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Ein junges Paar, erschöpft vom Lärmen der Großstadt, bezieht ein Gartenhaus außerhalb Tokios. Als eines Tages eine kleine Katze auftaucht, unterbricht sie die beschauliche Stille des weitläufigen Gartens. Es dauert nicht lange, bis das Ehepaar sie dabei beobachtet, wie sie sich inmitten der Blumenbeete im Schatten der Bäume räkelt, mit Schmetterlingen und Libellen herumtollt und durch das Unterholz streift. Mehr und mehr öffnen sich die beiden dem unverhofften Gast und bemerken dabei kaum, was die Katze tatsächlich für ihr Leben bedeutet – bis sie eines Tages verschwindet.

 

Takashi Hiraide, 1950 in Japan geboren, arbeitete als Verlagslektor, bevor er sich dem Schreiben widmete. Er hat zahlreiche Gedichtbände und Essays veröffentlicht und unterrichtet an der Kunsthochschule Tama. Der Gast im Garten ist sein erster Roman, er wurde in acht Sprachen übersetzt und war in den USA und Frankreich ein Bestseller.

Quint Buchholz, geboren 1957 in Stolberg, gehört zu den renommiertesten deutschen Buchillustratoren, u. ‌a. illustrierte er Bücher von Elke Heidenreich, Jostein Gaarder, David Grossman und Amos Oz, aber auch zahlreiche eigene Texte. Quint Buchholz' Bilder wurden bislang in über siebzig Einzelausstellungen gezeigt. Er lebt in München.

Ursula Gräfe, geboren 1956 in Frankfurt am Main, wo sie auch lebt, studierte Japanologie und Anglistik. Sie hat u. ‌a. Werke von Haruki Murakami, Yasushi Inoue und Kenzaburō Ōe ins Deutsche übertragen, ist Autorin einer Buddha-Biographie und Herausgeberin mehrerer Anthologien.

 

 

Takashi Hiraide
Der Gast im Garten

Roman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Mit Bildern von Quint Buchholz

Insel Verlag

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Hinweise zur Textgrundlage:

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2015

© 2011 Takashi Hiraide

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Der Verlag weist darauf hin, dass dieses Buch farbige Abbildungen enthält, deren Lesbarkeit auf Geräten, die keine Farbwiedergabe erlauben, eingeschränkt ist.

Illustrationen: © Quint Buchholz, Mänchen

Umschlaggestaltung: Hißmann, Heilmann, Hamburg

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

 

eISBN 978-3-458-74047-6

www.suhrkamp.de

Der Gast im Garten

 

1

Zuerst sah es aus wie Wolkenfetzen, die auf der Stelle schwebten. Dann schien der Wind sie bald nach rechts, bald nach links zu wehen.

Das kleine Küchenfenster lag so dicht an dem hohen Bretterzaun, dass niemand durch den Zwischenraum passte, und das Milchglas wirkte von innen wie eine von hinten beleuchtete Kinoleinwand. Der Zaun hatte ein kleines Astloch, das das Grün der Hecke auf der anderen Seite der etwa drei Meter breiten Gasse hinter dem Zaun darauf projizierte.

Ging jemand durch die Gasse, füllte sein Bild das gesamte Fenster aus. Es war das gleiche Prinzip wie bei einer Camera obscura – wenn man aus der dunklen Küche auf das Milchglas schaute, sah man die Menschen draußen vorübergehen, nur verkehrt herum. Und nicht nur das, ihre Schatten bewegten sich auch entgegen ihrer eigentlichen Laufrichtung. War der Passant direkt vor dem Astloch, wurde seine Gestalt plötzlich riesengroß, um sich dann – kaum war er vorbei – zu verflüchtigen wie eine Luftspiegelung.

Doch das Wolkenbild an jenem Tag machte keinerlei Anstalten vorbeizuziehen. Und auch als es direkt in der Flucht des Astlochs stand, vergrößerte sich sein Umfang nicht wesentlich. An dem Punkt, an dem es seine größte Ausdehnung hätte haben müssen, blieb das Bild im oberen Teil des Fensters nur handtellergroß. Das Wolkenknäuel waberte zögernd auf der Stelle, und ein leises Maunzen ertönte.

