Titelbild
Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-96807-2

März 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie

Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Prolog

Warum musste es ausgerechnet an diesem Abend schneien? Den ganzen Januar über hatte sich der Winter vornehm zurückgehalten. Sonnenschein hatte sich mit Nieselregen abgewechselt, es war durchgängig zu warm gewesen für die Jahreszeit. Aber seit ein paar Tagen war es kalt geworden, besonders auf den Höhenlagen des Teutoburger Waldes.

Als der dunkelblaue Mercedes-Transporter am 24. Januar um zehn Uhr abends den teuren Detmolder Vorort Hiddesen verließ, war die Straße bereits von einer dünnen Schneedecke überpudert. Reinhard Graeff, der für diesen Transport als Fahrer eingeteilt worden war, drehte den Heizungsregler höher. Auf der beidseitig von Wald flankierten Lopshorner Allee lag der Schnee noch etwas höher. Graeff zerbiss einen Fluch und versuchte, durch das dichte Schneetreiben hindurch die Straße im Auge zu behalten. Eigentlich hätte er diesen Transport schon im Laufe des Tages erledigen sollen, da aber viele seiner Kollegen mit Grippe im Bett lagen, hatte er einige von ihren Fahrten übernehmen müssen und kam erst jetzt zu dem Auftrag. Das kleine Unternehmen, bei dem er beschäftigt war, hatte sich auf Kurierfahrten für Wertgegenstände spezialisiert. Diesmal galt es, ein Gemälde von Hiddesen nach Rietberg zu transportieren.

Sein Beifahrer, der zu dieser Uhrzeit ebenfalls lieber ganz woanders gewesen wäre, schaltete mürrisch das Radio ein und ließ verschiedene Sender durchlaufen, bis etwas nach seinem Geschmack zu hören war.

»Hast du dir das Gemälde mal angeschaut?«, fragte er Graeff, ohne den Blick vom Radiodisplay zu nehmen. »So was soll wertvoll sein? So malt mein kleiner Sohn auch, und der ist gerade mal in der dritten Klasse.«

Graeff antwortete ihm nicht. Die beiden Männer fuhren oft zusammen und waren aufeinander eingespielt. Während Graeff ein schweigsamer Zeitgenosse war, der nicht mehr sprach als unbedingt erforderlich, plapperte sein Beifahrer unaufhörlich. Graeff hatte gelernt, dessen Besserwissereien einfach zu ignorieren.

Die schmale Straße zog sich in einigen Kurven immer höher bergauf. Der Schneeschauer hatte noch einmal an Stärke zugelegt. Die dicken, nassen Flocken wirbelten so dicht durch den Lichtkegel ihres Transporters, dass von der Straße kaum etwas zu sehen war. Obwohl die Scheibenwischer bereits auf der höchsten Stufe hin- und herjagten, musste Graeff seine ganze Konzentration mobilisieren, um den Weg zu finden, während sein Beifahrer ohne Pause weiter über seine Sicht der Welt dozierte.

»Jetzt halt mal kurz die Klappe und pass mit auf«, raunzte Graeff ihn an, »sonst kleben wir gleich an einem Baum.«

Sein Kollege kannte diese gelegentlichen Zurückweisungen und war bloß ein kleines bisschen beleidigt.

»Wieso fährst du auch diese unmögliche Strecke?«, brummte er nur. »Wir hätten den Weg über Pivitsheide nehmen sollen. Ist zwar ein bisschen länger, aber deutlich flacher und weniger verschneit. Bist ja selbst schuld.«

Reinhard Graeff blickte wütend zu ihm hinüber und sagte scharf:

»Weil auf der Stoddardstraße diese verdammte Baustelle ist. Hast du davon nichts gehört? Freiwillig fahre ich da nicht lang. Dauert ewig, bis du da durch bist. Da fahre ich lieber hier oben durch den Schnee.«

Dass hier deutlich mehr Schnee lag, als er erwartet hatte, erwähnte er lieber nicht. Nun galt es aufzupassen, denn jeden Augenblick musste eine scharfe Rechtskurve kommen. Geradeaus führte der Weg direkt in das Gelände des Truppenübungsplatzes. Da wollte er auf gar keinen Fall hinein.

Angestrengt schaute Graeff nach vorn, kniff die Augen zusammen, aber weiter als zwei oder drei Meter konnte er nicht sehen. Die Straße schien immer weiter ins Leere zu führen, alle Konturen lösten sich im Wirbel der Schneeflocken auf. Kein einziges Auto war ihnen auf den letzten zwei Kilometern entgegengekommen. Vermutlich würde auch niemand so verrückt sein, zu dieser Uhrzeit und bei diesem Wetter hier entlangzufahren. Straßenlampen gab es nicht, auch keine Sterne am Himmel. Das Abblendlicht des Transporters war das einzige Licht in dem dichten Bergwald.

»Fahr langsam!«, rief der Beifahrer plötzlich. »Da kommt die Kurve!«

Doch Graeff hatte alles im Griff. Langsam rollte der Transporter auf die 90-Grad-Kurve zu, und er schaffte es, die Kurve zu nehmen, ohne einen Zentimeter zu rutschen. Nun fuhren sie genau gegen den Wind, und die Sicht nahm noch weiter ab. Trotzdem beschleunigte Graeff wieder vorsichtig, denn er wusste, dass die Straße nun für etwa einen Kilometer geradeaus führen würde, bevor sie auf die Panzerringstraße traf. Der Transporter hatte gute Winterreifen und meisterte die rutschige Strecke souverän. Plötzlich schrie Graeffs Beifahrer aufgeregt:

»Pass auf! Da liegt was.«

Graeff trat auf die Bremse, der Mercedes brach hinten aus, schlitterte ein paar Meter schräg über die Fahrbahn und war auf dem besten Weg, in den Straßengraben zu rutschen. Aber als routinierter Fahrer brachte Graeff es fertig, direkt vor dem Hindernis zum Stehen zu kommen. Atemlos starrte er auf die Straße, um zu erkennen, was da lag. Es war ein äußerst kräftiger Baumstamm, der die Fahrbahn komplett versperrte.

»Und was jetzt?«, fragte der Beifahrer.

»Ja, was wohl?«, brummte Graeff genervt. »Du steigst jetzt aus und schiebst diesen Baumstamm zur Seite, damit wir weiterfahren können. Das kann doch nicht so schwer sein.«

Ein eisiger Wind pfiff herein, als der Beifahrer unter Protest die Tür öffnete und ächzend aus dem Transporter kletterte. Augenblicklich war der nun verwaiste Sitz mit Schneeflocken übersät. Dann wurde die Tür wieder zugeschlagen.

