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Haben oder Sein
Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft

(To Have Or to Be?)

Erich Fromm
(1976a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Brigitte Stein
überarbeitet von Rainer Funk

Erstveröffentlichung unter dem Titel To Have Or to Be? im Jahre 1976 bei Harper and Row, Publishers, New York, als Band 50 der World Perspectives, geplant und herausgegeben von Ruth Nanda Anshen. Herausgeberkomitee: Erwin Chargaff, Lord Kenneth Clark, Sir Fred Hoyle, Adolph Lowe, Joseph Needham, I. I. Rabi, Karl Rahner, S.J., Lewis Thomas, C. N. Yang und Chiang Yee. Eine erste, von Erich Fromm durchgesehene deutsche Übersetzung von Brigitte Stein erschien unter dem Titel: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft bereits im Herbst 1976 bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart. Diese Übersetzung erfuhr durch Rainer Funk und in Absprache mit Erich Fromm eine starke Überarbeitung, die mit der 11. gebundenen Auflage 1979 auf den Markt kam und Eingang in Band II der Erich Fromm Gesamtausgabe von 1980/81 fand. Die überarbeitete Übersetzung wurde auch in der Taschenbuchausgabe beim Deutschen Taschenbuch Verlag benutzt. Von dieser Taschenbuchversion wurden bis Oktober 1991 bereits eine Million Exemplare verkauft.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band II, S. 269-414.

Die Zahlen in eckigen Klammern (zum Beispiel: [II-402]) geben den Band und den Seitenwechsel auf die betreffende Seite in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder. Auf diese Weise lassen sich auch aus dem E-Book Zitate nach der Printversion nachweisen.

© 1976 Erich Fromm und 1981 The Estate of Erich Fromm;
für diese digitale Ausgabe © 2015 The Estate of Erich Fromm

Der Weg zum Tun ist zu sein.
Lao-tse

Die Menschen sollen nicht so viel nachdenken,
was sie tun sollen; sie sollen vielmehr bedenken,
was sie sind.
Meister Eckhart

Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst,
umso mehr hast du, umso größer ist dein entäußertes Leben.
Karl Marx

Vorwort

Dieses Buch setzt zwei Richtungen meiner früheren Schriften fort. Es ist eine Erweiterung meiner Arbeiten auf dem Gebiet der radikal-humanistischen Psychoanalyse und konzentriert sich auf die Analyse von Selbstsucht und Altruismus als zwei grundlegenden Charakterorientierungen. Im letzten Drittel des Buches, in Teil III, führe ich ein Thema weiter aus, mit dem ich mich schon in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a) und Die Revolution der Hoffnung (1968a) beschäftigt habe: der Krise der heutigen Gesellschaft und der Möglichkeiten, sie zu lösen. Wiederholungen schon früher geäußerter Überlegungen waren unvermeidlich, aber ich hoffe, dass der neue Gesichtspunkt, von dem aus diese kleinere Arbeit geschrieben ist, und der weitere Rahmen auch Lesern Gewinn bringen wird, die mit meinen früheren Schriften vertraut sind.[1]

Der Titel dieses Buches ist fast identisch mit zwei Titeln anderer Werke: mit dem Titel von Gabriel Marcels Buch Sein und Haben (G. Marcel, 1954) und mit dem Titel des Buches von Balthasar Staehelin Haben und Sein (B. Staehelin, 1969). Alle drei Bücher sind aus dem Geist des Humanismus geschrieben, aber der Zugang zum Thema ist jeweils verschieden. Marcels Standpunkt ist ein theologischer und philosophischer; Staehelins Buch ist eine konstruktive Erörterung des Materialismus in der modernen Wissenschaft und ein Beitrag zur Wirklichkeitsanalyse; Thema dieses Buches ist eine empirische, psychologische und gesellschaftliche Analyse der beiden Existenzweisen. Interessierten Lesern empfehle ich die Bücher von Marcel und Staehelin.

Aus dem Wunsch, dieses Buch leicht lesbar zu machen, habe ich Fußnoten auf ein äußerstes Minimum reduziert – sowohl was die Zahl wie die Länge betrifft. Einige Literaturhinweise erscheinen im Text in Klammern, die genauen Angaben stehen in der Bibliographie.[2]

Es bleibt mir nun noch die angenehme Pflicht, denjenigen zu danken, die zum Inhalt und Stil dieses Buches beigetragen haben. Als erstem möchte ich Rainer Funk danken, der mir auf vielen Gebieten eine große Hilfe war: In langen Gesprächen half er mir, komplizierte Fragen der christlichen Theologie besser zu verstehen. Er wurde nicht müde, mich auf theologische Literatur hinzuweisen; er las das Manuskript mehrere Male, und seine ausgezeichneten konstruktiven Vorschläge wie auch seine Kritik [II-272] halfen sehr, das Manuskript zu bereichern und einige Irrtümer zu beseitigen. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich [der amerikanischen Lektorin] Marion Odomirok, deren feinfühlige Redaktion das Buch sehr gefördert hat. Mein Dank gilt auch Joan Hughes, die gewissenhaft und geduldig die zahlreichen Versionen des Manuskripts getippt hat und mir viele gute Anregungen gab, was Stil und sprachlichen Ausdruck betrifft. Endlich danke ich Annis Fromm, die das Manuskript in seinen verschiedenen Fassungen gelesen hat, immer mit vielen wertvollen Anregungen und Einsichten.

Was die deutsche Ausgabe betrifft, so danke ich Brigitte Stein für ihre Übersetzung und Ursel Locke, die das Buch als Lektorin betreute.

Einführung:
Die große Verheißung, das Ausbleiben ihrer Erfüllung und neue Alternativen

Das Ende einer Illusion

Die große Verheißung unbegrenzten Fortschritts – die Aussicht auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluss, auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit – das war es, was die Hoffnung und den Glauben von Generationen seit Beginn des Industriezeitalters aufrechterhielt. Zwar hatte die menschliche Zivilisation mit der aktiven Beherrschung der Natur durch den Menschen begonnen, aber dieser Herrschaft waren bis zum Beginn des Industriezeitalters Grenzen gesetzt. Von der Ersetzung der menschlichen und tierischen Körperkraft durch mechanische und später nukleare Energie bis zur Ablösung des menschlichen Verstandes durch den Computer bestärkte uns der industrielle Fortschritt in dem Glauben, auf dem Wege zu unbegrenzter Produktion und damit auch zu unbegrenztem Konsum zu sein, durch die Technik allmächtig und durch die Wissenschaft allwissend zu werden. Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte.

