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Buchinfo

Ich bin Valentine. Dass wir Leichen im Keller haben, stört mich nicht – meine Eltern sind Bestatter. Doch eine davon hat mein Leben verändert. Ich hab echt nicht an Seelenwanderung und all so was geglaubt, bis zu dem Tag, als der Geist von Kriminaloberkommissar Kasimir in mein Meerschweinchen Bully gefahren ist. Seither heißt Bully Herr Kasimir – der Oberkommissar besteht nämlich darauf, dass ich ihn sieze. Und ich bin plötzlich Kriminalassistentin und stecke mitten in einer Mordermittlung. Denn Herr Kasimir ist sich sicher: Er ist ermordet worden …

Autorenvita

Brigitte Endres

© privat

Brigitte Endres, in Würzburg geboren, studierte Geschichte und Germanistik. Ihr Talent zum Fabulieren entdeckte die ausgebildete Lehrerin, als sie begann, für ihre Schüler zu schreiben. Bald darauf wurde ihr erstes Kinderbuch publiziert. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen bei verschiedenen Verlagen sowie im Bayerischen Rundfunk. Heute ist Brigitte Endres hauptberuflich als Autorin tätig.
www.brigitte-endres.de

  Brigitte Endres– DER TAG, AN DEM MEIN MEERSCHWEINCHEN KRIMINALOBERKOMMISSAR WURDE– THIENEMANN

1. Kapitel

1. Kapitel

Aufnahme-Button Ich war schon immer gern auf dem alten Stadtfriedhof. Dad hat mich oft hierher mitgenommen, als ich noch klein war. Ein super Spielplatz, auf dem man nicht geschubst wird oder in Katzenkacke fasst. Feine Krümelerde, zartrosa Regenwürmer und grün schillernde Käfer, Eichhörnchen, Spechte und Rotkehlchen. Ab und zu stieß mein Kinderschäufelchen auf einen ururalten Knochen, karamellfarben, glatt und leicht wie Porzellan. Als ich in die Schule kam, konnte ich dann nicht mehr so oft auf den Friedhof mit. Aber jetzt bin ich wieder öfter hier, allerdings nicht mit Dad, sondern mit einem Freund. – Freund? Ja, obwohl ich ihn immer noch sieze, möchte ich ihn, nach alldem, was wir zusammen durchgestanden haben, definitiv einen Freund nennen – und ich bin da sehr wählerisch. – Übrigens sitzt er neben mir auf der schwarzen Marmorplatte des Grabes, das wir immer besuchen.

Die Geschichte, ich möchte fast sagen – unsere Geschichte –, die ich, auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin, heute in mein Smartphone spreche, würde ich zwar ohnehin nie vergessen. Definitiv NIE! Aber vielleicht schreibe ich sie eines Tages ja sogar noch auf und verkaufe sie an Hollywood – denn sie ist wirklich abgefahren!

Die bereits erwähnte Grabplatte trägt eine lateinische Aufschrift, die schon viel über den Mann sagt, dessen sterbliche Überreste – und wahrhaftig nur die! – darunter begraben sind. Homo homini lupus, was heißt: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Die bittere Bedeutung dieser Worte war mir leider schon bekannt, ehe sie mir an diesem Ort des Friedens wieder begegneten. Doch sollten mir die Ereignisse, die ich hier aufzeichne, die Abgründe der menschlichen Natur erst noch richtig vor Augen führen …

Aber ich fang jetzt einfach mal an. – Hoffe, der Akku hält durch, weil ich manchmal etwas zum Abschweifen neige.

Homo homini lupus. Ja, das ist so traurig, wie es wahr ist! Mum nervt mein negatives Menschenbild. Sie findet, eine fast Vierzehnjährige hätte die verdammte Pflicht, die Welt positiv zu sehen. Sie hofft immer noch, das sei nur eine vorübergehende Pubertätserscheinung, da sei man halt verletzlich und könne sich selbst nicht leiden.

