Titelbild
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Für Nils und Kjell

ISBN 978-3-492-96800-3

März 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: semper smile Werbeagentur GmbH, München

Covermotiv: Shebeko, Maren Becker

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Die Ostsee ist nur kalt und leer,
das Leben hier ist echt nicht toll,
das Leben hier ist schwer,
hau ab mit deinem blöden Strand.
Hau ab, hau ab.

Kiel Town Boyz, 1989

1

Mit dem Schmerz kehrte die Erinnerung zurück. Und er stand da mit zitternden Knien, die Hände auf das kalte Metall der Motorhaube gestützt, eine brennende Zigarette zwischen den Lippen. Seit Jahren hatte er keine Zigaretten mehr angerührt, doch im Handschuhfach hatte immer eine eingeschweißte Packung Camel gelegen, für den Notfall. Seine bebenden Finger suchten Halt, während ihm der kalte Schweiß in den Nacken trat und er das beängstigende Gefühl hatte, jeden Moment stürzen zu können, hinein in eine dunkle, aber vielleicht barmherzige Nacht aus Nichtsein und Vergessen. Gierig zog er an der Zigarette.

Wo war er eigentlich? Heikendorf, Stein, Laboe, er konnte sich nicht erinnern, durch welchen Ort er eben noch gefahren war. Sein Gehirn schien mit anderen Dingen verkleistert. Hatte er denn wirklich geglaubt, seine nutzlosen Gedanken für immer und ewig im Zaum halten zu können? Nun, unter dem mitternächtlichen Sternenhimmel, kam die Erinnerung zurück: eiskalt, deutlich und klar.

Ihr schmaler Rücken, der Kopf seltsam verdreht. Schnitt. Das Schwarzlicht. Schnitt. Ein Arzt. Schnitt. Denk nicht mehr dran, du Idiot. Schnitt. Schnitt. Schnitt.

Der Herzschlag pochte in seinen Ohren wie das wiederkehrende Echo des berstenden Reifens. Der war geplatzt, einfach so, und sein Wagen war auf den Straßengraben zugerast. Als der Kühler auf die Böschung prallte und ihm der Airbag entgegenflog, war plötzlich Ruhe eingetreten. Eine brutale, hinterhältige Stille wie in einem weißen, endlosen Nichts. Dann aber waren ohne Vorwarnung die Gitarren losgegangen, »Spellbound« von Siouxsie and the Banshees, und mit diesen Klängen waren die Schmerzen gekommen und hatten ihm die Luft geraubt. Eine ganze Weile hatte er im zerstörten Auto gesessen, still, verwirrt und mutterseelenallein. Das Schlagzeug in seinem Kopf hatte wie wild gehämmert, dazu der Schellensound mit dem stakkatoartig vorangaloppierenden Beat, schneller und immer schneller.

Da ahnte er, dass dieser Rhythmus nur einen Zweck verfolgte, nämlich alles, was damals geschehen war, wieder an die Oberfläche zu prügeln, ans Licht.

Plötzlich näherte sich auf der Landstraße ein Fahrzeug in hohem Tempo. Bevor er es schaffte, sich zu rühren, eine Hand zu heben, hilflos zu winken, irgendeine Geste, um sich bemerkbar zu machen, war das Licht der Scheinwerfer schon über den Graben hinweggeglitten, war über Autowrack und Bäume am Straßenrand gerast und weiter über den Zaun der nahen Viehweide. Im roten Glühen der sich entfernenden Rücklichter richtete sich der Mann im Graben auf und starrte auf seine Finger, die feucht und schmierig waren von Blut.

2

Der Notruf ging in der Nacht von Samstag auf Sonntag gegen drei Uhr zwanzig in der Regionalleitstelle der Polizeidirektion Kiel ein. Polizeiobermeisterin Susan Schunk, die den Anruf entgegennahm, hörte im Headset zunächst nur ein Hüsteln.

»Notruf der Polizei Kiel. Was kann ich für Sie tun?«

Die Stimme des Mannes klang völlig verzweifelt: »Helfen Sie mir!«

»Bitte nennen Sie mir Ihren Namen und den Ort, an dem Sie sich gerade aufhalten, und sagen Sie mir, worum es geht.«

»Es ist etwas passiert. Etwas Schreckliches.«

»Was ist passiert? Und wo?«

»Ich …«

Der Mann atmete schnell, oder schluchzte er sogar?

»Bitte beruhigen Sie sich, und versuchen Sie, meine Fragen zu beantworten. Wo sind Sie, und was ist passiert?«

»Meine Kinder sind völlig am Ende. Sie ist weg.«

»Noch einmal bitte: Wie heißen Sie? Und wer ist weg?«

»Meine Frau, sie wollte …«

Der Mann verstummte.

»Sie suchen Ihre Frau? Wie heißt Ihre Frau?«

»Da muss etwas passiert sein, was Schlimmes.«

Der Anrufer wirkte konfus, vielleicht war er auch betrunken. Susan Schunk bemühte sich, so langsam und verständnisvoll wie möglich zu sprechen.

»Wo befinden Sie sich?«

»Es stand doch in der Zeitung«, fuhr der Anrufer fort, ohne ihre Frage zu beantworten. »Der Mann mit der Maske, auf dem Radweg. Und sie ist doch mit dem Rad los.«

»Noch einmal: Wo genau befinden Sie sich? Und seit wann vermissen Sie Ihre Frau?«

»Seit gestern Nachmittag, also Samstag. Sie wollte nach Plön. Und dieser Maskenmann, das war doch in Ascheberg. Das liegt an der Strecke.«

»Also Herr … Wie war Ihr Name?«

»Von Mansfeld.«

»Haben Sie auch einen Vornamen?«

»David.«

»Gut, Herr von Mansfeld. Versuchen Sie, sich zu beruhigen. Der sogenannte Maskenmann, von dem die Zeitungen schreiben, hat, soweit der Polizei bekannt ist, keine einzige Person angegriffen oder verletzt. Es bestehen große Zweifel, ob es ihn überhaupt gibt.«

»Aber da steht doch schwarz auf weiß: ›auf dem Radweg an der Verkehrsinsel am Ortsausgang von Ascheberg‹. Er hat Frauen angefallen. Und man soll sich melden, wenn man ihn gesehen hat.«

»Und, haben Sie ihn gesehen?«

»Meine Frau kommt nicht nach Hause, und Sie fragen mich so was?«

Die Polizistin räusperte sich.

