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Es gibt, so möchte ich glauben, ein paar Dinge auf dieser Welt, die vollkommen und nicht zu überbieten sind, die in Form, Klang oder Geistigkeit etwas Endgültiges darstellen: etwa eine Statue aus dem alten Griechenland, eine Symphonie von Beethoven, ein Satz aus der Bergpredigt. Ebenso vollkommen und endgültig sind manche Berge.

Herbert Tichy

Schatten und Licht

Das kühle Rosa der Morgendämmerung weicht im Osten einem hellen Schein. Hinter den Bergkämmen am Horizont beginnt es zu leuchten, ein Streifen aus Licht schiebt sich höher, und die Farbe des Himmels wandelt sich in ein reines, frisches Blau. Das Leuchten wird intensiver. Hinter den Gipfeln taucht, zuerst als Halbrund, langsam die Sonne auf; sie steigt höher und tastet mit ihren warmen, orangegelben Strahlen über die Berge.

Es ist fünf Uhr morgens und eisig kalt. Ich bin in die warme Mütze mit den Ohrenklappen vergraben. Vermutlich sehe ich noch verschlafen aus, aber meine Sinne sind hellwach. Ich beobachte, wie die Sonne hinter den namenlosen Sechstausendern links der Annapurna-Gruppe aufgeht. Der Doppelgipfel der Annapurna I wird von den ersten Sonnenstrahlen angeleuchtet, die breite Schneeflanke glänzt im hellen Licht. Dass ich vor vier Jahren dort oben stand, kommt mir fast unwirklich vor. Das Erwachen des Tages auf 6750 Meter Höhe zu erleben – ein einzigartiger, ergreifender Moment.

Gestern stiegen David und ich von Lager 1 am Dhaulagiri hierher auf, um unser Zelt aufzubauen und eine Akklimatisationsnacht zu verbringen. Wir haben beide gut geschlafen. Es sind noch mehr Gruppen am Berg unterwegs, aber sie halten sich gerade alle im Basislager oder in Lager 1 auf. Wir sind ganz allein und können die Ruhe genießen. Nachher werden wir ins Basislager absteigen, um nach ein paar Erholungstagen zu unserem Gipfelversuch aufzubrechen.

Vor einem Jahr erlebte ich hier am Dhaulagiri, nur 150 Höhenmeter tiefer, am üblichen Platz von Lager 2, schreckliche Stunden. Eine Lawine verschüttete mein Zelt und das zweier spanischer Freunde. Ich hatte Glück, dass ich mich selbst aus den Schneemassen befreien konnte. Doch für Ricardo und Santi kam meine Hilfe zu spät; als ich sie ausgegraben hatte, waren sie bereits tot. Der Gedanke, wieso ich überlebte und sie nicht, beschäftigte mich danach lange. Nun bin ich an den Berg zurückgekehrt, an dem ich im Mai 2007 dem Tod ganz nahe war. Die Erinnerung an die tragischen Ereignisse ist da, aber noch viel stärker bin ich umfangen von der Schönheit der Bergwelt um mich, von der Intensität des Augenblicks. Wie kann es sein, dass Tod und Leben, Verzweiflung und Glück so nahe beieinanderliegen?

Ich kauere neben unseren gepackten Rucksäcken im Schnee und nehme die besondere Stimmung in mich auf, schaue und staune. Am Horizont steht etwas Dunst, ansonsten ist der Himmel völlig klar. Für Momente wie diesen lebe ich, für Momente wie diesen steige ich auf Achttausender. Spreche ich mit anderen Menschen über meine Expeditionen, habe ich oft den Eindruck, sie sehen vor allem das Unangenehme daran, die Kälte, den Sturm, die Gefahren, aber nur wenige können nachvollziehen, was für intensive Momente ich hier erlebe. Diese Momente sind der Grund, warum es mich immer wieder in den Himalaja und auf hohe Berge zieht. Ich suche diese Höhepunkte – die überwältigenden Eindrücke, das intensive Lebensgefühl, das pure Ich, das ich hier empfinde.

Hier oben fühle ich mich frei, ich kann alle Verpflichtungen hinter mir lassen. Ich muss niemandem außer mir selbst gerecht werden. Ich bin fern von den Dingen »da unten« und kann ganz bei mir, ganz ich selbst sein. Wenn ich in die Welt der hohen Gipfel eintauche, bin ich zufrieden, ausgeglichen, zuversichtlich und voller Freude. Beim Bergsteigen bin ich entschlossen, ich erlebe mich eigenständig und selbstbestimmt, fühle mich kompetent. Ich treffe für mich selbst klare Entscheidungen. Am Berg habe ich ein anderes Lebensgefühl als im Tal. Ich bin in meinem Element.

Das Bergsteigen ist einfach mein Leben.

1 Neugier

Als ich das erste Mal auf einem mehr als 8000 Meter hohen Gipfel stand, blieb das große Glücksgefühl zunächst aus. Natürlich freute ich mich, aber ich war sehr erschöpft und gedanklich vor allem damit beschäftigt, dass wir auch wieder gut hinunterkommen mussten. Die überragende Freude, die tiefe Zufriedenheit, diese Gefühle stellten sich erst unten im Basislager ein. Am Vorgipfel des Broad Peak auf 8027 Metern ging es mir eher so, dass ich es fast nicht glauben konnte – stand ich wirklich hier oben? Ich hatte einfach einmal einen Achttausender versuchen wollen. Ich wollte wissen, ob ich die extreme Kälte überhaupt aushalte, von der in Berichten immer die Rede war. Wie das ist, in der dünnen Luft aufzusteigen, in der Todeszone, wie Höhen über 7000 Metern genannt werden. Und jetzt hatte ich es tatsächlich geschafft.

Die 900 Höhenmeter Aufstieg von unserem letzten Lager waren eine riesige Anstrengung für mich gewesen. Höhenbergsteigen ist auch heute noch äußerst anstrengend, aber beim ersten Mal, als ich das alles noch nicht gewohnt war, kam ich an meine Grenzen. Ich war vorher nie höher als auf 4800 Metern gewesen, mein Körper war im Vergleich zu heute noch nicht auf die verschiedenen Anpassungsmechanismen in der Höhe eingestellt, an den geringen Sauerstoffpartialdruck, das schnelle Atmen. Ich war 23 Jahre alt, und für mich war alles neu, von der Akklimatisierung bis zum Schneeschmelzen in großen Höhen. Wofür ich heutzutage, weil ich es automatisch mache, nur mehr wenig Energie aufwende, dafür war damals ständige Konzentration nötig, um alles richtig zu machen und nichts zu vergessen. Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass das meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und ich wenig von meiner Umgebung aufnehmen konnte.