NEIN!, es liegt nicht an der Pubertät, es liegt definitiv an der Menschheit. Abgesehen von eigenen deprimierenden Erfahrungen, bin ich jedes Mal bedient, wenn ich die Nachrichten einschalte und mir ansehen muss, was sich meine lieben Zeitgenossen binnen eines einzigen Tages alles so angetan haben.

In puncto Selbstwertgefühl hat Mum aber nicht ganz unrecht. Doch das bezieht sich nur auf mein Äußeres. Mir hat die Natur einen – sagen wir mal – nicht ganz so schlanken Körper geschenkt, dafür aber den Appetit eines Holzfällers und die Kurzsichtigkeit eines Maulwurfs. Beides unverkennbar Gene von Dad – Pech gehabt, gegen Gene kommt man nicht an. Schon auf meinen Kleinkinderfotos blinzle ich durch die reinsten Flaschenböden in die Welt. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn Mum meint, dass mich die Brille intellektuell aussehen lässt. Okay, damit kann ich leben. »Schönheit vergeht, Dummheit bleibt«, sagt Dad. Das tröstet mich. Denn wenigstens bin ich nicht dumm – ich denke, das darf ich sagen, ohne gleich arrogant rüberzukommen. Obwohl sie mich bereits mit fünf eingeschult haben, weil ich schon lesen konnte, bin ich seither immer Klassenbeste gewesen. Die zweite Klasse hab ich dann übersprungen, weil ich mich sonst kaputt gelangweilt hätte. In diesem Punkt bin ich unangreifbar. Allerdings machen Überfliegernoten einsam.

Die Kinderbuchabteilung der Stadtbibliothek hatte ich schon mit neuneinhalb durch und dann machte ich mich über Dads Bibliothek her, und die kann sich sehen lassen. Was soll ein Kind auch machen, wenn es keine Freunde hat. Wobei das so eigentlich nicht stimmt – ich hatte nämlich einen Freund: den kleinen Henry. Seit wann ich ihn hatte, weiß ich nicht mehr, aber er begleitete mich einige Jahre lang. Der kleine Henry hat Mum und Dad ziemlich Kopfzerbrechen bereitet. Er wusste zum Beispiel immer, wo Mum die Schokolade versteckt. Natürlich bekam ich die Schimpfe ab, wenn dann wieder ein brauner Fleck auf dem Wohnzimmersofa pappte. Und einmal hat er unten im Laden eine sauteure Keramikurne runtergeworfen. Mum war stinksauer, als ich ihr tränenreich meine Unschuld beteuerte. Ich weiß auch noch, dass ich dem kleinen Henry nächtelang Geschichten erzählt hab. Und oft haben wir uns lustige Wörter zusammen ausgedacht, die meine Eltern aber gar nicht lustig fanden, weil die meisten mit Arsch oder Scheiß anfingen. Jedenfalls brachten sie mich zu einem Kinderpsychologen und der sagte, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, und dass nur sehr fantasiebegabte und wortgewandte Kinder imaginäre Freunde hätten. Irgendwann blieb der kleine Henry schließlich weg, was wohl daran lag, dass ich größer wurde und Henry immer gleich klein blieb. Aber es war eine gute Zeit mit ihm, an die ich gern zurückdenke. Ja, manchmal vermisse ich ihn sogar heute noch, denn ich tu mich ziemlich schwer damit, Kontakte zu schließen.

»Ich versteh das nicht, Valentine«, sagt Mum oft und schaut mich in dieser unerträglichen Mischung aus Mitleid und Ratlosigkeit an. »In deinem Alter hatte ich zig Freundinnen. Dein Bruder ist doch auch kein Einzelgänger und er ist im selben Haushalt aufgewachsen wie du.«