»Herr von Mansfeld, seit Beginn dieser nebulösen Berichterstattung rufen bei uns jede Menge Leute an. Aber keiner kann den Mann beschreiben. Und niemand hat Anzeige erstattet.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Hatte der Mann aufgelegt?

»Hallo, sind Sie noch da?«, fragte Schunk.

»So was Bescheuertes!«, schrie der Anrufer.

»Wie bitte?«

»Halten Sie mich etwa für einen Spinner?«

»Nein, warum?«

Der Mann schnäuzte sich, dann änderte er abrupt seinen Tonfall.

»Sie müsste längst hier sein«, jammerte er. »Was soll ich nur tun? Suchen Sie sie! Bitte! Ich flehe Sie an.«

»Ein letztes Mal: Wo halten Sie sich gerade auf?«

»In einem Ferienhaus am Plöner See. Der Ort heißt Sepel, das liegt drei Kilometer hinter Dersau. Die Straße hierher hat keinen Radweg, aber verdammt viele Hecken. Wenn einem dort jemand auflauert, hat man keine Chance. Erst recht nicht meine Frau, sie ist ein totales Leichtgewicht.«

»Ihre genaue Adresse, bitte?«

»Am Siemsbarg 15

Die Polizistin tippte die Daten ein, und sofort erschienen auf einem der fünf Flachbildschirme des Multifunktionsdesks Karte und Satellitenbild des Großen Plöner Sees. Sepel lag im westlichen Teil auf einer Landzunge, eindeutig am Arsch der Welt.

»Noch einmal: Wie heißt Ihre Frau?«

»Eva.«

Wieder dieses grauenvolle Schluchzen.

»Wohin wollte sie genau?«

»Sagte ich doch schon. Nach Plön.«

Die angezeigte Entfernung nach Plön betrug zwölf Kilometer.

»Seit wann vermissen Sie sie?«

»Meine Güte noch mal, stehen Sie denn völlig auf der Leitung? Um zwei Uhr gestern Nachmittag hat sie das Haus verlassen …«

»Gestern Nachmittag? Was hatte sie vor?«

»Was Frauen eben machen. Shoppen oder so.«

»Okay.« Susan Schunk bemühte sich, ihren wachsenden Unmut zurückzuhalten. Der eitle Ton in seiner Stimme, dieses Vorwurfsvolle ärgerte sie. »Ich kann Ihnen sagen, dass bei uns für den von Ihnen genannten Zeitraum keine Meldungen über einen Verkehrsunfall in der Gegend am Plöner See vorliegen.«

»Telefoniere ich mit einem Computer, oder was? Das beruhigt mich überhaupt nicht!«

Warum war dieser Anrufer so unverschämt? Die Polizeiobermeisterin sprach jetzt ganz langsam und leise. Die Menschen, die sie kannten, wussten, dass sie kurz davor war, vor Wut zu platzen.

»Hatten Sie Streit mit Ihrer Frau?«

»Was heißt Streit? Nichts Dramatisches.«

»Hat Ihre Frau schon einmal geäußert, dass sie … von Ihnen weg möchte?«

»Was für eine Unverschämtheit! Was erlauben Sie sich eigentlich?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Susan Schunk, »aber ich kann im Moment nichts für Sie tun.«

»Das meinen Sie doch nicht im Ernst? Wo verdammt noch mal ist meine Frau?«

Für die Polizistin war es an der Zeit, den penetranten Anrufer loszuwerden. Die Länge aller Telefongespräche wurde aufgezeichnet, überwacht und statistisch ausgewertet. Der Mann hatte eine Notrufnummer gewählt und nicht die Telefonseelsorge.

»Mein Herr, in unserem Land kann sich jeder Erwachsene frei bewegen. Das gilt auch für Ihre Frau. Wenn sie ihre Einkäufe erledigt hat, wird sie sicher zu Ihnen zurückkehren. Vielleicht besucht sie noch jemanden oder ist irgendwo eingekehrt.«

»Eva setzt sich doch nicht spätnachts in irgendein Gasthaus«, sagte er entrüstet.

»Warum nicht?«, fragte Susan Schunk.

Wieder schwieg der Anrufer, aber sie hörte ihn atmen.

»Hallo?«

Beleidigte Stille.

»Sorry«, sagte die Polizistin, »falls Sie keine weiteren Angaben für mich haben, kann ich im Moment nichts für Sie tun. Ich werde aber die Streifenwagenbesatzungen in der Plöner Gegend informieren, damit sie die Augen offen halten, okay?«

Nun verlegte sich der Mann aufs Meckern.

»So eine bodenlose Frechheit«, zeterte er. »Da zahlt man Steuern ohne Ende, und dann muss man sich so was anhören.«

»Auf Wiederhören, Herr von Mansfeld.«

»Verfluchte Laientruppe«, schrie der Mann wütend.

»Wie bitte?«, fragte Susan Schunk gereizt. Doch da hatte der Anrufer schon aufgelegt.

Die Polizeiobermeisterin biss sich auf die Lippen. Es war nicht die erste Beschimpfung, die sie sich an diesem Arbeitstag anhören musste. Gerade vorhin hatte jemand einen verunglückten Volvo in einem Straßengraben an der Bundesstraße bei Lutterbek gemeldet. Sie hatte einen Notarzt samt Rettungswagen zur beschriebenen Stelle geschickt, doch wenig später hatte der Notarzt sich in der Zentrale gemeldet und berichtet, dass er nur ein leeres Autowrack mit einem geplatzten Reifen vorgefunden habe, aber weder den Fahrer noch irgendwelche anderen Unfallopfer.

