Laura Brodie

Ich weiß, du bist hier

Roman

Deutsch von
Britta Mümmler

 

 

 

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

Ungekürzte Ausgabe 2011
© 2010 der deutschsprachigen Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40846 - 2 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21313 - 4

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Für Julia, Rachel, Kathryn
und vor allem John,
möge er ein hohes Alter erreichen.

Sie nehme sich ihn zum Hüter und Beobachter im Geheimen, nicht allein ihrer Taten, vielmehr auch ihres Gewissens … Und sie betrage sich immerfort so, dass seine Seele keinen Grund zum Zorne habe und Vergeltung übe für ihre Unziemlichkeit.

 

Über das geziemende Betragen einer Witwe

gegen ihren Gemahl

Juan Luis Vives,

De institutione feminae christianae,

gewidmet Katharina von Aragón, 1523

Inhalt

Geist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Fleisch

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Auferstehung

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Gute Vorsätze

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Nachwort

Dank

TEIL EINS

Geist

1

Sarah McConnells Ehemann war seit drei Monaten tot, als sie ihn im Supermarkt sah. Er stand am Ende des Gangs mit den Saisonartikeln, wo er unentschlossen die Auswahl an Plastikkürbissen musterte, hob plötzlich den Kopf und blickte ihr einen Moment lang direkt in die Augen. In seinem unveränderten Gesicht blitzte ein so seltsames Gemisch von Sehnsucht und Zaudern auf, dass sie am liebsten sofort zu ihm gerannt wäre und sich in sein unvergessliches grünes Flanellhemd gekuschelt hätte. Doch dann überfiel sie ein so kaltes Grauen, dass sie nur stumm und starr mit hämmerndem Herzen dastehen konnte. Und sie hatte kaum wieder Luft geholt, da war er auch schon um die Ecke des Gangs gebogen und verschwunden.

Sie hörte den brüchigen Schrei, ehe ihr klar wurde, dass sie selbst es war, die da rief: »David! Warte!« Dann ließ sie einfach ihren Einkaufswagen stehen und rannte so schnell hinter ihm her, dass ihre Handtasche gegen ihren Oberschenkel schlug.

Als sie ganz hinten links abbog, sah sie nichts als eine Regalwand voll Milch und Eier und davor die Gesichter argwöhnischer Fremder. Wie getrieben lief sie von einem Gang zum nächsten, sah in jeden hinein und fand nichts, nichts und wieder nichts. Sie eilte zur Frontseite des Supermarkts und suchte von der anderen Richtung aus weiter, ließ den Blick nach links in die Gänge hineinschweifen und nach rechts auf die Schlangen an den Kassen. Noch nie waren ihr die Reihen von Papiertüchern, eingemachten Früchten und Frühstücksflocken so schreiend bunt erschienen. Die Logos der Verpackungen überblendeten ihre verwirrten Gedanken.

Sie rannte auf den Parkplatz hinaus und rief erneut laut nach David. Doch unter der Handvoll Leute, die ihre Autos aufschlossen und ihre Einkäufe im Kofferraum verstauten, war nirgends ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters in Jeans und grünem Flanellhemd zu entdecken.

Als Sarah wieder in den Supermarkt zurücklief, trat der Filialleiter aus seiner erhöht gelegenen Arbeitskabine. Das alles hatte er schon oft erlebt, schien sein aufgesetztes Lächeln zu versichern. Offenbar wieder eine Mutter, die gleich in Panik geriet, weil ihr Kind weg war. Mit einem kleinen Suchtrupp würde er den Streuner, der vermutlich bloß die Hummer im Lebendbecken anstarrte oder sich hinter einem Turm von Konservendosen versteckte, schon wieder auftreiben.

»Haben Sie jemanden verloren?«

Die Worte klangen nach in Sarahs Gedanken. »Ja.« Sie hatte jemanden verloren.

»Wie sieht er aus?«

Ihre dunklen Augen blickten immer noch suchend umher. Sie hatte den unbestimmten Eindruck, dass sie David aufhalten könnte, wenn sie nur in der Nähe der Eingangstür bliebe.

