wollte, dass er ihnen vertrauen konnte. Allerdings sah er ein, dass Fenwick recht hatte.

»Gut. Ich kümmere mich um die Presse und lasse Sie Ihre Arbeit machen. Bericht erstatten Sie wie üblich mir und dem Super in Chelmsford.«

»Die Presse? Wollen wir damit an die Presse gehen?«

Fenwick runzelte die Stirn. »Besser, wir warten die endgültige Identifizierung ab, bevor wir Namen rausgeben. Schließlich wollen wir nichts übers Knie brechen, stimmt’s?«

Übers Knie brechen. »Natürlich nicht.«

»Gut. Dann lasse ich Sie mal machen.«

Fenwick verabschiedete sich. Phil fiel auf, dass er dabei seine Hand ein paar Sekunden länger auf Rose Martins Rücken liegen ließ, als angemessen gewesen wäre.

»Also gut«, sagte Phil und stellte seine Teammitglieder einander vor. »Dann sind Sie also mit dabei. Vielleicht bekommen wir später noch Verstärkung durch Anni, aber das ist noch nicht sicher. Lassen Sie uns anfangen. Was fällt Ihnen spontan ein?«

Phil legte Wert darauf, die erste Teambesprechung noch am Tatort durchzuführen, damit alle Beteiligten Ideen und Eindrücke austauschen konnten.

»Zuallererst sollten wir überlegen, was uns der Tatort verrät. Was ist hier wichtig?«

»Sie meinen, ob sie mit Absicht so hingelegt wurde?«, fragte Rose Martin mit gerunzelter Stirn.

»Genau.« Phil betrachtete wieder die Leiche. »Ihr Kopf zeigt nach vorn …«

»Zum Bug«, warf Mickey dazwischen. Phil sah ihn an, und Mickey wurde rot. »Bug – so nennt man das vordere Ende vom Schiff. Mein Vater hat mich als Kind manchmal zum Segeln mitgenommen …«

Phil überraschte sich selbst mit einem Lächeln. »Wirklich?«

Mickey zuckte die Achseln. »Ja, aber ich hab’s gehasst. Musste jedes Mal kotzen.« Er grinste schief. »Daran hat sich ja nicht so viel geändert.«

»Zur Sache«, mahnte Phil. »Ihr Kopf zeigt also in Richtung Bug. Sie liegt im rechten Winkel zur Kabine und zum Lichtmast. Ihre Beine sind gespreizt.« Er sah die anderen beiden fragend an. »Ist das Absicht? Wollte der Mörder, dass wir sie genau so finden? Oder ist das bloß Zufall?«

»Ich finde, es sieht auf jeden Fall nach Absicht aus«, meinte Rose. »Der Täter hätte die Leiche einfach abladen können, stattdessen hat er sich die Zeit genommen, sie so hinzulegen.«

Mickey zeigte auf das hölzerne Deck. »Da sind Abriebspuren von Schuhsohlen. Meinen Sie, die könnten vom Täter stammen?«

»Möglich wäre es«, meinte Phil. »Vielleicht hat er eine gewisse Zeit gebraucht, um die Leiche genau so abzulegen, wie er sie haben wollte. Da ist außerdem noch Blut – Schmierspuren, wo er sie bewegt hat.«

»Ein einzelner Täter, Boss? Oder könnten es auch mehrere gewesen sein?«

Phil zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Sie ist zierlich. Einer allein hätte vielleicht Mühe gehabt, aber es wäre machbar gewesen. Zwei hätten sie natürlich mit Leichtigkeit tragen können.«

»Zwei Killer, die im Team arbeiten?«, sagte Rose. »Vergewaltiger und Mörder?«

»Wir wissen noch nicht, ob sie vergewaltigt wurde, Rose.«

»Liegt aber nahe«, meinte Mickey und deutete auf das verstümmelte Geschlecht der Toten. Er musste schlucken.

»Also war es eine sexuell motivierte Tat?«, fragte Phil.