Männer und in zunehmendem Maß auch Frauen erlebten ein neues Gefühl der Freiheit. Sie waren Herren ihres eigenen Lebens; die Ketten der Feudalherrschaft waren zerbrochen, sie waren aller Fesseln ledig und konnten tun, was sie wollten. So empfanden sie es wenigstens. Und obwohl dies nur für die Mittel- und Oberschicht galt, verleiteten deren Errungenschaften andere zu dem Glauben, die neue Freiheit werde schließlich allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommen, wenn die Industrialisierung nur im gleichen Tempo voranschreite. Sozialismus und Kommunismus wandelten sich rasch von einer Bewegung, die eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen anstrebte, zu einer Kraft, die das Ideal eines bürgerlichen Lebens für alle aufrichtete: der universale Bourgeois als Mann und Frau der Zukunft. Leben erst alle in Reichtum und Komfort, dann, so nahm man an, werde jedermann schrankenlos glücklich sein. Diese Trias von unbegrenzter Produktion, absoluter Freiheit und uneingeschränktem Glück bildete den Kern der neuen Fortschrittsreligion, und eine neue irdische Stadt des Fortschritts ersetzte die „Stadt Gottes“. Ist es verwunderlich, [II-274] dass dieser neue Glaube seine Anhänger mit Energie, Vitalität und Hoffnung erfüllte?

Man muss sich die Tragweite dieser großen Verheißung und die phantastischen materiellen und geistigen Leistungen des Industriezeitalters vor Augen halten, um das Trauma zu verstehen, das die beginnende Einsicht in das Ausbleiben ihrer Erfüllung heute auslöst. Denn das Industriezeitalter ist in der Tat nicht imstande gewesen, seine große Verheißung einzulösen, und immer mehr Menschen werden sich folgender Tatsachen bewusst:

Als Albert Schweitzer am 4. 11. 1954 zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises nach Oslo kam, forderte er die ganze Welt auf: „Wagen wir die Dinge zu sehen wie sie sind. Es hat sich ereignet, dass der Mensch ein Übermensch geworden ist. (...) Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. (...) Damit wird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte, dass der Übermensch mit dem Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird. (...) Was uns aber eigentlich zu Bewusstsein kommen sollte und schon lange vorher hätte kommen sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind.“ (A. Schweitzer, 1966, S. 118-120).

Warum hat sich die große Verheißung nicht erfüllt?

Dass sich die große Verheißung nicht erfüllt hat, liegt neben den systemimmanenten ökonomischen Widersprüchen innerhalb des Industrialismus an den beiden wichtigsten psychologischen Prämissen des Systems selbst, nämlich 1. dass das Ziel des Lebens Glück, d.h. ein Maximum an Lust sei, worunter man die Befriedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse, die ein Mensch haben kann, versteht (radikaler Hedonismus); 2. dass Egoismus, Selbstsucht und Habgier – Eigenschaften, die das System fördern muss, um existieren zu können – zu Harmonie und Frieden führen. [II-275]

Radikaler Hedonismus wurde bekanntlich in verschiedenen Epochen der Geschichte von den Reichen praktiziert. Wer über unbegrenzte Mittel verfügte, wie beispielsweise die Elite Roms und die der italienischen Städte in der Renaissance sowie die Englands und Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert, der versuchte, seinem Leben durch unbegrenztes Vergnügen einen Sinn zu geben. Doch obwohl dies in bestimmten Kreisen zu bestimmten Zeiten die gängige Praxis war, entsprang sie mit einer Ausnahme nie der Theorie des „Wohl-Seins“, die von den großen Meistern des Lebens in China, Indien, dem Nahen Osten und Europa formuliert worden war.

Die Ausnahme ist der griechische Philosoph Aristipp, ein Schüler des Sokrates (1. Hälfte des 4. Jh. v. Chr.), der lehrte, dass das Ziel des Lebens der Genuss eines Optimums an körperlichen Freuden sei, und dass Glück die Summe des genossenen Vergnügens sei. Das Wenige, was wir über seine Philosophie wissen, verdanken wir Diogenes Laertius, doch es reicht aus, um zu belegen, dass Aristipp der einzige radikale Hedonist war, für den die Existenz eines Verlangens die Basis für das Recht auf seine Befriedigung und damit für die Verwirklichung des Lebenszieles, der Lust, ist.

Epikur kann kaum als Vertreter dieser Art von Hedonismus, wie Aristipp sie vertrat, gesehen werden. Obwohl Epikur die „reine“ Lust als das höchste Ziel ansieht, bedeutet dies für ihn die „Abwesenheit von Schmerz“ (aponia) und „Seelenruhe“ (ataraxia). Laut Epikur kann Vergnügen im Sinne der Befriedigung von Begierden nicht das Ziel des Lebens sein, denn auf solche Lust folge zwangsläufig Unlust, und dadurch entferne sich der Mensch von seinem wahren Ziel, der Abwesenheit von Schmerz. (Epikurs Theorie weist viele Parallelen zu jener Freuds auf.) Dennoch scheint Epikur im Gegensatz zur Position des Aristoteles einen gewissen Subjektivismus vertreten zu haben, soweit die widersprüchlichen Darstellungen der Epikuräischen Philosophie eine endgültige Interpretation zulassen.

Keiner der anderen großen Meister lehrte, dass die faktische Existenz eines Wunsches eine ethische Norm konstituiere. Ihnen ging es um das optimale Wohl-Sein (vivere bene) der Menschheit. Das wichtigste Element ihres Denkens ist die Unterscheidung zwischen solchen Bedürfnissen (Wünschen), die nur subjektiv wahrgenommen werden und deren Befriedigung zu momentanem Vergnügen führt, und solchen Bedürfnissen, die in der menschlichen Natur wurzeln und deren Erfüllung menschliches Wachstum fördert, das heißt Wohl-Sein (eudaimonia) hervorbringt. Mit anderen Worten, es ging ihnen um die Unterscheidung zwischen rein subjektiv empfundenen und objektiv gültigen Bedürfnissen – wobei ein Teil der ersteren das menschliche Wachstum behindert, während letztere im Einklang mit den Erfordernissen der menschlichen Natur stehen.