Graeff beobachtete seinen Kollegen, der versuchte, den Stamm zu bewegen. Aber da der mit einer dicken Eiskruste überzogen war, rutschte er immer wieder ab. Graeff sah die Atemwolke seines Beifahrers, der verbissen weitere Versuche startete, dann aber entnervt aufgab. Kurz darauf flogen erneut Schneeflocken auf den Beifahrersitz, als der Mann die Beifahrertür wieder öffnete. Er schwang sich schimpfend auf seinen Sitz, schaute Graeff vorwurfsvoll an und polterte:

»Du hast es ja bequem hier. Ich friere mir da draußen den Arsch ab, und du hockst hier im Warmen und schaust zu. Los, komm mit raus. Allein habe ich keine Chance. Das Ding ist viel zu schwer. Außerdem hat es einer ziemlich gründlich bearbeitet. Da ist kein einziges Ästchen mehr dran, wo man mal anfassen könnte. Alles fein säuberlich abgetrennt. Die ganze Sache gefällt mir nicht, Graeff. Aber guck es dir selbst an, du bist ja der Klügere von uns.«

Graeff blieb nichts anderes übrig, als sich die dicken Lederhandschuhe überzuziehen, eine Taschenlampe mitzunehmen und nun ebenfalls die wohlige Wärme des Autos mit dem schneidend kalten Wind des Waldes zu tauschen. Was hätte er tun sollen? Eine Winde gab es an diesem Transporter nicht, es war ja schließlich kein Geländewagen. Gemeinsam versuchten sie nun, am Baumstamm zu zerren, zu schieben. Aber weder Hände noch Füße fanden einen Halt, immer wieder rutschten sie ab, stürzten mehrmals zu Boden.

Sie starrten, um Atem ringend, auf den mächtigen Stamm. Immerhin hatten sie ihn einen halben Meter zur Seite bewegt. Das war mehr als nichts, aber deutlich weniger als erhofft. So konnte es nicht weitergehen. Graeff erwog, den Baum mit dem Transporter per Abschleppseil wegzuziehen, hatte aber Angst, damit den Firmenwagen zu beschädigen. Wieder versuchten sie es mit bloßen Händen, wieder ernteten sie nur Erschöpfung und einige Zentimeter. Graeff spürte ein ungutes Gefühl im Rücken, irgendetwas klemmte dort im Bereich der unteren Wirbelsäule. Er wusste, wenn er noch einmal bei dieser Kälte an dem Baumstamm rucken würde, wäre ihm der gewaltigste Hexenschuss seines Lebens sicher.

Eben wollte er seinem Beifahrer signalisieren, dass er aufgeben würde. Dass er den Transporter wenden, zurückfahren und kleinlaut einen anderen Weg nehmen würde. Da zuckte plötzlich der Doppellichtkegel eines Autos durchs Schneetreiben, kam näher und blieb dann hinter dem Mercedes stehen. Als die Lichter verloschen, konnte Graeff für kurze Zeit nichts mehr erkennen. Nur noch wirbelnden Schnee, der das Licht der Taschenlampe reflektierte. Als weiter nichts passierte, schaute Graeff verblüfft seinen Beifahrer an. Der zuckte ratlos mit den Achseln, schrie dann aber, um den Wind zu übertönen:

»Warum kommt der Kerl nicht näher? Wir können ihn verdammt gut gebrauchen. Hoffentlich ist es auch ein Kerl und kein kleines Mädchen. Ich gehe mal hin. Gib mir die Taschenlampe!«

Graeff schaute seinem Kollegen hinterher, dessen Gestalt von Meter zu Meter immer undeutlicher wurde und schließlich eins wurde mit den wild durcheinandertobenden Schneeflocken. Nichts war mehr von ihm zu sehen, nur noch der ganz schwache Schimmer seiner Taschenlampe. Dann war auch der verschwunden.

Graeff wartete, fror, schlug sich die Arme um die Schultern und wartete weiter. Nichts geschah. Von einer plötzlichen Unruhe erfasst, setzte auch er sich in Bewegung und tastete sich vorsichtig durch die Dunkelheit in Richtung des anderen Autos. Als er den Mercedes-Transporter hinter sich gelassen hatte, konnte er ganz schwach die Konturen des anderen Autos ahnen. Kein Licht war zu sehen, kein Mensch zu erkennen, kein Laut zu hören. Nur der Wind pfiff in seinen Ohren. Wo war sein Kollege? Wo der andere Autofahrer? Graeff wurde es unheimlich zumute.

Urplötzlich flammte direkt vor ihm ein starkes Licht auf, so stark, dass Graeff geblendet war und nichts mehr erkennen konnte. Er hörte nur noch Schritte, die im Schnee knirschten. Bevor er etwas fragen, bevor er auch nur einen Gedanken fassen konnte, donnerte etwas Hartes an seinen Schädel. Bereits wankend, wollte er protestieren, bekam aber die Lippen nicht mehr auseinander. Dann sackten ihm die Knie weg, er schlug im weichen Schnee lang hin und spürte nichts mehr.

1

Das ruhige, gleichmäßige Atmen neben ihm klang schöner als die lieblichste Musik. Horst Schwiete lag in seinem Bett. Er hatte in dieser Nacht den Boden unter den Füßen verloren. Und das war ein verdammt gutes Gefühl. Das erste Mal in seinem Leben war er neben einer Frau aufgewacht. Das war unfassbar für ihn. Er dachte an die vergangenen Stunden zurück. Wie hatte er in seinem bisherigen Leben nur auf so wunderbare Momente verzichten können?

Doch dann kamen die Zweifel. Erst ganz vage, kaum wahrnehmbar, dann immer heftiger, bis sie ihn letztendlich mit aller Macht ergriffen. Er war fünfzig Jahre alt und hatte heute Nacht das erste Mal mit einer Frau geschlafen. Wahrscheinlich hatte er sich angestellt wie ein dummer Junge. Welcher Teufel hatte ihn da nur geritten? Scham und Unsicherheit überfielen ihn. Plötzlich hatte Horst Schwiete das Bedürfnis, sich aus dem Bett zu stehlen, sich aus dem Zimmer zu schleichen und sich im nächsten Mauseloch zu verkriechen.

Mühevoll hatte sich Schwiete Bedingungen aufgebaut, die ihn befähigten, sein Leben zu leben. Und jetzt das! Was hatte er nur getan? All das, was ihm Sicherheit gegeben hatte, all das hatte er über Bord geworfen wie einen faulen Apfel.

Dabei hatte er in den vergangenen Stunden gelebt, geliebt, genossen. Er hatte die Zärtlichkeit, mit der ihn Karen Raabe überschüttet hatte, mit jeder Nervenzelle seines Körpers gespürt. Er hatte sie mit einer unfassbaren Intensität empfunden, er hatte sie in sich aufgenommen wie ein trockener Schwamm das Wasser. Schwiete hatte gar nicht genug davon bekommen können. Doch die Liebkosungen zu Beginn waren nur der Auftakt gewesen. All das, was sich angeschlossen hatte, war noch unglaublicher, noch erregender gewesen. Was gab es doch für atemberaubende Möglichkeiten, sich zu lieben.

