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Das Buch

Berlin in den 80er Jahren, Frontstadt im Spannungsfeld zwischen Paranoia und Stillstand. Graue Hinterhöfe, Kohlgeruch, alte Nazis, neue Bürokraten. Aber auch Größenwahnsinnige am Theater, Exzesse in Kreuzberger Clubruinen, Konzerte wie Alpträume von Maschinenmenschen, Nächte, die nicht enden. Mitten in diesem eingemauerten Flecken Freiheit Robert. Den mageren Körper in einen bodenlangen Wehrmachtsmantel gehüllt, einen Tornister voller Bücher auf dem Rücken, durchmisst er in endlosen Gewaltmärschen die Straßen. Angetrieben von Wut und nervöser Energie taucht er ein in den Wahnsinn einer Stadt im Klammergriff von Ost und West. Ein wütender Monolog, brutal komisch und gnadenlos offen.

Mit heftigen, unwiderstehlich rhythmisierten Sätzen und in unvergesslichen Bildern erzählt Oskar Roehler vom Berliner Underground.

Der Autor

Oskar Roehler, geboren 1959, ist einer der renommiertesten deutschen Drehbuchautoren und Regisseure. Sein erster Roman Herkunft erschien 2011 bei Ullstein. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.

OSKAR ROEHLER

MEIN LEBEN
ALS AFFENARSCH

ROMAN

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Ullstein

Das Gedicht im Kapitel »Immer noch Sommer, verregnet, sieht aus wie Herbst/Winter …«, »Stopping by Woods on a Snowy Evening«, stammt aus: Robert Frost, THE POETRY OF ROBERT FROST, edited by Edward Connery Lathem. © 1923, 1969 by Henry Holt and Company, © 1951 by Robert Frost. Used by arrangement with Henry Holt and Company, LLC, Publishers, New York.

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ISBN: 978-3-8437-1077-0

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Umschlagmotiv: getty images/Steven Biver

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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Gewidmet dem Schriftsteller und Freund aus alter Zeit,
Harry Hass

München, Nov. 80

Bevor ich nach Berlin gehe, besuche ich meine Mutter. Sie empfängt mich in ihrer Münchner Wohnung in einem schlabbrigen schwarzen T-Shirt, das ihren Bauch nur mühsam kaschiert. Ihre Beinchen sind noch dünner geworden, das Gesicht aufgedunsen. Ihre Augen quellen aus den Höhlen. Sie sind dick mit schwarzem Kajal umrandet. Durch ihre dünnen, rötlichen Haare schimmert die Kopfhaut. Kaum hat sie mich reingebeten, zeigt sie mir einen sündhaft teuren Mantel aus Orang-Utan-Fell. Man kann ihn wenden und das Innenfutter aus Leder außen tragen.

Sie zieht ihn an, dreht und wendet sich vor mir und blickt dabei ab und zu in den Spiegel.

Ihre Augen glitzern boshaft und stolz, weil sie im Besitz einer solch kostbaren, verwegenen Rarität ist. Sie trägt immerhin ein echtes Affenkostüm. Es ist ihr achttausend Mark wert gewesen. Ein gefährlicher Leichtsinn treibt sie dazu, solche Dinge zu tun. Von dem Geld könnte sie achtmal ihre Miete bezahlen. Aber diesen Affen musste sie unbedingt haben. Es führte kein Weg daran vorbei. Immerhin. Wozu gibt es ihren Vater, der nicht lange fragt, sondern das Geld überweist, wenn sie ihm schreibt, dass sie sich in einer Notlage befindet.

Sie hat »den Affen« in einer ihrer kleinen Boutiquen in der Elisabethstraße gekauft, die ihre Einsamkeit ausnützen und ihr all diese Dinge andrehen, die sie überhaupt nicht brauchen kann, da sie nirgends mehr hingeht, außer zum Einkaufen in den Supermarkt.

Ich ziehe meinen Wehrmachtsmantel aus, der mir bis zu den Knöcheln reicht und dessen dickes Rindsleder sich mit Münchner Winterregen vollgesogen hat. Der Tornister mit meinem Schlafsack ist voller Bücher. Ich habe ihn durch ganz München geschleppt. Ich bin froh, als ich mich endlich setzen kann.

Schon beim ersten Drink erzählt sie mir stolz von ihrem hohen Captagon- und Rohypnolkonsum. Zum Einschlafen braucht sie sechs Rohypnol. Diese Menge kann für den Normalverbraucher tödlich sein. Wenn sie unterwegs ist und die Tabletten zu früh nimmt, kann es passieren, dass sie noch auf dem Weg einschläft. Neulich ist es ihr im Taxi passiert, auf dem Rückweg vom Hofbräuhaus, wo sie manchmal ein paar Gläser Weißwein trinkt, um unter Leuten zu sein. Der Taxifahrer bekam sie nicht mehr wach. Er musste überall klingeln. Schließlich schleppte er sie ins Treppenhaus. Sie lag auf den Stufen, bis jemand kam, der sie kannte und in ihre Wohnung verfrachtete.