Rose sah sich auf dem Schiff um. »Die Beine gespreizt, dazwischen ein riesiger Lichtmast? Freud für Anfänger, würde ich sagen.«

»Sieht ganz so aus, aber wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Warten wir ab, was Nick Lines zu sagen hat. Was wir in jedem Fall mit Sicherheit wissen, ist, dass sie nicht hier getötet wurde. Dazu ist hier nicht genug Blut. Und ich denke, es muss einen Grund geben, warum sie ausgerechnet hier abgelegt wurde.«

»Ihre Wohnung«, versetzte Rose.

Phil sah sie wartend an.

Rose zeigte über den Fluss hinweg zu einem der Apartmentkomplexe auf der anderen Seite. »Sie hat da drüben gewohnt. Ich glaube sogar, man kann das Schiff von ihrem Fenster aus sehen.«

Phil spürte das altbekannte Kribbeln im Bauch, das sich immer dann einstellte, wenn Informationen sich langsam zu einem Muster zusammensetzten. Noch wussten sie nicht, was es zu bedeuten hatte, doch er war sich sicher, dass die Sache mit der Wohnung wichtig war.

Er nickte. »Also doch mit Absicht.«

»Außerdem besteht wohl kein Zweifel daran, dass der Täter ein Frauenhasser war«, meinte Rose, die sich alle Mühe gab, nicht auf die Buchstaben zu schauen, die in die Stirn der Leiche geritzt waren.

»Ja, davon können wir ausgehen.« Phil warf einen Blick auf seine Uhr. »Ist die CSI schon unterwegs?« Er hatte keine Ahnung, was an dem Wort »Spurensicherung« so falsch sein sollte, aber seit die Serie CSI ihren Siegeszug über die Fernsehbildschirme der Welt angetreten hatte, bestand man im Präsidium darauf, mit der Zeit zu gehen und entsprechende Abkürzungen zu verwenden.

Rose nickte. »Ben hat sie vom Auto aus angerufen.«

Ben, dachte Phil.

»Wahrscheinlich haben sie unterwegs angehalten, um sich ein Eis zu kaufen«, meinte Mickey und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Phil ignorierte den Kommentar. »Niemand fasst was an«, sagte er dann und blickte dabei ausdrücklich seinen DS an. »Keinen Schweiß und erst recht kein Erbrochenes mehr. Gehen wir an Land, dann können die Kollegen den Tatort sichern.«

Die drei überließen den Uniformierten das Feld. Die Straße wurde gesperrt, gelbes Flatterband über sämtliche Zufahrtswege gespannt, der Verkehr gestoppt und umgeleitet. Die Spurensicherung ging bei jedem Tatort zunächst immer vom größtmöglichen Gebiet aus und rückte dann, wie ein Raubtierrudel in Weiß, das den Kreis um seine Beute immer enger zieht, Stück für Stück nach innen vor, um mit Hilfe ebenso arbeitsintensiver wie geheimnisvoller Prozesse zu rekonstruieren, wie die Leiche dorthin gekommen war und wer sie dort abgelegt hatte. Mit etwas Glück lieferten sie sogar Hinweise darauf, wie der Täter gefasst werden konnte.

Auf einer Bank aus Holz und Beton saß ein Mann im blauen Polohemd vor einem Wandbild zur Stadterneuerung. Er war jenseits der fünfzig und hatte schütteres Haar. Sein untrainierter Bauch hing über den ächzenden Bund seiner Arbeitshose. Der Mann sah ziemlich mitgenommen aus. Als Phil sich näherte, stand die Streifenpolizistin, die neben ihm gesessen hatte, auf und kam auf ihn zu.

»Ist das der Zeuge, der sie gefunden hat?«, fragte Phil.

Die Polizistin nickte.