Ja, super, aber ich bin nicht wie Felix! Ich möchte fast sagen: leider. Sein Name ist Programm – der Glückliche! Anders als ich, kommt er ganz auf Mum. Er ist schlank, groß und blond und hat blitzblaue Augen, so ein Boygroup-Typ. Die Mädchen fliegen auf ihn wie Brummer auf einen Kuhfladen. – Okay, der Vergleich hinkt etwas, dabei hab ich echt nichts gegen ihn. Aber wir hatten früher kaum Gemeinsamkeiten, außer, dass er immer so supergute Noten in der Schule hatte wie ich. Felix ist sechs Jahre älter und das ließ er mich mit Vorliebe spüren. Sechs Jahre, das ist ja auch definitiv eine Menge. Als ich in die Grundschule kam, war er schon im Gymnasium, hatte Pickel und hörte Techno, während ich noch Bibi-Blocksberg-Fan war und mir einen Besen wie Kartoffelbrei gewünscht hab. Wir haben im Grunde nebeneinander hergelebt, bis er vor einem Jahr auszog. Mann, er hat ein Abi mit 1,2 hingelegt und auf Anhieb einen Studienplatz für Medizin bekommen! Das ist schon cool. Dad war darüber nicht so begeistert, weil damit feststand, dass er das Geschäft nicht übernehmen würde und das heißt doch Engel und Sohn.

Mum allerdings war schon immer der Meinung, jedes Kind sollte das Recht haben, seinen Beruf frei zu wählen, und Felix sollte es mal nicht so ergehen wie Dad. Mein Vater wollte nämlich ursprünglich Buchhändler werden – das ist auch der Grund, warum wir geschätzt eine halbe Million Bücher im Haus haben. Das Einzige, was Mum an Felix’ Berufswahl zu bemäkeln hat – sie mäkelt sonst nie an etwas herum, das Felix tut –, ist, dass er Pathologe werden will, weil sie sagt, dass man als Orthopäde oder Schönheitschirurg sehr viel mehr Geld machen kann. Da muss ich ihr recht geben, aber daran sieht man eben, dass auch Felix von der Umgebung seiner Kindheit geprägt worden ist.

Jedenfalls hat sie mir Felix in puncto Freunde immer als leuchtendes Vorbild vor die Nase gehalten. Ja, der schöne Felix war auch Klassensprecher … Ich müsse mich eben mehr bemühen … Aber Felix musste sich nie groß bemühen. Erstens sieht er, wie schon gesagt, verdammt gut aus. Zweitens waren seine Schulfreunde fast alle Jungs, und Jungs sind nun mal nicht halb so hysterisch wie Mädchen, wenn es um bestimmte Dinge geht. Dass Felix viel früher ausgezogen ist als die meisten seiner Freunde, liegt, wenn man mich fragt, genau daran – nämlich, dass keines seiner Mädels bei uns übernachten wollte. Dabei sind meine Eltern in dieser Hinsicht wirklich tolerant. – Mum hat es zwar fast das Herz gebrochen, als er seinen Kram gepackt hat, aber dann hat sie ihm sogar die Vorhänge für seine Bude genäht.

Wie dem auch sei. Anders als Felix stand ich auf der Beliebtheitsskala nie oben. Was soll’s? Irgendwo hab ich mal ein superschlaues Zitat gelesen, von Schopenhauer, glaub ich. – Da heißt es sinngemäß: Überlegenheit ist, wenn man die anderen nicht braucht und es ihnen zeigt. Respekt kriegt man eben nicht geschenkt, wenn man dicke Brillengläser trägt und vier Kilos zu viel hat – Mum behauptet sechs, aber da übertreibt sie.

Nein, Leute, ich mach nicht mit bei Wer-ist-die-Dünnste-und-Schönste-im-ganzen-Land. – Ich hätte eh keine Chance. – So ziemlich alles, was die Mädchen in meiner Klasse interessiert, langweilt mich schlicht zu Tode, ihre Zeitschriften, die Musik, die sie hören. Dabei sind die meisten sogar zwei Jahre älter als ich. Außerdem hab ich definitiv kein Pink-Problem, ich hasse diese süßliche Bonbonfarbe. Und mit Castingshows kann man mich jagen. Ich kann einfach nicht ohne Brechreiz zusehen, wie diese Supergirlies so appetitlich und leider auch ebenso intelligent wie ein Pfund Schnitzel von den Medien verarscht werden. Da mutiere ich zur Hardcore-Emanze!