Es war kalt, ein eisiger Wind blies, und es hatte zugezogen. Das Basislager war nicht mehr zu sehen, und auch die Sicht auf den K2 wurde immer schlechter. Sein Gipfel schaute noch heraus, doch unterhalb befand sich eine dichte Wolkenschicht. Wir sprachen gar nicht darüber, ob wir noch weiter zum Hauptgipfel aufsteigen, der wegen der Wolken nicht zu sehen war, für uns war das der Gipfel. Siegfried, Ernst und ich umarmten uns, und ein paar Freudentränen ließ ich freien Lauf. Ich dachte an meine Eltern und an meine Geschwister und fragte mich, ob sie sich vorstellen konnten, wo ich jetzt war. Das hatte ich mir im Lauf der Expedition oft gedacht und in Gedanken mit ihnen beredet. 1994 am Broad Peak hatten wir noch kein Satellitentelefon dabei, statt E-Mail-Verkehr wie heute gab es einen Postläufer. Ich war wirklich weit von ihnen entfernt.

Außer uns dreien war an diesem Tag, dem 2. Juli 1994, niemand zum Gipfel heraufgekommen. Keiner von uns war jemals so hoch gewesen. Zusammen mit Siegfried hatte ich schon viele Gipfel bestiegen, aber dieses gemeinsame Erlebnis war einmalig. Ich hatte ihn kennengelernt, als ich gerade meine schriftlichen Diplomprüfungen als Krankenschwester gemacht hatte. Gesehen hatte ich ihn allerdings schon früher, mit sechzehn. Er war Bergführer, lebte in Windischgarsten und hielt in meinem Heimatort Spital am Pyhrn einen Diavortrag über den K2. Er war im Sommer 1986, als am K2 dreizehn Bergsteiger ums Leben kamen, Teilnehmer der österreichischen Expedition gewesen. Zuvor hatte ich bereits den Vortrag seines Teamkollegen Willi Bauer angeschaut – eine dramatische Geschichte, weil unter anderem Fredl Imitzer, der aus Spital kam, nicht mehr zurückkehrte. Ich hatte zuvor meinen Vater gefragt, ob ich zu dem Vortrag gehen dürfe. Er gab mir hundert Schilling und sagte: »Ja, gehst halt.« Dass mich das interessierte, konnte er nicht so ganz nachvollziehen. In Siegfrieds Vortrag ging es weniger um die Tragödie – er hatte am Gipfelversuch nicht teilgenommen, weil ihm das Wetter zu unsicher war – als um das Gebirge, den Karakorum. Er zeigte Bilder vom Anmarsch, von den Trägern, vom Concordiaplatz, dem Zusammenfluss mehrerer riesiger Gletscher, und ich war von der beeindruckenden Bergkulisse fasziniert. Dahin wollte ich auch einmal!

Siegfried und ich begegneten uns im Sommer 1990 wieder, beim jährlichen Bierzeltfest in Spital am Pyhrn. Er hatte seinen wilden Vollbart abrasiert, deswegen erkannte ich ihn nicht. Wir tranken etwas miteinander und redeten eigentlich sofort vom Bergsteigen, erst später sagte er mir, wer er war – da hatten wir schon ausgemacht, dass wir zusammen klettern gehen würden. Etwas Besseres konnte mir gar nicht passieren; ich war eine begeisterte Bergsteigerin, und jetzt ging der viel erfahrenere Siegfried Wasserbauer mit mir zum Klettern!

Richtig schwierig geklettert war ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich hatte mit acht Jahren meine ersten Wanderungen gemacht, mit der Jungschar, der katholischen Kinder- und Jugendgruppe. Jeden Freitag war Jungscharstunde, in der wir zusammen spielten, bastelten, sangen oder Aufführungen einstudierten. Besonders beliebt war das sommerliche Ferienlager unter der Leitung des Pfarrers von Spital am Pyhrn, Erich Tischler, der mich auch getauft hatte. Eigentlich durften erst Kinder ab sechs Jahren daran teilnehmen, aber weil meine ältere Schwester Manuela auch dabei war und ich so sehr bettelte, durfte ich schon mit fünf Jahren mitfahren. Es kam noch eine andere »kleine Schwester« mit, Eva, und wir wurden beide von den Neun- bis Zwölfjährigen bemuttert. Vor allem hingen wir aber an der »Jungschar-Oma«, Hermine Schwaighofer, die achtzehn Jahre lang die Jungscharköchin im Lager und sehr beliebt war. Das Lager fand am Almsee in der Grünau statt, und unter anderem machten wir einen Ausflug in den Märchenpark Schindlbach. Der Herr Pfarrer – bis zu meiner Hochzeit, als er mir das Du anbot, blieb er für mich immer der »Herr Pfarrer« – fotografierte Eva und mich vor der Figur des Rübezahl, dem wir gerade bis zu den Knien gingen. Jahre später erzählte er mir, dass ich, als ich mit Eva und Frau Schwaighofer vor dem Knusperhäuschen mit der Hexe stand, auf deren Buckel die Katze saß, fragte: »Oma, ist das der Muskelkater?« Das Wort Muskelkater musste ich irgendwo aufgeschnappt haben.

Von da an war ich jeden Sommer dabei. Während die Tage mit Geschicklichkeitsspielen, Postenläufen oder der Lagerolympiade mit Gruppenwertung ausgefüllt waren, saßen wir abends gemütlich am Lagerfeuer – da wurde gesungen, der Herr Pfarrer spielte Gitarre und Ziehharmonika, und ich genoss die Fröhlichkeit und die Gemeinschaft mit den anderen Kindern. In den Schlafsälen der Hütten hatten wir immer eine große Gaudi, der Küchendienst wurde abwechselnd eingeteilt, das Miteinander stand im Vordergrund. Das Jungscharlager war der Höhepunkt des Jahres für mich, ich zehrte jeweils lange davon und litt, wenn ich wieder lange Monate darauf warten musste. Heimweh kannte ich nicht.

Unser Pfarrer ging sehr gern in die Berge, und mindestens einmal während jedes Jungscharlagers wurde gemeinsam ein Berg bestiegen. Beim ersten Mal durfte ich noch nicht mit, aber später war ich mit Begeisterung auf diesen Wanderungen dabei. Später erzählte er, ich sei eine von den »Gangigsten« gewesen; überall wollte ich dabei sein, und es wurde mir scheinbar nie zu viel, ich ging immer gern noch einen zusätzlichen Gipfel und konnte gar nicht genug bekommen. Diese Bergtouren waren für mich das Schönste: Wir frühstückten morgens kräftig, waren den ganzen Tag draußen an der frischen Luft, hatten unsere Jause dabei, rasteten ausführlich, und wenn der Herr Pfarrer von seinen Bergerlebnissen erzählte, lauschte ich gebannt.