Daraufhin waren zwei Streifenbeamten zum Unfallort beordert worden. Sie hatten den Halter des Unfallwagens ausfindig gemacht und waren zu seiner Wohnadresse gefahren, um ihn persönlich zu sprechen. Offenbar war nur die Ehefrau des Besitzers zu Hause gewesen. Sie hatte sich kurz darauf völlig aufgebracht bei Susan Schunk gemeldet und alle Register in Sachen Beamtenbeleidigung gezogen. Eindeutig alkoholisiert, hatte sie mehr oder weniger lallend zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht wisse, wo ihr Mann sich aufhalte. Er könne doch seinen Wagen parken, wo er wolle, die Polizei solle ihn gefälligst woanders suchen.

Susan Schunk trank einen Schluck Diätcola. Sie hatte wirklich keine Zeit, sich über die ganzen Verrückten in dieser Nacht aufzuregen, denn die Telefonanzeige blinkte schon wieder. Diesmal kam der Anruf aus einer der letzten noch existierenden Telefonzellen am Vinetaplatz in Kiel-Gaarden. Es war eine Frau, die mit türkischem Akzent sprach, schnell und hektisch.

»Hier prügeln sich Leute. Bitte, helfen Sie, schnell.«

Ruhig und routiniert verständigte Susan Schunk die Revierstreife der Ostwache und zum zweiten Mal in dieser Nacht medizinische Notfallhilfe. Und spätestens nach dem nächsten Anrufer, der einen Zimmerbrand in der Innenstadt meldete und so aufgeregt oder so betrunken war, dass ihm die Adresse, an der es brannte, nicht mehr einfallen wollte, verschwendete Susan Schunk keinen Gedanken mehr an den adligen Urlauber, der seine Frau vermisste.

3

Das Kind lag auf dem Wickeltisch und schrie. Sein Gesicht war puterrot, und es strampelte, als ginge es um sein Leben. Und darum ging es ja im Grunde auch. Wie konnte die große, warme, weiche und normalerweise trostspendende Person es nur wagen, in diesem Moment die Windel zu wechseln? Die Kleine war aufgewacht und hatte Hunger, und zwar genau jetzt. So eine bodenlose Frechheit, das mit der Windel. So etwas durfte sich kein Kind gefallen lassen. Deshalb strampelte Smilla, so wild sie nur konnte, und brüllte, was Lunge und Stimmbänder hergaben.

»Ich komm ja schon, bin doch gleich fertig.« Olga Island warf das prall gefüllte warme Plastikpäckchen in den Windeleimer. Mit geübtem Griff hangelte sie nach dem Waschlappen in der kleinen Schüssel mit Wasser, die in sicherem Abstand auf dem Regal stand. Bis vor wenigen Minuten hatte Smilla friedlich in ihrem Bettchen geschlafen. Olga hatte schon warmes Wasser in die Schüssel gefüllt, aber dann war ein Anruf von der Dienststelle gekommen, der ein paar Minuten gedauert hatte. Smilla war aufgewacht und das Wasser in der Waschschüssel deutlich abgekühlt. Als das hungrige Kind den kühlen Waschlappen spürte, war es eine halbe Schrecksekunde lang still, um dann richtig loszulegen. Was für eine Gemeinheit: neben dem Hunger auch noch ein kalter Waschlappen am Hinterteil, wie konnte eine Mutter einem Kind das antun?

»Hast ja recht«, murmelte Olga und tupfte die Haut mit einem Zellstofftuch trocken. »Aber gleich gibt’s was zu futtern.«

Mit einigen Verrenkungen schaffte sie es, dem strampelnden und brüllenden Kind die Windel umzulegen. Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, nicht an die Nachbarn zu denken. Wahrscheinlich verdrehten Herr Bokel in der Wohnung unter ihr und Frau Wankowski eine Etage höher längst genervt die Augen. Wenn das Kind so weiterschrie, würde schon bald einer von beiden gegen die Heizungsrohre bollern oder mal wieder bei ihr klingeln. Doch dann fiel ihr ein, dass Frau Wankowski zwei Wochen Urlaub auf Bali machte und Herr Bokel sicher wie jedes Wochenende einschließlich Montagabend bei seiner Freundin in Hamburg weilte. Heute war Montag, und Bokel war bestimmt noch nicht da. Freie Bahn also für Smillas Sangeskünste. Die Wände zum Nachbarhaus waren offenbar ausreichend dick, jedenfalls hatte sich von dort noch niemand beschwert.

Während des Telefonats hatte Olga ein Gläschen Pastinakenbrei aufgeschraubt und in heißes Wasser gestellt. Die Gläser aus dem Bioladen am Belvedere waren oft ihre Rettung. Sicher war es keine große Sache, das bisschen Babybrei selbst zu kochen, aber sie kam einfach nicht dazu. Außerdem hatte sie den Eindruck, dass Smilla, warum auch immer, den gekauften Brei sowieso viel lieber aß als selbst gemachten.

Schon wieder klingelte das Telefon. So war es eben, wenn man im Homeoffice arbeitete. Im Display sah sie, dass der Anruf aus der Dienststelle kam, und zwar vom Apparat ihrer Kollegin Karen Nissen.

»Moin, Olga, Karen hier.«

Smilla schrie.

»Alles gut bei dir?«

»Klar.«

Smilla brüllte.

»Kind gerade wach?«

»Wie hört es sich denn an?«

»Ich will gar nicht lange stören …«

Kriminalkommissarin Karen Nissen hatte selbst zwei Kinder, die allerdings längst schulpflichtig waren. Ihr Mann war bei der Schutzpolizei, für sie war es also auch nicht immer leicht, Dienstzeiten und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bringen. Aber Karen war damals fünf Jahre zu Hause geblieben, bis die Kinder aus dem Gröbsten raus gewesen waren, und Olga beschlich manchmal das Gefühl, dass Karen sich ein bisschen darüber lustig machte, dass ihre Kollegin trotz Baby weiterarbeitete.

Manchmal verstand Olga die Frauen nicht. Wenn es um Kinderkriegen und Arbeiten ging, waren sie selten solidarisch, ja, manchmal war sogar Neid spürbar, sinnloses Gehacke, Schadenfreude, Unverständnis. Dabei wäre es doch besser, sich zusammenzutun, aber so waren Menschen im Alltag nun mal nicht gestrickt.