Und was die Jungs angeht – die sind dermaßen kindisch, dass ich mir manchmal vorkomme wie auf dem Affenfelsen. Ich glaub, die Hälfte von denen ist sowieso auf Ritalin. Auch wenn sich das vielleicht so anhört, prinzipiell hab ich nichts gegen Gleichaltrige, ich hab bisher nur noch keinen getroffen, mit dem man sich halbwegs auf Niveau austauschen könnte.

Mum sagt, heutzutage könnte man Freundschaften doch auch übers Internet pflegen, das sei doch ein guter Weg, wenn man schüchtern ist.

Mum! Ich bin NICHT schüchtern! UND ich bin vor allem NICHT BLÖD! Diese sogenannten sozialen Netzwerke – von wegen sozial … Da trauen sich selbst die Feigsten – die vor allem! –, dich vor allen zum Gespött zu machen. Eine in meiner Klasse haben sie dermaßen gemobbt, dass sie die Schule gewechselt hat. Okay, die Hellste war das Mädel nicht, aber trotzdem, das war echt fies! Am besten, man hält sich zurück – das ist meine Meinung. »Willst was gelten, mach dich selten«, hat Oma Engel immer gesagt und Mum fand das gut – aber das hatte rein familiäre Gründe.

Ups, soeben macht mich mein Begleiter darauf aufmerksam, dass ich endlich zur Sache kommen soll. – Ich will’s versuchen, obwohl ich finde, das alles gehört irgendwie dazu.

Wie dem auch sei, seit das mit Bully passiert ist, kann ich über Abwechslung in meinen Leben nicht mehr klagen und inzwischen bringen mir die anderen sogar eine gewisse Bewunderung entgegen. Dass ich von klein auf eine Außenseiterin war, liegt definitiv auch an unserem Geschäft.

Einmal hat mich Olaf im Firmenwagen zu einem Kindergeburtstag gebracht. Die Kleinbürgermamas haben einen Heidenschreck gekriegt, als er den Kombi vor der Tür abstellte. Den meisten Menschen ist unser Gewerbe irgendwie unheimlich. Dabei ist es ein Geschäft wie jedes andere. – Für mich jedenfalls, ich bin schließlich damit aufgewachsen. Bestatter ist ein total vielseitiger Beruf. Und inzwischen ist mir auch klar geworden, dass es ein ungeheuer verantwortungsvoller Beruf ist, in dem man verdammt wachsam sein muss. Wer weiß denn schon, dass alljährlich weit über tausend Leute unter die Erde kommen, die KEINES natürlichen Todes gestorben sind, ohne dass das jemals aufgedeckt wird. Also ich wusste das nicht, bis …

Aber ich will versuchen, die ganze Geschichte von vorn aufzurollen.

Es war an einem verregneten Herbstnachmittag, als Mum mich bat, Olaf eine Tasse Kaffee und einen Teller Kekse in den Keller zu bringen. Ich mag Olaf, er arbeitet schon so lange bei uns, dass er richtig zur Familie gehört. Vorher war er Maskenbildner in Berlin. Als er sich in Martin verknallte – Martin hat hier um die Ecke einen Friseursalon –, zog er zu seinem Liebsten. Aber in unserer kulturlosen Kleinstadt gibt es kein Theater, und als Dad die Stelle ausschrieb, bewarb sich Olaf und bekam sie auch.

»Olaf Sauerbier«, sagt Dad, »ist ein wahrer Zauberer auf seinem Gebiet.« Und da hat er hundertpro recht.

»Meine Kundschaft hält ja auch still und lässt mich machen«, sagt Olaf.