Seit ich in die Schule gekommen war, ging ich freitags in die Schülermesse. Religion interessierte mich, und mit zwölf wurde ich Ministrantin. Wenn ich zum Dienst eingeteilt war, stand ich sehr früh auf und schlich mich aus dem Haus, denn um Viertel vor sieben musste ich in der Kirche sein. Im Winter war es da noch stockdunkel. Die Frühmesse war um sieben Uhr, danach ging ich mit dem Herrn Pfarrer hinauf in die Volksschule, er, um Religion zu unterrichten, ich in meine Klasse. An meiner Disziplin merkte er anscheinend, dass es mir ernst war, wenn ich etwas wollte, auf jeden Fall bot er mir und anderen Ministrantinnen an, uns sonntags nach der Messe mit auf eine Bergtour zu nehmen. Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen, ich war voller Begeisterung dabei, mindestens alle vierzehn Tage, wenn er Zeit dazu hatte. Weil es jeweils schon halb zwölf war, wenn wir aufbrechen konnten, bestiegen wir in erster Linie Berge in der näheren Umgebung von Spital wie den Großen Hengst in den Niederen Tauern. Auf diesen Touren brachte er uns grundsätzliche Dinge bei: dass ein guter Bergsteiger sich auf jeden Schritt konzentriert, dass sich die ganze Gruppe nach dem Schwächsten richtet, dass man beieinanderbleibt und aufeinander wartet. Er erklärte uns aber auch, wie man am besten steigt, dass man nicht nur auf den Zehenspitzen, sondern mit der ganzen Sohle auftritt, dass man in steilem Gelände mit der Ferse auf einen Stein treten kann, damit die Fußsohle relativ flach bleibt – das kommt mir heute noch manchmal beim Gehen in den Sinn. Der Herr Pfarrer war aber auch Jäger, und so zeigte er uns die unterschiedlichen Wildspuren und erzählte von den Tieren. Das waren Sonntag für Sonntag eindrucksvolle Erlebnisse für uns.

Als ich dreizehn war, wollten andere Ministrantinnen und ich gern einmal das Klettern ausprobieren. Der Herr Pfarrer nahm uns mit zu einer leichteren Klettertour auf den Sturzhahn im Toten Gebirge. Am Seil zu gehen, warmen Fels unter meiner Hand zu spüren, das luftige Steigen in einer ausgesetzten Wand, das alles faszinierte mich sehr. Ich war überglücklich, als im Jahr darauf im Sommerlager des Spitaler Alpenvereins auf der Wurzeralm ein Kletterkurs angeboten wurde, bei dem wir unter anderem auch Knoten und Sicherungstechnik lernten. Im Winter machten wir Skitouren, und im Frühjahr lieh der Herr Pfarrer vom Bergrettungsdienst Firngleiter und sauste mit uns die Schneerinnen hinab.

Einmal wollten wir im Sölktal auf das Schafdach steigen. Außer mir kam noch meine Freundin Isabella mit; es war Ende Mai, Anfang Juni, und wir hatten die Firngleiter dabei. Wie immer ging der Herr Pfarrer voraus – vorgehen durften wir nicht, er machte das Tempo. Isabella und ich achteten natürlich nicht darauf, dass sich im Süden Wolken zusammengeschoben hatten, uns fiel nur plötzlich auf, dass es dem Herrn Pfarrer die Haare aufstellte, und weil er kurze und schon etwas weniger Haare hatte, fanden wir das lustig. Wir wunderten uns schon ein bisschen, aber wir hatten eine Mordsgaudi und lachten, wie junge Hühner eben lachen. Der Herr Pfarrer drehte sich nie zu uns um, er sagte nur: »Jetzt konzentriert euch, Dirndln, das Wetter wird schlecht, jetzt müssen wir schauen, dass wir hinaufkommen, und kudert nicht so viel die ganze Zeit!« Wir lachten nur noch mehr, weil sich jetzt auch Isabellas Haare aufstellten, die kürzer waren; bei mir merkte man es nicht, meine waren lang und zu einem Zopf zusammengebunden. Bis sich dann der Herr Pfarrer doch umdrehte und Isabellas Haare sah. Er erschrak und sagte, dass wir so schnell wie möglich hinuntermüssten, obwohl uns nur noch vierzig, fünfzig Höhenmeter zum höchsten Punkt fehlten. Wir fuhren also ohne Gipfel und in größerem Abstand voneinander mit den Firngleitern ab. Im Tal erklärte er uns dann, dass die aufstehenden Haare durch die elektrische Spannung eines herannahenden Gewitters verursacht wurden und das im Gebirge sehr gefährlich sei. Wir hatten keine Ahnung gehabt, dass jeden Moment der Blitz hätte einschlagen können.

Ein andermal lernte ich die Gefahren der Berge kennen, als der Herr Pfarrer mit mir und einer Freundin den Dreisteckengrat begehen wollte, einen mehrere Kilometer langen Grat zwischen Großem Bösenstein und Dreistecken. Wir stiegen von der Edelrautehütte hinauf zum Bösenstein, doch dann kam ein Gewitter, und wir mussten absteigen, um möglichst vom Grat wegzukommen. Der Weiterweg zum nächsten Gipfel, der mit Drahtseilen versichert war, wäre im Gewitter zu riskant gewesen. Der Herr Pfarrer führte uns in eine steile Rinne nach Norden, in der noch Altschnee lag. Silvia rutschte auf dem harten Schnee aus. An dem Stein, der ihren Sturz auffing, riss sie sich so auf, dass sie genäht werden musste. Zum Glück war das der einzige, relativ glimpflich verlaufene Bergunfall, den ich in jungen Jahren miterlebte.

Erich Tischler war viel mit Kindern und Jugendlichen unterwegs, und er genoss ringsum das Vertrauen der Gemeinde. Daheim war es nie ein Thema, ob ich mit ihm mitgehen durfte oder nicht. Meine Eltern waren höchstens verwundert, dass ich mit so großer Motivation in die Berge ging. Wir Kinder freuten uns, dass er uns mitnahm, er lachte viel und wusste den Tag immer interessant zu gestalten. Am Gipfel waren wir jeweils stolz darauf, uns ins Gipfelbuch einzutragen, und während unserer Jause erklärte er uns die umliegenden Berge. Manchmal hörten wir aber auch nur mit halbem Ohr zu, weil es so viele andere spannende Dinge gab: nach unten ins Tal schauen oder – was natürlich absolut verboten war – Steine hinunterwerfen.

Die gemeinsamen Touren mit dem Herrn Pfarrer hörten auf, als ich fünfzehn war. Ich war in die Schule für Sozialdienste in Rottenmann eingetreten, lebte dort zwei Jahre im Internat und hatte keine Zeit mehr für die sonntäglichen Ausflüge in die Berge. Aber wir blieben immer in Verbindung, und auch die gegenseitige Wertschätzung ist geblieben. Wenn ich ihn traf, erzählte ich ihm von den Touren, die ich mittlerweile selbstständig machte, und er interessierte sich immer dafür, kannte sie oft von eigenen Begehungen. Später verfolgte er meine Expeditionen. Wenn ich in Spital bin, besuche ich ihn gern. Vielleicht kann ich ihm so ein wenig meine Dankbarkeit zeigen und ihm etwas davon zurückgeben, was er mir mit auf den Weg gab. Er war es, der in mir die Leidenschaft für das Bergsteigen weckte.