»Warte kurz«, sagte Olga, setzte das Headset auf, packte Smilla in den Kinderstuhl und schob sie an den Tisch. Sie hockte sich daneben, prüfte die Temperatur des Pastinakenbreis und begann, ihn dem Kind in den Mund zu schaufeln. Smilla gab Ruhe und schmatzte.

»Tut mir leid, dass es bei dir gerade nicht so passt«, sagte Karen Nissen, »aber ich habe da einen Typen in der Leitung, der ruft seit heute Morgen immer wieder an. Ich kann nichts für ihn tun, denn wir sind nicht die richtige Adresse. Zweimal habe ich ihn schon abgewimmelt. Jetzt besteht er ausdrücklich darauf, Kriminalhauptkommissarin Olga Island aus Berlin zu sprechen. Vielleicht kann ich ihn durchstellen, und du redest mal kurz mit ihm?«

»Was ist denn sein Problem?«

»Seine Frau ist ihm irgendwie abhandengekommen.«

»Aha?«

»Total penetranter Typ, echt.«

»Sonst was Neues bei euch?«

»Immer noch der tote Richter aus Eutin. Wir kommen nicht richtig voran. Die Innenministerin wird langsam nervös, dauernd ruft einer ihrer Staatssekretäre an.«

Detlef Hellwig, ein Richter am Plöner Amtsgericht, war vor einer Woche tot aus dem Kellersee bei Eutin gefischt worden. Alles deutete darauf hin, dass er beim Segeln von Bord seiner Jolle gestürzt und ertrunken war. Aber es gab Zeugen, die behaupteten, er sei auf seinem Boot nicht allein gewesen. Ein Angler wollte eine junge Frau und einen dicken, kahlköpfigen Mann an Bord des Schiffes gesehen haben. Außerdem gab es Gerüchte, dass Hellwig gute Kontakte ins Lübecker Rotlichtmilieu gehabt habe.

»Und du frisst dich weiter durchs Archiv?«, fragte Karen Nissen – vermutlich um den Anrufer, den sie in der Leitung hatte, noch ein wenig zappeln zu lassen.

»Wie die berühmte Made im Speck«, antwortete Olga Island und lachte. Auch ihre Kollegin musste kichern.

Seit der Geburt ihrer Tochter arbeitete Olga Island in Teilzeit. Ihre Vorgesetzten hatten ihr freundlicherweise ermöglicht, dass sie hauptsächlich von zu Hause aus tätig war. Lorenz, ihr Exfreund, hatte sich kurz vor der Niederkunft aus ihrem Leben verabschiedet. Per SMS hatte er ihr mitgeteilt, dass er sich doch nicht in der Lage sehe, von Berlin nach Kiel überzusiedeln. Im nachfolgenden Telefonat hatte er ihr erklärt, dass so ein Umzug für ihn das Ende einer Karriere als aufstrebender internationaler Künstler bedeutet hätte. Er könne sich nun doch nicht vorstellen, ein Leben in der Provinz zu führen, und außerdem seien ihm massive Zweifel an seiner Vaterschaft gekommen. Olga hatte sich geweigert, weiter mit ihm zu diskutieren. Die Zweifel an seiner Vaterschaft waren durchaus berechtigt, dennoch hatte die Art und Weise der Trennung Olga verletzt.

Smilla war rosig, blond und blauäugig mit fast vier Kilo Geburtsgewicht exakt vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin auf die Welt gekommen. Und nun war Olga eindeutig klar, dass ihr Kollege Jan Dutzen der Vater des Kindes sein musste. Smilla war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch Olga liebte ihr wunderbares Kind und fand nicht, dass es irgendetwas zu bedauern oder gar zu bereuen gab.

Jan Dutzen hatte sie auf der Wochenstation im Krankenhaus einmal besucht. Mit Blumenstrauß und Pralinenkasten war er an ihrem Bett aufgetaucht und hatte steif und nervös die Grüße und Glückwünsche der Kollegen übermittelt. Er hatte Smilla verlegen angesehen, zu schwitzen angefangen und sich schnell wieder verabschiedet. Das Nächste, was Olga von ihm gehört hatte, war, dass er wenige Tage später bei ihrem Chef Thoralf Bruns das Sabbatjahr beantragt hatte, auf das er schon lange hingearbeitet hatte. Der Chef hatte die Auszeit genehmigt, und Dutzen war kurz darauf zu einer Weltreise aufgebrochen.

Zurzeit durchquerte er offenbar gerade die Sahara von Ost nach West. Er schrieb seitenlange E-Mails, die er in langen, einsamen Nächten in sein Laptop hackte. Diese im wahrsten Sinne des Wortes trockenen Reiseberichte schickte er, wie Olga dem Adressfeld der E-Mails entnehmen konnte, als Rundmail an seinen großen Bekanntenkreis. Sosehr sie auch darauf wartete, sie erhielt nie ein persönliches Wort. Und das machte sie allmählich wütend. Sie hatte überhaupt keine Lust mehr, irgendetwas von dieser Reise zu hören. Deshalb löschte sie konsequent alle Mails, die sie von Jan Dutzen bekam. In Smillas Geburtsurkunde stand: »Vater unbekannt«.

Olga würde ihr Kind allein großziehen.

Es war, wie es war.

Und eigentlich kam sie ja auch ganz gut klar. Ihre Arbeit bestand bis auf Weiteres darin, die Ermittlungsakten von alten, unaufgeklärten Todesfällen durchzusehen. Dabei ging es darum festzustellen, ob sich nach jahrelangen, ins Leere laufenden Ermittlungen vielleicht neue Sichtweisen auf die ungelösten Fälle eröffnet hatten. Immer wieder ging sie mit der Frage an die Akten heran, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gab, im betreffenden Fall noch einen winzigen Schritt weiterzukommen, um ihn womöglich doch noch aufzuklären. In Schleswig-Holstein gab es derzeit etwa fünfzig noch nicht abschließend geklärte Todesfälle, wenn man ab der Nachkriegszeit rechnete. Die Ergebnisse der vergeblichen Ermittlungen waren in über eintausend umfangreichen Aktenordnern festgehalten. Diese Akten ruhten in den Archiven von Polizei und Staatsanwaltschaften. Olga holte sie nach und nach hervor und sah sie durch.