Captagon schüttet sie erst mal eine ganze Handvoll in sich hinein, um überhaupt wach zu werden, erzählt sie. »Bei dieser Bilanz kannst du dir ja denken, wie viele Rezepte ich brauche«, sagt sie, »da macht kein Arzt mit. Aber ich habe vorgesorgt. Ich habe die Rezeptblöcke einfach aus dem Schreibtisch geklaut, als das Arschloch kurz draußen war.«

Sie hockt breitbeinig da, die dicke Wampe hängt ihr zwischen den Beinen. Ihre hervorquellenden Augen starren mich an.

»Hast du etwas dagegen, ein paar Rezepte auszufüllen?«

»Nein«, antworte ich.

Sie steht auf und trippelt mit unsicheren Schrittchen zu einer Kommode, aus der sie einen dicken Stapel Rezeptblöcke holt. Sie kann sich kaum bücken, ihr gesamter Körper ist steif wie ein Brett. Sie überreicht mir den Rezeptblock und lässt sich wieder auf ihr riesiges, weißes Ledersofa plumpsen, wo sie wie versteinert hocken bleibt und mich beobachtet, wie ich Rezept um Rezept ausfülle und die Unterschrift des Arztes fälsche, bis mir die Finger weh tun und ich zu schnaufen anfange.

»Jetzt bist du mein Komplize«, sagt sie endlich, als ich fertig bin. »Ich bin stolz auf dich. Vor drei Jahren, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du noch so ein Wohlstandsspießer. Ich hätte nicht gedacht, dass aus dir mal was wird.«

Sie nimmt ein paar Tabletten und schluckt sie mit Wodka-Orange herunter.

Ich will etwas als Entgelt für die Fälschung der Rezepte. Immerhin habe ich mich mitschuldig gemacht.

»Ich will nach Berlin«, sage ich, »aber ich habe kein Geld.«

Ihr Blick, der sich kurz aufgehellt hatte, wird sofort wieder starr.

»Wenn du Geld willst«, sagt sie, »musst du zu deinem Vater gehen. Er war schließlich der Kassenwart der RAF. Er behauptet, dass er das Restgeld von den Banküberfällen immer noch bei sich liegen hat.«

Ich erwidere nichts. Schweigend, rauchend, mich anstarrend, weidet sie sich an meiner Enttäuschung. Das will ich nicht auf mir sitzen lassen.

»Hast du nicht wenigstens hundert Mark?«, frage ich eisig.

Schließlich holt sie ihr Portemonnaie aus der Tasche.

»Na gut. Hier hast du hundert Mark«, sagt sie gnädig und überreicht mir den Schein. Ich stecke ihn ein. Die Stimmung ist feindselig.

Ich blicke mich um. Im Zimmer hängt dichter Rauch von den vielen Zigaretten. Überall liegen angebrochene oder noch ganze Stangen Benson & Hedges herum. Rechts im Regal türmen sich Tablettenpackungen neben den Büchern. Die Wohnung macht den Eindruck, als wäre schon lange niemand mehr hier gewesen. Ein Warenlager, das ständig nachgefüllt werden muss, um diesen Organismus am Leben zu halten, der mit der Welt da draußen abgeschlossen hat, die voller Häme, Lügen und Niedertracht ist.

Ich kenne diesen Menschen, zu dem ich Mama sage, eigentlich gar nicht.

Vor vier Jahren, als ich fünfzehn war, tauchte sie plötzlich bei den Großeltern auf.

Es hieß, sie sei wegen Steuerschulden aus London geflüchtet, ohne einen Pfennig Geld, nervlich völlig am Ende, aber mit Koffern voll eleganter Klamotten aus der Carnaby Street. Ich war schüchtern und fühlte mich spießig mit meinen halblangen Haaren und den C&A-Klamotten und beobachtete sie aus sicherer Distanz, wie sie im Wohnzimmer Anekdoten aus ihrem bewegten Leben im Ausland zum Besten gab. Ich hoffte, dass sie verschwand, ohne die Gelegenheit zu haben, mich genauer unter die Lupe zu nehmen, da ich wusste, dass sie von mir enttäuscht sein würde. Ich schämte mich für mich selbst.

Und dieses Minderwertigkeitsgefühl ist auch jetzt wieder da, trotz meines Irokesen, trotz meines Wehrmachtsmantels und meiner Springerstiefel. Aber diesmal regt sich, anders als damals, Trotz gegen die heimliche Verachtung, die bei der Begegnung mit meiner Mutter immer von ihrer Seite her mitschwingt. Ich schweige, ich überlege, ob ich gleich gehen soll, und sehe mich nach meinem Tornister um.