Seit der Klettertour am Sturzhahn hatte ich davon geträumt, »richtig« zu klettern, mit Seil, Karabinern und allem, was dazugehört. Leider ergab sich nie eine Gelegenheit dazu. Umso erwartungsvoller sah ich 1990 dem ersten Treffen mit Siegfried entgegen. Wir fuhren in den steirischen Klettergarten Pürgg, kletterten dort einige Seillängen im vierten Grad und machten schließlich noch den Durchstieg, eine Mehrseillängenroute durch die 200 Meter hohe Wand. Am Abend war ich überglücklich: Das Klettern gefiel mir wie selten etwas zuvor. Außerdem hatten wir uns gut verstanden und waren uns sympathisch, so sympathisch, dass wir gleich wieder etwas ausmachten. Natürlich alles heimlich – Siegfried war vierzehn Jahre älter als ich, das hätte daheim nur Diskussionen gegeben.

Bald verabredeten wir uns zu einer Tour im Gebirge und kletterten den Kalbling-Südgrat im Gesäuse. Es war sonnig, der Fels war wunderbar griffig, ich war in Hochstimmung. Ich kletterte im Nachstieg, und jedes Mal, wenn ich zu Siegfried an den Standplatz kam, lachte ich über das ganze Gesicht, weil ich mich so freute. Der Tag war ein riesiges Erlebnis für mich: Die Ausrüstung zusammenstellen, der Zustieg, mehrere Seillängen am Grat klettern, am Gipfel ankommen, der Abstieg, das alles zusammen war eine faszinierende Welt. Mich im Fels zu bewegen genoss ich sehr und kehrte voll mit Eindrücken und stolz auf meine erste alpine Klettertour zurück. Und dann war ich noch mit einem Menschen unterwegs, den ich mochte, während ich vorher oft allein zum Bergsteigen oder auf Skitour gegangen war!

Siegfried besuchte mich in dieser Zeit einmal in Wien, wo ich bis zur mündlichen Prüfung im September noch mein restliches Praktikum absolvierte. Ich holte ihn am Westbahnhof ab, wir gingen in ein Café gleich bei meinem Internat und redeten schon bald nur noch über das Bergsteigen. Obwohl ich alles andere als ein Nachtmensch bin, saßen wir um zwei Uhr in der Früh immer noch dort. Siegfried erzählte mir von seinen Expeditionen und von seinem Plan, irgendwann zum Everest zu gehen. Gespannt hörte ich ihm zu, nahm jedes Wort auf und gestand ihm schließlich: »Auf einen Achttausender möchte ich auch unbedingt einmal.« Siegfried – anderen hätte ich das sowieso nicht gesagt, die hätten mich nur für verrückt gehalten – verstand das, er sagte nur: »Ja, warum nicht.«

Mittlerweile hatten wir uns ineinander verliebt. Bald verbrachten wir im Dachsteingebiet das erste Wochenende gemeinsam. Wir wollten Touren an der Bischofsmütze und die Hochkesselkopf-Südwestverschneidung klettern und übernachteten auf der Hofpürglhütte. In der Hochkesselkopfverschneidung, einer Route im vierten Grad, waren wir schon ziemlich weit oben – Siegfried stieg, wie er das anfangs immer tat, vor, ich war am Stand und sicherte ihn –, als ich plötzlich ein lautes Krachen hörte. Ich schaute hinauf und sah einen riesigen Steinblock nach unten stürzen, der aber zum Glück in einiger Entfernung an mir vorbeifiel. Erst als ich am Stand ankam und sah, dass Siegfried leichenblass war, wurde mir bewusst, wie gefährlich die Situation gewesen war. Der Block hatte sich durch die Bewegungen des Seils gelöst, und für ihn war nicht ersichtlich gewesen, ob ich oder auch die nachfolgende Seilschaft in der Schusslinie war.

Siegfried und ich machten eine alpine Tour nach der anderen, ich lernte viel dazu und steigerte mich langsam im Schwierigkeitsgrad. Oft waren wir am Kalbling mit seinen vielen Routen unterwegs. Wir zogen los, sobald wir einen Tag gemeinsam freihatten, was vor allem von meinem Dienstplan abhing. Inzwischen hatte ich am Landeskrankenhaus von Rottenmann in der Steiermark zu arbeiten begonnen, die lang ersehnte finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte mir eine eigene Wohnung in Spital und, mit einem Vorschuss meines Vaters, ein kleines Auto, mit dem ich durch den Bosrucktunnel zur Arbeit fuhr. Es war ein Fiat Panda, ein allradgetriebener – das musste sein, damit ich im Winter bei der Anfahrt zu Skitouren nicht hängen bleiben würde. Im Krankenhaus von Kirchdorf, wo meine älteste Schwester Brigitte arbeitete, hatte ich mich gar nicht erst beworben, weil es nicht so nah am Gebirge und oft im Nebel lag. In Rottenmann dagegen hatte ich die Berge vor der Haustür, und mittlerweile war mir das Bergsteigen so wichtig geworden, dass ich alles danach ausrichtete. Die Berge gaben mir Zufriedenheit. Wenn ich irgendwo oben stand und weit hinaus in die Welt sehen konnte, war ich glücklich, da fühlte ich mich frei, vergaß alles andere, ein positives Gefühl durchströmte meinen Körper und meinen Geist.

Mich im alpinen Gelände sicher zu bewegen lernte ich vor allem durch Siegfried. Er leitete mich an, Griffe und Tritte immer erst auf ihre Festigkeit zu prüfen, und brachte mir alles Alpintechnische bei: wie man Klemmkeile und Friends legt, wie man Expressschlingen richtig einhängt, wie man einen Standplatz baut, wenn man keine Haken vorfindet. Ich hatte volles Vertrauen in ihn und fühlte mich sicher, wenn ich mit ihm unterwegs war; bis ich selbst eine eigenständige Alpinistin war, verließ ich mich voll und ganz auf ihn. Ich begann bald, selbst vorzusteigen, das war mir wichtig, und Siegfried ermunterte mich dazu. Er führte mich ans extreme Bergsteigen heran. Wir teilten sieben sehr intensive Jahre miteinander, in denen wir ständig unterwegs waren. Um die Klettersaison zu verlängern, fuhren wir im Frühling oder Herbst nach Arco an den Gardasee. Wenn es für ein paar Tage in die Dolomiten ging, waren wir jeden Tag auf einer anderen Klettertour anzutreffen, und am Nachmittag setzten wir uns noch auf die Mountainbikes und fuhren eine Runde. Dass wir dieselbe Leidenschaft hatten, war die Grundlage unserer Beziehung.