Im Grunde war es so, dass man sie irgendwie beschäftigen musste, denn im normalen Dienst einer Mordkommission war eine Frau mit Baby auf einer halben Stelle nicht einplanbar. Komischerweise machte ihr das ganze Aktenstudium derzeit gar nichts aus. Sie kümmerte sich um ihr Kind, und sie ackerte sich durch all diese Ordner mit den alten Geschichten. In ihrem Wohnzimmer hatte sie sich ein Aktenregal aufgestellt und einen Computerarbeitsplatz eingerichtet. Besonders aufregend war es nicht, wenn sie dort saß, oft ungekämmt und mit breibekleckertem Pulli, und sich durch die Papierhaufen wühlte, die ihr ein Kurier aus der Polizeiregistratur oder dem entsprechenden Landgericht auf Nachfrage ins Haus geliefert hatte. Aber diese Beschäftigung konnte sie gut mit dem Tagesrhythmus ihres Kindes in Einklang bringen. Wenn Smilla schlief, führte Olga Telefongespräche mit Experten aus dem Landeskriminalamt, mit der KTU im Haus der Bezirkskriminalinspektion oder mit Mitarbeitern der Rechtsmedizin an den Universitätskliniken in Kiel oder Lübeck.

Wenn sie dienstlich aus dem Haus ging, dann meist, um die Topografie der Leichenfundorte oder Tatorte zu erkunden. Dabei konnte sie Smilla mitnehmen. Manchmal reichte auch schon ein Blick auf Google Maps. In drei Monaten würde Smilla ein Jahr alt werden, und ab diesem Zeitpunkt hatte Olga die Zusage für einen Betreuungsplatz in einer Kinderkrippe.

Bei der Kinderhege und -pflege wurde Olga momentan noch von Frau Kilinski unterstützt, einer gemütlichen älteren Dame mit polnischen Wurzeln und Akzent. Sie bewohnte in der Nähe des Ravensberger Wasserturms eine Erdgeschosswohnung, in der sie als Tagesmutter arbeitete. Dort betreute sie drei Kinder unter drei Jahren, von denen Smilla das jüngste war. Frau Kilinski war ruhig und mütterlich und ließ die Kinder gern in ihrem kleinen Garten spielen, der sich nach hinten an die Wohnung anschloss. Sie sang auch gern, meist polnische Volkslieder. Olga hatte von den Müttern der älteren Kinder gehört, dass diese die Lieder schon bald mitsingen konnten. Es war also eine Art zweisprachige deutsch-polnische Erziehung. Ende voriger Woche allerdings war Frau Kilinski übers verlängerte Wochenende nach Hamburg zu ihrer Tochter Elvira gereist, um ihr bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen, denn Elvira würde am kommenden Samstag heiraten, dem Sonnabend vor Pfingsten. Deshalb stand die Tagesmutter in dieser Woche nur von Mittwoch bis Freitag zur Verfügung, was Olgas Tagesplanungen etwas erschwerte.

»Also«, sagte Karen Nissen und wurde wieder ernst, »dann stell ich dir jetzt mal diesen David von Mansfeld durch.«

»Von wo ruft er an?«

»Sepel heißt der Ort. Das liegt irgendwo am Plöner See.«

»Landadel?«

»Wenn ich es recht verstanden habe, macht er nur Urlaub dort«, sagte Nissen und gab die Leitung frei.

Der Mann hatte eine angekratzte Stimme.

»Sie müssen mir helfen«, sagte er.

»Ach so, und warum?«

»Ich suche meine Frau.«

»Sie haben die Nummer der Mordkommission gewählt. Was sollte ich denn für Sie tun können?«

»Ich bin völlig am Ende«, sagte der Mann, »und rechne mit dem Schlimmsten. Mein Freund Walter Jacobi hat gesagt, ich solle mit Ihnen sprechen. Sie seien hilfsbereit und kompetent.«

Olga Island runzelte die Stirn. Ihr sagte der Name Jacobi zunächst nichts, aber dann fiel ihr ein, dass einer der Kollegen aus dem Landeskriminalamt in Berlin-Charlottenburg so hieß. Walter Jacobi war in ihrer Berliner Zeit ein älterer, verlässlicher Kollege gewesen. Und einer der wenigen, die nach der Sache mit Mischa noch ganz normal mit ihr gesprochen hatten. »Man kann die Zeit nicht zurückdrehen«, hatte er gesagt und ihr dabei in die Augen geblickt, was nicht mehr viele der Berliner Kollegen getan hatten. »Was geschehen ist, ist geschehen. Keiner von uns möchte das, was Sie erlebt haben, jemals erleben. Aber jedem von uns kann etwas Unvorhersehbares passieren, was man nicht ungeschehen machen kann. Das ist das Risiko, das wir jeden Tag tragen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie trotzdem weitermachen können.«

Kaum einer von ihren damaligen Berliner Kollegen hatte nach den tödlichen Schüssen, die sie auf ihren Kollegen Mischa abgeben musste, noch etwas mit ihr zu tun haben wollen. Viele hatten sich ratlos oder angewidert von ihr abgewandt.

»Sie kommen aus Berlin?«, hakte Olga Island nach.

»Ja, wir machen hier gerade Urlaub«, sagte der Mann. »Bitte, Sie müssen mir helfen.«

»Dann erzählen Sie mal.«

»Danke, dass Sie mir zuhören.« Die Stimme des Anrufers klang nun geradezu beflissen. »Walter Jacobi und ich kennen uns vom Ballonfahrerverein. Wir treffen uns an den Wochenenden in Brandenburg und fahren oft zusammen. Walter hält große Stücke auf Sie. Er sagt, Sie waren eine der besten Ermittlerinnen, die seine Dienststelle je hatte.«

»Schon gut«, murmelte Olga Island.