Um zu unserem Haus zu gelangen, fuhr man von Shinjuku mit einem Vorortzug ungefähr zwanzig Minuten in Richtung Südwesten bis zu einem kleinen Bahnhof, an dem keine Expresszüge hielten. Nach etwa zehn Minuten Fußweg erreichte man eine leichte Steigung, die einen Hügel hinaufführte. Nachdem man die einzige – in westöstlicher Richtung verlaufende – Hauptverkehrsstraße überquert hatte, ging es einen breiten sanften Hang hinunter. Nach etwa siebzig Metern erschien auf der linken Seite ein Anwesen mit einem altmodischen Tor und einer Lehmmauer, deren unterer Teil mit Bambuslatten verkleidet war und die zur Linken in den einfachen Bretterzaun überging, an dem die Gasse verlief.

Das Haus, das wir gemietet hatten, war eigentlich der Garten- und Teepavillon des ausgedehnten, von Lehmmauer und Zaun umgebenen Anwesens. Etwa in der Mitte des Zauns befand sich eine kleine Holzpforte, die der alten Dame, der das Haus gehörte, und uns als Seiteneingang diente. Gleich neben diesem Törchen spähte das Astloch aus dem Zaun hervor wie ein unbemerktes Auge.

Wer, nicht ahnend, wie deutlich er auf unser Fenster hinter dem Zaun projiziert wurde, daran vorbeiging, gelangte an eine von links in die Gasse ragende Backsteinmauer, hinter der sie eine scharfe Biegung nach rechts vollzog und unversehens auf ein vom dichten Blattwerk eines riesigen Keyakibaums beschirmtes Haus stieß. Hier bog die Gasse wieder scharf nach links ab. Wir nannten dieses gezackte Wegstück Blitzgasse, weil es uns an die gängige bildliche Darstellung von Blitzen erinnerte.

Der Keyaki, der seinen Schatten auf die Gasse warf, war uralt, und der Magistrat hatte ihn gewiss längst unter Schutz gestellt. Er musste schon dort gestanden haben, als das Haus der Nachbarn gebaut wurde, denn man hatte seine Einfriedung für ihn miteingeplant.

Seine gewaltige Krone spendete ihren segensreichen Schatten auch dem östlichen Teil des Gartens unserer Vermieter und damit unserem Gartenhaus. Im Herbst lag dort alles voller Blätter, sodass die alte Dame gar nicht aus dem Seufzen herauskam.

Ein paar Tage nachdem die streunende Katze sich in die Blitzgasse verirrt hatte, beschloss der fünfjährige Junge aus dem Haus mit dem Keyakibaum, sie zu adoptieren.

Seine Eltern waren zwar unsere direkten Nachbarn im Osten, aber die Windungen der Blitzgasse verhinderten, dass wir einander begegneten. Zudem hatte ihr Haus, wo es an unseren Garten grenzte, nur ein kleines Abzugsfenster. Vielleicht betrachteten sie uns nicht einmal als vollwertige Nachbarn, weil wir nur das Gartenhaus gemietet hatten.

Die helle Kinderstimme des Jungen tönte häufig zu mir herüber. Aber da ich bis spät in die Nacht am Schreibtisch saß, war unser Tagesablauf sehr verschieden, und ich sah ihn fast nie.

Eines Morgens jedoch – ich nahm gerade ein spätes Frühstück ein – kam er an den Zaun. »Ich behalte jetzt die Katze«, rief er laut und deutlich zu mir herüber.

Ein paar Tage später streifte die Katze durch unseren kleinen Garten am Pavillon, der gerade groß genug war, um Wäsche aufzuhängen, und ich hörte ihn nach ihr rufen. Ich musste lächeln. Im Nachhinein betrachtet, verpasste ich wohl damals die Gelegenheit, Freundschaft mit ihm zu schließen.

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2

Offenbar hatte die alte Dame aus dem Haupthaus die selbstbewusste Ankündigung des kleinen Jungen auch vernommen, denn am selben Abend hörten wir, wie sie mit der Nachbarin sprach.

»Sie haben also jetzt eine Katze?«, fragte sie vorwurfsvoll mit scharfer, klarer Stimme. »Das ist wirklich zu viel für mich.« Dann folgte eine eintönige Klage, wie die Katzen, die sich überall auf ihrem Grundstück herumtrieben, den Garten verwüsteten, Getöse auf dem Dach veranstalteten und mitunter sogar schmutzige Tapser auf den Tatami hinterließen. Die junge Frau von nebenan hörte sich die Vorhaltungen der Achtzigjährigen geduldig an und antwortete leise und höflich, ließ sich aber nicht einschüchtern. Der kleine Junge stand vermutlich aufgeregt hinter ihr und hoffte, seine Katze behalten zu dürfen. Am Ende musste sich die alte Dame geschlagen geben.

Mir fiel ein, dass der Mietvertrag für das Gartenhaus, den wir zwei Jahre zuvor unterschrieben hatten, eine Klausel enthielt, nach der Kinder und Haustiere untersagt waren.