»Hat er schon eine Aussage gemacht?«

Sie nickte wieder. »Er wollte seine Werkstatt aufmachen, so wie jeden Morgen. Hat Möwen gesehen – ungewöhnlich viele, meinte er –, die sich auf dem Deck des Schiffs versammelt haben. Er ist rübergegangen, um sie wegzuscheuchen, und dabei hat er die Leiche entdeckt.«

»Hat er sonst noch was gesehen oder gehört? Ein Fahrzeug? Verdächtige Personen?«

Sie blickte den Kai hinab. »Sie wissen doch selbst, was das hier für Firmen sind. Die leben von verdächtigen Personen.«

Phil seufzte. »Auch wieder wahr. Befragen Sie ihn trotzdem noch mal. Vielleicht erinnert er sich noch an irgendwas, man weiß ja nie. Danke.«

Die Polizistin nickte und wandte sich wieder dem wartenden Mann zu. Phil ging zurück zum Schiff. Vom Land aus war die Leiche nicht sichtbar, weil der erhöhte Rand des Boots sie verdeckte, aber er wusste, dass sie da war.

Mickey Philips gesellte sich zu ihm. Er hatte die Kapuze seines Papieroveralls noch immer tief in die Stirn gezogen, und sein Blick war genauso hochkonzentriert wie Phils. Seinen vorherigen Detective Sergeant hatte Phil unter tragischen Umständen verloren. Clayton Thompson war bei der Arbeit ermordet worden – eine Tat, die sein gesamtes Team tief erschüttert hatte. Ihm war klar, dass Mickey darüber Bescheid wusste und dass seine Scherze und seine aufgesetzte Lässigkeit, wie deplatziert sie manchmal auch sein mochten, einfach nur von seinem Wunsch herrührten dazuzugehören.

Phil musterte ihn flüchtig von der Seite. Mickey öffnete den Reißverschluss seines Overalls und zog sich das schweißfeuchte Hemd von der Brust, um für ein wenig Belüftung zu sorgen. Er war kräftig und muskulös gebaut wie ein Rugbyspieler. Ein glattrasierter, domestizierter Bulle. Er war so gekleidet, wie man es von einem Detective erwartete: gutsitzender dezenter Anzug. Glattlederne Schuhe. Kurzhaarschnitt. Sogar Manschettenknöpfe. Phil selbst sah unter seinem Papieroverall ganz anders aus: Jeans, Superdry-Sneaker, geblümtes Hemd, darüber ein Sakko. Das Haar lässig zerstrubbelt. Als er von der Streife zum MIS gewechselt war, hatte er sich geschworen, dabei nicht eine Uniform gegen die nächste einzutauschen. Und er war seinem Vorsatz treu geblieben. Für seine Verhältnisse war er an diesem Tag sogar einigermaßen konservativ gekleidet.

Wenig später kam auch DS Rose Martin zu ihnen. Sie hatte ihren Overall bereits ausgezogen, und Phil konnte sie zum ersten Mal richtig betrachten. Sie war groß und grobknochig, dabei aber schlank und durchtrainiert. Ihre glatten schwarzen Haare waren zu einem langen Bob geschnitten, dessen Pony ihr bis über die Augenbrauen hing. Mit Jeans, T-Shirt, Stiefeln und der kragenlosen Designer-Bikerjacke aus Leder schien sie zumindest rein äußerlich viel eher Phils Stil zu entsprechen als Mickey Philips‘. Aber das Äußere eines Menschen konnte täuschen, das wusste er.

Hoffentlich würde es zwischen den beiden nicht zu Spannungen kommen. Er hatte bereits genug Ärger mit Anni. Sie hatte sich um eine Beförderung zum Detective Sergeant bemüht und war gescheitert. Jetzt gab sie ihm die Schuld daran. Am Morgen hatte er noch versucht, sie anzurufen, damit sie mit ihm zum Tatort rausfuhr, aber sie war bereits wegen einer anderen Angelegenheit unterwegs gewesen. Er fragte sich, ob sie ihm absichtlich aus dem Weg ging.

Er konnte nur hoffen, dass die Mitglieder seines neuen Teams eventuelle Differenzen beiseiteschieben und an einem Strang ziehen würden. Nun, sie würden es müssen. Er würde schon dafür sorgen, das war seine Aufgabe.

»Okay. Noch irgendwelche Fragen, bevor wir anfangen?«

»Boss …«, begann Mickey.