»Ich bitte Sie auf Knien, bei uns vorbeizukommen. Könnten Sie das nicht einrichten? Ich bin mit den Kindern im Ferienhaus und werde wahnsinnig vor Sorge. Meine Frau ist seit Samstag verschwunden. Ich kann sie auf dem Handy nicht erreichen, und sie meldet sich nicht. Was soll ich denn nur machen?«

Etwas an der Art und Weise, wie der Mann redete, erregte Olgas Aufmerksamkeit. Seine Stimme klang verzweifelt, aber gleichzeitig beleidigt und verletzt. Vielleicht war wirklich etwas faul.

»Herr von Mansfeld«, sagte sie eindringlich. »Die Polizei in Kiel hat ein eigenes Dezernat, das sich dem Auffinden vermisster Personen widmet. Es wäre sicher sinnvoll, wenn Sie mit einem Mitarbeiter des K 11 sprechen und ihm die Lage schildern würden.«

»Auf gar keinen Fall. Ein Herr Lornsen dort hat mich schon so was von abgebügelt. Er kann angeblich nichts für mich tun. Sie sind wirklich meine letzte Hoffnung. Bitte! Die Fahrtkosten sind kein Problem. Ich zahle Ihnen alles, was Sie wollen.«

»Ich bin keine Privatdetektivin.« Olga Island musste nun doch schmunzeln. Sie beobachtete Smilla, die ihren Brei verputzt hatte, aber noch nicht satt zu sein schien und zu weinen begann. Zumindest noch nicht, fügte sie in Gedanken hinzu.

Offenbar war Smillas Weinen bis nach Sepel gedrungen. »Sie haben Kinder?«, fragte David von Mansfeld jetzt und klang erleichtert. »Dann wissen Sie, wie ich mich fühle. Ohne meine Frau komme ich nicht zurecht. Mein Sohn und meine Tochter … ich meine, was soll ich denn jetzt tun …?«

Smilla zappelte in ihrem Kinderstuhl. Olga hob sie heraus und setzte sie auf den Boden, wo sie sich hochstemmte und rückwärts mit einem Affentempo loskrabbelte. Dabei stieß sie mit dem Po an ein Bein des Esstisches und protestierte wieder einmal lautstark.

»Um es abzukürzen«, sagte Olga, »ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Bitte, ich flehe Sie an.« Er schniefte.

Wehleidige Männer konnte sie eigentlich gar nicht vertragen. Warum machte von Mansfeld sich so klein? Vielleicht steckte etwas ganz anderes dahinter, und sie sollte der Sache doch einmal nachgehen? Sie strich sich über das Kinn.

Sie könnte Smilla mitnehmen und das schöne Wetter nutzen, um draußen auf dem Land ein wenig spazieren zu gehen. Es war ein warmer, sonniger Tag Anfang Juni, die allerschönste Jahreszeit, um sich an Feldern, Wiesen und Wäldern zu erfreuen. Die alten Akten im Homeoffice würden nicht weglaufen. Sie würde noch lange genug in ihnen blättern können.

»Na gut«, hörte sie sich sagen. »Ich komme kurz zu Ihnen raus. Aber versprechen Sie sich nicht zu viel davon. Passt es gegen siebzehn Uhr?«

»So spät?«, fragte der Mann enttäuscht.

Sofort bereute Olga, dass sie Entgegenkommen gezeigt hatte.

»Trotzdem vielen Dank«, sagte er großspurig und erklärte ihr die Anfahrt.

Dumme Socke, dachte sie nach Abschluss des Gesprächs, zog das Headset vom Kopf und schleuderte es in die Sofaecke.

4

Und trink nicht so viel.«

Sonja, seine Frau, lag auf dem Sofa und starrte auf den Bildschirm. Sie hatte die Beine ausgestreckt und die Fernbedienung in der Hand. Wie üblich trug sie den lila Hausanzug und hatte die Kapuze bis in die Stirn gezogen. Mit den roten Locken, die darunter hervorquollen, sah sie aus wie ein peinlicher Faschingshase, nichts an ihr war sexy.

Sven Hollmann nahm die Lederjacke von der Garderobe und warf Sonja durch die halb geöffnete Wohnzimmertür einen Blick zu, den sie nicht erwiderte. Erst wenn die Vorabendserie zu Ende war, würde sie sich mürrisch vom Sofa erheben und die Kleine ins Bett bringen. Noch spielte Marly stillvergnügt oben im Kinderzimmer. Ihm war das jetzt egal, denn er hatte heute frei. Er würde also nicht mit dem Kind ins Bad gehen und daneben stehen, wenn es am Waschbecken herumtrödelte. Am Montagabend war das Sonjas Job.

Sven schlüpfte in seine Jacke. Im Flurspiegel sah er sein müdes Gesicht. Die grauen Haare an den Schläfen waren nicht mehr zu übersehen. Aber wie sollte er auch anders aussehen nach so einem normalen Montag, der mit stressigen Schülern und renitenten Eltern begonnen und darin gegipfelt hatte, dass von den dreißig Mathearbeiten, die er korrigiert hatte, zehn mangelhaft waren? Bei sechs davon hatte er schließlich beide Augen zugedrückt und jeweils noch eine Vier als Note vergeben. Er hatte kein schlechtes Gewissen deswegen, die Eltern würden trotzdem protestieren.

Wie ihn das anödete. Die ewig gleichen persönlichen und gesellschaftlichen Katastrophen, denen er im Schuldienst täglich ausgesetzt war, Dummheit, Faulheit und Gequengel von Schülern und ihren Erziehungsberechtigten. Er hatte schon oft beschlossen, sich darüber nicht mehr aufzuregen. Leider gelang das nicht immer. Sein Leben war wirklich kein Zuckerschlecken. Sonja war schon lange nicht mehr die liebevolle Frau, die er einst geheiratet hatte. Sie war von ihrem Bürojob genauso gestresst wie er vom Lehrerdasein. Und die vermeintlichen Gemeinsamkeiten, die ihn und Sonja früher einmal verbunden hatten, Reisen, Kochen, Sex, waren eine nach der anderen auf der Strecke geblieben. Da war noch Marly, ihre gemeinsame Tochter. Vor allem ihretwegen war er noch da. Und weil Scheidung und Verkauf des Hauses ihn in den finanziellen Ruin getrieben hätten.