In unser Geschäft kommen zwei Sorten von Kunden, die einen gehen durch die Vordertür und die anderen werden durch die Hintertür getragen. »Die durch die Hintertür kommen, sind fraglos die Angenehmeren«, sagt Dad. »Mit denen gibt es nie Scherereien.«

Unser Haus ist ein großes Geschäftshaus. »Beste Innenstadtlage und inzwischen ein Vermögen wert«, sagt Dad. Aber verkaufen würde er nie. »Das Erbe der Väter verkauft man nicht!«

Die Wohnung ist in der Beletage – wie Mum den ersten Stock bezeichnet. Darunter liegt der Laden mit den Beratungsräumen, dem Abschiedszimmer und dem Büro von Frau Kuckelkorn, unserer Sekretärin. »Der Kuckelkorn entgeht nichts«, sagt Dad. »Die ist der geborene Buchhalter. Und dazu hat sie ordentlich Haare auf den Zähnen.« – Insofern ist sie wirklich die ideale Besetzung! Meine Eltern trösten, hören zu, machen Vorschläge, wie die Trauerfeier ablaufen könnte, und sind schon von Berufs wegen nett und einfühlend. »Wer ein Geschäft hat, muss lächeln können. – Altes chinesisches Sprichwort«, sagt Dad. Aber wenn es ans Zahlen geht, hält sich die Dankbarkeit der Hinterbliebenen leider oft in Grenzen. Und da springt unsere Frau Kuckelkorn ein und nervt die Leute, bis sie das Geld eingetrieben hat.

Im Erdgeschoss befinden sich noch der Aufenthalts- und der Umkleideraum für die Angestellten. Neben der Kuckelkorn und Olaf arbeitet bei uns noch Herr Hahn, der hauptsächlich Fahrdienste erledigt. Wenn viel los ist, springt Felix auch ab und zu ein, vor allem in den Semesterferien oder an den Wochenenden, und verdient sich ein bisschen Taschengeld dazu. »Jede x-beliebige Aushilfe kann man nicht nehmen«, sagt Dad. »Ernsthaftigkeit und Pietät sind in unserem Geschäft das Wichtigste. Wer den Toten und ihren Angehörigen keinen Respekt entgegenbringt, ist bei uns fehl am Platz.«

Tatsächlich trägt die Konkurrenz in der Hindenburgstraße das Wort sogar im Namen. Bestattungsinstitut Pietät, steht zwischen zwei schwarzen Palmwedeln auf dem Firmenschild. Ich find’s ja kitschig, aber das ist Geschmackssache. Bei uns steht über dem Schaufenster ganz schlicht: Bestattungsinstitut Engel und Sohn. Falls ich mal den Laden übernehme – worüber ich manchmal nachdenke –, muss das natürlich geändert werden, denn ein Sohn bin ich ja nun definitiv nicht.

Dass wir zufällig Engel heißen, ist leider eine Herausforderung für einfache Gemüter. Eine Weile haben ein paar Witzbolde in der Schule versucht, mir den Spitznamen Grabengel zu verpassen. Aber mit so was können mich diese Blumenkohlgehirne echt nicht treffen. Ignorieren ist die einzig intelligente Antwort auf dümmliche Provokationen. Keine Reaktion = kein Spaß, also haben sie es bald wieder bleiben lassen. Das Dümmste, was sie sich mal geleistet haben, war, mir eine tote Maus in die Pausendose zu stecken. Weiß der Geier, wo sie die herhatten. Ich denk noch, was glotzen die eigentlich so blöd, als ich die Dose aufmach und den Kadaver eines Kleinnagers und einen Zettel mit der Aufschrift: Bestatte mich!, finde. Ich will jetzt nicht behaupten, dass ich keinen Schreck bekommen hab, ich bin ja nicht aus Beton. Aber nach dem ersten Adrenalinstoß hab ich die Maus am Schwanz gepackt, ein paarmal wie ein Lasso herumgewirbelt und dann losgelassen. Einfach so, wortlos und vor allem ohne den ersehnten Entsetzensschrei. Mann, da war echt was los! Ich hab sie kreischen lassen und bin cool wie ein Eiszapfen auf den Pausenhof stolziert. Zum Glück hatte Mum mein Käsebrötchen gut in Folie gepackt. Ja, die Schule ist ein Narrenschiff, aber da muss jeder durch. Im Großen und Ganzen ließen sie mich danach in Ruhe und heute käme wahrscheinlich keiner mehr auf so eine Idee. Ich ticke vielleicht auf etwas höherem Niveau als die anderen, aber ich bemühe mich, das nicht raushängen zu lassen. Überlegenheit und Überheblichkeit sind zwei verschiedene Stiefel. Überlegenheit ist die intelligente Variante der Überheblichkeit, die ja immer mit Dummheit gepaart ist. Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz – auch ein Spruch von Oma Engel.

