Cover

Gisela Storz

Wut

Warum Kinder wild werden

Impressum

Die Namen der Kinder wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.


Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-72734-3


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© 2014 Beltz Nikolo in der Verlagsgruppe Beltz • Weinheim und Basel

Lektorat: Tarek Münch

Umschlagfoto und Innenteilfotos: © Marlen Mauermann

ISBN 978-3-407-72735-0

Über die Autorin

Gisela Storz ist Familientherapeutin und gibt seit vielen Jahren Elternkurse. Unter dem Namen Gisela Preuschoff veröffentlichte sie zahlreiche Elternratgeber, u. a. Störenfriede, Nervensägen, Quälgeister und Kinder zur Stille führen.

Inhalt

Mehr als anstrengend

»Hat er sich wehgetan?«

An der Schmerzgrenze

Gute Wut– gefährliche Aggressionen

Vulkanerde ist fruchtbar

Die neurologische Perspektive

Trauer – die Schwester der Wut

Wütende Kinder

Warum Babys schreien

»Ich kann!«, »Ich will!« – die sogenannte Trotzphase

Wut im Krippen- und Kindergartenalter

Wut in der Familie

Wut in der Schule

»Da wäre mir fast die Hand ausgerutscht«

Emotionen als Wegweiser

Zauberbuch für Zornzwuckel

Der liebevolle Blick

Bewusste Kommunikation

Wut spielen, Wut weglachen

Rituale geben Sicherheit

Bewegung und Nichtstun

Zum Weiterlesen

Quellennachweis 

Danksagung

Mehr als anstrengend

»Selig sind die Sanftmütigen«, heißt es in der Bibel. Aber was ist mit den explosiven Kindern, die Eltern und Erzieherinnen an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen?

»Hat er sich wehgetan?

Nein, hat er nicht. Er will Gummibärchen, aber die »blöde Mama« weigert sich, sie zu kaufen. Der Klassiker: Das Kind hat sich auf die Fliesen des Supermarkts geschmissen und schreit jetzt so laut, dass alle Passanten entsetzt zur Mutter schauen: Wie ist die denn drauf?

Kinder sind nicht nur süß, neugierig, charmant und fröhlich, sondern können auch extrem anstrengend sein. Um die vielen Herausforderungen zu meistern, brauchen Eltern und Erzieher Geduld, Vorbilder, manchmal auch Tipps und Tricks. Vor allem aber brauchen sie Wertschätzung und Respekt, denn alles, was Eltern heute leisten, sind Investitionen in die Zukunft. Die Kinder von heute sind die Eltern von morgen und werden die Welt entscheidend mitgestalten. Auch wenn der Weg bis dahin noch unendlich weit erscheint.

»Manchmal hab ich Wut, dann muss ich was kaputthaun, dann muss ich was zertreten, dann bin ich ganz gemein!«, sangen einst die Schauspieler des Berliner Grips-Theaters und brachen damit ein Tabu – denn Wut ist nicht gesellschaftsfähig.

Wer unkontrolliert wütet, benimmt sich unanständig, kann sich nicht kontrollieren. Von Seneca bis Kant und Nietzsche warnen die großen Philosophen vor unserer Wut, die »ausgetrieben«, ja »ausgerottet« werden müsse, um »den Geist zu reinigen«. »Gleichgültig, aus welchen Gründen es zum Wutanfall kommt, er ist nicht zu tolerieren«, schreibt der Psychologe Dieter Krowatschek.

Doch wer hilft Eltern, die sich alle Mühe geben, aber nichts als Gebrüll ernten? Warum rastet Edgar jedes Mal aus, wenn er sich anziehen soll? Weshalb wird es immer peinlich, weil Toni jedes Mal heult, wenn seine Mutter ihn aus der Kita abholen will? Wieso wirft Lea mit Bausteinen nach ihrer kleinen Schwester? Und was empfindet Leons Mutter, wenn sie hört, dass er mit einem Stuhl nach Ben geworfen und ihn nur knapp verfehlt hat?