»Er trug seine Yankees-Baseballkappe.«

»Wie heißt er?«

»David.«

»Wie alt ist er?«

»Dreiundvierzig.«

Das Lächeln des Filialleiters schwand. »Dreiundvierzig?«

Sarah ließ den Blick nicht länger schweifen und musterte jetzt den Mann. Seine pechschwarze Krawatte fiel ihr auf, sein rot-weiß-blaues Namensschild und seine Ungeduld.

»Er ist mein Ehemann.«

Es war beinah komisch, wie rasant die Freundlichkeit aus dem Gesicht des Mannes wich. In seinen Augen war sie nicht länger eine reizende junge Mutter, die einen starken Arm brauchte. Jetzt war sie bloß noch eine dieser lautstark jammernden Verrückten, eine Frau mittleren Alters mit verstörter Miene, deren braunes Haar sich aus den silbrigen Haarspangen löste.

»Soll ich ihn ausrufen lassen?« Die Worte klangen eher abschätzig als fragend. In Gedanken saß der Filialleiter anscheinend längst wieder vor seinem Computerbildschirm.

Wollte sie wirklich am Serviceschalter für Kunden warten, während jemand ihren toten Ehemann ausrief, fragte sich Sarah, und allmählich begann ihre Hysterie zu versiegen. Warum war sie überhaupt hier? Was machte sie an diesem Ort?

»Schon gut.« Sie wollte nur noch weg, zurück in die Ruhe und Geborgenheit ihres Zuhauses.

Als sie wieder auf den Parkplatz trat, bemerkte sie, wie fahl der Himmel geworden war. Die Ahornblätter, die noch vor zwei Wochen so feuerrot geleuchtet hatten, waren welk und fielen zu Boden wie Asche. Der Oktoberwind fuhr eisig durch die Maschen ihres Pullovers, als sie über das Gelände zu ihrem Auto eilte.

Sie stieg in ihren alten Volvo, zog die Tür zu, schnallte sich an und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Und dann sank sie in den Sitz zurück, schloss die Augen und begann leise, ganz leise, zu weinen.

2

»Ich habe David heute gesehen.«

Sarah saß in der Küche ihrer Nachbarin und fuhr mit der Fingerspitze am Rand eines leeren Kaffeebechers entlang. Margaret Blake, eine große Engländerin mit kurzem grauem Haar, beugte sich über den Herd und tauchte ein silbernes Tee-Ei in eine blaue Teekanne. Sarah hatte sich gefragt, ob Margaret bei ihren Worten wohl zusammenzucken oder den Kopf herumdrehen würde. Doch sie konnte nicht das geringste Zögern erkennen, als ihre Freundin die Hand nach dem wattierten Teewärmer ausstreckte.

In den drei Jahren, seit auch Margarets jüngere Tochter aufs College ging, war das Teetrinken am Freitagnachmittag für die beiden Frauen zu einem Ritual geworden. Es war die Zeit, in der man über Gartenarbeit und Politik reden und über Präsidenten und Premierminister schimpfen konnte.

Und es war die Zeit, in der man trauern konnte, denn auch Margaret war Witwe. Vor fünf Jahren hatte sie ihren Ehemann tot im Garten aufgefunden, inmitten eines Haufens herausgeschnittener Holzapfelbaumzweige. Wie zu einem Jahrestag blühte dieser Baum nun seit fünf Jahren jeden Frühling erneut auf, und jedes Mal wieder fragte Sarah sich, was Ethan Blake, einen Mann mit einem bekanntlich schwachen Herzen, dazu getrieben hatte, plötzlich mit dem Beschneiden des Baums zu beginnen. Hatte er gespürt, dass an diesem Tag ein alter Zweig abgeschnitten werden musste? Dass etwas zu Ende gehen würde?

Bis dahin hatte Ethan die Gartenarbeit auf gelegentliches Rasenmähen am Nachmittag beschränkt. Sarah sah immer noch vor sich, wie ihm seine Brille mit dem Metallgestell auf der verschwitzten Nase hinunterrutschte, während er den Rasenmäher vor sich her und um die Flieder- und Forsythienbüsche herumschob.