Small Talk? – Klar, mit jedem und jederzeit, aber ich rede NIEMALS über das Geschäft. Dad sagt: »Unsere Kundschaft hat ein Anrecht auf Vertraulichkeit.«

Eine Frage krieg ich trotzdem immer wieder übergebraten: »Hast du schon mal ’ne echte Leiche gesehen?« Da schwillt mir dann echt der Hals. Erstens mag ich das Wort Leiche nicht, das hört sich an, als wäre ein toter Mensch eine Sache. – Am schlimmsten finde ich das Wort Leichenschmaus – mindestens so abartig wie Kinderschnitzel – Mahlzeit! Zu Hause sprechen wir meistens von Kunden oder Verstorbenen. Und zweitens: Ein Toter sieht normalerweise auch nicht anders aus als ein Lebendiger, es sei denn, er war schwer krank oder hatte einen Unfall. Natürlich hab ich schon Verstorbene gesehen! Viele. Von klein auf! Wo ist das Problem? Die Leute sollen sich nicht so viele Horrorfilme ansehen! Vor Toten braucht man sich echt nicht fürchten. Ich schlaf wie ein Baby, egal wie viele Kunden in unserem Keller liegen – von wegen Leichen im Keller – ha, ha! Eines muss man sich doch mal klarmachen: Es sind unfassbar mehr Menschen schon tot, als momentan leben. Aber wer stellt sich Beethoven schon als Leiche vor oder Lady Di oder Dschingis Khan? Es geht doch darum, was der Mensch geleistet hat, um das, was er für andere war. Das Andenken zählt! Das ist doch, was bleibt, wenn einer stirbt. Nicht die sogenannten sterblichen Überreste. – Aber ich will jetzt nicht zu philosophisch werden. – Dazu neige ich leider, ich stelle mir dauernd Fragen nach dem Sinn von Leben und Tod, aber eine Antwort hab ich noch nicht gefunden

Sorry, ich verlier mal wieder den Faden …

Also zurück ins Erdgeschoss, um mit der Hausführung weiterzumachen, weil es für die irrwitzige Geschichte, die noch kommt, wichtig ist, die Örtlichkeiten zu kennen. Eine Hintertür führt in den Hof und zur Garage. Dad hat letztes Jahr einen neuen Firmenwagen angeschafft. Normale Kombis sind, was die meisten Leute nicht wissen, nicht geeignet. Autos für die Branche sind Spezialanfertigungen. »Schweineteuer, der Neue«, sagt Dad. »Aber erste Sahne!« Anthrazitmetallic, immer auf Hochglanz – dafür sorgt Herr Hahn. Ich finde ja, dass die Bestatterwägen früher cooler ausgesehen haben. Ich schau mir gern die alten Familienalben an. Mein Ururgroßvater hatte noch einen, der von zwei schwarzen Pferden gezogen wurde. – Da, wo jetzt die Garage ist, stand früher der Pferdestall. Aber auch der Wagen aus den Fünfzigern, den mein Opa noch gefahren hat, war cool. »Schnittig«, hat Opa immer gesagt. Ich mag das Wort schnittig, das hört man heute kaum noch. Schade, dass diese supercoole Kiste damals verschrottet worden ist. Der alte Mercedes war tiefschwarz, überall mit Chrom abgesetzt, und an den Fenstern hingen weiße Rüschengardinen. Wenn ich mir vorstelle, dass ich schon in ein paar Jahren den Führerschein mache, könnte ich heulen. Neben der Garage ist dann nur noch das Sarglager, während die Urnen vorn im Laden stehen, die schicksten im Schaufenster, das Mum immer sehr liebevoll jahreszeitlich gestaltet.