Und jetzt lag Schwiete hier, in seinem Bett, neben dieser wunderbaren Frau und haderte mit sich. Seine Eingeweide brannten, entzündet durch diese verdammten Selbstzweifel, die in ihm tobten. Die ließen Schwiete jetzt glauben, er müsse sich aus dem Leben stehlen, zumindest aber aus der Welt, in der ihm die Ursache für seine Zweifel irgendwann wieder begegnen könnte.

Er betrachtete seinen zerknitterten Anzug, den er im Dämmerlicht vor seinem Bett erkennen konnte. Karen Raabe hatte ihm die Jacke vor einigen Stunden auf dem Weg zum Bett von den Schultern gezogen und zu Boden gleiten lassen. Und er hatte seine Hose wenig später achtlos danebengelegt.

Noch nie in seinem Leben war Schwiete eingeschlafen, ohne seine Kleidungsstücke ordentlich auf den Bügel gehängt zu haben. Du bist dabei, dich zu verlieren, dachte er. All das, was dir Sicherheit gibt, setzt du leichtfertig aufs Spiel.

Das musste ein Ende haben. Er spannte seine Muskeln an, wollte aus dem Bett steigen, seinen Bademantel überziehen und aufräumen. Erst seine Kleidung und dann sein Leben. Er wollte seine alten Werte und seine Orientierungen zurück. Wenn erst seine Kleider ordentlich auf dem Bügel hingen, war der erste Schritt zurück zu seiner Ordnung getan, und damit auch zu seiner ach so fragilen Sicherheit.

Karen Raabe seufzte im Schlaf. Sie drehte sich zu Schwiete um, schlang ihren Arm um seine Schulter und schmiegte sich an ihn. Er fühlte ihre warme weiche Haut und roch den betörenden Duft, den sie ausstrahlte. Der Wohlgeruch dieser Frau und die darauffolgenden Gefühle waren es, die augenblicklich dafür sorgten, dass all die Beklommenheit, die Schwiete gerade zu erdrücken versuchte, aus dem Hier und Jetzt verschwand. Und damit zerplatzten all seine Zweifel wie Seifenblasen.

Es folgten hunderttausend Nadelstiche der Glückseligkeit, die Schwiete sofort wieder in eine schützende Aura hüllten, die keine Zweifel mehr zuließen. Diese Gefühle, diese Nähe wollte Horst Schwiete nie wieder hergeben. Für das Wiedererleben und auch für das Erhalten dieser neuen glückseligen Momente und Empfindungen würde er alles tun – und wenn nötig, würde er dafür kämpfen wie ein Löwe.

2

Es war verdammt anstrengend, mit dem Fahrrad die Husener Straße in Richtung Uni zu fahren. Else Klingenberg schwitzte und keuchte, aber absteigen kam für sie nicht infrage. In Paderborn erledigte sie alles mit dem Rad. Das war sicher einer der Gründe, warum sie trotz ihrer über fünfzig Jahre immer noch eine, wie sie fand, passable Figur hatte.

Else Klingenberg war sportlich und ehrgeizig. Das war sie schon immer gewesen, und so quälte sie sich auch jetzt auf ihrem Rad zur Arbeit, egal, wie steil es bergauf ging. Wenn sie es sich recht überlegte, war es mehr Lust als Qual, denn sobald sie oben an der Annette-von-Droste-Straße angekommen wäre, würde sie einen Kaffee trinken und nach der absolvierten körperlichen Strapaze eine kleine Pause einlegen.

Schon jetzt dachte sie an das wohltuende Gefühl, wenn sich ihre Muskeln wieder entkrampften. Wenn ihr gut trainierter Körper immer lockerer wurde. Und wenn sie sich dann zufrieden an ihre eigentliche Arbeit begab, war sie mit ihrer Welt wieder im Reinen.

Else Klingenberg putzte in verschiedenen Haushalten Paderborns. »Käsch auf de Täsch«, wie sie zu sagen pflegte. Sie hatte einen festen Kundenstamm und immer wieder Nachfragen von weiteren Interessenten, die sich darum rissen, dass ihr Haus ebenfalls von Else Klingenberg geputzt wurde. Sie wusste, warum. Unter den Teppich gekehrten Dreck gab es bei ihr nicht. Sie putzte schnell und gründlich. Das war ihr Markenzeichen. Es hatte sich noch niemand über ihre Arbeit beschwert. Nicht einmal dieser Lorenz Plückebaum, zu dessen Haus sie gerade unterwegs war. Der war ein Korinthenkacker vor dem Herrn, geizig und pedantisch, besonders wenn es um seine Bilder ging.

Von manchen Familien, bei denen sie putzte, hatte Else Klingenberg einen Wohnungs- oder Haustürschlüssel. Nicht so von Lorenz Plückebaum, der ließ niemanden während seiner Abwesenheit in sein Haus. Da hatte der Mann viel zu viel Angst um seine Bilder. Else Klingenberg war – mal abgesehen von ihren nicht eingehaltenen Verpflichtungen gegenüber dem Finanzamt – die Ehrlichkeit in Person. Plückebaum hätte ihr ruhig einen Schlüssel anvertrauen können. Aber gut, wenn er nicht wollte, dann musste er halt anwesend sein, wenn sie ihrer Arbeit nachging.

Letzte Woche war sie jedoch vergeblich bei ihm aufgelaufen. Trotz des festen wöchentlichen Termins, den sie mit Plückebaum vereinbart hatte und den sie seit Jahren penibel genau einhielt, trotz dieses verbindlichen Termins hatte Else Klingenberg vor verschlossener Haustür gestanden. Alles Klopfen und Rufen hatte nichts genützt. Die Tür war verriegelt und verrammelt geblieben.

Das war seltsam. Die gewissenhafte Else Klingenberg hatte sich natürlich sehr geärgert. Heute würde sie den entgangenen Lohn einfordern, das hatte sie sich fest vorgenommen. Bevor der nicht ausbezahlt war, würde sie keinen Finger rühren. Und wenn sich Plückebaum weigern würde, die Stunden der letzten Woche zu zahlen, dann könnte er sich jemand anderen suchen. Jetzt stand Else Klingenberg erneut im Vorgarten des großen weißen Hauses in der Annette-von-Droste-Straße. Sie klingelte Sturm, doch wieder blieb die Tür verschlossen. Nichts regte sich, kein Laut war zu hören, kein Rascheln, keine Schritte.

Da stimmte etwas nicht, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Sollte sie die Polizei verständigen? Else Klingenberg überlegte. Wahrscheinlich würden die gleich fragen, was sie denn bei Plückebaum zu suchen hatte. Da könnte ihr schwarzbezahlter Putzjob schnell auffliegen. Das würde nur Ärger geben. Aber sie wollte auch nicht einfach über die Tatsache hinweggehen, dass der sonst so zuverlässige Plückebaum seine Termine nicht einhielt.