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»Was haben wir falsch gemacht? Wer hat Schuld?« Das fragen sich fast alle Eltern, wenn ihr Kind kritisiert wird. Kommt diese Kritik aus dem Mund professioneller Erzieher, drohen zahlreiche Elterngespräche und heftige Auseinandersetzungen. Dann fühlen sich Eltern wie auf der Anklagebank. Spätestens bei Schulkindern wird schnell ein unguter Kreislauf in Gang gesetzt, der Familien stigmatisiert und aus temperamentvollen, intelligenten Erstklässlern Problemfälle und Schulversager macht. In unserer Leistungsgesellschaft sollen alle funktionieren und das Rad am Laufen halten. Wenn ein Kind wild wird und mit Armen und Beinen strampelt, stört es den geplanten Ablauf, den gewünschten »Arbeitsfrieden«. Solche Störungen sind unerwünscht.

Aber sind es nicht gerade Zornzwuckel, die Eltern zum Nachdenken bringen, Fragen aufwerfen und Anstöße zu Veränderungen geben? Die Wut von Kindern ist wie unsere eigene immer ein Alarmsignal, das auf Gefahr hinweist.

Ich erinnere mich an Tim, einen Schüler von mir in Berlin, der vor vielen Jahren in die erste Klasse ging. Ohne erkennbaren Anlass kniff er im Unterricht andere, trat um sich und piesackte bei jeder Gelegenheit. Meine Kollegin und ich hatten ihn sehr gern, aber natürlich konnten wir sein Verhalten nicht dulden. Einmal war es so schlimm, dass wir seine Mutter baten, ihn abzuholen. Sie erschien voller Wut und schubste ihren Sohn vor unseren Augen die Treppe hinunter. Wir waren nicht nur entsetzt, sondern ahnten jetzt auch, warum sich Tim so verhielt. Nie wieder ergriffen wir solche Maßnahmen! In einem Gespräch mit Tims Mutter wurde später vereinbart, dass sein Verbleib an der Schule von einer Familientherapie abhinge. Dann zog Tim um und wir haben nie wieder von ihm gehört.

An der Schmerzgrenze

Wütende Kinder suchen Resonanz. Sie sind wie Seismografen, die uns anzeigen, dass etwas nicht stimmt. In den letzten Jahren war viel von »kleinen Tyrannen« zu lesen. Dieser Ausdruck suggeriert, dass Kinder ihre Eltern unterdrücken würden. Tatsächlich ist es umgekehrt: »Kleine Tyrannen« werden unfreiwillig in eine Rolle gedrängt, die sie nicht ausfüllen können: Sie sollen über sich selbst bestimmen und wie Partner der Eltern handeln. Aber das können sie nicht.

Kinder sind zweifellos sehr kreativ und kompetent, aber ihnen fehlt es an Erfahrung. Sie wissen noch nicht, was sie brauchen, um durchs Leben zu kommen und die vielfältigen Alltagsprobleme zu lösen. Was erlaubt ist und was gegen Regeln verstößt, müssen Kinder erst lernen, am besten von ihren Eltern. Die wissen schließlich, welches Essen gesund ist, wie viel Schlaf guttut und wo Gefahren lauern. Orientierung gibt Kindern Sicherheit, auch wenn es sie zunächst wütend macht, nicht das zu bekommen, was sie gerade wollen oder worauf sie Lust haben.

»Kinder brauchen Grenzen« – heißt es. Damit wird suggeriert, dass sie diese nicht haben, aber das ist ein Irrtum. Wir alle haben Grenzen! Und wir spüren sie immer dann, wenn andere sie übertreten. Je besser wir unsere Grenzen kennen und je deutlicher wir sie artikulieren, desto angenehmer wird unser Kontakt zu anderen Menschen sein. Erwachsene und Kinder können ihre Grenzen ständig verändern. Wenn wir krank oder geschwächt sind, müssen wir die Grenzen enger ziehen. Manchmal gelingt es uns, über die eigenen Grenzen hinauszuwachsen. Dann sind wir stolz und glücklich. Im Zusammenleben mit Kindern lernen Erwachsene ihre Grenzen oft deutlich kennen, ohne sich dessen immer bewusst zu sein. Kinder kennen ihre Grenzen zunächst noch gar nicht. Sie fangen einfach an zu schreien, wenn sie überreizt sind. Es dauert mindestens zehn Jahre, bis ein Kind zu verstehen geben kann: »Bis hierher und nicht weiter! Hier ist meine Schmerzgrenze.«

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Die Verantwortung für das Respektieren von Grenzen liegt in der Verantwortung der Erwachsenen. Wie Vater, Mutter und ein Kind oder mehrere Kinder miteinander umgehen, liegt immer in der Verantwortung der Eltern. Sie bestimmen den Ton und das Klima einer Familie.