Von ihrem Platz am Küchentisch hatte Sarah einen guten Blick auf die kleine Gedenkstätte, die Margaret auf dem Kaminsims im Wohnzimmer errichtet hatte. Rechts und links standen Bilder der beiden Töchter, einundzwanzig und vierundzwanzig Jahre alt, fröhliche Zeugnisse der Jugend und Gesundheit. Und dazwischen in einem Ebenholzrahmen ein Foto, auf dem strahlender Sonnenschein durch die Äste eines Holzapfelbaums brach.

Sarah war eine der wenigen, die die ganze Bedeutung dieses Bildes verstanden. An jenem Frühlingsnachmittag war Margaret nach Hause gekommen und hatte ihren Ehemann so friedlich auf dem Rücken liegend und den leblosen Blick in die strahlende Sonne gerichtet vorgefunden, dass sie sich neben ihn legte – um auch hinaufzuschauen durch die Zweige des Holzapfelbaums und zu sehen, was er in den letzten Minuten seines Lebens gesehen hatte. Und als sie dort lag, die abgeschnittenen Zweige zwischen den Schulterblättern und Ethans Hand an der ihren, war Margaret so überwältigt gewesen von den leuchtend blauen Himmelsfetzen, die wie Glassplitter durch die rosa Blüten und die dunklen Zweige schimmerten, dass sie noch einmal mit ihrem Fotoapparat in den Garten hinausgegangen war, nachdem sie im Haus den Notarzt angerufen hatte. Und dort stand es jetzt, das Ergebnis, auf dem Kaminsims im Wohnzimmer, ein Triptychon, das an den Anfang und das Ende des Lebens gemahnte.

Es muss irgendwas Englisches sein, dachte Sarah, dieser Pragmatismus im Angesicht des Todes. Margaret Blake war keine Frau, die sich von der Erscheinung eines Toten in einem Supermarkt verstören ließ.

»Wo hast du ihn gesehen?« Margaret drehte sich um und trug die Teekanne zum Tisch.

»Bei Food Lion.«

»Ich dachte, du kaufst bei Safeway ein.«

Sarah lächelte. Typisch Margaret, das Morbide ins Profane zu wenden.

»Ich hatte am anderen Ende der Stadt ein paar Dinge zu erledigen.«

Gott sei Dank war ihr das nicht bei Safeway passiert. In Jackson, Virginia, lebten achttausend Einwohner, und wann immer Sarah in diesem Supermarkt einkaufte, traf sie Kollegen aus dem Institut für Englische Philologie am College oder ehemalige Patienten von David. Sogar die Gesichter der Angestellten, die den Kunden an der Kasse die Tüten einpackten, waren ihr vertraut – das junge Mädchen mit Downsyndrom, der Mann mit dem schwarzen Ohrring. Sarah hätte den Leuten wochenlang aus dem Weg gehen müssen, wenn diese miterlebt hätten, was sie selbst inzwischen schon ihren »Vorfall« nannte.

Margaret schenkte zwei Becher Earl Grey ein. Sie stellte die Teekanne auf eine gefaltete Leinenserviette und reichte Sarah einen kleinen blauen Milchkrug, der mit Ansichten der Kathedrale von Canterbury verziert war. Solche Andenken brachten Freunde Margaret immer wieder aus dem Urlaub in Europa mit, als ob ausgerechnet eine Atheistin aus Manchester nostalgische Gefühle für Thomas Becket hegen würde.

»Ich habe Ethan nach seinem Tod überall gesehen.« Margaret umfasste ihren Becher mit beiden Händen. »In Menschenmengen, im Straßenverkehr. Und wenn ich ihn in einem vorbeifahrenden Auto entdeckt habe, bin ich wie eine Verrückte hinterhergerast. Aber dringesessen hat immer ein anderer.«

Sarah nickte. Die ersten Wochen ihrer Witwenschaft waren voller Täuschungen dieser Art gewesen. Jedes Mal wenn sie an einem Mann von Davids Statur und Haarfarbe vorbeiging, blitzte in ihr ein Wiedererkennen auf, das dann unweigerlich vom Gesicht eines Fremden Lügen gestraft wurde.