Hier stank etwas gewaltig zum Himmel. Dafür hatte sie ein sicheres Gespür. Nein, sie musste etwas tun. Sie griff zu ihrem Handy und wählte Plückebaums Nummer. Das Läuten des Telefons war bis in den Vorgarten zu hören. Also wählte sie doch die 110. Als der diensthabende Beamte sich meldete, berichtete sie von ihrer Beobachtung und nannte Plückebaums Anschrift. Doch als der Polizist fragte, mit wem er denn spreche, da sagte sie, das tue nichts zur Sache, und legte auf.

Wenn Horst Schwiete nicht gerade mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen wäre, hätte er sich über den Anblick, der sich ihm bot, sicherlich amüsiert. Er war vor einer Viertelstunde nach Hause gekommen und wollte sich nach dem anstrengenden Arbeitstag etwas ausruhen, als es an seiner Wohnungstür klopfte. Das konnte nur seine Vermieterin Hilde Auffenberg sein, überlegte er, stand auf und ging zur Tür. Doch vor ihm stand sein Nachbar Johnny Winter, zusammen mit zwei älteren Männern. Alle drei trugen die blau-schwarz-weißen Schals und Mützen des hiesigen Fußballklubs, des SC Paderborn.

Johnny Winter war Musiker. Eigentlich Rockmusiker, eigentlich für die große Bühne geboren, eigentlich im besten Alter für einen Rockstar. In der Praxis schlug er sich mehr recht als schlecht mit Tanzmusik durch. Viele Jahre hatte er als Gitarrist in der Tanzcombo Ramona mitgespielt und war bei fast jedem Schützenfest in der Umgebung dabei gewesen. Und immer wieder hatte er sich mit den Schützenfestmusikern gestritten. Johnny hasste diese Art von Musik, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als auf solchen Festen seinen Musikgeschmack zu verraten. Gelegentlich fuhr er auch Taxi. Wenn ihm dann noch Zeit blieb, kümmerte er sich hingebungsvoll um die Frauen der alten Bischofsstadt. Gerade war wieder einmal eine seiner Beziehungen zu Bruch gegangen, und so hatte Winter Zeit, mit den beiden alten Herren zum Fußball zu gehen.

Der eine davon hieß Herbert Höveken und war nicht nur Hilde Auffenbergs Nachbar, sondern auch ihr hartnäckigster Verehrer. Höveken war Bestatter und wäre längst im Rentenalter gewesen, wenn er nicht als Selbstständiger einfach zu wenig für seine alten Tage auf die hohe Kante gelegt hätte. So musste er weiterarbeiten – wahrscheinlich, bis er sich eines Tages selbst beerdigen würde, wie Willi Künnemeier, der zweite der beiden betagten Fußballfans, gern lästerte.

Künnemeier war zwar älter als Höveken, aber deutlich rüstiger. Er war schon zum Fußball gegangen, als die Paderborner Mannschaft noch FC Paderborn geheißen und in der Verbandsliga gespielt hatte. Mittlerweile war es die zweite Bundesliga, und Paderborn spielte aktuell eine erstaunlich gute Rolle. Nach einem völlig verkorksten Saisonbeginn mit neuem Trainer hatte der Präsident einen kompletten Neuanfang ausgerufen, und tatsächlich hatten Mannschaft und Trainer von Spiel zu Spiel mehr zusammengefunden. Seit acht Heimspielen waren sie nun ungeschlagen, und mit den ersten Fans ging bereits die Phantasie durch.

»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte Schwiete verblüfft.

»So ’ne Frage kann auch nur ein Bulle stellen«, antwortete Johnny. »Wir spielen heute gegen Düsseldorf, zu Hause. Du wolltest doch mitkommen, oder?«

Siedend heiß fiel Schwiete wieder ein, dass er bei einem Treffen in der großen, gemütlichen Küche ihrer gemeinsamen Vermieterin mal etwas in dieser Richtung hatte verlauten lassen. Aber wenn er in sich hineinhorchte, verspürte er nicht die geringste Lust. Fußball interessierte ihn fast gar nicht, große Menschenansammlungen verabscheute er zutiefst, und außerdem wollte er momentan für sich sein und seinen Gedanken nachhängen. Aber damit konnte er diesen Fußballfanatikern nicht kommen, wie er wusste.

»Ich muss gleich noch mal dienstlich los«, log er. »Tut mir leid!«

»Erzähl mir doch nichts!«, meinte Johnny Winter grinsend. »Dienst nennst du das? Wenn du dich mit deiner Karen treffen willst, heißt das Date und nicht Dienst. Du verwechselst da was, mein Lieber. Aber ich wünsche dir trotzdem viel Vergnügen. Auch wenn du vermutlich im Stadion was verpassen wirst.«

»Was denn?«, fragte Schwiete ungläubig.

»Wir werden heute die Düsseldorfer in den Sack stecken!«, posaunte Künnemeier. »Im Hinspiel haben wir sechs zu eins gewonnen, und das in Düsseldorf. Heute spielen wir zu Hause, da tun wir ihnen noch zwei Tore mehr rein. Kannste dich drauf verlassen!«

Schwiete war das alles ziemlich gleichgültig. Er war froh, als die drei ihren Bekehrungsversuch aufgaben und gingen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es halb sechs war. Er hatte Karen Raabe versprochen, sie anzurufen.

3

Gleich achtzehn Uhr. »Verdammt!« Linda Klocke schimpfte leise vor sich hin. Wie ihr die Zeit wieder durch die Finger geronnen war. Sie hatte wie so oft den Eindruck, gerade erst mit einer Aufgabe angefangen zu haben, und doch war der Arbeitstag bereits vorbei.

Dabei war für sie alles, womit sie sich den Tag über beschäftigt hatte, höchst unbefriedigend. Stunde um Stunde hatte sie damit verbracht, Formalkram zu erledigen. Sie hatte Statistiken über Ermittlungserfolge ausgearbeitet, die wieder einmal dazu dienen sollten, den Innenminister von Nordrhein-Westfalen gut dastehen zu lassen.

Seit sie bei der Polizei war, hatte sie, wie sie fand, viel zu viele Stunden damit verschwendet, irgendwelchen Politikern Material an die Hand zu geben, um ihnen den nächsten Schritt auf der Karriereleiter zu ermöglichen.

Jetzt hatte sich auch noch der oberste Chef der Paderborner Polizei dazu breitschlagen lassen, für das Bürgermeisteramt der Stadt zu kandidieren. Zur Ehrenrettung ihres Chefs, das musste Linda Klocke eingestehen, war der bisher noch nicht an sie herangetreten, um irgendwelche Statistiken für seinen Wahlkampf geliefert zu bekommen.

Egal, es wurde Zeit, dass sie für heute Feierabend machte. Eilig räumte sie ihren Schreibtisch auf, schnappte sich ihre champagnerfarbene Lederjacke und hastete zum Ausgang. Sie hatte noch einige private Dinge zu erledigen, die keinen Aufschub duldeten. Doch dieser Plan wurde schon am Eingang der Kreispolizeibehörde zunichtegemacht.