Ich muss daran denken, dass meine Großmutter inzwischen gestorben ist und meine Mutter nicht mal zur Beerdigung gekommen war, obwohl meine Großmutter damals, als sie übernächtigt und mittellos ankam, sofort bereit gewesen war, ihr zu helfen und zu vergessen, wie schlecht sie in ihrem ersten Roman über ihr Elternhaus geschrieben hatte. Meine Großmutter hatte meiner Mutter sofort eine Schlafkur bezahlt, die sie aufgrund ihres Drogenkonsums so bitter nötig gehabt hatte, und dafür Unsummen ausgegeben, da meine Mutter nicht mal versichert war.

Sie reißt mich aus meinen trüben Gedanken.

»Was willst du überhaupt in Berlin?«, fragt sie mich.

»Ich würde gerne irgendwas mit Film oder Theater machen«, antworte ich.

Es klingt so banal, dass ich am liebsten im Erdboden versinken würde.

Sie geht großzügig darüber hinweg.

»Ich kann den Bock fragen«, überlegt sie, »ich glaube, die inszenieren gerade ein Stück von dem in Berlin. Aber Alois Bock ist maßlos egoistisch und eitel. Er würde nie etwas für andere tun.«

»Kannst du es nicht trotzdem versuchen?«, frage ich fast euphorisch vor Hoffnung. Nie hätte ich damit gerechnet, dass sie den Versuch machen würde, mir zu helfen.

»Ich kann es versuchen«, sagt sie.

»Und Film?«, frage ich. »Ich würde noch lieber zum Film. Kennst du nicht jemanden beim Film?«

»Ich kenne einige sogenannte Filmleute hier in München«, erwidert sie, »sie haben ein paar Mal versucht, mir die Filmrechte meiner Romane abzukaufen. Man muss kein Einstein sein, um sehr schnell zu merken, dass sich diese Leute auf dem geistigen Niveau von Rotarschpavianen befinden. Aber wenn du unbedingt zum Film gehen willst … Du solltest allerdings aufpassen, denn die meisten von denen sind nicht nur dumm, sondern auch pervers. Wenn sie dir eine Rolle anbieten, heißt das in den meisten Fällen nur, dass sie dich in den Arsch ficken wollen.«

Ich zucke zusammen. Tatsächlich bin ich wenige Stunden zuvor, als ich am Bahnhof ankam, von einem Mann angesprochen worden, ob ich nicht in einem Film mitspielen wolle. Ich bin mit ihm in seine Wohnung gegangen. Erst verabreichte er mir Poppers auf seiner Couch und verlangte dann, dass ich ihm meine Eier und meinen Schwanz zeige.

Ich ließ die Hosen runter und zog das Hemd hoch. Er verlangte in breitem Münchnerisch, meinen Arsch zu sehen. Er hatte einen blonden, hochgezwirbelten Schnurrbart und knallte weiter Poppers in sich rein, um sich anzuturnen. Als er merkte, dass ich keinen hochbekam, verlor er schnell das Interesse. Ich fragte ihn nach dem Klo und machte einen polnischen Abgang. Es fühlte sich an wie ein kleiner Unfall.

»Was willst du eigentlich beim Film?«, fragt sie und reißt mich wieder aus meinen Gedanken.

»Hm«, meine ich lahm und ohne jede Überzeugung: »Vielleicht Schauspieler werden?«

»Du wirst nie ein guter Schauspieler«, erwidert sie, »dazu bist du viel zu ehrlich.«

Ich schweige beleidigt.

»Das meinte ich als Kompliment«, sagt sie. »Dir fehlt dieser widerliche Mangel an Identität, den diese Berufsklasse auszeichnet.«

Sie schlägt mir vor, Zivildienst zu machen, damit ich endlich etwas über die Gesellschaft lerne und darüber, wie dieser Staat mit denen, die er nicht mehr braucht, nämlich mit den Armen, Alten und Hilfsbedürftigen, umgeht.

Ich blicke zu Boden und versinke, völlig ermüdet, in Schweigen. Allmählich löst sich der beige Teppich in dem Nebel aus Zigarettenrauch auf. Wie soll ich es jetzt noch zum Bahnhof schaffen?

»Ich habe vielleicht doch eine Idee, was du machen könntest«, sagt sie. »Du könntest mir helfen, deinen Onkel umzubringen.«

Ich blicke auf und sehe hinüber zu dieser reglosen Gestalt auf der riesigen weißen Couch, deren Wahn etwas völlig Normales hat und die mir jetzt akribisch erläutert, welche Angst sie hat, ihre Erbschaft durch eine Intrige meines Onkels zu verlieren; ich begreife nun: Auf diese Erbschaft hat sie spekuliert, seit sie hier sitzt, Jahr für Jahr. Es gibt eigentlich gar nichts anderes als diese Erbschaft für sie. Alles läuft darauf hinaus, dass sie die Dinge unter Kontrolle bringen muss. In der Küche zeigt sie mir die Waffe, eine Walther, die ihr mein Vater bei ihrem letzten Treffen geschenkt hat. Es ist, wie er behauptet hat, die Waffe der Gudrun Ensslin, die er meiner Mutter schwer betrunken nach einem desaströsen Wochenende überreicht hatte, als wäre es der Iffland-Ring, nach einem sinnlosen Besäufnis, das damit geendet hatte, dass sie mit einem verstauchten Bein in der Badewanne aufgewacht war. Nun soll diese Waffe, deren Trommel sie vor meinen Augen klicken lässt, deren Patronen sie mir zeigt, dazu dienen, den Onkel hinzurichten. »Ein herrliches Klicken!« Ihre Augen leuchten vor Vergnügen.