Etwa ein Jahr nachdem wir ein Paar wurden, zog ich zu Siegfried. Er lebte neben dem Hof seiner Eltern etwas oberhalb von Windischgarsten in einem kleinen, bescheiden eingerichteten Austragshäusl. Badezimmer gab es keines, nur eine Toilette und ein Waschbecken; die Duschkabine war in einer Ecke der Küche installiert. Der sogenannte Tischherd in der Küche, der mit Holz beheizt und auf dem gekocht wurde, war zunächst die einzige Heizmöglichkeit für das ganze Haus, und im Winter fror uns öfter das Wasser ein. Später schlossen wir im Wohnzimmer an den Kamin noch einen kleinen Ofen an, der schnell warm wurde und eine gemütliche Atmosphäre verbreitete. Im ersten Stock bauten wir eines der beiden Zimmer zu unserem Schlafzimmer aus.

Das Haus war landschaftlich wunderschön gelegen, man sah auf der einen Seite auf Wiesen und Wald, auf der anderen Seite auf den Pyhrgas, den Bosruck und ins Stodertal hinein. In der Dämmerung konnten wir draußen oft Rehe beobachten, die zum Äsen aus dem Wald kamen, und im Herbst hörte man abends die Hirsche röhren. Auf den sonnigen Futterwiesen rund ums Haus waren die Kühe unterwegs wie auf einer Alm. Mit Siegfrieds Eltern, seinem Bruder und dessen Familie, die den Hof bewirtschafteten, verstand ich mich sehr gut. Ich half im Stall beim Kälberziehen und holte drüben auch frische Milch, mit der mein Kaffee doppelt so gut schmeckte. Unter den einfachen Bedingungen fühlte ich mich wohl, auch wenn es manchmal schwierig war: Es gab keine Zufahrtsstraße zum Haus, die Schotterstraße endete am Bauernhof, und im Winter blieb ich auf ihr – trotz Allrad – mehr als einmal mit meinem Panda hängen und war froh, wenn Siegfrieds Bruder mich mit dem Traktor aus dem Schnee zog.

Ähnlich intensiv, wie wir im Sommer kletterten, machten wir im Winter Skitouren. Bald kam in der kalten Jahreszeit noch eine weitere Sportart hinzu: Eisklettern. Siegfried machte das nicht so viel Freude, aber ich war begeistert davon. Ich kaufte mir Steileisgeräte und fuhr auf den Hengstpass, um eine Eistour zu gehen. Natürlich keine schwierige, da ich allein war, aber es gab mehrere Eisrinnen mit zwischen fünf und zehn Meter langen steileren Aufschwüngen, die sich dann wieder zurücklegten, sodass ich es verantworten konnte, ungesichert unterwegs zu sein. Ich war es gewohnt, allein loszuziehen, da ich oft unter der Woche freihatte, wenn alle anderen arbeiteten. Mehrmals beging ich die Vogelgesangklamm, wenn sie gefroren war, sozusagen eine Eiswanderung mit kurzen steilen Aufschwüngen. Nur im ersten Steilaufschwung war mir manchmal etwas mulmig zumute, weil ich unter dem Eis das Wasser rauschen hörte und mir vorstellte, dass ich, wenn das Eis bräche, ertrinken würde.

Das Klettern im Eis machte mir großen Spaß. Ich konnte die Eisgeräte setzen, wohin ich wollte, und hörte beim Einschlagen am Klang, wie gut sie saßen. Mit Begeisterung schliff ich meine Steigeisen, damit sie besonders gut griffen. Ich übte, Eisschrauben zu setzen und Eissanduhren zu bohren – eine von dem Russen Witali Abalakov erfundene Technik, mit der man im Eis Fixpunkte schaffen kann: Man dreht eine Schraube schräg zweimal so ins Eis, dass sich die Schraubkanäle an ihrem Ende treffen, durch diese »Sanduhr« fädelt man eine Reepschnur, an der man das Seil befestigen und abseilen kann. Ich mochte das Medium Eis, auch die Kälte, sie machte mir nichts aus. Je nach Temperatur ändert sich die Eisqualität. Gerade bei der Platzierung von Eisschrauben braucht es ein gutes Einschätzungsvermögen, da die Schrauben nur in stabilem Eis ausreichend halten. Gefrorene Wasserfälle übten durch ihre Vergänglichkeit einen besonderen Reiz auf mich aus. Sie verschwanden im Frühling und bildeten sich jedes Jahr im Winter wieder neu. Und es gefiel mir, dass man im Eis alle Sicherungsmittel wieder mitnahm und keine Spuren hinterließ, zumindest in den klassischen Eistouren, die ich bevorzugte. Das Mixed-Klettern, bei dem auch im Fels geklettert und gesichert wird, interessierte mich weniger.

Eisklettern war kraftaufwendig. Es bedeutete volle Konzentration: Wie beim Felsklettern auch, war ich ganz auf mein Tun fokussiert, ganz bei mir. Und egal, ob im Fels oder im Eis, das Bergsteigen gab mir so viel – ich merkte, dass ich dabei einfach glücklich war.

Wie Siegfried war ich in den Naturfreundeverein eingetreten – während im Tiroler Raum die Alpenvereinssektionen verbreiteter sind, sind weiter im Osten die Naturfreunde stärker vertreten – und dort vor allem in der Alpinistengilde aktiv, die sich im Gegensatz zur Wanderer- oder Klettergruppe auf Auslandsbergfahrten konzentrierte. Mit seinem Freundeskreis unternahmen wir regelmäßig Touren. Es muss irgendwann zu Beginn des Jahres 1993 gewesen sein, als innerhalb dieser Gruppe die Idee einer Expedition, die Siegfried und ich schon lange mit uns herumtrugen, zum Thema wurde. Irgendwann stand als Ziel Pakistan im Raum, und ich war begeistert – von Nepal hatte ich zu der Zeit noch gar keine Vorstellung. Endlich würde ich in den Karakorum kommen! Wir wollten einen Berg besteigen, der nicht überlaufen war, technisch nicht zu anspruchsvoll, nicht zu hoch, und so kamen wir schließlich auf den Broad Peak. Er gehört zu den weniger schwierigen Achttausendern, ist aber trotzdem durchgehend steil. Alpintechnisch waren alle acht Teilnehmer versiert; Nik Rafanovic und Siegfried hatten Erfahrung an Achttausendern, wir anderen mussten sehen, wie wir die Höhe vertragen würden. Ich wollte wissen, wie das ist so hoch oben, wie weit ich kommen würde – dass ich vielleicht mal mehrere Achttausender besteigen würde, daran dachte ich überhaupt nicht. Von Anfang an war mir aber klar, dass ich ohne künstlichen Sauerstoff gehen und es, wenn überhaupt, dann aus eigener Kraft schaffen wollte. Bis dahin war der Montblanc mein höchster Gipfel gewesen. Überhaupt hatte ich von der Welt noch nicht viel gesehen, und schon die Zeit vor der Expedition war absolut spannend für mich.