»Ja, Mickey?«

»Na ja …« Er sah zum Schiff hinüber, dann wieder zu Phil. »Ich dachte nur – ich weiß, dass ich neu hier bin, und im Rauschgiftdezernat hatten wir mit solchen Sachen natürlich nichts zu tun, aber ich finde, das hier sieht ziemlich ernst aus. Als wäre es keine Einzeltat, sondern der Beginn einer Serie. Wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Sollten wir nicht vielleicht überlegen, ob wir uns einen Profiler dazuholen?«

»Das wäre vorstellbar«, antwortete Phil.

»Kennen Sie denn welche?«, wollte Rose wissen.

»Ein oder zwei«, entgegnete Phil. »Besonders eine.«

»Wollen wir sie anrufen?«, fragte Mickey.

Phil schwieg. Marina Esposito war die beste Profilerin, mit der er je zusammengearbeitet hatte. Sie war auch seine Lebensgefährtin. Seine Seelenverwandte. Die Mutter seines Kindes. Und die Ursache seiner Probleme, die er seit dem Morgen krampfhaft versuchte zu vergessen. Seit einiger Zeit verhielt sie sich ihm gegenüber so seltsam, war distanziert und einsilbig. Er kam nicht an sie heran. Und dann immer diese Heimlichtuerei: wo sie hinging, was sie machte. Irgendetwas stimmte nicht. Er musste herausfinden, was es war, musste unbedingt mit ihr reden. Die Sache aus der Welt schaffen. Es hatte sie beide zu viel gekostet zusammenzukommen. Er würde nicht zulassen, dass irgendetwas sie auseinanderbrachte.

»Im Moment eher nicht«, sagte er schließlich. »Sie … hat viel zu tun. Sonst noch was?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Gut. Ach, eine Sache noch.«

Sie sahen ihn erwartungsvoll an.

»Willkommen beim MIS«, sagte Phil.

4 »Hi.«

Marina Esposito setzte sich auf den bereitstehenden Stuhl und musterte den Mann ihr gegenüber. Er war still, sein Gesicht und seine Haltung wirkten entspannt, als höre er ihr zu. Sie lächelte ihn zögerlich an.

»Der Verkehr war grauenhaft«, stöhnte sie. »Stau um den ganzen Bahnhof. Aus irgendeinem Grund haben sie den Verkehr umgeleitet.« Sie seufzte, um ihre Gehemmtheit zu überspielen. »Aber jetzt bin ich ja da. Ich wollte unseren Termin nicht verpassen.«

Sie trug einen langen schwarzen Leinenrock und ein weißes Top, ebenfalls aus Leinen. Dazu dezenten Schmuck. Eine Sonnenbrille mit großen Gläsern war in ihre dunklen Locken geschoben. Es tat gut, aus dem Haus zu kommen. Sich hübsch zu machen. Egal, wofür. Selbst um hierherzukommen.

Marina rückte sich den Stuhl zurecht. Die Fenster waren geöffnet. Die frühsommerlich warme Luft und die Morgensonne verliehen dem anonymen Zimmer eine ungewohnte Wärme und Freundlichkeit.

»Also dann …« Sie seufzte erneut. Dann fielen ihr Dinge ein, die noch erledigt werden mussten, bevor sie anfing. Verrichtungen, die ihr halfen, ihre Gedanken zu ordnen. Sie stellte ihr Handy auf stumm, ordnete den Inhalt ihrer Handtasche und wunderte sich über einige Dinge, die sie darin fand, bevor sie sie schließlich auf den Boden stellte. Steckte sich die Haare hinter die Ohren, zog den Ausschnitt ihres Tops gerade und ließ ein wenig Luft von oben hinein, um sich Kühlung zu verschaffen. Irgendwann, als ihre Hände nichts mehr fanden, womit sie sich hätten beschäftigen können, landeten sie in ihrem Schoß wie abgestürzte Vögel. Das Gespräch konnte beginnen.