Jeder Mensch hat individuelle Grenzen. Sie sind auch bei den Eltern verschieden. Wenn die einjährige Luna mit den Fingern im Essen manscht, kann Papa das ganz normal finden, aber Mama extrem eklig. Das hängt mit den jeweiligen Herkunftsfamilien zusammen. Was Kinder dürfen und was nicht, müssen Eltern miteinander klären. Das Regeln von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind und von Situationen abhängen, lernen Kinder schnell.

Kinder wissen zwar, worauf sie Lust haben, müssen aber erst lernen, ihre Wünsche und Bedürfnisse so vorzutragen, dass andere sie verstehen können. Mit den Dingen, die uns umgeben, zu experimentieren, ist für ein neugieriges Menschenkind ganz normal. Für eine Mutter kann es hingegen völlig abwegig sein, Kartoffelbrei mit den Fingern zu untersuchen.

Dieser Prozess, die gegenseitigen Grenzen kennenzulernen, sich dabei auszutauschen und einander zu respektieren, dauert Jahre.

Kinder wollen zwar oft ganz bestimmte Dinge, aber sie wissen nicht, was gut für sie ist. Sie wollen den Schokoriegel aus der Werbung, weil sie die Manipulation noch nicht durchschauen können. Sie wollen nicht schlafen, weil sie nicht wissen, wie viel Schlaf sie brauchen. Und sie wollen vieles nicht tun, obwohl sie nicht umhinkommen, es zu lernen. Schließlich muss sich jeder irgendwann allein die Schuhe zubinden können und für einen bestimmten Bereich Verantwortung übernehmen.

Spätestens im ersten Schuljahr wird von Kindern verlangt, geduldig abzuwarten, bis sie aufgerufen werden, sich allein anzuziehen und sinnvolle Regeln des Miteinanders einzuhalten. Eltern müssen lernen, dass es durchaus mit Liebe zu tun hat, wenn sie etwas verweigern oder darauf bestehen, dass etwas getan wird. Es ist verständlich, dass ein Kind zunächst mit Wut darauf reagiert. Das bedeutet aber nicht, dass es aufhört, seine Eltern zu lieben. Es bedeutet auch nicht, dass die Eltern etwas falsch gemacht haben. Wut ist ganz normal!

Sie kommt aus der Enttäuschung – aber sie geht auch wieder. Enttäuschung wird auch als Frustration oder schlicht »Frust« bezeichnet. Sie kommt oft im Leben vor, weil wir uns leicht täuschen lassen. Sich Dinge und Ereignisse vorzustellen und auszumalen, ist eine wunderbare Fähigkeit des Menschen. Gerade Kinder sind darin besonders gut. In ihrer Fantasie spielen sie gerade ein aufregendes Abenteuer oder essen eine fantastische Speise – und dann kommt ein Erwachsener und zerstört alles!

»Das geht jetzt nicht!« oder »Wir müssen in fünf Minuten los!«.

Wer sollte da nicht wütend werden?

Gute Wut – gefährliche Aggressionen

Wut ist überlebenswichtig. Ohne sie könnten wir nicht für uns einstehen und wären Angriffen von außen hilflos ausgeliefert.

Vulkanerde ist fruchtbar

»Wir schäumen vor Wut« – unter diesem Motto streikten vor kurzem Pfleger und Krankenschwestern eines großen Universitätsklinikums. Bei den Protesten gegen den neuen Stuttgarter Bahnhof wurde der Begriff »Wutbürger« geprägt. Und »Empört Euch!« war der Aufruf überschrieben, den der französische Autor Stéphane Hessel mit über achtzig Jahren millionenfach in mehreren Ländern verbreitete, um gegen die Machenschaften des Finanzkapitals zu protestieren. Auch Gott wird zornig, wenn er die bösen Taten der Menschheit sieht. Damals schickte er die Sintflut. So steht es jedenfalls in der Bibel. Es scheint also einen »gerechten« oder gar »heiligen« Zorn zu geben. Ist Wut also erlaubt? Woher kommt diese Kraft, die jeder kennt und kaum einer mag?