»Tschüs dann«, sagte er und zog die Haustür hinter sich ins Schloss. Er atmete auf. Montagabend, endlich. Er eilte über die Betonplatten zum Carport. Auf der Rückbank des Wagens lag der Gitarrenkoffer. Als er die Zündung startete, sprang die Anlage an. Laut, sehr laut, so laut, dass Sonja, würde sie jetzt neben ihm sitzen, sofort einen Tobsuchtsanfall bekäme, aber sie hörte es ja zum Glück nicht.

Aus den Lautsprechern drang »Spellbound« von Siouxsie and the Banshees. Die kehlige Stimme der Sängerin intonierte: »From the cradle bar comes a beckoning voice, it sends you spinning, you have no choice.« Es war ein Song vom Beginn der Achtziger, von der damaligen New-Wave-Ikone Siouxsie Sioux, deren Band den Soundtrack seiner Jugend geliefert hatte. »You hear laughter cracking through the walls, it sends you spinning, you have no choice.«

Ohne die Musik zu drosseln, rollte Sven die Einfahrt hinunter und bog in die Dorfstraße ein. Gepflegte Einfamilienhäuser in blühenden Gärten zwischen renovierten Strohdachhäusern – Barsbek war ein hübsches, verschlafenes Dorf.

Auf dem Weg über die Felder ließ er die Scheiben hinunter und sang mit, aus vollem Hals. Geiler Song, auch wenn die Achtzigerjahre schon so verdammt lange her waren. Wie schön Siouxsie damals gewesen war, atemberaubend. Er seufzte, aber dann machte er sich bewusst, dass doch wieder Frühling war und dass es im Leben ja eigentlich immer darum ging, das Beste aus allem zu machen. Und der Frühling in diesem Jahr ließ sich nun wirklich gut an. Seit sie ihr Revival gestartet hatten, war das triste Leben wieder ein bisschen aufregender geworden. Lebendiger. Bunter.

Das Beste waren im Moment die Treffen am Montagabend. Da kamen sie wieder zusammen, in dem alten Bunker in Kiel-Ellerbek, in ihrem Probenraum. Wer hätte jemals gedacht, dass es noch einmal so weit kommen würde? Er selbst hätte keinen Pfifferling darauf gewettet. Dazu war alles viel zu krass und zu verworren gewesen, damals, als sich die Band aufgelöst hatte. Seitdem waren unglaubliche fünfundzwanzig Jahre ins Land gegangen, ein Vierteljahrhundert, was für eine Zahl. Aber hieß es nicht: »Punk’s not dead«?

Ihr Bandrevival hatte damit angefangen, dass Sven nach all den Jahren Pitty wiedergetroffen hatte – zufällig, auf dem Kieler Umschlag, dem Stadtfest mitten im Winter, am Bierstand auf dem Alten Markt. Unglaublich, denn es war sofort wie früher gewesen, fast zumindest. Pitty hatte sich kaum verändert. Natürlich war er älter geworden, und sein Kopf war jetzt glatt rasiert. Damals hatte er eine wild abstehende, blond gefärbte Mähne getragen. Auch Pitty hatte Sven sofort erkannt. Sie hatten einfach angefangen zu reden, als hätten sie nie damit aufgehört.

Nach zwei Bier im Stehen waren sie ins Brauhaus hinübergewechselt, und noch ein paar Getränke später hatte Pitty den Vorschlag gemacht, sich doch noch mal zu treffen. Am besten alle zusammen, wennschon, dennschon. Man könnte ja mal gucken, was noch so gehe bei den alten Herren. Pitty hatte gelacht und Sven kumpelhaft auf die Schulter geklopft. Er versprach, Kontakt zu Max aufzunehmen. Max’ Söhne spielten ja inzwischen auch in Rockbands, und soweit man hörte, waren sie dabei, richtig durchzustarten. So wie wir damals, hatte Pitty gesagt, genauso wie wir. Sven hatte genickt und nicht gewusst, was er antworten sollte. Die Adresse von Max, die werde er schon rauskriegen, hatte Pitty gesagt. Facebook, StayFriends, alles kein Problem.

Und tatsächlich war es Pitty gelungen, Max aufzutreiben. Sven und Pitty saßen schon am vereinbarten Abend in der Bambule in Gaarden bei Bier und Pizza, da war Max hereingekommen. Und so verrückt es auch klang, es war tatsächlich fast wie früher gewesen. Sie hatten Bier getrunken und geredet und sich ein schnelles Update von ihrem Leben gegeben. Und am Ende dieser verrückten und aus der Zeit gefallenen Zusammenkunft hatten sie abgemacht, sich nächstes Mal bei Pitty zu treffen, der inzwischen in einer kleinen Doppelhaushälfte in Kiel-Dietrichsdorf wohnte. Zu dieser Zusammenkunft, die zwei Wochen später stattfand, war Max mit seinem frisch ausgebauten VW-Bus vorgefahren. Und da hatte Sven schon gedämmert, dass die Kiel Town Boyz, die damals so große Erfolge gefeiert hatten, irgendwann noch einmal auf Tour gehen würden.

Tatsächlich begannen sie, wieder zusammen zu spielen. Es lief gut. Von der Vergangenheit sprachen sie nicht. Wenn, dann nur davon, wie sie sich damals als Schülerband gegründet hatten. Die Loopies hatten Songs der Neuen Deutschen Welle nachgespielt, Nena, Markus, Ideal, aber Pitty hatte sie dann schnell davon überzeugt, dass Punk einfach geiler war. Natürlich hatte es eine Punkband in Kiel Ende der Achtzigerjahre nicht gerade leicht gehabt. Die Altpunks aus den Siebzigern hatten sie müde belächelt oder auch offen angefeindet. Deutsche Texte waren für manche Altpunks damals ein absolutes No-Go. Doch all das hatte sie nicht davon abgehalten, genau ihre Musik zu machen. Kiel Town Boyz – der Name war auf Pittys Mist gewachsen.