»So …« Sie sah ihn an. Seine Miene war unbewegt. Abwartend. »Dann fange ich mal an. Es läuft … gut. Ja«, sagte sie, wie um sich selbst davon zu überzeugen. »Richtig gut. Josephina geht es auch gut. Ich habe sie bei ihren … bei Don und Eileen gelassen. Sie sind ganz vernarrt in sie, deswegen passen sie heute Vormittag auf sie auf.«

Marina seufzte. Worte taumelten durch ihren Kopf. Sie griff nach ihnen, hielt sie fest, hoffte, dass sie die richtigen eingefangen hatte. »Ich … eigentlich läuft alles gut. Seit wir … seit unserem … seit ich das letzte Mal hier war. Alles in Ordnung.« Sie nickte. »Ja.«

Wieder ein Seufzer. Draußen schob sich eine Wolke vor die Sonne. Schlagartig war die Sommerhelligkeit verschwunden, die Wände waren wieder grau und trist, und der Raum verwandelte sich in das zurück, was er in Wirklichkeit war: ein anonymes Sterbezimmer.

»Nein«, sagte sie, als hätte die Veränderung der Lichtverhältnisse auch ihre aufgesetzte Heiterkeit vertrieben und nur noch bittere Aufrichtigkeit zurückgelassen. »Es läuft nicht gut. Ich meine, Phil und ich, wir verstehen uns super. Na ja – wir verstehen uns. Wir haben ja jetzt das Baby, und sie ist wirklich so süß, und das neue Haus. Das sind alles positive Dinge. Aber da ist immer noch … na ja … das andere.«

Sie wartete darauf, dass das Sonnenlicht zurückkehrte. Es kam nicht. Sie fuhr fort.

»Diese Angst. Davon sagt einem vorher keiner was. Diese Panik. Man hat dieses winzige Baby, dieses … ein menschliches Leben …« Sie krampfte die Hände ineinander und sah auf sie herab, als hielte sie in ihnen ihre unsichtbare Tochter. »Und man ist komplett dafür verantwortlich. Man muss sich kümmern, jede Sekunde. Man hat ein Kind auf die Welt gebracht, und jetzt muss man ihm helfen zu leben.«

Sie löste ihre Hände voneinander und sah zu ihm auf.

»Entschuldigung. Das willst du sicher alles gar nicht hören.« Wieder ein Seufzen. »Da ist nämlich auch noch diese andere Sache. Das hier …« Die Worte sprudelten immer schneller. Jetzt endlich kam das, was sie die ganze Zeit hatte sagen wollen. »Ich kann … ich kann mich einfach nicht darüber freuen. Über gar nichts mehr. Da ist immer dieser Schatten über allem. Wie … ein Damoklesschwert. Du weißt schon, was ich meine. Manchmal vergesse ich es, und dann bin ich für einen Moment lang glücklich. Nur für einen kurzen Moment. Dann kann ich loslassen. Endlich wieder lachen. Aber dann fällt es mir wieder ein, und alles geht von vorne los. Und ich kann …« Ihre Hände waren ausgestreckt, die Finger gekrümmt, als wolle sie die Lösung ihres Problems aus der Luft greifen. Sie wurde leiser. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich nie etwas daran ändern wird. Dann denke ich: Das war es jetzt. So wird es ab jetzt immer sein.«

Sie sah sich um. Die Sonne war zurückgekehrt und mit ihr die Wärme, aber Marina merkte nichts davon. Ihr war kalt. Da war kein Licht, nur Dunkelheit.

»Und damit kann ich einfach nicht leben.«

Sie verstummte. Wartete auf eine Reaktion. Es kam keine. Sie fasste sein Schweigen als Ermunterung auf fortzufahren.

»Ich bin selbst schuld, das weiß ich ja. Nur ich, sonst niemand. Und …« Wieder griffen ihre Hände in die Luft. Ihre Finger bewegten sich ruhelos, als wollten sie frei sein und davonfliegen. »Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll …«

Sie hielt inne.

»Ich habe die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen. Zu Recht – es ist ja auch alles meine Schuld. Was passiert ist. Was schiefgelaufen ist – alles meine Schuld. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll, um etwas daran zu ändern. Ich muss … ich will, dass es endlich nicht mehr so weh tut. Ich muss wissen, was ich tun soll. Was das Beste ist.«

Die Tränen kamen, wie immer an diesem Punkt. Marina beugte sich vor und griff nach seiner Hand. Er ließ es zu. So saß sie, bis es Zeit war zu gehen.

Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen, holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche, betupfte sich die Augen, putzte sich die Nase. »Ich komme bald wieder. Danke fürs Zuhören.«

Sie öffnete den Mund, als wolle sie noch etwas hinzufügen, schloss ihn dann aber wieder. Der Gedanke blieb unausgesprochen, Worte blieben ungesagt. Sie schüttelte den Kopf, schob sich die Sonnenbrille vor die Augen, drehte sich um und verließ das Zimmer.

»Ms Esposito …«, hallte eine Stimme über den Gang, begleitet von Schritten, die auf sie zuhielten.

Marina blieb stehen und drehte sich um. Jemand von der Pflegedienstleitung. Sie kannte die Frau, hatte nichts gegen sie, fühlte bei ihrem Anblick aber dennoch eine unerklärliche Irritation, fast Wut. Marina wartete, bis die Frau sie eingeholt hatte. Sie sah sie an, machte jedoch keine Anstalten, die Sonnenbrille abzunehmen.

Die Frau sah zu der Tür hinüber, aus der Marina soeben gekommen war. »Wie war …«

Marina holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Sagte nichts. Sie war froh, dass die Frau ihre Augen nicht sehen konnte.

Die Frau senkte die Stimme. »Ich möchte nicht … Sie kommen schon so lange hierher. Länger, als wir normalerweise erlauben würden.«

»Ich weiß.« Marinas Stimme hörte sich an wie ein rostiges Getriebe.

»Sie müssen – ich will ganz offen sein. Lange kann die Situation nicht so weitergehen. Sie müssen eine Entscheidung treffen. Sehr bald.«

Marina nickte stumm, weil sie ihrer Stimme nicht trauen konnte.

»Wenn Sie möchten, können wir vorher gerne noch ein Gespräch führen …«

»Nein. Nein, ich … es ist schon gut. Ich kann mich allein entscheiden.«

Die Frau wirkte erleichtert. »Wenn Sie meinen. Aber wir können auch –«

Marina wandte sich ab. »Ich weiß. Ich muss jetzt los, meine Tochter abholen.«

Sie eilte den Gang entlang und hinaus ins Freie. Draußen schien die Sonne, doch sie nahm sie nicht wirklich wahr. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging Marina schnell davon.

Sie musste Josephina abholen.

Sie musste eine Entscheidung treffen.

Sie musste ihr Leben wieder in den Griff bekommen.

5 »So, war es das jetzt?«

»Fast.« Detective Constable Anni Hepburn warf einen Blick auf ihre Notizen. »Nur noch ein paar Kleinigkeiten. Könnten Sie mir den Ablauf noch einmal schildern, und zwar von dem Zeitpunkt an, als Sie aufgewacht sind? Damit ich sicher bin, dass ich nichts vergessen habe?«

Sie saß im Wohnzimmer einer kleinen Wohnung. Auf dem Sofa ihr gegenüber befand sich Suzanne Perry. Sie trug ein Oversized-T-Shirt und darüber einen Bademantel, den sie sich fest um den Körper geschlungen hatte. In dem Kaffeebecher, den sie mit beiden Händen umklammert hielt, war nur noch ein Rest. Sie ließ ihn im Becher kreisen und sah der Bewegung wie gebannt zu. Ihr Blick klebte förmlich an dem Becher, als hätte sie Angst, irgendwo anders hinzusehen.

Sie seufzte. »Aber ich hab doch schon –«

»Ich weiß. Bitte. Ein allerletztes Mal.« Annis Stimme war mitfühlend und sanft, hatte aber einen strengen Unterton, der deutlich machte, dass man ihren Aufforderungen Folge zu leisten hatte. Sie hatte sich das nicht bewusst erarbeitet, es hatte sich ganz von selbst entwickelt, bis es schließlich zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil ihrer Identität als Polizistin geworden war.