Wir hatten zwar schon die Mitte dreißig überschritten, wünschten uns aber kein Kind. Auch an einem Haustier hatten wir kein Interesse. Wir waren beide berufstätig und hatten nie auch nur darüber gesprochen, uns einen Hund oder eine Katze anzuschaffen. Nach den Kriterien der alten Dame waren wir vermutlich die idealen Mieter.

Zu unserem engeren Freundeskreis gehörten einige passionierte Katzenliebhaber, die uns mit ihrer zur Schau gestellten Zuneigung oft befremdeten. Mitunter überschütteten sie die Tiere mit hingebungsvoller Zärtlichkeit, ohne sich der Peinlichkeit ihres Verhaltens bewusst zu sein. Wohlgemerkt, ich hatte keine Abneigung gegen Katzen, nur Vorbehalte gegenüber sogenannten Katzenliebhabern. Allerdings hatte es bisher in meinem Umfeld nie eine Katze gegeben.

Als Kind hatte ich einmal einen Hund. Meine Beziehung zu ihm war unkompliziert und natürlich, und ich hatte die Hierarchie, die sich über die Leine zwischen dem, der führte und dem, der gehorchte, übertrug, als befreiend empfunden.

Ich war damals ungefähr im gleichen Alter wie der Nachbarsjunge, und wir wohnten in einem winzigen Holzhaus in einer Siedlung für städtische Angestellte. Doch kaum hatte ich den Welpen bekommen, wurde er mir auch schon wieder gestohlen. Ich glaube, es war an einem Samstag- oder Sonntagnachmittag. Als Erster bemerkte mein Vater, dass der im Flur angebundene Spitz verschwunden war.

»Hundediebe«, flüsterte er sofort und rannte mit mir aus dem Haus. Wir suchten überall, aber weder von dem Hund noch von einem Dieb war etwas zu sehen. Ich spürte damals, dass ich meinen Vater lieber nicht nach dem Wort »Hundediebe« fragen sollte, das ihm entschlüpft war. An dieses Gefühl erinnerte ich mich noch ganz deutlich. Meiner älteren Schwester zufolge hatte ich die ganze Nacht geweint, aber das wusste ich nicht mehr.

Wir hatten zwar keine besondere Vorliebe für Katzen, aber dennoch kannte meine Frau sich erstaunlich gut mit ihnen aus, wie überhaupt mit allen Tieren.

Schon als Kind hatte sie mit ihrem älteren Bruder Flusskrebse und Salamander gefangen und in einem Terrarium gehalten. Sie hatten sogar alle möglichen Schmetterlingsarten in ihrem Zimmer schlüpfen und umherflattern lassen, Prachtfinken und Kanarienvögel gehabt, Küken und aus dem Nest gefallene Spatzenjungen aufgezogen und verletzte Fledermäuse gesund gepflegt.

Bei jeder Tiersendung, die wir im Fernsehen sahen, konnte meine Frau die ausgefallensten Arten in den fernsten Ländern beim Namen nennen. Wenn ich also sage, keiner von uns hätte eine besondere Vorliebe für Katzen, so war das bei mir, ihrem Mann, doch etwas ganz anderes.

Als die Nachbarn die kleine Katze zu sich nahmen, bekam sie ein zinnoberrotes Halsband mit einem Glöckchen und tauchte nun des Öfteren auch in unserem Garten auf.

Der Garten des Haupthauses und unserer waren ursprünglich eins gewesen und jetzt nur durch einen einfachen Bretterzaun getrennt. Der große Garten mit seinen Bäumen, dem künstlichen Hügel, dem Teich und den Blumenbeeten schien der Katze sehr zu gefallen. Und nachdem sie zuerst den kleinen Garten um unser Haus erforscht hatte, durchstreifte sie nun die Weiten des großen.

Stand unsere Tür offen, warf sie auf ihrem Hin- oder Rückweg stets einen Blick in unser Haus. Sie war nicht scheu, aber von Natur aus sehr vorsichtig. Sie schaute mit aufgestelltem Schwanz ruhig ins Haus, kam aber nie hinein. Machte ich Anstalten, sie hochzuheben, ergriff sie sofort die Flucht. Versuchte ich es mit Gewalt, biss sie nach mir. Doch unter den stets wachsamen Augen der alten Dame wollten wir uns nicht zu auffällig bemühen, das Kätzchen anzulocken.

Das Folgende ereignete sich zwischen Herbst und Winteranfang 1988, als die Shōwa-Zeit ihrem Ende entgegenging.