Mir wird klar: Sie ist völlig übergeschnappt, dieser arme Mensch, auf den sie es abgesehen hat, hat niemandem etwas getan! Aber hier in der Wohnung, in diesen vom Zigarettenrauch wattierten, hermetischen Räumen entkommt niemand mehr ihrem Wahn, sie selbst am allerwenigsten, und das, was sie vorhat, ist sogar das Normalste, was hier geplant werden kann.

»Das Vermögen meines Vaters …«, fängt sie immer wieder an und verliert sich in Schätzungen, was das Haus, was die Konten plus der Schmuck ihrer Mutter alles in allem wert sind – und kommt auf eine Summe von über drei Millionen. Und ihre Augen leuchten wieder.

Der Abend neigt sich dem Ende entgegen, sobald wir wieder im Wohnzimmer sitzen. Sie nimmt ihre sechs Tabletten.

»Mein Vater«, sagt sie, »wird allmählich senil. Er hockt den ganzen Tag auf der Couch und liest seine Wirtschaftszeitungen. Er ist schon so verwirrt, dass er gar nicht merkt, dass überall Eigelb und Essensreste auf seinem Jackett kleben. So hochintelligent er als Wissenschaftler war, so gutgläubig ist er als Mensch. Und mein Bruder nutzt diese Situation schamlos aus. Er lädt ihn immer in sein spießiges Reihenhaus zum Essen ein, und da ködern sie ihn mit Klößen und Schweinebraten. Er sabbert vor Glück, wenn er die Enkel sehen darf, weil er so kinderlieb ist. Er ist bereits ein vollkommener Narr. Bald wird mein Bruder ihn so weit haben, dass er sein Testament umschreibt. Dann geht mir alles verloren, worauf ich all die Jahre gehofft habe. Endlich Sicherheit. Nach dem Hundeleben, das ich für meine Arbeit geführt habe.«

Ich nicke ab und zu.

»Es muss nach einem Raubmord aussehen. Man steigt in das Haus ein und knallt ihn einfach ab.«

Meine Mutter lallt schon. Das Kinn klappt hinunter, sie sackt nach vorn. Ich beobachte den ganzen Vorgang, hin und her gerissen, ob ich ihr helfen oder mir das alles nur anschauen soll. Schließlich kippt sie zur Seite, ihr Oberkörper fällt auf das weiße Lederkissen. Ich nehme meinen Tornister und gehe.

Es ist zwölf, als ich am Hauptbahnhof ankomme und den Typen entdecke, der mich am Nachmittag abgeschleppt hat, wie er um die Ecken schleicht und guckt, ob er noch ein paar Reste ficken kann. Ich verkrieche mich hinter den Schließfächern in eine Ecke und lege mich hin, bis die schwarzen Sheriffs mich mit ein paar unsanften Fußtritten wecken.

Darmstadt …

Um sieben Uhr abends komme ich bei meinem Vater an. Er öffnet die Tür einen Spaltbreit und starrt mich mit seinem stieren Säuferblick einen Moment an, bevor er mich erkennt und überrascht die Stirn runzelnd »Mein Sohn? Was machst du denn hier?« sagt.

Bevor er mich hineinlässt, wirft er paranoide Blicke ins Treppenhaus. Er ist der Meinung, der Verfassungsschutz überwacht ihn.

Er wankt zum Telefon. Die Wählscheibe ist völlig zertrümmert. Er sieht meinen Blick und sagt: »Dein Vater war gerade dabei zu telefonieren, aber es ist ihm wieder einmal nicht gelungen, weil er die Wählscheibe durchbohrt hat. Und warum hat er sie durchbohrt? Damit er abrutscht, wenn er betrunken versucht zu telefonieren. Es mag widersinnig klingen, aber so ist das Leben. Das wirst du selbst eines Tages begreifen.«

Weil ich darauf nichts zu erwidern weiß, frage ich, wen er versucht hat anzurufen.

»Den Entenburger«, sagt er, »und den Groß und den Nilson. Und den Balzer, das Arschloch.« Er ruft sie immer an, wenn er betrunken ist, weil er glaubt, als alter Freund ein Recht dazu zu haben. Er glaubt, dass er sie als ihr Lektor berühmt gemacht hat, und will ihnen das immer wieder erklären. Sie nehmen nicht ab, weil sie genau wissen, dass nur er um diese Zeit noch anruft. Es macht ihn so wütend, dass er das Telefon ewig klingeln lässt.