Wir hatten mit der Vorbereitung ein Jahr vorher begonnen und als Erstes um die Genehmigung ersucht. Da wir nicht mit einer Agentur vor Ort zusammenarbeiteten – das war damals noch möglich –, kam ein riesiger Organisationsaufwand auf uns zu. Das fing mit den Visa an, die wir in Wien besorgen mussten, und hörte bei der Beschaffung von Ausrüstung und Geld noch lange nicht auf. Im Winter verlegten wir unsere regelmäßigen Expeditionstreffen aufs Wochenende und nutzten sie nicht nur, um Anstehendes zu besprechen, sondern gleich noch, um mit langen Skitouren gemeinsam zu trainieren. Wir versuchten auch, finanzielle Unterstützung durch Sponsoren zu bekommen, was sich aber auf den privaten Bereich beschränkte: Wir ließen T-Shirts mit dem Motiv des Broad Peak bedrucken und verkauften sie im Bekanntenkreis, außerdem sammelten wir Adressen für eine Grußkartenaktion.

Erfolgreicher waren wir beim Materialsponsoring. Bekleidung und vor allem Nahrungsmittel bekamen wir von Herstellern und Händlern zur Verfügung gestellt – Speck und Wurst, Fruchtsäfte, ein Kontingent von 120 Ananasdosen –, deswegen waren wir von der Verpflegung her sehr gut ausgestattet. Nik hatte als Sportartikelimporteur mit Speditionen zu tun und konnte eine von ihnen davon überzeugen, uns den Transport des Gepäcks nach Pakistan zu sponsern. Das sparte uns eine Menge Kosten und war der Grund dafür, dass wir nicht so streng aussortierten, was wir mitnahmen und was nicht. Wir rechneten damit, dass wir zwischen sechzig und siebzig Träger brauchen würden. Nik und Siegfried nahmen in Pakistan Kontakt mit Alika auf, den sie von früheren Karakorum-Expeditionen her kannten, fragten bei ihm an, ob er uns als Koch zur Verfügung stehen würde, und meldeten unseren Bedarf an Trägern an.

Um mich so gut wie möglich vorzubereiten, trainierte ich wie verrückt. Den ganzen Sommer 1993 fuhr ich, wenn das Wetter es irgendwie zuließ, mit dem Rad in die Arbeit, täglich zweimal die vierzig Kilometer zwischen Windischgarsten und Rottenmann, über den Pyhrnpass. Damit ich pünktlich zum Arbeitsbeginn um 6.15 Uhr im Krankenhaus war, musste ich spätestens um halb vier Uhr morgens los. Eigentlich schlafe ich wirklich gern und lange, aber damals war ich so motiviert, dass das Aufstehen kein Problem war. Ich fuhr noch im Finstern los, dann dämmerte es langsam; kein Auto war unterwegs, ich hörte die Vögel zwitschern, sah Wild aus den Wäldern kommen. Ich genoss die einsame Stimmung und nahm aufmerksam wahr, was um mich herum los war, in welchen Häusern schon Licht brannte, wer schon auf war. Im Krankenhaus angekommen, duschte ich und saß dann völlig frisch bei der Dienstübergabe. Meine Beine spürte ich zwar schon, aber ich brachte eine unheimliche Energie mit und war den ganzen Tag gut drauf. Abends radelte ich wieder heim, duschte, aß etwas und fiel ins Bett – für anderes war während meiner Dienstzeiten kein Raum. Hatten wir frei, waren Siegfried und ich sowieso beim Bergsteigen.

Wir organisierten unsere Expedition zwar ohne Agentur und damit relativ günstig, nichtsdestotrotz war sie ein finanzieller Kraftakt für mich. Ich machte daher wegen der Zuschläge möglichst viele Nachtdienste, sechs im Monat – da kämpfte ich dann am Morgen beim Heimradeln mit der Müdigkeit. Und immer wieder einmal kam ich in den Regen und wurde waschlnass. Aber die Motivation, für den Broad Peak zu trainieren, war immer da.

Auch gegen die Kälte wollte ich mich abhärten. Wir schliefen grundsätzlich bei ganz geöffnetem Fenster, und wenn ich morgens herunterkam, waren der Ofen und das Haus eiskalt. Wir zogen das auch im Winter durch: Fenster ganz öffnen, unter je zwei Bettdecken schlüpfen, mit einer roten, eiskalten Nase aufwachen. Das Fußende unseres Bettes war nicht allzu weit entfernt vom Fenster, und wenn es in der Nacht stark schneite und der Wind ging, hatten wir am Morgen eine Schneeschicht auf unseren Decken. Ich hatte mir so sehr in den Kopf gesetzt, auf einen Achttausender zu steigen, dass mir nichts zu absurd erschien, um mich optimal darauf vorzubereiten.

Dann war es endlich so weit. Am 19. Mai 1994 flogen wir nach Islamabad ab. Dort ging die Organisation weiter: Wir mussten uns um die Papiere kümmern, den Verbindungsoffizier »übernehmen« und kauften schließlich im Basar noch Socken, Sonnenbrillen und Zigaretten für die Träger ein. Die Logistik war aufwendig, heute wäre mir das zu anstrengend, aber ich bin froh, dass ich diese Zeit noch erlebt und diese Erfahrungen gemacht habe. Einquartiert waren wir im unter Bergsteigern gern genutzten, aber etwas vernachlässigten Hotel »Flashman’s«. Als nach sechs Tagen endlich alles erledigt war, reisten wir zunächst mit einem Bus über den Karakorum Highway nach Skardu und dann mit Jeeps in einer furchterregenden Rüttelfahrt über steile, schmale Pisten nach Askole, das auf rund 3000 Meter Höhe liegt. Von hier an würden wir auf unsere eigenen Füße angewiesen sein.

Als es an das Verteilen der Lasten auf die Träger ging – damals trugen die pakistanischen Träger noch dreißig Kilo pro Person, heute sind es wie auch in Nepal 25 Kilo –, gab es ein böses Erwachen: Für unsere großzügigen Vorräte waren insgesamt 108 Träger nötig, vier davon allein für die Ananasdosen! Eine lange Schlange schwer bepackter Menschen marschierte anschließend am Flussufer des Braldu entlang nach Osten. Am ersten Tag gewannen wir rund 200 Höhenmeter, am zweiten stiegen wir auf nicht ganz 3500 Meter auf und machten dort in Paiju einen Rasttag, bevor wir den Baltorogletscher betraten. Weiter ging es in Tagesetappen auf 4000, 4300 und 4600 Meter hinauf, bevor wir das Basislager auf fast 5000 Metern erreichten. Weil man sich über den Baltorogletscher sehr langsam und gleichmäßig den Bergen annähert, ergibt sich im Karakorum automatisch eine gut verträgliche, schrittweise Höhenanpassung. Akklimatisierung war mir damals nur aus Büchern ein Begriff, und wie so oft orientierte ich mich an Siegfried, der im Gegensatz zu mir Erfahrung damit hatte, und beherzigte seine Ratschläge: Zeit lassen, langsam gehen, viel trinken.