Die Theorie, dass das Ziel des Lebens die Erfüllung eines jeden menschlichen Wunsches sei, wurde nach Aristipp unmissverständlich erstmals wieder von den Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts ausgesprochen. Diese Auffassung konnte leicht aufkommen, als das Wort „Profit“ aufhörte „Gewinn für die Seele“ zu bedeuten (wie in der Bibel und auch noch bei Spinoza) und stattdessen materiellen, finanziellen Gewinn bezeichnete. Dies geschah in jener Epoche, als das Bürgertum nicht nur seine politischen Fesseln abwarf, sondern auch alle Bande der Liebe und Solidarität, und zu glauben begann, wer nur für sich selbst sei, sei mehr er selbst, nicht weniger. Für [II-276] Hobbes ist Glück das ständige Weiterschreiten von einer Begierde (cupiditas) zur nächsten; La Mettrie empfiehlt sogar Drogen, da diese wenigstens die Illusion von Glück vermittelten; für de Sade ist die Befriedigung grausamer Impulse allein schon deshalb legitim, weil sie vorhanden sind und nach Befriedigung verlangen. Dies waren Denker, die im Zeitalter des endgültigen Sieges der bürgerlichen Klasse lebten. Was einst die unphilosophische Praxis der Aristokratie gewesen war, wurde nun zur Praxis und Theorie der Bourgeoisie.

Viele ethische Theorien sind seit dem 18. Jahrhundert entwickelt worden – teils angesehenere Formen des Hedonismus, wie der Utilitarismus, teils strikt antihedonistische Systeme wie jene von Kant, Marx, Thoreau und Schweitzer. Dennoch ist unsere heutige Zeit seit Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend zur Theorie und Praxis eines radikalen Hedonismus zurückgekehrt. Die Vorstellung grenzenlosen Vergnügens steht in merkwürdigem Gegensatz zu dem Ideal disziplinierter Arbeit, ebenso wie die Annahme eines zwanghaften Arbeitsethos dem Ideal völliger Faulheit in den freien Stunden des Tages und im Urlaub widerspricht. Fließband und bürokratische Routine auf der einen Seite, Fernsehen, Auto und Sex auf der anderen, ermöglichen diese widerspruchsvolle Kombination. Zwanghaftes Arbeiten allein würde die Menschen ebenso verrückt machen wie absolutes Nichtstun. Erst durch die Kombination beider wird das Leben erträglich. Außerdem entsprechen die beiden widersprüchlichen Haltungen einer ökonomischen Notwendigkeit: Der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts setzt ebenso den maximalen Konsum der produzierten Güter und Dienstleistungen wie die zur Routine gewordene Teamarbeit voraus.

Theoretische Überlegungen ergeben, dass der radikale Hedonismus in Anbetracht der menschlichen Natur nicht der richtige Weg zum „guten Leben“ ist, und sie zeigen, warum er es nicht sein kann. Doch selbst ohne diese theoretische Analyse geht aus den verfügbaren Daten ganz klar hervor, dass unsere „Jagd nach Glück“ nicht zu Wohl-Sein führt. Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen: einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig – jene Menschen, die froh sind, wenn es ihnen gelingt, jene Zeit „totzuschlagen“, die sie ständig einzusparen versuchen.

Wir führen gegenwärtig das größte je unternommene gesellschaftliche Experiment zur Beantwortung der Frage durch, ob Vergnügen (als passiver Affekt im Gegensatz zu den aktiven Affekten Wohl-Sein und Freude) eine befriedigende Lösung des menschlichen Existenzproblems sein kann. Zum ersten Mal in der Geschichte ist die Befriedigung des Luststrebens nicht bloß das Privileg einer Minorität, sondern mindestens für die Hälfte der Bevölkerung der Industrieländer real möglich. Das Experiment hat die Frage bereits mit nein beantwortet.

Die zweite psychologische Prämisse des industriellen Zeitalters, dass das Ausleben des individuellen Egoismus Harmonie, Friede und den allgemeinen Wohlstand fördere, ist vom theoretischen Ansatz her ebenso irrig, und auch diese Täuschung wird durch die vorhandenen Daten erhärtet. Warum sollte dieses Prinzip, das nur von einem einzigen der großen klassischen Ökonomen, David Riccardo, abgelehnt wurde, richtig sein? Egoismus ist nicht bloß ein Aspekt meines Verhaltens, sondern meines Charakters. Er bedeutet, dass ich alles für mich haben möchte; dass nicht Teilen, [II-277] sondern Besitzen mir Vergnügen bereitet; dass ich immer habgieriger werden muss, denn wenn Haben mein Ziel ist, bin ich umso mehr, je mehr ich habe; dass ich allen anderen gegenüber feindselig bin – meinen Kunden gegenüber, die ich betrügen, meinen Konkurrenten, die ich ruinieren, meinen Arbeitern, die ich ausbeuten möchte. Ich kann nie zufrieden sein, denn meine Wünsche sind endlos. Ich muss jene beneiden, die mehr haben als ich, und mich vor jenen fürchten, die weniger haben. Aber alle diese Gefühle muss ich verdrängen, um (vor anderen und vor mir selbst) der lächelnde, vernünftige, ehrliche, freundliche Mensch zu sein, als der sich jedermann ausgibt.

Die Habsucht muss zu endlosen Klassenkämpfen führen. Die Behauptung der Kommunisten, ihr System werde den Klassenkampf durch Abschaffung der Klassen beenden, ist eine Fiktion, da auch ihr System auf dem Prinzip des unbegrenzten Konsums als Lebensziel basiert. Solange jeder mehr haben will, müssen sich Klassen herausbilden, muss es Klassenkampf und, global gesehen, internationale Kriege geben. Habgier und Friede schließen einander aus.

Radikaler Hedonismus und schrankenloser Egoismus hätten nicht zu Leitprinzipien ökonomischen Verhaltens werden können, wenn nicht im 18. Jahrhundert ein grundlegender Wandel eingetreten wäre. In der mittelalterlichen Gesellschaft sowie in vielen anderen hoch entwickelten und auch in primitiven Gesellschaften wurde das ökonomische Verhalten durch ethische Normen bestimmt. So waren beispielsweise für die Theologen der Scholastik wirtschaftliche Kategorien wie Preis und Privateigentum ein Gegenstand der Moraltheologie. Zwar fanden die Theologen stets Formulierungen, um ihren Moralkodex jeweils den neuen ökonomischen Erfordernissen anzupassen (so zum Beispiel Thomas von Aquins Modifizierung des Konzepts des „gerechten Lohns“), dennoch blieb das ökonomische Verhalten ein Teil des allgemeinen menschlichen Verhaltens und war daher den Wertvorstellungen der humanistischen Ethik unterworfen. Der Kapitalismus des 18. Jahrhunderts machte schrittweise einen radikalen Wandel durch: Das wirtschaftliche Verhalten wurde von der Ethik und den menschlichen Werten abgetrennt. Der Wirtschaftsmechanismus wurde als autonomes Ganzes angesehen, das unabhängig von den menschlichen Bedürfnissen und dem menschlichen Willen ist – ein System, das sich aus eigener Kraft und nach eigenen Gesetzen in Gang hält. Das Elend der Arbeiter sowie der Ruin einer stetig zunehmenden Zahl kleinerer Unternehmen infolge des unaufhaltsamen Wachstums der Konzerne galten als wirtschaftliche Notwendigkeit, die man vielleicht bedauern konnte, jedoch akzeptieren musste wie die Auswirkungen eines Naturgesetzes.