Er ist vor einiger Zeit entlassen worden, weil er nach einer nächtlichen Kneipentour völlig betrunken im Verlag aufgetaucht ist, vor dem Verlagschef die Hosen runtergelassen und ihm seinen Arsch ins Gesicht gehalten hat mit den Worten: »Ihr Frühjahrsprogramm ist so langweilig, dass mir der Arsch eingeschlafen ist. So sieht ein eingeschlafener Arsch aus.« Das Männlein, ein weißhäutiger Zwerg mit Sommersprossen und sehr schwachen Nerven, lief feuerrot an, hüpfte empört aus dem Zimmer und holte die Polizei, die meinen Vater mit heruntergelassener Hose vorfand, wie er in aller Seelenruhe eine Weinflasche leer trank. Er flog raus, bekam eine Abfindung, und seitdem sitzt er hier in der Wohnung und schreibt an seinem Roman.

Ich sehe mich um. Die Wohnung ist in Unordnung. Überall auf dem großen, schmuddeligen Läufer eingetrocknete Rotweinlachen. Es sieht aus wie die Luftaufnahme einer verwüsteten, blutgetränkten Landschaft.

Er bittet mich ins Wohnzimmer, wo eine seiner überdimensionalen Flaschen Retsina steht, und schenkt in den großen Glaspokal nach, mit dem man einen Menschen erschlagen kann. Er stellt sich ans Fensterbrett und dreht mir den Rücken zu.

Er will wissen, warum sie mich aus dem Internat geschmissen haben. Ich erzähle ihm, dass wir einen Lehrer mit Schlaftabletten betäubt und ihm seine langen Haare abgeschnitten haben. Er will wissen, wer noch dabei war. Ich berichte ihm von meinem alten Zimmerkumpel Gram, der ein Anhänger des Neonazis Günther Klamm war und zu seiner sogenannten Arschfickbrigade gehörte, die oft in der Fränkischen Schweiz im Wald kampierte und Kameradschaftsabende abhielt, auf denen Klamm, wenn er zu viel getrunken hatte, »Arschficken für alle« brüllte.

Gram hatte diesen Spruch sofort übernommen und brüllte ihn heraus, wo er nur konnte. Er schlief mit seinem alten Schäferhund gemeinsam in einem Bett und stank die Bude voll. Trotzdem mochte ich ihn, auch wenn ich seine politischen Anschauungen nicht unbedingt teilte. Seine Eltern waren uralte Invaliden, der Vater sogar noch Kriegsveteran mit zerschossenen Händen. Er konnte nicht mehr wichsen. Über diesen Joke haben wir uns nächtelang totgelacht.

Gram wurde mit Schimpf und Schande aus der Schule gejagt: Die Hippies schrien im Chor »Nazis raus!!« und bewarfen seine Alte, die mit Federhut im Rollstuhl saß, und den Alten mit seinem Blindenabzeichen, der sie kaum noch schieben konnte, mit Tomaten und faulen Eiern, während Gram mit seinem gelben Plastikkoffer, voll mit Aufputschtabletten, Steroiden und Downern, mit gesenktem Kopf neben ihnen herlief. Ich stand am Rand des Schulhofs und sah dem Ganzen zu. Es war das Ende einer jahrelangen Zimmer- und Biersaufkumpanei. Da ging er hin, mein alter Wichskumpan Gram. Zwei Tage später wurde ich als Mitläufer ebenfalls von der Schule geschmissen. Das war’s dann mit dem Abitur.

Das alles erzähle ich meinem Vater, der darüber nur den Kopf schütteln kann.

»Gram ist nur rechts geworden, weil ihn das Hippiepack, das die Schule beherrscht, in diese Ecke gedrängt hat«, erkläre ich meinem Vater. »Die Kantine der Schule war unter der Herrschaft der Lesben-Fraktion und der radikalen Grünen. Die zwangen einen, seine Möhren und Kartoffeln selbst zu schälen, weil man sonst nichts von ihnen zu fressen bekam. Der ganze Speisesaal stank nach ihren Achselhaaren. Wir konnten heimlich beobachten, wie sie Oliven mit den Zähnen entkernten und sie dann in die Suppe spuckten. Überall stank es nach Schweißfüßen und in manchen Ecken sogar nach Fotze!«

Meine Stimme überschlägt sich fast vor Empörung.