Ein junger Kollege, dessen Namen Linda Klocke ständig vergaß, trat zu ihr auf den Flur.

»Sag mal, wohnst du nicht in der Südstadt?«, fragte er.

Linda Klocke nickte. »Ja, warum?«

Dem Kollegen schien sein Ansinnen unangenehm zu sein. »Ich habe da heute Mittag so einen komischen Anruf bekommen, von einer Frau, die ihren Namen nicht sagen wollte. Jedenfalls hat sie behauptet, in der Annette-von-Droste-Straße wohne ein gewisser Lorenz Plückebaum, der von ihr angeblich seit über einer Woche vermisst werde.«

Er reichte Linda Klocke einen zerknitterten Zettel.

»Kannst du auf deinem Heimweg mal kurz vorbeifahren und anklingeln? Die Adresse, die sie durchgegeben hat, stimmt. Das habe ich überprüft.«

Linda Klocke wurde ärgerlich. Was war denn hier los? Seit wann wurden bei der Paderborner Polizei die Kollegen mit kleineren Zusatzaufgaben in den Feierabend entlassen? Linda Klocke hatte Lust, diesem unverschämten jungen Kollegen mal so richtig den Kopf zu waschen. Die aufkommende Wut stand ihr anscheinend ins Gesicht geschrieben, denn noch bevor sie sich den jungen Mann vorknöpfen konnte, hob der abwehrend seine Hände.

»Ist doch Fußball, Paderborn gegen Düsseldorf. Da ist die gesamte Truppe von der Schutzpolizei mit Mann und Maus im Einsatz. Wir haben keinen einzigen freien Kollegen mehr zur Verfügung. Seitdem der SC Paderborn die Chance hat, in die erste Bundesliga aufzusteigen, geht es bei der Schutzpolizei drunter und drüber. Wir sind hoffnungslos unterbesetzt.«

Der junge Kollege von der Zentrale setzte sein charmantestes Lächeln auf und sah die Polizistin verzweifelt und verschmitzt zugleich an.

Linda Klocke schnaubte, riss dem Kollegen den zerknitterten Zettel aus der Hand und murmelte genervt: »Wenn’s sein muss.« Dann verschwand sie Richtung Ausgang.

Eine Viertelstunde später hielt ihr flaschengrüner Polo vor einem großen, etwas schmuddeligen weißen Haus aus den Dreißigerjahren. Linda Klocke sah sich das Anwesen von der Straße aus an. Das Gebäude stand mitten in einem verwilderten, aber nicht ungepflegten großen Garten. Das satte Grün, bedingt durch das ungewöhnlich warme Frühjahr, verlieh dem Ensemble etwas Mondänes, ja Parkähnliches.

Nicht schlecht, das Häuschen, dachte Linda Klocke. Hier könnte ich wohl einziehen. Sie ging zu einem schmiedeeisernen Gartentor und drückte dagegen. Es bewegte sich mit einem heiseren, markerschütternden Quietschen. Der mit ausgetretenen Sandsteinplatten gepflasterte Weg führte zu einer braunen Eichentür, die mit geschnitzten Ornamenten und einem ovalen vergitterten Fenster versehen war.

Linda Klocke klingelte mehrfach. Nichts rührte sich. Sie versuchte, ins Innere des Hauses zu sehen, doch die Scheibe war aus Riffelglas und ließ keinen Einblick zu. Wahrscheinlich war dieser Lorenz Plückebaum schlicht und ergreifend nicht zu Hause, dachte sie genervt.

Sie hatte ihre Pflicht und Schuldigkeit getan, fand sie. Gerade wollte sie sich umdrehen, um wieder zu gehen, da bemerkte sie aus den Augenwinkeln etwas, was sie bis jetzt nicht wahrgenommen hatte. Aufmerksam sah sie sich die wellige Glasscheibe noch einmal genauer an. Was war denn das? Brachen sich da in der unebenen Struktur des Glases etwa Lichtstrahlen? Ganz schwach, aber wenn man sich konzentrierte und einen ganz bestimmten Blickwinkel einnahm, waren sie deutlich zu erkennen.

Die Abendsonne konnte es nicht sein, denn der überdachte Hauseingang war nach Südosten ausgerichtet. Das diffuse Licht musste aus dem Inneren des Hauses kommen.

In Linda Klocke breitete sich plötzlich ein unangenehmes Gefühl aus. Gerade noch war sie von dem Sonderauftrag genervt gewesen, der ihr den Feierabend vermieste. Doch mit dem Adrenalin, das gerade in ihre Blutbahn gepumpt wurde, verschwand ihr Desinteresse augenblicklich. In ihrem Hirn schrillten alle Alarmglocken. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sie tastete nach ihrer Pistole. Na prima, die lag gut verschlossen in ihrem Sicherheitsfach in der Kreispolizeibehörde.

Doch die Tatsache, dass sie unbewaffnet war, hielt sie nicht davon ab, sich jetzt umzuschauen. Vorsichtig schlich sie an der Hauswand entlang auf die Rückseite des Gebäudes. Auch hier waren die Wege mit Sandsteinplatten gepflastert. Zu einer kleinen, ummauerten und überdachten Terrasse führte eine Treppe. Linda Klocke stieg lautlos hinauf, umrundete einen Tisch und zwei Stühle aus Teakholz und drückte sich an die Wand.

Sie lauschte. Nichts war zu hören. Vorsichtig blickte sie durch die Scheibe der Terrassentür in eine kleine, altmodische Küche. Im diffusen Licht der langsam einsetzenden Dämmerung glaubte sie, einige Teller und Tassen auf der Anrichte ausmachen zu können. Vielleicht kam sie ja auf diesem Weg ins Haus. Sie drückte gegen die Tür, doch die war verschlossen. Hier kam sie also nicht weiter.

Leise ging sie zurück in den Garten. Die Fenster des Hochparterres befanden sich auf der Rückseite des Hauses ungefähr einen Meter achtzig über dem Boden. Linda Klocke sah sich um. An der Dachrinne stand eine Regentonne, die randvoll mit Wasser gefüllt war. Die Polizistin überlegte nicht lange. Sie versetzte dem Fass einen kräftigen Tritt, doch es kippte keineswegs um, sondern nur ein Schwall Wasser schwappte über den Rand. So einfach, wie sie gehofft hatte, war es also doch nicht.

Der Behälter war verdammt schwer. Fluchend stemmte sie sich mit ihrem gesamten Körpergewicht gegen die Tonne. Auch diesmal lief nur ein wenig Wasser über den Rand und landete auf Linda Klockes Hose. Wieder ruckelte sie an dem schweren Kübel, doch es gelang ihr immer noch nicht, ihn so weit auf die Seite zu legen, dass der Schwerpunkt überwunden worden wäre. Also begann sie damit, die Tonne hin- und herzukippen. Dabei nutzte sie die Bewegung des Wassers für sich. Jedes Mal, wenn sie Druck auf den Rand ausübte, vergrößerte sich der Kippwinkel ein wenig.