Die Entwicklung dieses Wirtschaftssystems wurde nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Menschen? bestimmt, sondern durch die Frage: Was ist gut für das Wachstum des Systems? Die Schärfe dieses Konflikts versuchte man durch die These zu verschleiern, dass alles, was dem Wachstum des Systems (oder auch nur eines einzigen Konzerns) diene, auch das Wohl der Menschen fördere. Diese These wurde durch eine Hilfskonstruktion abgestützt, wonach genau jene menschlichen Qualitäten, die das System benötigte – Egoismus, Selbstsucht und Habgier – dem Menschen angeboren seien; sie seien somit nicht dem System, sondern der menschlichen Natur [II-278] anzulasten. Gesellschaften, in denen Egoismus, Selbstsucht und Habgier nicht existierten, wurden als „primitiv“, ihre Mitglieder als „naiv“ abqualifiziert. Man weigerte sich anzuerkennen, dass diese Charakterzüge gerade nicht natürliche Triebe sind, die zur Bildung der Industriegesellschaft führten, sondern das Produkt gesellschaftlicher Bedingungen.

Von Bedeutung ist nicht zuletzt ein weiterer Faktor: Das Verhältnis des Menschen zur Natur wurde zutiefst feindselig. Wir Menschen sind eine „Laune der Natur“, denn auf Grund unserer Existenzbedingungen sind wir Teil der Natur, doch auf Grund unserer Vernunftbegabung transzendieren wir sie. Wir haben versucht, dieses Problem unserer Existenz dadurch zu lösen, dass wir die messianische Vision der Harmonie zwischen Menschheit und Natur aufgaben, indem wir uns die Natur untertan machten und für unsere eigenen Zwecke umgestalteten, bis aus der Unterjochung der Natur mehr und mehr deren Zerstörung wurde. Unser Eroberungsdrang und unsere Feindseligkeit haben uns blind gemacht für die Tatsache, dass die Naturschätze begrenzt sind und eines Tages zur Neige gehen können, und dass sich die Natur gegen die Raubgier der Menschen zur Wehr setzen wird.

Die industrielle Gesellschaft verachtet die Natur ebenso wie alles, was nicht von Maschinen hergestellt worden ist – und alle Menschen, die keine Maschinen produzieren (die farbigen Rassen, seit neuestem mit Ausnahme der Japaner und Chinesen). Die Menschen sind heutzutage fasziniert vom Mechanischen, von der mächtigen Maschine, vom Leblosen und in zunehmendem Maß von der Zerstörung.

Die ökonomische Notwendigkeit menschlicher Veränderung

Ich habe bisher davon gesprochen, dass die von unserem sozioökonomischen System, das heißt von unserer Lebensweise geprägten Charakterzüge pathogen sind und schließlich den Menschen und damit die Gesellschaft krank machen. Von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus gibt es jedoch noch ein zweites Argument, das in einer tiefgreifenden psychologischen Veränderung des Menschen eine Alternative zur ökonomischen und ökologischen Katastrophe sieht. Es findet sich in den beiden Berichten des Club of Rome, von denen der eine von Dennis H. Meadows et al., 1972, der andere von M. D. Mesarović und E. Pestel, 1974, besorgt wurde. Beide Berichte setzen sich weltweit mit den technologischen, ökonomischen und demographischen Entwicklungen auseinander. Mesarović und Pestel kommen zu dem Schluss, dass nur drastische, nach einem weltweiten Plan durchgeführte ökonomische und technologische Veränderungen eine „große, letztlich globale Katastrophe“ verhindern können. Die Daten, die sie zum Beweis ihrer Thesen anführen, basieren auf der umfassendsten systematischen Untersuchung, die bisher durchgeführt wurde. (Ihre Untersuchung hat gewisse methodologische Vorzüge gegenüber dem Bericht von Meadows et al., aber diese frühere Studie ging in ihren Forderungen nach radikalen ökonomischen Veränderungen zur Abwendung einer Katastrophe sogar noch weiter.) Mesarović und Pestel kommen zu dem Schluss, dass derartige ökonomische Veränderungen nur unter der Voraussetzung möglich sind, dass ein fundamentaler Wandel der [II-279] menschlichen Grundwerte und Einstellungen (oder, wie ich es nennen würde, der menschlichen Charakterorientierung) im Sinne einer neuen Ethik und einer neuen Einstellung zur Natur eintritt (vgl. M. D. Mesarović und E. Pestel, 1974, S. 135). Ihre Äußerungen bekräftigen nur, was schon andere vor und nach Erscheinen ihres Buches gesagt haben, dass nämlich eine neue Gesellschaft nur dann entstehen kann, wenn sich parallel zu deren Entwicklungsprozess ein neuer Mensch entwickelt, oder, bescheidener ausgedrückt, wenn sich die heute vorherrschende Charakterstruktur des Menschen grundlegend wandelt.

Leider wurden diese beiden Berichte in jenem Geist der Quantifizierung, Abstraktion und Entpersönlichung verfasst, der so charakteristisch für unsere Zeit ist. Darüber hinaus vernachlässigen sie alle politischen und gesellschaftlichen Faktoren, ohne die keine realistische Strategie entworfen werden kann. Dennoch präsentieren sie wertvolle Daten und befassen sich zum ersten Mal mit der wirtschaftlichen Situation der gesamten Menschheit, ihren Möglichkeiten und Gefahren. Ihre Schlussfolgerung, dass eine neue Ethik und eine veränderte Einstellung zur Natur notwendig sei, ist umso bemerkenswerter, da diese Forderung in auffälligem Gegensatz zu ihren philosophischen Prämissen steht.

Auch E. F. Schumacher (1973), ebenfalls ein Wirtschaftswissenschaftler, aber gleichzeitig ein radikaler Humanist, fordert eine tiefgreifende menschliche Veränderung. Seine Forderung basiert auf der Auffassung, dass unsere gegenwärtige Gesellschaftsordnung uns krank mache und dass wir auf eine wirtschaftliche Katastrophe zusteuern, wenn wir unser Gesellschaftssystem nicht grundlegend umgestalten.