»Beruhige dich, Junge«, erwidert mein Vater und lächelt milde. »Ich kann deine Wut ja verstehen, ich wohne schließlich in Darmstadt. Das ist ein Reservat für alte Hippies aus der Studentenszene. Eigentlich sind sie ganz harmlos.«

»Das sind sie nicht!«, schreie ich und schlage mit der Faust auf den Tisch: »Sie sind Gesinnungsnazis!! Sie wollen einen zwingen, ihre Latzhosen zu tragen, auf dem Boden zu hocken und als höchstes Ziel im Leben zu haben, Fahrräder zu reparieren oder Schreiner zu werden!«

»Das liegt an der verheerenden Wirkung des Haschisch«, erklärt mir mein Vater sanft. »Ich habe es einmal mit der Gudrun probiert. Es weicht das Gehirn auf. Man wird vollkommen blöde und fängt an, über Indianer zu reden.«

Ich pflichte ihm bei: »Die einzige Chance, die man hat, ist die, sie knallhart zu schocken! Und genau das haben wir getan! Aber wir hatten keinen Rückhalt im Direktorat. Alles ist schon infiltriert von diesem Dreckspack!«

»Ich weiß genau, was du meinst, Junge«, sagt er und nimmt einen großen Schluck. »Mir ging es damals genauso. Ich habe die Linken von 68 schon damals verachtet und das, was danach kam, natürlich erst recht. Wer wollte es mir auch verübeln, wenn man bedenkt, dass ich ihnen in allen Disziplinen überlegen war, im dialektischen Denken, im Faustkampf und bei den Weibern.«

»Die Ökohippies stehen mindestens zwei Stufen tiefer als die 68er«, rufe ich wütend. »Auf LSD fällt dir das wie Schuppen von den Augen. Sie hocken da und entlausen sich gegenseitig. Und sie kochen mit ihren dreckigen Fingern. Sie sind auf dem Niveau von Affen. Ich hab’s gesehen, das kannst du mir glauben.«

Mein Vater gähnt gelangweilt.

»Sie haben überhaupt kein ästhetisches Bewusstsein«, schreie ich.

Ich merke, dass ich einen leichten Flashback vom LSD habe, obwohl der letzte Trip schon ein paar Wochen her ist. Ich wische mir die Tränen aus den Augen.

»Du bist dünner geworden«, sagt mein Vater, der sich mittlerweile zu mir umgedreht hat.

Ich will wissen, wie er mit der Schande seiner Verlagsentlassung zurechtkommt.

»Besonders lustig ist das nicht, Junge«, erwidert er. »Wer rechnet schon damit, dass ich, Klaus Rother, gehen musste und nicht diese Null! Wer hat den Groß groß gemacht? Und den Entenburger? Und den Nilson?«

»Du, Vati!«

»Ganz genau, Junge! Ohne mich wäre der Groß wahrscheinlich nur ein Autor aus der zweiten Reihe geblieben. Und der Verlag hätte bei weitem nicht so viel an ihm verdient! Aber das hatte Eiferer wohl vergessen.«

Eiferer, der große alte Mann und Besitzer des Verlags, ein Saufkumpan meines Vaters aus den glorreichen frühen Tagen des Kulturbetriebs, war zu alt geworden, um sich für ihn in die Bresche zu schlagen. Er ließ sich verleugnen. Er wollte einfach nicht mehr beim Golfen gestört werden.

Ich frage meinen Vater, wie es um seinen Roman steht.

Er erklärt mir, dass der Roman auf dem Mond spielt. Die Amis haben ihn zu einem großen Gefängnis ausgebaut. Die Insassen lernen, sich dem Klima anzupassen. Im Verlaufe der Evolution wachsen ihnen Antennen aus den Ohren. Mit diesen Antennen können sie den CIA abhören und erfahren dabei schreckliche Geheimnisse, wie zum Beispiel, dass der CIA Seuchen in Labors entwickelt, um Minderheiten wie Schwule oder Kommunisten zu eliminieren. Die USA sind mittlerweile eine von Juden beherrschte, materialistische Diktatur. Der Präsident ist ein Jude, eine Marionette der Weltbank und der Waffenlobby. Bevor sie die Welt »gleichschalten« können, um aus ihr für ihre Konzerne eine gigantische Einkaufsmeile zu machen, planen sie, sich für den Holocaust zu rächen, das heißt, weite Teile Mitteleuropas, des Baltikums, Polens und Weißrusslands zu zerstören und anschließend mit ihrer scheiß Unterhaltungsindustrie das gesamte historische Gedächtnis der Menschheit zu löschen.

»Aber die Bewohner des Mondes sind darauf vorbereitet«, erklärt er mir: »Sie leben unter Bedingungen, die sie vollkommen abgehärtet haben. Wie ihre arischen Vorfahren baden sie in eiskalten Flüssen und leben im Freien, neben den Lagerfeuern. Ihre Frauen beißen sich selbst die Nabelschnur durch. Sie erlegen Kraken, die sie mit bloßen Händen aus dem ewigen Eis der Mondseen fischen, und essen das bleiche, mit Plutonium angereicherte Fleisch. Es herrscht das Matriarchat, wie bei der RAF. Die Männer bereiten sich auf den Krieg vor, Junge. Sie reparieren die alten Raumschiffe, um zur Erde zurückzukehren …«

Mein Vater hat Tränen in den Augen.