Das anstrengende Unterfangen hatte die unangenehme Nebenwirkung, dass sich bei jedem Zurückkippen ein Schwall Wasser über Linda Klocke ergoss. Sie war mittlerweile klitschnass, und mit jeder kalten Dusche, die sie abbekam, wurde sie wütender. Der brodelnde Zorn setzte bei ihr ungeahnte Kräfte frei. Dann hatte sie es geschafft: Die Tonne kippte über den Rand und lag quer vor ihr auf dem Boden. Sie rollte sie zu dem einen gardinenlosen Fenster, richtete sie davor auf und kletterte hinauf. Mittlerweile war es noch dunkler geworden. Im dämmrigen Zimmer war nicht mehr viel zu erkennen. Angestrengt suchte Linda Klocke den Raum mit dem Blick ab. Schließlich sah sie zwei Füße durch eine offene Tür ins Zimmer ragen. Aufgeregt griff sie zum Handy und wählte die Notrufnummer und informierte ihre Kollegen von der Polizei.

Schwiete konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, als er Karen Raabe zum ersten Mal begegnet war. Sie war Mitarbeiterin von »Theodora«, einer Organisation, die Prostituierte dabei unterstützte, aus dem Milieu auszusteigen. Letztes Jahr hatten Schwiete und seine Kollegen eine Bande hochgenommen, die junge Frauen aus osteuropäischen Ländern zur Prostitution zwang. Die betroffenen Frauen wurden anschließend von der Sozialarbeiterin Karen Raabe betreut.

Schwiete wusste noch, wie er ihr damals auf dem Flur der Kreispolizeibehörde begegnet war. Er hatte in ihre grünen Augen geblickt, und ihm war dieses vorsichtige Lächeln aufgefallen, das ihren etwas zu breiten Mund umspielte. Diese Begegnung hatte sein Leben verändert.

Nun hielt Schwiete sein Telefon in der Hand und ging unschlüssig in seinem Wohnzimmer auf und ab. Das tat er schon seit Minuten. Er hatte sich morgens von Karen Raabe mit dem Versprechen verabschiedet, sie heute Abend anzurufen. Sie hatte nur verschlafen genuschelt: »Ich freue mich«, dann hatte sie sich die Decke über den Kopf gezogen und war auch schon wieder eingeschlafen. Und Schwiete hatte sich leise aus dem Schlafzimmer geschlichen.

Jetzt sah er auf seine Uhr und dann wieder auf das Telefon. Was sollte er sagen? »Es war schön gestern Nacht.« Oder sollte er das Gespräch einfach mit der Frage: »Wie geht es dir?«, beginnen? Er war verzweifelt. Obwohl die letzte Nacht die schönste gewesen war, die er je erlebt hatte, war alles auf einmal so kompliziert. Schwiete wusste nicht, wie er mit der Tatsache umgehen sollte, dass er die Nacht mit seiner Freundin Karen Raabe verbracht hatte.

Freundin, dachte Schwiete. Ja, das war es wohl, er hatte eine Freundin. Das erste Mal in seinem Leben hatte er eine Freundin. Er merkte, dass er zufrieden lächelte. Er wunderte sich noch kurz darüber. Dann fiel ihm auf, dass sich bei ihm, gleichzeitig mit diesem Lächeln, ein Glücksgefühl eingestellt hatte. Und im nächsten Augenblick wusste Schwiete, was er zu sagen hatte. Er würde Karen Raabe anrufen und ihr sagen, dass er glücklich sei.

Soweit sich Schwiete erinnern konnte, hatte er das zwar auch noch nie zu jemandem gesagt, aber das schien ihm auf einmal völlig bedeutungslos. Er war glücklich, glücklich, weil Karen Raabe seine Freundin war. Und wenn das so war, dann konnte er ihr das auch so sagen. Das Leben ist so einfach, dachte Schwiete.

Doch dann wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Sein Telefon, das er immer noch in der Hand hielt, klingelte. Er hoffte, dass es Karen Raabe war, die ihn anrief, doch das Display zeigte die Nummer seiner Kollegin Linda Klocke an. Verwundert nahm er den Anruf entgegen. Was die Kollegin ihm da von einem Paar Füße erzählte, die man von einer Regentonne aus durchs Fenster sehen konnte, erschloss sich ihm zwar nicht unmittelbar, er versprach jedoch, sich umgehend auf den Weg zu machen, um ihr bei dem weiteren Vorgehen zur Seite zu stehen.

Mit diesem Anruf war für Schwiete das Leben wieder einen Deut komplizierter geworden. Es galt, verschiedene Fragen zu beantworten. Erst zu der Frau fahren, die auf einer Regentonne stand? Oder erst die Frau anrufen, der er noch vor einer Minute sagen wollte, dass er glücklich sei wie nie zuvor?

Schwiete entschloss sich, das Letztere zuerst zu tun.

Er wählte die Nummer von Karen Raabe. Nach dem zweiten Signalton nahm sie das Gespräch an.

»Ja, bitte?«, vernahm Schwiete ihre Stimme. Die hörte sich seltsam an, fast so, als wäre Karen betrunken. Aber das konnte doch nicht sein. Sie hatte in seinem Beisein noch nie Alkohol getrunken. Egal, Schwiete ging nicht auf Karen Raabes seltsame Artikulationsversuche ein.

»Karen, leider habe ich gerade die Nachricht bekommen, dass soeben wahrscheinlich ein Toter aufgefunden wurde. Ich habe daher nicht viel Zeit, um länger mit dir zu telefonieren. Ich wollte dir aber auf jeden Fall noch sagen, wie glücklich ich darüber bin, dass es dich gibt.«

Es folgte ein kurzes Schweigen, das Schwiete als endlos lang empfand.

»Ich freue mich, dass du das sagst.« Schwiete hörte etwas wie Schluchzen. Weinte sie etwa?

»Was ist mit dir?«, fragte er besorgt. »Geht es dir nicht gut?«

»Alles in Ordnung, Schwiete«, hörte er sie lallen. Bevor sie weiterredete, ertönte ein Schniefen. »Das ist gerade alles ein bisschen viel für mich. Ich erkläre es dir später, nicht jetzt am Telefon.«

Sie legte auf.

Schwiete war verwundert. Er sah den Telefonhörer an, so, als sollte der ihm dann eben all das erklären, was Karen Raabe ihm noch vorenthielt. Zögernd lauschte er einen Moment in die Stille und stellte danach das Telefon zurück in die Ladestation. Ihm ging es nicht anders als Karen Raabe. So viel Neues. Auch für ihn war das alles schwer zu verstehen.

In der Annette-von-Droste-Straße stand das Auto eines Schlüsseldienstes, mit dem die Paderborner Polizei immer mal wieder zusammenarbeitete. Als Schwiete den Garten des von Linda Klocke beschriebenen Hauses betrat, sah er, wie sich ein Mann in oranger Arbeitskleidung an der Eingangstür zu schaffen machte.