Für mich war alles fremd und aufregend. In Paiju schlachteten die Träger eine Geiß, und ich dachte, ich sehe nicht recht, als uns für das Abendessen als besondere Spezialität das Hirn dieser Geiß angekündigt wurde. Unsere Expeditionsärztin Karin und ich hatten aber Glück. Parallel zu uns war eine koreanische Expedition unterwegs, und einer ihrer Teilnehmer hatte ein Geschwür in der Hand. Karin operierte es, ich assistierte ihr. Zum Dank wurden wir an diesem Abend von den Koreanern zum Essen eingeladen und konnten so dem Geißenhirn entgehen.

Am Concordiaplatz, der auf rund 4600 Metern liegt, sah ich zum ersten Mal den K2 – den Berg, von dem ich schon so viel gehört hatte und den ich so gern einmal in echt sehen wollte. Nur sehen! Seine gleichmäßige Pyramidenform erschien mir so unnahbar schön, dass ich kein Wort herausbrachte. Wir übernachteten noch einmal, während eine tschechische Mannschaft, die ebenfalls auf dem Anmarsch war, direkt weiter ins Basislager ging. Die Tschechen, lauter junge Männer mit einer Veterinärmedizinerin als Expeditionsleiterin, waren schon die letzten Tage immer viel schneller gewesen als wir. Ich fragte Siegfried, warum wir nicht auch gleich ins Basislager weitergingen. »Das liegt doch nur ein paar Hundert Meter höher, zweieinhalb Stunden vielleicht, und uns geht es doch allen gut!«

»Genau das macht es aus«, antwortete er. »Wir verbringen hier noch eine Akklimatisationsnacht. Du wirst sehen, den Tschechen wird es im Basislager nicht gut gehen, die sind schon die ganze Zeit so gerannt und haben sich ein Wettrennen geliefert, wer zuerst im Lager ankommt. Lass dir Zeit, ignorier die anderen.«

Am Abend saß ich auf einem Stein und schrieb Tagebuch. Es war eine phantastische Abendstimmung, um mich herum leuchtete alles. Ich war glücklich.

In unserer ersten Nacht im Basislager kam ein Tscheche zu unseren Zelten gelaufen und rief nach einem Arzt. Ein Teilnehmer aus ihrer Mannschaft hatte ein massives Lungenödem bekommen. Karin und ich machten uns auf den Weg ins Lager der Tschechen, das etwa zwanzig Minuten tiefer lag als unseres. Dann schickte mich Karin wieder hinauf in unser Lager, um die benötigten Medikamente und Infusionen zu holen. Ich brachte ihr das Material und kehrte später in unser Lager zurück, während Karin sich die ganze Nacht um den Patienten kümmerte. Wir hatten einen Certec-Sack dabei, den man aufpumpen und dadurch im Innern den Luftdruck erhöhen kann, um einen Abstieg zu simulieren. Am nächsten Morgen packten wir den Tschechen da hinein, doch er fühlte sich darin so beengt, dass er es nicht aushielt, obwohl Karin ihm zur Beruhigung Medikamente gab. Seine Kollegen begannen dann, ihn abzutransportieren. Kurz nach dem Basislager, in nicht einmal 5000 Meter Höhe, starb er.

Ich war schockiert. Natürlich hatte ich von der Möglichkeit gehört, ein Lungenödem zu bekommen, aber dass ich es gleich so hautnah miterleben und es tatsächlich zum Tod führen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. War das Höhenbergsteigen so gefährlich, dass einen jederzeit aus heiterem Himmel ein Unglück treffen konnte? Oder wäre der Todesfall vermeidbar gewesen, wenn die Tschechen langsamer aufgestiegen wären? Auch um uns selbst zu beruhigen, sprachen wir innerhalb unserer Mannschaft immer wieder darüber, zumindest solange wir im Basislager waren.

Nachdem wir im klassischen Expeditionsstil unterwegs waren, begannen wir, die Hochlagerkette aufzubauen. Wir transportierten Material zum Platz des ersten Lagers, bauten es auf und stiegen wieder ins Basislager ab, um uns zu erholen. Dann saßen wir aufgrund des Wetters erst einmal sechs Tage im Basislager fest. Für unsere Akklimatisierung war das nicht schlecht; hat man von Anfang an schönes Wetter, verführt das eher dazu, zu früh loszulegen, wenn man noch nicht ausreichend an die Höhe angepasst ist.

Noch eine weitere Mannschaft hatte sich im Basislager des Broad Peak installiert: eine International Army Expedition, an der pakistanische, französische und amerikanische Militärangehörige teilnahmen. Ihr Expeditionsarzt tauchte eines Tages bei uns im Lager auf und fragte, ob es hier eine Gerlinde gebe. Mir rutschte das Herz in die Hose. Was wollte der von mir? Als ich mich zu erkennen gab, überreichte er mir ein ganzes Packerl völlig durchweichter Briefe. Es tue ihm sehr leid, aber unser Postläufer sei ins Wasser gefallen, und in diesem Zustand … Meine in langen Stunden geschriebenen Briefe an die Familie und an Freunde waren völlig aufgeweicht, die Adressen verschwommen. Ich war diejenige von uns achten, die am meisten schrieb, daher hatte er wohl meinen Namen irgendwo entziffern können.

Die Kontakte mit Bergsteigern aus der ganzen Welt waren faszinierend für mich. Ich bedauerte, dass ich nur wenig Englisch sprach, und ich nahm mir vor, das zu ändern, damit ich mich in Zukunft besser mit anderen Expeditionen verständigen könnte. Nachdem die Armeeexpedition angekommen war, hielt sich unser Begleitoffizier fast nur noch dort und kaum mehr bei uns auf. Wir waren ihm nicht böse, denn so wurde die Wahrscheinlichkeit geringer, dass er uns auf die Schliche kam. Eine unserer Sponsorfirmen hatte uns mit Getränkedosen versorgt, mit Orangensaft und Apfelsaft, und in Limonadedosen hatte sie uns Bier abgefüllt, um so elegant das Alkoholverbot in Pakistan zu umgehen. Dieser geglückte Schmuggel führte immer wieder zu Überraschungseffekten, wenn wir nichtislamischen Gästen im Basislager eine Dose Orangenlimonade hinstellten, aus der es nach dem Öffnen unzweideutig schäumte.

Als sich das Wetter besserte, stiegen wir auf und übernachteten das erste Mal in Lager 1. Ich genoss die Aussicht hinüber auf den K2 und die wunderbare Stimmung, wenn es nach Schneefall aufklart und alles im Sonnenlicht leuchtet. Gleichzeitig horchte ich wachsam in meinen Körper hinein, ob er irgendwelche Probleme signalisierte. Nichts – ich hatte keine Kopfschmerzen, es ging mir gut. Ich war langsam gegangen und trank, so viel ich hinunterbrachte. Ich hörte auch auf Siegfrieds Rat, mich nach der Ankunft im Lager nicht gleich hinzusetzen oder ins Zelt zu legen, sondern in Bewegung zu bleiben und die anstehenden Arbeiten – Schnee schmelzen, kochen – zu erledigen.