Die Notwendigkeit einer radikalen menschlichen Veränderung ist deshalb weder nur eine ethische oder religiöse Forderung noch ausschließlich ein psychologisches Postulat, das sich aus der pathogenen Natur unseres gegenwärtigen Gesellschafts-Charakters ergibt, sondern sie ist auch eine Voraussetzung für das nackte Überleben der Menschheit. Richtig leben heißt nicht länger, nur ein ethisches oder religiöses Gebot erfüllen. Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab. Dieser Wandel im „Herzen“ des Menschen ist jedoch nur in dem Maße möglich, in dem drastische ökonomische und soziale Veränderungen eintreten, die ihm die Chance geben, sich zu wandeln, und den Mut und die Vorstellungskraft, die er braucht, um diese Veränderung zu erreichen.

Gibt es eine Alternative zur Katastrophe?

Alle bisher zitierten Daten sind der Öffentlichkeit zugänglich und weithin bekannt. Die nahezu unglaubliche Tatsache ist jedoch, dass bisher keine ernsthaften Anstrengungen unternommen wurden, um das uns angesagte Schicksal abzuwenden. Während im Privatleben nur ein Wahnsinniger bei der Bedrohung seiner gesamten Existenz untätig bleiben würde, unternehmen die für das öffentliche Wohl Verantwortlichen praktisch nichts, und diejenigen, die sich ihnen anvertraut haben, lassen sie gewähren. [II-280]

Wie ist es möglich, dass der stärkste aller Instinkte, der Selbsterhaltungstrieb, nicht mehr zu funktionieren scheint? Eine der am nächsten liegenden Erklärungen ist, dass die Politiker mit vielem, was sie tun, vorgeben, wirksame Maßnahmen zur Abwendung der Katastrophe zu ergreifen. Endlose Konferenzen, Resolutionen und Abrüstungsverhandlungen erwecken den Eindruck, als habe man die Probleme erkannt und unternehme etwas zu ihrer Lösung. De facto geschieht zwar nichts, was uns wirklich weiterhilft, aber Führer und Geführte betäuben ihr Gewissen und ihren Überlebenswunsch, indem sie sich den Anschein geben, den Weg zu kennen und in die richtige Richtung zu marschieren.

Eine andere Erklärung ist, dass die vom System hervorgebrachte Selbstsucht die Politiker veranlasst, ihren persönlichen Erfolg höher zu bewerten als ihre gesellschaftliche Verantwortung. Niemand empfindet es mehr als schockierend, wenn Staats- und Wirtschaftsführer Entscheidungen treffen, die ihnen zum persönlichen Vorteil zu gereichen scheinen, dabei aber schädlich und gefährlich für die Gemeinschaft sind. Wenn die Selbstsucht eine der Säulen der heute praktizierten Ethik ist, muss man sich in der Tat fragen, warum sie sich anders verhalten sollten. Sie scheinen nicht zu wissen, dass Habgier (ebenso wie Unterwerfung) die Menschen verdummt und sie unfähig macht, ihre eigenen wahren Interessen zu verfolgen, ob diese nun ihr eigenes Leben oder das ihrer Frauen und Kinder betreffen. (Siehe dazu J. Piaget, 1932.) Gleichzeitig ist der Durchschnittsmensch so selbstsüchtig mit seinen Privatangelegenheiten beschäftigt, dass er allem, was über seinen persönlichen Bereich hinausgeht, nur wenig Beachtung schenkt.

Ein weiterer Grund für das Absterben unseres Selbsterhaltungstriebes ist darin zu suchen, dass der Einzelne die sich am Horizont abzeichnende Katastrophe den Opfern vorzieht, die er jetzt bringen müsste. Dies ist eine verbreitete Einstellung. Arthur Koestler hat uns ein bezeichnendes Beispiel dafür in der Schilderung eines Erlebnisses im Spanischen Bürgerkrieg gegeben. Er hielt sich gerade in der komfortablen Villa eines Freundes auf, als der Vormarsch der Franco-Truppen gemeldet wurde. Es stand außer Zweifel, dass sie im Laufe der Nacht das Haus erreichen würden; er musste damit rechnen, erschossen zu werden; durch Flucht konnte er sein Leben retten. Aber die Nacht war kalt und regnerisch, das Haus warm und behaglich. Also blieb er und ließ sich gefangen nehmen. Sein Leben wurde erst Wochen später fast wie durch ein Wunder dank der Bemühungen befreundeter Journalisten gerettet. Das gleiche Verhalten findet man bei Menschen, die lieber ihr Leben riskieren, als sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, die die Diagnose einer ernsten Erkrankung und die Notwendigkeit einer schweren Operation ergeben könnte.

Außer den genannten Erklärungen für die verhängnisvolle Passivität des Menschen, wenn es um Leben oder Tod geht, gibt es noch eine weitere; sie ist mit ein Grund dafür, warum ich dieses Buch schreibe. Ich spreche von der Ansicht, es gebe keine Alternativen zum Monopolkapitalismus, zum sozialdemokratischen oder sowjetischen Sozialismus oder zum technokratischen „Faschismus mit lächelndem Gesicht“. Die Popularität dieser Ansicht ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass kaum der Versuch unternommen wurde, die Möglichkeiten einer Verwirklichung völlig neuer Gesellschaftsmodelle zu untersuchen und entsprechende Experimente zu [II-281] machen. Und darüber hinaus: Solange die Probleme einer Umformung der Gesellschaft nicht wenigstens annähernd den Platz in den Köpfen unserer Wissenschaftler einnehmen, den die Naturwissenschaften und die Technik innehaben, und solange deshalb[3] die Wissenschaft vom Menschen nicht die Anziehung hat, die der Naturwissenschaft und Technik bisher vorbehalten waren, werden Kraft und Vision mangeln, neue und reale Alternativen zu sehen.

Das Hauptanliegen dieses Buches ist die Analyse der beiden Existenzweisen des Menschen, der des Habens und der des Seins.