An dem Tag, an dem das mit Bully passierte, half ich Mum, eine Girlande aus Herbstlaub für die Auslage zu binden. Bully wuselte derweil zwischen den heruntergefallenen Blättern herum. Bully ist – besser gesagt – war mein Meerschweinchen. Ursprünglich hatte ich ja zwei Meeris. Den dicken Peppy, und den kleinen Bully, der zwar genauso alt war wie sein stämmiger Freund, aber nur halb so groß. Ich glaub ja, dass sich irgendwann ein Zwergmeerschweinchen in seinen Stammbaum geschummelt hat. Den starken Namen Bully hab ich ihm übrigens gegeben, weil er so klein und zierlich war. Bully war schwarz, mit einem verwegenen weißen Haarschopf und Peppy braun-rot. Tragischerweise schlüpfte Peppy im vorigen Sommer durch die offene Balkontür, stürzte in den Hof und segnete das Zeitliche. Olaf half mir, ihn im Vorgarten zu bestatten. – Er baute extra einen kleinen Sarg und stattete ihn mit einem Satinrest und viel Spitze aus, das fand ich total nett von ihm. Es war ein sehr würdevolles Begräbnis, das mich von dem Verlust etwas ablenkte. Bully leider weniger, er trauerte sehr um seinen Partner. Da Meerschweinchen eigentlich nicht einzeln gehalten werden sollen, dachte ich zuerst darüber nach, ihm einen neuen Begleiter zu besorgen, aber Mum sagte, wenn ich damit anfinge, jedes verstorbene Meeri durch ein neues zu ersetzen, hätte ich bis zum jüngsten Tag welche. Das leuchtete mir ein.

Damit Bully aber nicht so viel allein war, schleppte ich ihn seither meistens mit mir rum und ließ ihn oft auch in der Wohnung laufen. Allerdings war das Mum dann auch nicht recht, weil Bully erstens nicht ganz stubenrein war und zweitens auch gern mal Sachen anknabberte, die definitiv nicht auf der Liste für gesundes Meerschweinchenfutter stehen.

»Valentine«, sagte meine Mutter an jenem denkwürdigen Nachmittag. »Es ist gleich halb vier. Olaf wartet bestimmt schon auf seinen Kaffee. Bring ihm doch bitte das Tablett runter.«

Ich stand auf, setzte Bully auf die Schulter und ging zur Anrichte. »Mhm«, sagte ich. »Sind noch mehr von den Keksen da?«

Mum warf mir einen sprechenden Blick zu.

Ich seufzte. Warum versuchte Mum andauernd, mir den Appetit zu verderben. »Wenn ich eines Tages magersüchtig werde, bist du schuld«, sagte ich.

Aber meine gefühlskalte Mutter runzelte nur die Stirn.

Ich griff mir also das Tablett, stieß mit dem Fuß die Küchentür auf und balancierte es zum hinteren Treppenaufgang, über den man in die Kellerräume kommt. Man darf sich unseren Keller nicht finster vorstellen. Kühl- und Versorgungsraum sind mit meterlangen Neonlampen taghell erleuchtet. Der Versorgungsraum, in dem hauptsächlich Olaf zugange ist, sieht eigentlich mehr aus wie ein Arztzimmer. Da gibt es einen Behandlungstisch aus Metall und Glasschränke, mit allem was man braucht, um einen Verstorbenen für sein letztes Fest würdig aussehen zu lassen. Schminksachen, weil die meisten sehr blass sind – totenblass wie man so sagt –, Rasierzeug, Haarspray, Kamm, Bürste, Föhn und Lockenstab und einige spezielle Instrumente, die aber nur in Sonderfällen gebraucht werden.