Während wir am nächsten Tag weiter aufstiegen, öffnete sich zwischendurch der Blick auf den Nanga Parbat. Ich war sprachlos. All diese berühmten, wunderschönen Berge! Wir bauten Lager 2 auf und blieben auch dort wieder eine Nacht, auf 6250 Metern.

Ich schlief ein mit dem Gedanken, dass ich noch nie in meinem Leben so hoch gewesen war.

In der Zwischenzeit musste die Expeditionsleiterin der Tschechen nach Skardu zurückkehren, um die Formalitäten im Zusammenhang mit dem Todesfall zu regeln. Die Mannschaft hatte entschieden, die Expedition fortzusetzen. Die Leiterin gab Anweisung, bis zu ihrer Rückkehr im Basislager zu warten und erst dann mit dem Aufbau der Hochlager zu beginnen. Da das Wetter aber schön war, wollten die Tschechen nicht länger warten und stiegen ebenfalls auf, um ihre Hochlager einzurichten. Wir begegneten ihnen, als wir, nachdem wir Material am Platz unseres dritten Lagers deponiert hatten, ins Basislager abstiegen.

Gleichzeitig mit uns waren auch die Südtiroler Hans Kammerlander und Hans Mutschlechner auf dem Anmarsch gewesen. Ich freute mich, Hans Kammerlander persönlich kennenzulernen, hatte ich doch schon viel von ihm gehört. Die beiden »Hansen«, wie wir sie nannten, waren bereits akklimatisiert angereist und starteten schon zum Gipfelversuch. Gespannt beobachteten wir bei bestem Wetter vom Basislager aus mit dem Fernglas, wie Hans Kammerlander als Erster in dieser Saison den Gipfel erreichte und ab Lager 3 auf Skiern abfuhr. Hans Mutschlechner, der ohne Skier unterwegs war, kehrte kurz unterhalb der Scharte, auf etwa 7800 Metern, um, weil er seine Zehen nicht mehr spürte.

Im Lager 2, wo sich die tschechische Mannschaft aufhielt, blieb Hans Kammerlander kurz stehen. Er redete mit jemandem, bekam vermutlich etwas zu trinken, dann fuhr er weiter ab. Wir freuten uns im Basislager mit ihm, und ich schaute ihm zu, wie er seine Schwünge zog. Plötzlich sah ich jemanden über die Felsen nach unten stürzen. »Das muss ein Tscheche sein«, schoss es mir durch den Kopf, »das gibt’s doch nicht, das darf nicht wahr sein« – ich glaube, ich schrie sogar. Der Bergsteiger trug einen türkisfarbenen Anorak, der irgendwann an einem Felsen hängen blieb, auf dem er aufprallte. Nach ein paar Sekunden war alles vorbei. War das überhaupt real gewesen, war das wirklich passiert? Sosehr ich mir das Gegenteil wünschte, es war real. Am Fuß der Nordflanke lag ein lebloser Körper.

Ich war erschüttert. Dieser zweite Todesfall brachte mich völlig durcheinander und verunsicherte mich. Ging ich hier nicht doch ein zu großes Risiko ein, das nicht kalkulierbar war? Was war da oben passiert, warum hatte der Bergsteiger den Halt verloren? An diesem Abend schrieb ich in mein Tagebuch: »Das kann doch nicht sein, dass Glück, Freude und Tod so nahe beisammen sind.«

Später erfuhren wir, dass der tschechische Bergsteiger lediglich mit profillosen Innenschuhen an den Füßen aus dem Zelt gegangen und ausgerutscht war. Das Lager 2 stand gefährlich nahe am Rand des Abbruchs, in dem steilen Gelände war kein Halten mehr. Auch wenn sein Tod tragisch war, er war kein unabänderliches Schicksal, weil der Berg so gefährlich war, die Ursache für den Unfall war leichtsinniges Eigenverschulden.

Einen Tag nach diesem schrecklichen Erlebnis setzten wir uns Richtung Berg in Bewegung. Wir übernachteten in Lager 2 und stiegen dann weiter bis auf 7100 Meter, wo wir unser Lager 3 aufbauten. Am Abend konnte ich vor Nervosität nicht einschlafen. Morgen würde es so weit sein, wir brachen zum Gipfel auf. Tausend Sachen gingen mir durch den Kopf. Würde ich ganz oben stehen oder vorher umkehren müssen?

Ich kehrte um. Beim Aufstehen um zwei Uhr morgens zeigte das Thermometer minus dreißig Grad, und nach einer Stunde Gehzeit spürte ich die Zehen des rechten Fußes nicht mehr. Ich trug damals nur Plastikbergschuhe, zwar warm gefüttert, aber ohne Übergamaschen, und das war einfach zu kalt. Aus unserem Team ging nur Martina Bauer weiter, die sich von einer spanischen Mannschaft Neopren-Übergamaschen geliehen hatte. Meine Zehen waren mir wichtiger als der Gipfel, und ich beschloss umzudrehen. Siegfried tat dasselbe, auch er hatte kein Gefühl mehr in den Zehen.

Genau eine Woche später – wir waren inzwischen ins Basislager abgestiegen und hatten uns erholt – schälten wir uns in Lager 3 aus den Schlafsäcken, um den Aufstieg zum Gipfel ein zweites Mal zu versuchen. Diesmal hatte Martina, die mit Nik im Basislager blieb, mir die Neopren-Übergamaschen überlassen, und ich hatte am Vorabend sowohl die Gamaschen als auch die Steigeisen so auf die Außenschalen meiner Schuhe montiert, dass ich morgens im Dunkeln nur noch hineinschlüpfen musste. Zwischen drei und halb vier brachen wir auf. Weil wir uns in den engen Zelten, in denen wir zu dritt lagen, nicht gleichzeitig anziehen, in der Eiseskälte draußen aber auch nicht warten konnten, gingen Siegfried und ich etwas früher los. Vor der Flanke zum Sattel hinauf mussten wir einen breiten Bergschrund überwinden. Nur mit Mühe wühlten wir uns durch den tiefen Schnee, und auch das Spuren bis zum Sattel war sehr anstrengend. Wenn ich spurte, brach Siegfried in dem grundlosen Schnee trotzdem noch ein, sodass es ihm gar nicht viel nützte, wenn ich die Spur trat. Entsprechend lange brauchten wir für diese Passage.

Am Sattel angekommen, legten wir eine Trinkpause ein. Wir sahen, dass hinter uns Ernst Weseßlintner nachkam, die anderen waren anscheinend umgekehrt. Siegfried trank und erbrach sofort wieder. Ich erschrak: Als Krankenschwester war für mich klar, wenn jemand erbricht, dann geht es ihm schlecht