Im ersten, einleitenden Kapitel bringe ich einige Beobachtungen zum Unterschied zwischen den beiden Existenzweisen, die auf den ersten Blick auffallen. Im zweiten Kapitel zeige ich die Unterschiede an einer Reihe von Beispielen aus dem täglichen Leben, die der Leser leicht zu seinen eigenen Erfahrungen in Beziehung setzen kann. Das dritte Kapitel enthält Ansichten zu Haben und Sein, wie sie im Alten und Neuen Testament und in den Schriften Meister Eckharts zu finden sind. In den darauf folgenden Kapiteln komme ich zu der schwierigsten Aufgabe: der Analyse des Unterschieds zwischen den Existenzweisen des Habens und des Seins, in deren Verlauf ich versuche, auf der Basis der empirischen Daten zu theoretischen Schlussfolgerungen zu gelangen. Während sich das Buch bis dahin hauptsächlich mit individuellen Aspekten der zwei grundlegenden Existenzweisen auseinandersetzt, wird in den letzten Kapiteln die Relevanz dieser beiden Existenzweisen für das Entstehen eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft untersucht und werden mögliche Alternativen zur Katastrophe, zum kräftezehrenden Krank-Sein (ill-being) des Einzelnen und zu einer verheerenden sozioökonomischen Entwicklung der ganzen Welt erörtert.

2 Haben und Sein in der alltäglichen Erfahrung

Da wir in einer Gesellschaft leben, die sich vollständig dem Besitz- und Profitstreben verschrieben hat, sehen wir selten Beispiele der Existenzweise des Seins, und die meisten Menschen sehen die auf das Haben gerichtete Existenz als die natürliche, ja die einzig denkbare Art zu leben an. All das macht es besonders schwierig, die Eigenart der Existenzweise des Seins zu verstehen und zu begreifen, dass das Haben nur eine mögliche Orientierung ist. Dennoch wurzeln diese beiden Begriffe in der menschlichen Erfahrung. Keiner von beiden sollte oder kann nur auf abstrakte und rein verstandesmäßige Weise untersucht werden. Beide spiegeln sich im täglichen Leben wider und können darum konkret behandelt werden.

Die folgenden einfachen Beispiele aus dem täglichen Leben sollen es dem Leser erleichtern, die Alternative von Haben und Sein zu verstehen.

Lernen

Studenten, die an der Existenzweise des Habens orientiert sind, hören eine Vorlesung, indem sie auf die Worte hören, ihren logischen Zusammenhang und ihren Sinn erfassen und so vollständig wie möglich alles in ihr Notizbuch aufschreiben, sodass sie sich später ihre Notizen einprägen und eine Prüfung ablegen können. Aber der Inhalt wird nicht Bestandteil ihrer eigenen Gedankenwelt, er bereichert und erweitert diese nicht. Sie pressen das, was sie hören, in starre Gedankenansammlungen oder ganze Theorien, die sie speichern. Inhalt der Vorlesung und Student bleiben einander fremd, außer dass jeder dieser Studenten zum Eigentümer bestimmter, von einem anderen getroffener Feststellungen geworden ist (die dieser entweder selbst geschaffen hat oder aus anderen Quellen schöpfte).

Studenten in der Existenzweise des Habens haben nur ein Ziel: das „Gelernte“ festzuhalten, entweder indem sie es ihrem Gedächtnis einprägen oder indem sie ihre Aufzeichnungen sorgsam hüten. Sie brauchen nichts Neues zu schaffen oder hervorzubringen. Der „Habentypus“ fühlt sich in der Tat durch neue Ideen oder Gedanken über sein Thema eher beunruhigt, denn das Neue stellt die Summe der Informationen [II-294] in Frage, die er bereits hat. Für einen Menschen, für den das Haben die Hauptform seiner Bezogenheit zur Welt ist, sind Gedanken, die nicht leicht aufgeschrieben und festgehalten werden können, furchterregend, wie alles, was wächst, sich verändert und sich somit der Kontrolle entzieht.

Für Studenten, die in der Weise des Seins zur Welt bezogen sind, hat der Lernvorgang eine völlig andere Qualität. Zunächst einmal gehen sie selbst zu der ersten Vorlesung nicht als tabula rasa. Sie haben über die Thematik, mit der sich der Vortrag beschäftigt, schon früher nachgedacht; es beschäftigen sie bestimmte Fragen und Probleme. Sie haben sich mit dem Gegenstand schon auseinandergesetzt und sind an ihm interessiert.

Statt nur passiv Worte und Gedanken zu empfangen, hören sie zu und hören nicht bloß, sie empfangen und antworten auf aktive und produktive Weise. Was sie hören, regt ihre eigenen Denkprozesse an, neue Fragen, neue Ideen, neue Perspektiven tauchen dabei auf. Der Vorgang des Zuhörens ist ein lebendiger Prozess; der Student nimmt die Worte des Lehrers auf und wird in der Antwort lebendig. Er hat nicht bloß Wissen erworben, das er nach Hause tragen und auswendig lernen kann. Jeder Student ist betroffen und verändert worden: Jeder ist nach dem Vortrag ein anderer als vorher. Diese Art des Lernens ist nur möglich, wenn der Vortrag auch anregendes Material bietet. Auf leeres Gerede kann man nicht in der Weise des Seins reagieren und tut besser daran, nicht zuzuhören, sondern sich auf seine eigenen Gedanken zu konzentrieren. Ich möchte zumindest kurz auf das Wort „Interesse“ eingehen, das durch Abnützung farblos geworden ist. Seine ursprüngliche Bedeutung ist jedoch in seiner Wurzel enthalten: lat. inter-esse, d. h. „dazwischen sein“ oder „dabei sein“. Dieses aktive Interesse wurde im Mittelenglischen durch das Wort „to list“ (Adj. listy, Adv. listily) ausgedrückt. Heute wird „to list“ nur räumlich („a ship lists“ = ein Schiff neigt sich) gebraucht; die ursprüngliche Bedeutung im psychologischen Sinn ist nur in dem negativen „listless“ (teilnahmslos) enthalten. „To list“ bedeutete einmal, „aktiv nach etwas streben“, „echt interessiert sein an“. Die Wurzel ist die gleiche wie bei „Lust“, aber „to list“ heißt nicht, von einer Lust getrieben sein, sondern beinhaltet das freie und aktive Interesse oder das Streben nach etwas. „To list“ ist einer der Schlüsselbegriffe des anonymen Verfassers von The Cloud of Unknowing, das Mitte des 14. Jahrhunderts entstand (E. Underhill, 1956). Die Tatsache, dass die Sprache das Wort nur in der negativen Bedeutung beibehielt, ist charakteristisch für den Wandel, der sich zwischen dem 13. und dem 20. Jahrhundert in der geistigen Haltung der Gesellschaft vollzog.