»Aber diesmal war’s anders. Diesmal habe ich sein Hemd und seine Yankees-Kappe wiedererkannt. Und er hat mich direkt angesehen.«

»Und was ist passiert?«

»Er ist verschwunden.«

»Oh.«

Margaret stellte ihren Becher ab, richtete den Blick auf die Zuckerdose und zerstach mit ihrem Teelöffel die harten Klümpchen darin. Mit jedem Knirschen des Silberlöffelchens wuchs Sarahs Anspannung ein wenig mehr. Was musste sie sagen, um ein zustimmendes Nicken zu bekommen? Ihr fiel nur der immer gleiche Refrain ein, die Worte, die sie nun schon seit drei Monaten wiederholte.

»Sie haben seine Leiche immer noch nicht gefunden.«

Und jetzt zögerte Margaret doch, gerade lang genug, um Sarah in die Augen zu sehen. »Sie werden sie finden.«

 

In den dreizehn Jahren, die sie jetzt in Jackson wohnte, hatte Sarah Dutzende von Sturzfluten erlebt wie jene, die ihr David genommen hatte. Manchmal kam das Wasser mitten in einer Trockenperiode, wenn das Land zu ausgedörrt war, um die plötzlichen Massen aufzunehmen. Zu anderen Zeiten setzte die Flut nach wochenlang anhaltendem Regen noch eins drauf und verwandelte die sonst so gemächlich durch die Landschaft dahinfließenden Bäche und Flüsse in schlammige, reißende Ströme. Alteingesessene erzählten Geschichten von ganzen Bergdörfern, die von nächtlichen Fluten überschwemmt wurden. Wasser stieg die Stufen der schlichten Wohnhäuser hinauf und schwappte um die Bettpfosten, während die Familien schliefen. Aber von Todesfällen hatte Sarah nur vereinzelt gehört – ein betrunkener Collegestudent, der eine Wildwasserfahrt auf dem Possum Creek machte; eine Frau in einem Honda Civic, die eine überschwemmte Brücke hatte überqueren wollen und flussabwärts getrieben wurde, nachdem sie aus dem Autofenster geklettert war.

»Davids Flut«, wie Sarah sie mittlerweile nannte, hatte noch zwei weitere Opfer gefordert, zwei kleine Schwestern. Die Mädchen hatten gemeinsam unter einem Regenschirm am Ufer des Bachs, der ihr Grundstück passierte, zugesehen, wie das aufgewühlte Wasser vorbeischoss. Und dann war plötzlich das aufgeweichte Ufer, auf dem sie standen, von dem reißenden Strom weggespült worden. Ihre Mutter hatte all das von der Veranda des Farmhauses aus gesehen. Sie hatte den Mädchen durch den strömenden Regen gerade zugerufen, dass sie hereinkommen sollten, da wurden die beiden von den Wassermassen verschlungen.

Sarah erschauderte jedes Mal, wenn sie sich das Unglück ausmalte. Der Verlust dieser Frau war noch so viel größer als ihr eigener. Sie hatte keine Kinder und konnte sich das kalte Entsetzen der Mutter kaum vorstellen, die den auf den Fluten tanzenden Regenschirm flussabwärts treiben sah. Die Leiche des einen Mädchens war ein paar Tage nach der Sturzflut geborgen worden, die andere hatte man erst vor kurzem gefunden, in Zweige und Blätter verheddert, am Ufer des Shannon, in den alle Flüsse der Gegend mündeten. Letzte Woche erst war die Beerdigung gewesen.