So etwas wie einen Durchbruch hatten sie mit einem Konzert in der Alten Meierei gehabt. Pitty hatte in völlig betrunkenem Zustand auf der Bühne eine Silvesterrakete gezündet und den hölzernen Bühnenaufgang in Brand geschossen. Es hatte gefackelt, bis ein paar Fans das Feuer mit Bier gelöscht hatten. Die Halle war ziemlich verräuchert gewesen, sonst war nichts passiert. Aber nach diesem Auftritt waren die Kiel Town Boyz in aller Munde gewesen, und – man konnte es nicht anders sagen – sie waren durchgestartet. »No future« war nicht einfach ein Spruch gewesen, denn sie hatten tatsächlich das gemacht, worauf sie Bock gehabt hatten, ohne an die Zukunft zu denken. So waren sie es angegangen.

Ihre Haltung hatte ihnen immer mal wieder die eine oder andere Schlägerei beschert. Sie waren auch auf Tournee gegangen, hatten Gigs in angesagten Undergroundclubs gehabt, selbst organisiert, Mund-zu-Mund-Propaganda, so was hatte damals noch funktioniert. Einmal waren sie sogar in Amsterdam gewesen und dort in einer alten Turnhalle aufgetreten, eine internationale Karriere sozusagen. Das eine oder andere Open-Air-Festival in Norddeutschland war dabei gewesen. Und einmal, ein einziges Mal, waren sie im Hamburger Millerntor-Stadion als Vorband für die Goldenen Zitronen und Slime aufgetreten. Ansonsten hatten sie sich auf Scheunenfeten mit der Landjugend gekloppt. Sie hatten echt Spaß gehabt.

Bis zu dem Tag, an den Sven nicht denken wollte.

Bis zu der Nacht, als alles den Bach runtergegangen war, die Band, die Zukunft und all ihre Träume.

Die letzten Akkorde von »Spellbound« verklangen im Player. Nach anfänglichen Zweifeln, ob das erneute Zusammenkommen mit den alten Kumpeln das Richtige war, freute Sven sich inzwischen schon die ganze Woche darauf. Nicht reden, nicht denken, nur die Instrumente sprechen lassen, und wenn Pitty Bock hatte, fing er zu singen an. Dazu ein oder zwei Flaschen Bier – und schon waren die Arbeit in der Schule und Sonja vergessen.

Das Allerneueste, ja, das Prickelndste an der ganzen Sache war, dass sie tatsächlich wieder für kleine Gigs auf der Bühne standen. Ostern waren sie im Bahnhof in Flintbek aufgetreten und kurz darauf im Blauen Engel an der Hörnbrücke. Es war nicht über die Maßen voll gewesen, aber es hatten nicht nur begeisterte Mittvierziger vor der Bühne Pogo getanzt. Auch Jüngere hatten ein bisschen Headbanging betrieben, die Haare herumgeschleudert oder alles mit ihren Smartphones gefilmt. Pitty kannte noch allerhand Kneipenwirte und Cafébetreiber von früher, und der eine oder andere Landgasthof zwischen Gettorf und Bad Segeberg hatte Interesse an einem Auftritt der Kiel Town Boyz bekundet. Geld verdienten sie damit nicht, aber das war inzwischen, wo alle bürgerliche Berufe hatten, auch gar nicht mehr wichtig. Wenn man sie freundlich bat, spielten sie für eine Gratis-Grillwurst mit Nudelsalat. Keiner von ihnen musste von der Mucke leben, und keiner von ihnen träumte noch davon. Was sie spielten, war auch nicht mehr reiner Punk, schließlich hatten sie sich weiterentwickelt. Gern mischten sie in die drei Akkorde von früher etwas Rock und Pop. Und genau das kam zusammen mit Pittys Altpunk-Attitüde, der Kraft seiner Stimme, den verblassenden Tattoos auf dem nackten, immer noch durchaus muskulösen Oberkörper, beim Publikum gut an, und zwar bei Männern wie bei Frauen.

Nur vorgestern Nacht, nach dem Konzert im Lutterbeker, war etwas Seltsames geschehen. Sven war schon eine halbe Stunde zu Hause gewesen, da hatte Pitty angerufen. Er war kaum zu verstehen gewesen, weil er so undeutlich gesprochen hatte. Er erzählte, er habe einen Unfall mit dem Wagen gehabt und stehe nun im Straßengraben, ob Sven ihn nicht abholen könne. Sven hatte Nein gesagt und aufgelegt, aber dann hatte Pitty noch mal angerufen und angefangen zu betteln.

Als Sven ihn an der Landstraße zwischen Lutterbek und Heikendorf endlich gefunden hatte, wurde schnell klar, dass das Auto einen Totalschaden hatte. Es sah ganz danach aus, als hätte jemand an den Reifen herumgeschnitten. Einer der Hinterreifen war offenbar bei voller Fahrt geplatzt. Aber Pitty hatte gesagt, das sei Quatsch, er sei ein bisschen angetrunken gewesen und deshalb von der Straße abgekommen. Auf keinen Fall wolle er Ärger deswegen, der Wagen sei sowieso uralt und schon vor der Landung im Graben eigentlich schrottreif gewesen. Sven hatte Pittys Kratzer auf der Stirn verarztet, war nach Hause gefahren und hatte kein Wort mehr über den Zwischenfall verloren.

Im Player lief das nächste Lied. Nick Cave, »The Mercy Seat«, der Song über einen Todeskandidaten kurz vor der Hinrichtung, mitreißend voranstürzende Klänge von Verzweiflung und Wut. Ein Lied, das ihm immer eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Er fuhr auf dem autobahnartig ausgebauten Abschnitt der B 502 und trat das Gaspedal voll durch. Doch der Rausch dauerte nicht lange. Auf der Schwentinebrücke war Stau. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte er sein Ziel, den Parkplatz beim Bunker, wo sich ihr Probenraum befand. Dort stand bereits der Bus von Max.