Wie alle anderen Gefühle ist auch Wut weder gut noch schlecht. Sie gehört zum Menschen wie eine Augenfarbe oder Schuhgröße. Wut ist stärker als Ärger. Wenn wir uns über etwas ärgern, werden wir lebendig. Es ist, als würden in uns Alarmglocken ausgelöst.

Ärger richtet sich meistens gegen eine Person. »Sie ist schuld!« ist ein Gedanke, der automatisch auftaucht. Aber stimmt das wirklich? Bei einer »Stinkwut« riechen wir fast die Schwefelgase des Vulkans. Aber ist Vulkanerde nicht besonders fruchtbar? »Ich schreibe nur aus Zorn oder einer anderen Begeisterung«, sagt Peter Handke in einem Interview: »Ich finde nicht, dass der Zorn zu den sieben Todsünden gehören muss. Mir fehlt er manchmal – bei den anderen vor allem. Es gibt eine Geduld unter den Menschen, die ich nicht schön finde. Das ist nicht einmal Schafsgeduld, sondern eine Ochsengeduld. Manchmal kommt mir die ganze Menschheit verochst vor. Jeder kleine Stier ist mir lieber als diese erwachsenen Ochsen.«

Am Anfang war der Zorn

Peter Sloterdijk hat darauf hingewiesen, dass »Zorn« das erste Wort der abendländischen Literatur ist. Es bildet den Auftakt von Homers Ilias: »Den Zorn singe, Göttin, des Peleussohns Achilles, / Den unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern / Schuf und viele stattlich Seelen zum Hades hinabstieß …« Es folgt die blutrünstige Geschichte des Trojanischen Krieges. »Bemerkenswert dabei ist«, so Sloterdijk, »daß der Sänger keinerlei Beschönigung im Sinn hat. Von den ersten Zeilen an kehrt er die unheilstiftende Kraft des heroischen Zorns hervor: Wo er sich manifestiert, fallen die Schläge nach allen Seiten.« In seinem Buch Zorn und Zeit (2006) beschreibt Sloterdijk die Wut als zentrale Triebkraft von Entwicklung und Veränderung.

Wut hilft uns, für uns einzustehen und Missstände anzuprangern. Ohne Wut gäbe es keine Veränderung. Viele gesellschaftliche Errungenschaften wie der Achtstundentag, der Ausstieg aus der Atomenergie oder das Ende der Rassentrennung wurden nur erreicht, weil Menschen wütend waren. Selbst Kinder können »heiligen Zorn« verspüren, wenn sie erfahren, dass Orang-Utans oder Wale vom Aussterben bedroht sind oder ihr geliebter Kletterbaum gefällt werden muss. Dieser Zorn kann dann zur Leidenschaft werden, sich für eine gerechte Sache einzusetzen.

Udo Baer und Gabriele Frick-Baer schreiben in ihrem Buch Wie Kinder fühlen: »Kinder können im Brustton tiefster Überzeugung und nachhaltig zürnen, z. B. wenn sie sich gekränkt, gestört oder verraten fühlen oder wenn sie sich eine Sache leidenschaftlich zu eigen machen … dieser Zorn kann die Kinder ganz erfüllen, sie und ihr Verhalten ›beseelen‹. Der Zorn wird zur Leidenschaft und setzt Kräfte frei. An ihm wird deutlich, wie die Fähigkeit zu einem klaren und entschiedenen Nein auch eine Kraftquelle sein kann für ein Ja, für den Einsatz und die Verteidigung einer als gerecht erachteten Sache.«

Tatsächlich gingen viele der positiven Veränderungen, die es in den letzten Jahrzehnten in Kindergärten und Schulen gab, von rebellischen, »verhaltensauffälligen« – wütenden Kindern aus. Wären sie brav und unauffällig geblieben, gäbe es vielleicht heute noch die Prügelstrafe oder das In-der-Ecke-Stehen.

Das lateinische Wort »aggressio« bedeutet Angriff. Aggressiv nennen wir Handlungen, die anderen verbal oder körperlich Schmerz zufügen. Zu Aggression gehören auch Wutgefühle. Allerdings gibt es bei Erwachsenen auch »kalte« Aggression, wenn Menschen aus kühler Berechnung jemanden angreifen. Wirtschaftskriminalität gehört zum Beispiel in diese Kategorie.