Linda Klocke kam ihm entgegen. »Den diensthabenden Richter, den Meier, erreiche ich auf die Schnelle nicht. Das ist im Moment unser Ansprechpartner bei Gericht. Seine Ehefrau sagt, er sei mit seinen Kollegen beim Fußball. Langsam geht mir diese Euphorie auf die Nerven. Mittlerweile dreht sich in dieser Stadt anscheinend alles nur noch um Fußball. Dieses sportliche Hochgefühl macht nicht einmal an der Pforte unseres ehrbaren Gerichts halt. Nicht auszudenken, was passiert, wenn der SC auch noch in die erste Bundesliga aufsteigt, dann geht in Paderborn wahrscheinlich gar nichts mehr.«

Mit einem Klicken sprang die Tür auf, und der Handwerker im orangefarbenen Arbeitsoverall kommentierte das Geräusch mit einem stolzen »Voilà!«.

»Gefahr im Verzug«, sagte Schwiete. »Wir gehen rein.« Er zog seine Waffe und erwartete das Gleiche von Linda Klocke. Die zuckte bedauernd mit den Schultern und flüsterte: »Liegt in der Kreispolizeibehörde.«

Schwiete nickte. »Okay, dann gehe ich alleine. Sie bleiben draußen!«

Leise betrat Schwiete das Treppenhaus. Die dahinterliegende Wohnung wurde durch eine mit Riffelglas versehene Tür abgetrennt. Diffuses Licht schimmerte durch die Scheibe. Als der Polizist die Tür vorsichtig öffnete, sah er, dass eine Wandlampe, die eigentlich dazu diente, ein großes Gemälde ins rechte Licht zu setzen, den jetzt einsehbaren Flur spärlich ausleuchtete. Auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnungseingangs stand eine Tür offen, durch die er ins Arbeitszimmer sehen konnte. Auf dem Boden lag ein menschlicher Körper. Es roch nach Verwesung. Bunte Fliegen tummelten sich auf dem Gesicht und auf der mittlerweile angetrockneten Blutlache, die den Kopf umgab.

4

Es war April, aber während des gesamten Wochenendes sollte es reichlich Sonnenstunden geben. Es schien so, als würde der Mann von der Wettervorhersage recht behalten. Schon als Linda Klocke ihre Haustür hinter sich ins Schloss zog, schien ihr die Morgensonne warm ins Gesicht. Sie genoss diese Helligkeit, dieses Licht und das damit verbundene gute Gefühl. So ein Wetter macht glücklich, dachte sie.

Leider musste sie heute arbeiten. Diese Tatsache schmälerte die Freude über den Sonnentag ein wenig. Gestern Abend, nachdem die Formalitäten, die ein Leichenfund so mit sich brachte, erledigt waren, hatte ihr Chef, Hauptkommissar Schwiete, sie in den Feierabend entlassen. Aber er hatte sie gebeten, um zehn Uhr in der Kreispolizeibehörde zu sein.

Er selbst war geblieben. Jedes Mal, wenn es einen Fall zu lösen gab, hielt er sich, wenn möglich, eine Zeit lang alleine am Tatort auf. Linda Klocke wunderte sich längst nicht mehr über ihren Chef. Denn dies war nur eine der vielen Marotten, die Hauptkommissar Schwiete aufzubieten hatte. Er war ein Eigenbrötler. Diesen Wesenszug kultivierte er und ließ sich auch nicht von seinen Verhaltensweisen abbringen, wenn alle anderen über ihn lästerten.

Die Tatsache, dass Schwiete die Atmosphäre und die Beschaffenheit eines Tatortes geradezu in sich aufnahm, hatte Linda Klocke schon bei ihrem ersten gemeinsamen Fall bemerkt. Damals hatte sie dieses Verhalten ihres Chefs noch verwundert, ja, sie war geradezu irritiert von dem gewesen, was sie beobachtet hatte. Schwiete hatte einfach nur dagestanden und scheinbar wahllos in die Gegend gestarrt. Linda Klocke fand, dass er in solchen Momenten wie ein indianischer Schamane wirkte, der sich in eine Trance begeben hatte.

Ihr Kollege Kükenhöner machte sich über Schwietes Art, an einen Fall heranzugehen, lustig. Doch es war jedes Mal das Gleiche. Später, wenn alle anderen die Details aus dem Auge verloren hatten, bewiesen sich Schwietes Fähigkeiten, sein akribisches Arbeiten und sein Elefantengedächtnis, oft als ausgesprochen hilfreich. Noch Wochen später konnte er sich an irgendwelche Zusammenhänge erinnern und hatte auch Einzelheiten nicht aus den Augen verloren.

Linda Klocke war absichtlich etwas früher ins Büro gefahren, um sich ihre Aufzeichnungen vom Vorabend noch einmal in Ruhe anzusehen. Doch kaum hatte sie ihr Notizbuch aufgeschlagen, da betrat Kükenhöner missmutig ihr Büro. Ohne Rücksicht auf seine Kollegin zu nehmen, fläzte er sich auf einen Stuhl und streckte die Beine aus. Noch bevor er eine wirklich bequeme Sitzposition gefunden hatte, begann er schon damit, seiner schlechten Laune Ausdruck zu verleihen.

»Das mit dem Aufstieg in die erste Bundesliga, das wird nie was. Verlieren diese Deppen doch zwei zu eins gegen Düsseldorf. Wenn diese Fußballanalphabeten schon bei einer solchen Gurkentruppe wie der Fortuna die Punkte liegen lassen, dann verlieren die gegen Mannschaften wie Greuther Fürth zweistellig.«

Kükenhöner riss sich den blau-weiß-schwarzen Schal vom Hals und pfefferte ihn auf Linda Klockes Schreibtisch.

Die war sichtlich genervt.

»Wenn das mit dem Aufstieg so hoffnungslos ist, warum trägst du dann Tag und Nacht diesen stinkenden Wollschal mit dir rum?«

Kükenhöner winkte ab.

»Habe ich meinem Sohn versprochen. Wir haben uns geschworen, unseren Schal mit den Vereinsfarben Paderborns so lange zu tragen, bis die Mannschaft aufgestiegen ist.«

Linda Klocke grinste kurz, um anschließend eine gespielt sorgenvolle Miene aufzusetzen.

»Wenn das mit dem Aufstieg, wie du sagst, wieder mal nichts wird, dann bitte ich aber darum, dass du dir für die nächsten Jahre ein eigenes Büro zuteilen lässt. Vermutlich wirst du dieses jetzt schon stinkende Teil bis zum Sankt Nimmerleins-Tag tragen müssen. Und das ist wirklich niemandem zuzumuten.«

Kükenhöner wollte gerade etwas entgegnen, da klopfte Schwiete an die offen stehende Tür.