»Es ist ein Science-Fiction-Roman, mein Junge. Dein Vater ist schließlich kein Faschist. Aber es ist auch eine Heldengeschichte, ähnlich denen, wie wir sie uns früher in der Hitlerjugend beim Lagerfeuer erzählt haben, bevor es 44 dann richtig losging …«

Mein Vater versinkt in Schweigen. Er wirkt, wie er da im Dunkeln sitzt und vor sich hin starrt, so ernst und melancholisch und unschuldig wie damals der junge Autor auf dem Umschlagfoto seines ersten Erzählbands.

Schließlich fragt er mich, ob ich mit der Geschichte etwas anfangen kann.

Ich nicke mehrmals. »Ja, ja, klar«, sage ich.

Mein Vater führt mich in sein Arbeitszimmer. Auch hier ist der Teppichboden voller großer Weinflecken. Es ist düster wie immer. Die nachgedunkelten, schmutzigen Leinenvorhänge sind zugezogen. Am Schreibtisch brennt das ewige Licht der Schreibtischlampe, die ich schon seit meiner Kindheit kenne. Mein Vater hat eine Mondkarte an der Wand über dem Schreibtisch hängen. Mit Fähnchen sind die Aufenthaltsorte der Clans markiert, ihre Trainingslager, ihre Wohnstätten, ihre Wanderwege …

»Es sind Nomaden der dritten Generation«, erklärt er mir. »Die bürgerliche Gesellschaft existiert in ihren Köpfen nicht mehr. Es gibt, wie gesagt, weibliche Führer, wie die Gudrun bei der RAF

Er taumelt zurück an den Fernseher, der eingeschaltet ist und mit seinem harmlosen Programm eine Oase des Friedens bildet inmitten der bedrohlichen Atmosphäre der dunklen Wohnung. Ich habe einen Moment lang die Hoffnung, dass er sich davor auf den Teppich legt und den Abend ausklingen lässt. Aber er holt nur die Flasche und schenkt neu ein. Ich stelle mich darauf ein, dass es eine harte Nacht werden kann.

Er sieht, dass ich mir Sorgen mache, und boxt mich gegen den Arm.

»Keine Angst, dein Vater wird heute keine Dummheiten machen«, sagt er und verschwindet in der Küche.

Wenig später zieht er sich im Flur an, um eine neue Flasche zu holen.

»Dein Vater ist gleich wieder da«, verspricht er. Ich will etwas sagen, das ihn zurückhält.

Ich beobachte ihn, wie er in seine weinrote Bally-Lederjacke mit dem geflickten Riss schlüpft, dann in die gleichfarbigen Bally-Slipper. Beide waren einmal sehr teuer.

Jetzt sind sie abgetragen und wirken umso trauriger.

Sobald er weg ist, trete ich an seine Schuhe heran. Seit ich denken kann, stehen sie mit ihren Schuhspannern in einer Reihe zwischen dem Telefonschränkchen und dem Kleiderständer. Auch die Standuhr steht an ihrem alten Platz zwei Meter weiter. Er hat die Wohnungen gewechselt, aber nie das starre System der Ordnung. Ich schnuppere in der Schuhecke, um den staubigen, süßen Geruch der alten Schuhcreme und seines Rasierwassers noch mal zu riechen.

Es riecht tatsächlich noch so wie in der alten Berliner Wohnung, nach dem Schmutz und der Angst meiner Kindheit. Wie oft habe ich nachts vor diesen Schuhen neben der Haustür gestanden. Ein Paar fehlte. Mit dem war er weggegangen. Und ich stand da und starrte mit blanken, hellwachen Augen die Wand an und wippte dabei mit dem Oberkörper und wartete oft stundenlang, bis er zurückkam und das fehlende Paar Schuhe an seinen Platz zurückstellte und mit den Schuhspannern versah.

Ich nehme meinen Tornister und schleiche hinaus. Die Wohnungstür lasse ich offen.

Berlin 1981, Wedding, Winter …

Der Wedding ist eine geistige Wüste. Hier leben die abgestumpften Hinterhofproleten seit Jahrzehnten. Die ganze Verrohung, der Stumpfsinn des Brandenburger Hinterlands kommt hier zusammen, die ganze Kulturlosigkeit und Armut der Kartoffeläcker, die dieser kahlköpfige, gedrungene Menschenschlag dort seit Jahrhunderten beackert.

Verbrechervisagen, die eine ekelerregende Masse sprachlichen Schleim absondern, der nach Fäulnis, Verwesung, Mundgeruch stinkt. Hier ist das Kanonenfutter des geliebten Führers zu Hause, die Mörder und Henker, hier kann man diese Visagen noch im Original studieren. Die Häuser, wo man hinsieht, ein vom Regen und von den Kohleöfen verwaschenes Grau-in-Grau, eine Zeile nach der anderen, jedes Haus mit zwei, drei Hinterhöfen, alles eine riesige Kaserne, endlos, zermürbend, die diese Kasernenhofmentalität, dieses krude, schlechte Benehmen und die Brutalität von Gefängnisinsassen hervorgebracht hat. Dies ist der Arbeiterbezirk Wedding, der schlimmer ist als jeder brasilianische Slum, weil hier alles tot ist, nicht nur die Straßen, auch die Gesichter, die Köpfe. Hier tut sich nichts mehr. Nie mehr.