Vielleicht war genau das ihr Problem. Vielleicht hatte die Beerdigung des Mädchens ihre Gedanken in den letzten Tagen aufgewühlt und all diese Erinnerungen und Phantasien wieder wachgerufen. Sarah hatte die kurze Todesanzeige in der Zeitung mit einem Anflug von Neid gelesen, denn auch sie wartete auf eine Beerdigung. Wenn sie nachts allein im Bett lag, sah sie Davids Leiche oft irgendwo an einem Ufer liegen, unter Bäumen, die Knöchel von Wasser umspült. Dann wiederum sah sie ihn von Strömungen getragen dahintreiben, vorbei an Feldern und Felsen, Weiden und Häusern, hinfort durchs Tal, hundert Meilen weit und noch weiter. In ihrer Vorstellung verweste seine Leiche nie. Er war der bestaussehende Ertrunkene der Welt und wurde unter den stummen Blicken des Rotwilds im Shenandoah Valley von Farm zu Farm getragen.

Immer stärker zog es Sarah in Gedanken zum Fluss. Jedes Mal wenn sie über die Betonbrücke fuhr, die die Stadtgrenze von Jackson markierte, sah sie auf die sich kräuselnden Wirbel und Strudel hinab und versuchte abzuschätzen, wie hoch das Wasser stand. In letzter Zeit war die Strömung so langsam, als wollte sie sich der hypnotischen Trägheit der Nachmittage geradezu angleichen – den Stunden ungebrochener Stille, in denen sie ausgestreckt auf dem Sofa lag, während ihre Gedanken tief in die Vergangenheit eintauchten. Sarah war schon immer ein Mensch gewesen, der sich in seinen Gedanken verlieren konnte, bis in die entlegensten Winkel wanderte, während ihre Lehrer langweilige Vorträge über Geometrie oder Gliederfüßer hielten. Als Kind hatte sie früh gelernt, dass die Phantasie der Wirklichkeit vorzuziehen war und Bücher ein Tor zu labyrinthischen Tagträumen sein konnten. Weil sie die Welt der Phantasie so liebte, war sie auch Dozentin für englische Literatur geworden.

Doch in letzter Zeit barg dieses tägliche Eintauchen in ihre innere Welt eine Gefahr, denn sie hatte immer weniger Grund, wieder aufzutauchen. Mit jedem neuen Tod verlor die äußere Welt stärker an Anziehungskraft. Vor zehn Jahren hatte sie ihre Eltern verloren, ihre Mutter an den Krebs, ihren Vater an den Alkohol – und nun David an den Fluss, als er einen zweitägigen Kajakausflug machte. Jetzt gab es nur noch Margaret, die sie zurückholte; Margaret, die wie eine wuchtige Eiche fest in der Wirklichkeit stand. Und auch in diesem Augenblick war es wieder Margarets Manchester-Akzent, der Sarah zu ihrem Becher mit schwarzem Tee zurückrief. Margaret klagte über die Direktorin der Grundschule, an der sie die Drittklässler unterrichtete: »Ständig faselt die Frau von Erziehung zur Verantwortung mittels dieser verdammten Bibelsprüche, als hätte Moses sie direkt vom Berg Sinai mitgebracht. Und jetzt will der Bundesstaat Virginia auch noch, dass wir in allen Klassenzimmern ›Wir vertrauen auf Gott‹ anbringen. Als würde das die Prüfungsergebnisse der Kinder irgendwie verbessern.«

Sarah versuchte etwas zu erwidern; es machte ihr Spaß, mit jemandem, der redegewandt war, auf dieselben Dinge zu schimpfen. Doch so schnell, wie ihr Interesse erwachte, versiegte es auch wieder. Sie murmelte bloß etwas und zuckte ein paarmal die Achseln zu all den vertrauten Ungeheuerlichkeiten, bis Margaret seufzend ihren Teebecher auf den Tisch stellte.

»Schläfst du denn wieder besser?«

»Eigentlich nicht. Ich träume immer noch sehr viel von David. Manchmal bin ich unter Wasser mit ihm und sehe vom Grund hinauf. Und neuerdings schlafwandle ich sogar. Als ich gestern aufgewacht bin, waren alle meine Sachen von meiner Frisierkommode verschwunden. Den ganzen Tag fand ich überall im Haus verstreut Haarbürsten, Schmuckstücke und Parfümflakons.«

Margaret nickte. »Nimmst du diese Tabletten?«

Ach ja, die Schlaftabletten. Die blaue Lunesta, die als geisterhafter Schmetterling durch die Fernsehwerbespots flatterte und sich auf Kissen und Fensterbänken niederließ wie ein leuchtender Engel des Morpheus.