Erinnern

Erinnern kann man sich in der Weise des Habens und in der Weise des Seins. Die beiden Formen des Erinnerns unterscheiden sich im Wesentlichen durch die Art der Verbindung, die man herstellt. Erinnert man sich in der Weise des Habens, so ist die Verbindung völlig mechanisch, wie es der Fall ist, wenn sich die Verbindung zwischen zwei Worten durch häufige gleichzeitige Verwendung einschleift. Oder es kann sich [II-295] um Verbindungen handeln, die auf rein logischen Zusammenhängen beruhen, wie im Falle von Gegensatzpaaren, konvergierenden Begriffen oder Verbindungen auf Grund von Zeit, Raum, Größe und Farbe, oder auf Grund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gedankensystem.

Erinnern in der Weise des Seins ist aktives Tun, mit dem man sich Worte, Gedanken, Anblicke, Bilder und Musik ins Bewusstsein zurückruft. Zwischen dem einzelnen Faktum, das man sich vergegenwärtigen will, und vielen anderen Fakten, die damit zusammenhängen, werden Verbindungen hergestellt. Hier werden die Verbindungen nicht in mechanischer oder rein logischer, sondern in lebendiger Weise hergestellt. Jeder Begriff wird mit einem anderen durch einen produktiven Akt des Denkens (oder Fühlens) verbunden, der einsetzt, wenn man nach dem richtigen Wort sucht. Ein einfaches Beispiel: Wenn ich das Wort „Schmerzen“ oder „Aspirin“ mit dem Wort „Kopfschmerzen“ assoziiere, dann bewege ich mich in logischen, konventionellen Bahnen. Wenn ich dagegen die Worte „Stress“ und „Ärger“ mit „Kopfweh“ verbinde, dann verbinde ich das betreffende Faktum mit möglichen Ursachen, auf die ich gekommen bin, weil ich mich mit dem Phänomen beschäftigt habe. Diese Art des Erinnerns ist an und für sich selbst ein Akt des produktiven Denkens. Das bemerkenswerteste Beispiel für diese lebendige Art des Erinnerns sind die von Freud gefundenen „freien Assoziationen“.

Wer nicht in erster Linie am Speichern als solchem interessiert ist, wird feststellen, dass sein Gedächtnis, um gut zu funktionieren, eines starken und unmittelbaren Interesses bedarf. So haben zum Beispiel Leute die Erfahrung gemacht, dass sie sich in Notlagen, in denen es lebenswichtig war, ein bestimmtes Wort zu wissen, an vergessen geglaubte Ausdrücke aus Fremdsprachen erinnerten. Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass ich, obwohl ich nie über ein besonders gutes Gedächtnis verfügt habe, mich an den Traum eines Menschen, den ich analysiert habe, erinnere, ob dieser nun zwei Wochen oder fünf Jahre zurückliegt, sobald ich den Betreffenden vor Augen habe und mich auf seine ganze Persönlichkeit konzentriere. Fünf Minuten früher wäre es mir dagegen unmöglich gewesen, mich auf Anhieb an den Traum zu erinnern.

In der Existenzweise des Seins impliziert Erinnern, etwas ins Leben zurückzurufen, was man einmal gesehen oder gehört hat. Jeder kann diese produktive Art des Erinnerns vollziehen, wenn er versucht, sich den Anblick von Gesichtern und Landschaften ins Gedächtnis zu rufen, die er einmal gesehen hat. Das Gesicht oder die Landschaft taucht nicht sofort vor dem geistigen Auge auf. Es muss wiedererschaffen, zum Leben erweckt werden. Das ist nicht immer leicht. Voraussetzung ist, dass ich das Gesicht oder die Landschaft einmal mit genügender Konzentration betrachtet habe, um sie mir deutlich ins Gedächtnis rufen zu können. Wenn diese Art des Erinnerns voll gelingt, ist die Person, deren Gesicht ich mir ins Gedächtnis rufe, in voller Lebendigkeit präsent, die Landschaft so gegenwärtig, als habe man sie wirklich vor sich. Typisch dafür, wie man sich in der Weise des Habens an ein Gesicht oder eine Landschaft erinnert, ist die Art und Weise; wie die meisten Menschen ein Photo betrachten. Das Photo dient ihrem Gedächtnis nur als Stütze, um einen Menschen oder eine Landschaft zu identifizieren. Ihre Reaktion auf das Bild ist etwa: „Ja, das ist er“, oder „Ja, da war ich“. Das Photo wird für die meisten zu einer entfremdeten Erinnerung. [II-296]

Eine weitere Form entfremdeten Erinnerns ist es, wenn ich mir aufschreibe, was ich im Gedächtnis behalten möchte. Indem ich es zu Papier bringe, erreiche ich, dass ich die Information habe – ich versuche nicht, sie meinem Gehirn einzuprägen. Ich bin meines Besitzes sicher, es sei denn, ich verliere die Aufzeichnungen und damit auch das zu Erinnernde. Meine Erinnerungsfähigkeit hat mich verlassen, da mein Gedächtnis in der Form meiner Aufzeichnungen zu einem veräußerten Teil meiner selbst geworden ist.

Angesichts der Unmenge von Daten, die der moderne Mensch im Gedächtnis behalten muss, ist es unmöglich, ganz ohne Notizen und Nachschlagewerke auszukommen. Aber die Tendenz, das Gedächtnis zu ersetzen, nimmt in unvernünftig erscheinendem Maße zu. Dass dabei das Aufschreiben die Erinnerungsfähigkeit vermindert, können wir am leichtesten und besten an uns selbst beobachten. Dennoch sind vielleicht einige Beispiele nützlich.

Ein alltägliches Beispiel ist der Verkäufer im Laden: Kaum ein Verkäufer macht noch eine einfache Addition von zwei oder drei Posten im Kopf, vielmehr wird eine Maschine bemüht. Die Schule bietet ein weiteres Beispiel: Lehrer können beobachten, dass Schüler, die jeden Satz gewissenhaft mitschreiben, aller Wahrscheinlichkeit nach weniger verstehen und sich an weniger erinnern als solche Schüler, die auf ihre Fähigkeit vertrauen, wenigstens das Wesentliche zu verstehen und zu behalten. Musiker wissen, dass diejenigen, denen es am leichtesten fällt, vom Blatt zu spielen, größere Schwierigkeiten haben, sich Musik ohne Partitur zu merken. (Ich verdanke diese Information Dr. Moshe Budmor.) Toscanini ist ein gutes Beispiel für einen Musiker in der Weise des Seins; er hatte auch ein außerordentlich gutes Gedächtnis.