Ich hörte schon im Flur Olafs kleine Musikanlage dudeln. Olaf sucht immer Musik aus, von der er annimmt, sie würde seinem Kunden gefallen. Er ist davon überzeugt, dass die Seele noch Tage nach dem Tod über dem Körper schwebt. Ich hab das immer für abgedrehten Esoquatsch gehalten, bis …

Aber eines nach dem anderen!

2. Kapitel

2. Kapitel

Ich öffnete mit dem Ellbogen die Tür zum Versorgungsraum und stellte mich dabei so bescheuert an, dass das Tablett in Schieflage geriet. In letzter Sekunde gelang es mir zwar, die Thermoskanne mit dem Kinn zu halten, aber die Keksdose knallte runter und Olafs geliebte Haferkekse kullerten munter über den Steinboden.

»Nicht so stürmisch!« Damit legte Olaf den Föhn neben den Kopf seines Kunden, zog die Handschuhe aus, und nahm mir das Tablett ab.

Als ich mich bückte, um die Kekse einzusammeln, verlor Bully den Halt und landete auf den Fliesen, wo er sich gierig auf einen zerbrochenen Keks stürzte.

»Ups!«, sagte ich, »Bully, das ist nichts für dich!«

Aber Olaf winkte ab. »Lass ihn doch, das kleine Stück wird ihm sicher nicht schaden.«

Während Olaf sich Kaffee einschenkte, warf ich einen Blick auf den Behandlungstisch. Ein Mann, nicht mehr jung, aber auch nicht uralt, obwohl seine Haare grau waren und sein Gesicht ziemlich zerknittert aussah.

»Ist das der Mann, dem der Hund gehörte?«, fragte ich.

Olaf nickte. »Das Tier hat mir wahnsinnig leidgetan!«

»Mir auch«, sagte ich.

Da war nämlich was ganz Verrücktes passiert. Kurz nachdem Herr Hahn und Olaf den Verstorbenen aus dem Wagen in den Kühlraum gebracht hatten, hörten Mum und ich oben in der Wohnung ein jammervolles Heulen, das aus dem Hof zu kommen schien. Wir rannten ins Erdgeschoss und kamen gerade dazu, wie Dad die Hintertür aufriss und wir alle einen Heidenschreck kriegten. Ein stämmiger, potthässlicher Hund drängte sich an uns vorbei und trabte schnurstracks Richtung Kellertür, wo er wie gestört am Türblatt kratzte.

»Wem gehört denn dieses Ungetüm?«, wollte Mum wissen. »Der ruiniert uns den ganzen Lack!«

»Schluss!«, rief Dad und zog den Hund beherzt am Halsband weg.

In diesem Moment kamen Olaf und Herr Hahn aus dem Keller. Mit Mühe konnte Dad das kräftige Tier davon abhalten, die Treppe runterzulaufen.

»Wie kommt der denn hierher?«, fragte Herr Hahn. »Das ist doch der Hund von unserem neuen Kunden.«

»War er dabei, als sein Herrchen gestorben ist?«, erkundigte ich mich.

»Denk schon«, gab Olaf zurück. »Der Mann schaffte es zwar noch, seinen Internisten anzurufen, aber der konnte ihm nicht mehr helfen. Darauf hat der Arzt gleich uns kommen lassen, weil er sich erinnerte, dass sein Patient bei uns eine Bestattungsvorsorge abgeschlossen hat. – Ja, das arme Vieh war ganz bestimmt dabei, als es passiert ist.«

»Wie schrecklich!« Ich betrachtete den Hund, der mittlerweile wie ein Mehlsack vor der Kellertür lag und leise vor sich hinwinselte. Er war definitiv keine Schönheit, aber irgendwie rührend mit seinen Hängeohren, dem faltigen Kopf und den tief liegenden Triefaugen.

»Ein Nachbar hat ihn Marlowe genannt, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Olaf, während wir den vierbeinigen Eindringling ratlos anstarrten.

»Ein Bluthund, die sollen sehr treu und klug sein«, stellte Dad fest.