Mr Foster, der weiter oben in der Straße wohnte, hatte Sarah die Tabletten zwei Tage nach der Flut gegeben. Am Ende eines Kondolenzbesuchs drückte er ihr mit den Worten »Die helfen vielleicht« einfach ein Röhrchen in die Hand, so als könnte ein betäubtes Unterbewusstsein die Welt irgendwie wieder ins Lot bringen, wie in den Märchen, in denen Frauen aus langem Giftschlaf wieder erwachten und all ihre Feinde tot vorfanden.

»Sie sind der Feind«, hatte sie diesem Mr Foster mit dem Doppelkinn entgegnen wollen. »Sie mit Ihren unverschämten Geschenken, Ihrem selbstgefälligen Mitgefühl und Ihrem abstoßenden Körper.« Doch stattdessen hatte sie gelächelt und artig »Vielen Dank« gesagt, als sie die Tür hinter ihm schloss.

Einmal hatte David versucht, ihr Tabletten zu geben. Das war vor einem Jahr gewesen, als sie in eine Phase schlimmer Depressionen hineingeschliddert war. Er hatte eine Packung Prozac mit nach Hause gebracht, »falls du es mal probieren willst«. Doch obwohl ihr der Grünton der Tabletten gefiel – und auch der Name Lilly auf jeder Kapsel, als wären sie nur von einer Freundin ausgeliehen –, hatte sie sich geweigert, das Zeug anzurühren. Männern, die Frauen unter Medikamente setzen und die Welt so vor dem Gespenst weiblicher Hysterie schützen wollten, misstraute sie grundsätzlich. Es war das Problem dieser Männer, wenn sie es nicht ertragen konnten, dass Frauen klagten, dass Frauen weinten und dass Frauen mal mehr, mal weniger ausgeprägte bläuliche Ringe unter den Augen hatten. Sie wusste sehr gut, wie sie an ihren schlimmsten Tagen aussah und klang. Aber zum Teufel mit den Männern, wenn ihnen das nicht passte. Das Leben war nicht immer schön und fröhlich, mit frisiertem Haar, geweißten Zähnen und dem fertigen Abendessen auf dem Tisch. Manchmal war das Leben eben auch eine verbitterte Hexe, die mit krummem Buckel auf ihrem Bett hockte.

Und so standen diese Tabletten jetzt Seite an Seite in ihrem Badezimmerschränkchen, Prozac und Lunesta, wie ein Paar aus einer Wagner-Oper. One pill makes you larger and one pill makes you small, hatten Jefferson Airplane gesungen.

»Nein, ich nehme die Tabletten nicht«, erwiderte Sarah. Und fügte dann, mit einem bitteren Lächeln, hinzu: »Ich trinke lieber Alkohol.«

Margaret blies in ihren Tee, dass sich die Oberfläche kräuselte. »Du solltest diese Woche mal in meine Gruppe kommen.«

»In welche? In die der Quäker?«

»Nein.« Margaret lachte. »Ich bin eine treulose Tomate, ich war schon seit Monaten nicht mehr dort. Aber diesen Sonntag bewirte ich meine Trauergruppe. Einige der Frauen würden dir bestimmt liegen, glaube ich.«

»Ich dachte, da gehst du schon seit Jahren nicht mehr hin.«

»Nicht so ganz. Ein paarmal im Jahr nehme ich noch teil, aus reiner Freundschaft. Und einige der älteren Frauen sind wirklich witzig.«

Na großartig. Eine Horde humorvoller Frauen.

Aber Margaret versprach, Rosinenbrötchen, Zitronentörtchen und Schokoladenkuchen zu backen. Und als Sarah an die Dosen mit Mais dachte, die in ihren halb leeren Küchenschränken auf sie warteten, wurde sie gerade so lange schwach, dass sie erwidern konnte: »Okay, ich überleg’s mir.«