Suzannes Lider fielen langsam zu, und ihr Kopf sackte nach vorn. Dann fuhr sie plötzlich zusammen und blickte mit weit aufgerissenen Augen blitzschnell durchs Zimmer, als hielte sie Ausschau nach etwas – oder jemandem –, der sich in den Schatten versteckt hielt. Anni bemerkte es und versuchte, sie zu beruhigen.

»Es ist alles in Ordnung. Hier ist niemand außer mir.«

Zwei Leute von der Kriminaltechnik hatten akribisch Suzannes Schlafzimmer, den Flur sowie sämtliche Ein- und Ausgänge nach Spuren des mutmaßlichen Eindringlings abgesucht. Ihrem Tonfall und ihren Mienen nach zu urteilen, glaubten sie nicht daran, dass sie etwas Verwertbares finden würden.

Anni ging ihre Notizen durch und musterte erneut die Frau auf dem Sofa. Suzanne Perry war von Beruf Logopädin und arbeitete im Colchester General Hospital. Es war ihre erste Stelle, nachdem sie an der University of Essex ihren Abschluss gemacht hatte. Sie war groß, schlank, hatte dunkle Haare und einen leicht mediterranen Hautton. Aber das Erste, was einem Betrachter auffiel, waren ihre Augen. Klare braune Augen, die selbst tränenfeucht und rotgerändert noch wunderschön aussahen.

Suzannes Wohnung lag in der Maldon Road im obersten Stockwerk eines alten edwardianischen Hauses, das im Zuge seiner Renovierung in mehrere Apartments aufgeteilt worden war. Die Wohnung war großzügig geschnitten und verfügte über einige schöne historische Details, die Einrichtung allerdings mit ihren Selbstbau-Bücherregalen, Beanbags, bunten Teppichen und Bridget-Riley-Kunstdrucken an der Wand sah eher aus wie die IKEA-Version einer Sechzigerjahre-Pop-Art-Wohnwelt. Trotzdem erkannte Anni hier und da bereits Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass das bunte Durcheinander früher oder später einem reiferen Stil weichen würde. Diese Entwicklung war typisch für den Übergang vom Studentendasein zum Berufsleben. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte sie einrichtungstechnisch die gleiche Phase durchgemacht.

Der Fall Suzanne Perry war für Anni wie maßgeschneidert. Als Detective Constable beim MIS war sie auf Vergewaltigungsfälle und sexuellen Missbrauch von Kindern spezialisiert und darüber hinaus für Situationen ausgebildet, in denen die Anwesenheit eines männlichen Kollegen sich als hinderlich erweisen könnte. Außerdem bot sich ihr auf diese Weise die Möglichkeit, Phil aus dem Weg zu gehen, was angesichts der Spannungen, die seit einiger Zeit zwischen ihnen herrschten, sicher nicht das Schlechteste war.

»Also.« Anni konzentrierte sich wieder auf die Befragung. »Sie sind aufgewacht …«

»Nein, es war davor.« Suzanne Perry stellte ihren Kaffeebecher auf einem Regalbrett ab, ließ ihn aber nicht aus den Augen, als sei er ein Talisman und sie auf seine schützende Aura angewiesen. »Als ich noch geschlafen hab. Ich dachte … ich hatte plötzlich das Gefühl, als wäre jemand in meinem Zimmer.«

»Während Sie geschlafen haben.«

»Ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich hab geschlafen. Aber dann … dann hab ich es gespürt …«

»Es?«

»Ihn. Ich hab ihn gespürt. Seine Hände waren auf mir …« Sie erschauerte.

Anni wartete.

»Und ich konnte mich nicht bewegen.«

Erneutes Erschauern. Anni befürchtete, dass Suzanne jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen würde. Zwei Mal war es bereits passiert. Sie fuhr fort.

»Sie haben also seine Hände auf Ihrem Körper gespürt.«

Suzanne nickte.

»Wissen Sie noch, wo genau er Sie angefasst hat?«

Suzanne blickte auf den Boden. Ihre Wangen brannten.