Ich habe in Mexiko beobachtet, dass Analphabeten und Menschen, die wenig schreiben, ein weit besseres Gedächtnis haben als die lese- und schreibkundigen Bürger der Industriestaaten; dies ist eine Tatsache unter mehreren, die vermuten lässt, dass die Kunst des Lesens und Schreibens nicht nur ein Segen ist, wie behauptet wird, speziell wenn sie dazu dient, Dinge zu lesen, durch die die Erlebnisfähigkeit und die Phantasie verkümmern.

Miteinander sprechen

Im Gespräch wird der Unterschied zwischen den beiden Existenzweisen rasch deutlich. Nehmen wir eine typische Unterhaltung zwischen zwei Männern, in der A die Meinung X hat und B die Meinung Y. Jeder kennt die Ansicht des anderen mehr oder weniger genau. Beide identifizieren sich mit ihrer Meinung. Es kommt ihnen darauf an, bessere, das heißt treffendere Argumente zur Verteidigung ihres eigenen Standpunktes vorzubringen. Keiner denkt daran, seine Meinung zu ändern oder erwartet, dass der Gegner dies tut. Sie fürchten sich davor, von ihrer Meinung zu lassen, da diese zu ihren Besitztümern zählt und ihre Aufgabe somit einen Verlust darstellen würde.

Bei einem Gespräch, das nicht als Debatte gedacht ist, verhält sich die Sache etwas anders. Wer hat nicht schon einmal die Erfahrung gemacht, mit einem Menschen [II-297] zusammenzutreffen, der bekannt oder berühmt oder auch durch persönliche Qualitäten ausgezeichnet ist, oder einem Menschen, von dem man einen guten Job oder Liebe und Bewunderung erwartet? Viele sind unter diesen Umständen nervös und ängstlich und bereiten sich auf die wichtige Begegnung vor. Sie überlegen sich, welche Themen den anderen interessieren könnten, sie planen im Voraus die Eröffnung des Gesprächs, manche skizzieren die ganze Unterredung, soweit es ihren Part betrifft. Mancher macht sich vielleicht Mut, indem er sich vor Augen hält, was er alles hat: seine früheren Erfolge, sein charmantes Wesen (oder seine Fähigkeit, andere einzuschüchtern, falls dies mehr Erfolg verspricht), seine gesellschaftliche Stellung, seine Beziehungen, sein Aussehen und seine Kleidung. Mit einem Wort, er veranschlagt im Geiste seinen Wert, und darauf gestützt bietet er nun im Gespräch seine Waren an. Wenn er dies sehr geschickt macht, wird er in der Tat viele Leute beeindrucken, obwohl dies nur zum Teil seinem Auftreten und weit mehr der mangelnden Urteilsfähigkeit der meisten Menschen zuzuschreiben ist. Der weniger Raffinierte wird mit seiner Darbietung nur geringes Interesse erwecken; er wird hölzern, unnatürlich und langweilig wirken.

Im Gegensatz dazu steht die Haltung des Menschen, der nichts vorbereitet und sich nicht aufplustert, sondern spontan und produktiv reagiert. Ein solcher Mensch vergisst sich selbst, sein Wissen, seine Position; sein Ich steht ihm nicht im Wege; und aus genau diesem Grund kann er sich voll auf den anderen und dessen Ideen einstellen. Er gebiert neue Ideen, weil er nichts festzuhalten trachtet.

Während sich der „Habenmensch“ auf das verlässt, was er hat, vertraut der „Seinsmensch“ auf die Tatsache, dass er ist, dass er lebendig ist und dass etwas Neues entstehen wird, wenn er nur den Mut hat, loszulassen und zu antworten. Er wirkt im Gespräch lebendig, weil er sich selbst nicht durch ängstliches Pochen auf das, was er hat, erstickt. Seine Lebendigkeit ist ansteckend, und der andere kann dadurch häufig seine Egozentrik überwinden. Die Unterhaltung hört auf, ein Austausch von Waren (Informationen, Wissen, Status) zu sein und wird zu einem Dialog, bei dem es keine Rolle mehr spielt, wer recht hat. Die Duellanten beginnen, miteinander zu tanzen, und sie trennen sich nicht im Gefühl des Triumphs oder im Gefühl der Niederlage, was beides gleich fruchtlos ist, sondern voll Freude. (Bei der psychoanalytischen Therapie ist der wesentlichste therapeutische Faktor diese belebende Qualität des Therapeuten. Die ausführlichsten Deutungen werden wirkungslos sein, wenn die therapeutische Atmosphäre schwer, unlebendig und langweilig ist.)

Lesen

Was für das Gespräch gilt, trifft gleichermaßen für das Lesen zu, das eine Zwiesprache zwischen Autor und Leser ist oder sein sollte. Natürlich ist es beim Lesen (ebenso wie beim Gespräch) wichtig, „was“ ich lese (oder mit wem ich rede). Einen kunstlosen, billig gemachten Roman zu lesen, ist eine Form des Tagträumens. Es gestattet keine produktive Reaktion, der Text wird geschluckt wie eine belanglose Fernsehsendung oder die Kartoffelchips, die man gedankenlos beim Zuschauen isst. Einen [II-298] Roman von Balzac zum Beispiel kann man dagegen produktiv und mit innerer Anteilnahme, das heißt in der Weise des Seins lesen. Doch auch solche Bücher werden wahrscheinlich meist in einer Konsumhaltung – in der Weise des Habens – gelesen. Da seine Neugier erregt ist, will der Leser die Handlung wissen, er will erfahren, ob der Held stirbt oder am Leben bleibt, ob sich das Mädchen verführen lässt oder nicht. Der Roman ist in diesem Fall eine Art Vorspiel, das ihn erregt, der glückliche oder unglückliche Ausgang ist der Höhepunkt. Wenn er das Ende weiß, hat er die ganze Geschichte, fast so wirklich, als habe er in seinen eigenen Erinnerungen gewühlt. Aber er hat keine Erkenntnisse gewonnen. Er hat seine Einsicht in das Wesen des Menschen nicht vertieft, indem er die Romanfigur erfasste, noch hat er etwas über sich selbst gelernt.

Auch für philosophische oder historische Werke gilt die gleiche Unterscheidung. Die Art – oder Unart – wie man ein philosophisches oder historisches Buch liest, ist ein Resultat der Erziehung. Die Schule ist bemüht, jedem Schüler eine bestimmte Menge an „Kulturbesitz“ zu vermitteln, und am Ende seiner Schulzeit wird ihm bescheinigt, dass er zumindest ein Minimum davon hat.