»Prima, dass ihr schon alle im Hause seid. Dann können wir ja gleich anfangen.«

Kükenhöner verzog verächtlich sein Gesicht.

»Was ist überhaupt los, Horsti, dass du an einem so schönen Samstag nach uns verlangst?«

»Leichenfund in der Annette-von-Droste-Straße«, antwortete Linda Klocke für ihren Chef, schnappte sich ihre Unterlagen und folgte Schwiete ins Besprechungszimmer.

Nachdem alle Platz genommen hatten, begann der Hauptkommissar mit seinem Bericht.

»Bei der Kreispolizeibehörde Paderborn ist gestern ein anonymer Anruf eingegangen. Bei der Person, die dieses Telefonat tätigte, handelte es sich wahrscheinlich um eine Frau. Sie meldete einen gewissen Lorenz Plückebaum als vermisst. Die Kollegin Klocke machte einen Kontrollbesuch in der Annette-von-Droste-Straße und fand eine Leiche, die sich meines Erachtens schon in einem fortgeschrittenen Verwesungsstadium befand. Im Moment deutet alles darauf hin, dass der Mann, den wir vorfanden, erschossen wurde. Bei dem Toten handelt es sich, das wissen wir mittlerweile, in der Tat um Lorenz Plückebaum. Die anonyme Anruferin, das haben wir mittlerweile auch herausgefunden, war die Putzfrau des Toten. Die wollte sich nicht zu erkennen geben, weil es sich bei der Putzstelle um eine nicht beim Finanzamt angemeldete Tätigkeit handelte. Als mögliche Täterin kommt die Frau mit größter Wahrscheinlichkeit nicht infrage.«

Schwiete ordnete seine Unterlagen und damit seine Gedanken.

»Lorenz Plückebaum, der Tote, war alleinstehend, ein pensionierter Lehrer. Sein gesamtes Haus gleicht einem Museum für moderne Malerei. An jeder auch noch so kleinen Wandfläche seines Hauses hängen Bilder oder stehen Regale mit Kunstbänden. Im Keller des Hauses sind wir auf eine eingemauerte Tresortür gestoßen. Sie ist verschlossen, und den dazugehörigen Schlüssel konnten wir bisher nicht auftreiben.«

Wieder schob der Hauptkommissar seine Zettel hin und her. Auch diesmal, um etwas Zeit zum Nachdenken zu haben. Dann räusperte er sich und setzte seinen Bericht fort.

»Die Leiche weist eine Schusswunde auf. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Mann daran gestorben ist. Eine Obduktion hat bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht stattgefunden. Daher können wir, was die Todesursache angeht, bis jetzt nur Vermutungen anstellen.«

Schwiete sah in die Runde.

»Frau Klocke, haben Sie noch etwas zu ergänzen? Gibt es Verwandte, die wir benachrichtigen müssen?«

Die Polizistin schüttelte den Kopf.

»Bisher ist unklar, weshalb Lorenz Plückebaum sterben musste«, fuhr der Hauptkommissar fort. »Die Annahme, dass sich in seinem Haus vielleicht einige wertvolle Bilder befanden, die eventuell gestohlen wurden, ist nur eine Vermutung und damit auch nur eine Richtung, in die wir ermitteln müssen. Um in dieser Frage weiterzukommen, habe ich heute Morgen schon versucht, jemanden vom LKA zu erreichen. Bei den Kollegen in Düsseldorf gibt es einige Spezialisten, die sich auf die Aufklärung von Straftaten im Zusammenhang mit Kunst spezialisiert haben.«

Kükenhöner meldete sich.

»Das ist ja alles gut und schön, Horsti, hört sich aber trotzdem an, wie wenn jemand mit der Stange im Nebel stochert. Alles nur Vermutungen, die hättest du uns auch Montag noch mitteilen können. Jetzt habe ich mir den Samstagmorgen um die Ohren gehauen, um von dir Informationen über eine eventuelle Straftat zu bekommen, über die wir heute sowieso nichts mehr herausfinden werden.«

Alle Kollegen kannten Kükenhöners unnachahmliche Art. Selbst sein Chef Schwiete machte sich nicht mehr die Mühe, mit ihm zu streiten. Daher ging er auch heute Morgen über die unangemessenen Worte seines Mitarbeiters hinweg. Ohne jede Emotion sagte er: »Es kann durchaus sein, dass du mit deiner Sicht der Dinge richtigliegst, Karl. Aber das ist nur eine Möglichkeit von vielen. Um also jede Eventualität auszuschließen, beginnen wir noch heute mit dem kleinen Einmaleins der Polizeiarbeit. Will sagen, Klinken putzen. Wir sollten noch heute alle Nachbarn abklappern und sie fragen, ob ihnen in den letzten Wochen etwas aufgefallen ist. Wir sollten sie nach Besuchern fragen, die Lorenz Plückebaum regelmäßig konsultiert haben, und so weiter. Ihr kennt ja alle das Geschäft.«

Jetzt sah Kükenhöner seinen freien Samstag gerade im Nirwana verschwinden.

»Nee, Horsti, das kann jetzt wirklich nicht dein Ernst sein. Wir können doch nicht an einem Wochenende die Nachbarn von diesem Plückebaum stören, wenn es nicht wirklich nötig ist. Ich sehe die sauertöpfischen Mienen der Leute vor mir und höre schon die unverschämten Antworten der Personen, die sich durch unsere Befragung um ihre Samstagsruhe gebracht fühlen. Und soll ich dir etwas sagen, Horsti? Ich kann die Leute verstehen.«

Doch Schwiete blieb hart.

»Keine Diskussion, Karl! Je früher wir anfangen, umso größer ist die Chance, Plückebaums Tod so schnell wie möglich aufzuklären. Also, auf geht’s!«

Auch wenn Kükenhöner gerne weiter gegen Schwietes Anweisung interveniert hätte, so gaben ihm die beiden anderen keine Chance. Es wurden Stühle gerückt, Unterlagen zusammengeschoben und sonstige Vorbereitungen getroffen. Karl Kükenhöners Lamento wurde einfach ignoriert.

Der Samstag war arbeitsintensiv gewesen. Die Paderborner Polizei hatte die Nachbarn befragt. Jedoch bis jetzt erfolglos. Linda Klocke war noch dabei, die Ergebnisse auszuwerten. Vielleicht ergaben sich ja im Nachhinein noch weitere Erkenntnisse.

110

Schwiete überlegte einen Moment.

»Wenn du möchtest, bleibe ich heute Nacht bei dir. Sollten diese Typen noch einmal auf die Idee kommen und sich Zutritt zu deiner Wohnung verschaffen wollen, werden sie sich wundern.«

»Eigentlich möchte ich das nicht«, entgegnete Karen Raabe. »Für meine Dinge bin ich selbst verantwortlich. Aber ich habe einfach im Moment nicht die Kraft dazu. Du würdest mir sehr helfen, wenn du heute Nacht hierbleiben würdest.«