Anni musste vorsichtig sein. Es passierte nicht selten, dass traumatisierte Opfer sich Dinge einreden ließen. Auf keinen Fall wollte sie etwas tun oder sagen, was später vor Gericht als Beeinflussung gedeutet werden konnte. »Wo hat er Sie berührt, Suzanne?«

Suzanne wandte ihr Gesicht noch weiter ab und schloss die Augen, wie um sich gegen einen Schlag zu wappnen.

»Suzanne.« Stahl lag wieder in Annis Stimme. Suzannes Kopf fuhr herum. Nun, da sie ihre volle Aufmerksamkeit hatte, sprach Anni wieder leiser. »Wo hat er Sie berührt?«

Suzanne schloss erneut die Augen, und ihre Unterlippe begann zu zittern. »Er … er hat mein T-Shirt hochgeschoben. Ich konnte nichts machen, ich …« Ihr kamen die Tränen. »Und er hat …«

Anni setzte sich zurück. »Schon gut, schon gut.« Ihre Stimme klang wieder besänftigend. »Lassen Sie sich Zeit.« Sie wartete, bis Suzanne sich gefangen hatte. »Sie haben gesagt, er hätte mit Ihnen gesprochen. Können Sie sich noch daran erinnern, was er gesagt hat?«

Suzanne schüttelte den Kopf.

»Wie hat er ausgesehen? Können Sie ihn beschreiben?«

Wieder Kopfschütteln. »Es war bloß … eine Gestalt. Und seine Augen waren so hell und haben mich angestarrt wie … wie Teufelsaugen … Und dann seine Hände überall auf meinem Körper, und ich konnte mich nicht bewegen …«

Anni fragte sie nicht nach weiteren Einzelheiten. »Und danach? Sind Sie dann wieder eingeschlafen?«

Suzanne nickte. »Ja, aber dann …« Wieder ließ sie den Kopf hängen.

Anni musterte sie weiterhin aufmerksam. Etwas ließ ihr keine Ruhe. »Waren die Jalousien offen oder geschlossen?«

»Offen. Deswegen hab ich ja das Foto gesehen.«

»Sie haben vorhin gesagt, dass Sie es im Schlafzimmer gern dunkel haben. Wäre es trotzdem denkbar, dass Sie die Jalousien offen gelassen haben?«

Suzanne schüttelte den Kopf. »Ich hab einen leichten Schlaf, ich brauche absolute Dunkelheit, vor allem im Sommer …« Sie verstummte.

»Es ist also ausgeschlossen, dass Sie die Jalousien selbst geöffnet haben?«

»Nachts öffne ich sie nie«, sagte Suzanne mit Nachdruck.

»Schlafen Sie bei offenem Fenster? Wenn es warm ist?«

»Nein.« Diesmal klang Suzanne schon nicht mehr so sicher.

Anni bemerkte ihr Zögern und hakte ein. »Es könnte also sein, dass Sie das Fenster offen gelassen haben und jemand eingestiegen ist? Wäre das möglich?«

Suzanne sah auf. Ihr Blick wirkte auf einmal ganz verloren. »Ich – spielt das denn eine Rolle?«

Anni zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, Suzanne, aber wenn so was passiert wie hier, dann gehen wir davon aus, dass alles eine Rolle spielt.«

Suzanne seufzte. »Ich weiß nicht. Es wäre möglich, aber … ich weiß nicht.« Sie sah sich hilfesuchend nach ihrem Kaffeebecher um.

»Was ist mit den Leuten, die unter Ihnen wohnen?« Anni hatte bereits mit den Nachbarn gesprochen, die allesamt einen vollkommen unverdächtigen Eindruck gemacht hatten. »Könnten die sich Zugang zu Ihrer Wohnung verschafft haben?«

»Ich wüsste nicht, wie.«

»Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie gestern Abend ins Bett gegangen sind?«

»Ich …« Suzanne schien die Frage bejahen zu wollen, verkniff es sich aber im letzten Moment. »Nein. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hab ich mich richtig elend gefühlt, als hätte ich einen Kater oder so.« Sie verzog das Gesicht, während sie angestrengt nachdachte. »Ich kann … ich weiß nicht mehr, wie ich ins Bett gegangen bin.«