Dieses Grau und der Geruch nach feuchter Kohle überall, nach Hundescheiße, nach Regen, nach Kohlsuppe, nach alter, ranziger Wäsche, nach übelstem Mundgeruch, übelster Nachrede, übelstem Berlinerisch. Der arische Übermensch – hier ist das, was von ihm übriggeblieben ist, zu Hause. Hier kann man ihn besichtigen und seine Blödheit, Stumpfheit beobachten und das Aufstoßen von Kohlsuppe, Bier und Currywurst. Das ist der Urschleim, aus dem Berlin gemacht ist.

Bier, Eisbein, Kohlsuppe, Currywurst und Mord&Totschlag sind das Fazit – sie dezimieren sich untereinander, weil es sonst nichts zu tun gibt. Und über diesen Höfen: ein bleierner Himmel, der nie aufreißt. Nur ab und zu regnet es auf die Hundescheiße herunter und legt einen feinen Film, einen feinen Schleier über die Landschaft.

Dieses Straflager hätte sich Morgenthau nicht besser ausdenken können. Es ist schlimmer als der von ihm geplante Agrarstaat. Man hat eine Mauer um sie gezogen.

Und sie sich selbst überlassen. Wie Tiere in einem verlassenen Zoo.

Ich starre aus meiner Kellerwohnung hinauf in den Hinterhof und werde das Gefühl nicht los, langsam vollgesogen zu werden mit dieser ganzen Trostlosigkeit, die mich umgibt. An der Feuchtigkeit, an der Hässlichkeit der Kastanie, die den Hof dominiert, an dem winzigen Quadrat, das die abgeblätterten Wände dem grauen Himmel über sich lassen, kann es allein nicht liegen. Wenn ich den Geruch des fauligen Abfalls einatme, der durch die Ritzen der papierdünnen Fensterscheiben in meine Wohnung dringt (1-Zimmer-Souterrain, 90 Mark), werde ich auf einmal sehr müde und resigniert.

Ich versuche, dieses Gefühl trotz meiner Müdigkeit genauer zu analysieren, und weiß auf einmal, woher es kommt. Es sind die Müllschlucker, die mich so resigniert und unendlich gleichgültig und traurig machen, dass ich mich eigentlich sofort umbringen will.

Wir hatten diesen Müllschlucker in der Küche unserer Berliner Wohnung 1966/67, als ich bei meinem Vater war.

Man öffnet die Luke und wirft den Müll hinein. Dieser wird durch einen langen Schacht, eine Art Rutschbahn, die sich durch das hintere Gemäuer windet, nach unten in die Tonnen befördert. An dem Schacht entlang schrauben sich enge Wendeltreppen, sehr niedrig, in den Keller. Ein Schornsteinfeger kann bei Verstopfung die Klappen öffnen und mit einer Stange in dem Müll stochern, bis er sich lockert und die Lawine mit einem lauten Krachen, das durch den Tunnel verstärkt wird, nach unten plumpst. Wenn man die Luke öffnet, riecht es sehr stark nach Verwesung in verschiedenen Stadien. Seit nahezu hundert Jahren wird hier der Müll entsorgt. Niemals sind diese Schächte gereinigt worden. Niemand weiß, wer hier was entsorgt hat.

Dieser Geruch breitet sich aus über das Treppenhaus und den Hof. Man nimmt ihn kaum bewusst wahr, aber er ist immer da. Er setzt sich in den Kleidern fest und im Gehirn. Man riecht in der Schule danach. Er hält die anderen auf Abstand. »Achtung! Achtung! Mit diesem Jungen nicht spielen! Irgendetwas stimmt nicht mit ihm!«

Mein einziger Zufluchtsort war damals die Toilette. Sie war rechts, wenn man reinkam, direkt neben der Küche. Sie war groß und hoch und hatte oben ein kleines Fenster, durch das man ein Stück Himmel sah. Ich war sechs und war deportiert worden, von meinem Vater. Ich hatte keine Ahnung, warum.

Alle drei Tage gelang es mir, einen harten Brocken zu scheißen. Er roch gut, er roch nach mir. Er sah aus wie ein Ausstellungsstück in einem Museum, wie er da in der Kloschüssel lag. Ich kniete mich davor und betrachtete ihn, roch an ihm. Die Scheiße bestand aus dicht zusammengepressten, dunkelbraunen Brocken, die mit einer schleimigen, dünnen Ölschicht bedeckt waren, die glänzte. Dieses Stück Scheiße war mir vertraut, viel vertrauter jedenfalls als der Rest der Welt.