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Das Buch

Für die Schöffin Ruth Holländer beginnt das zweite Amtsjahr. Erneut wurde sie als ehrenamtliche Richterin zu Fällen des Schwurgerichts zugelost. In ihrem ersten Prozess des neuen Jahres steht der Rentner Jürgen Dombroschke vor Gericht. Er ist angeklagt, seine Frau Margit mit Rattengift ge­tötet zu haben. Dombroschke bekennt sich weder schuldig, noch weist er die Schuld von sich. Er beharrt darauf, seine Frau nicht vorsätzlich vergiftet zu haben, räumt aber ein, dass das Rattengift durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle ins Essen der kranken Frau geraten sein kann. Sein Anwalt plädiert auf Freispruch, da es der Polizei nicht gelungen ist, dem Rentner die Tat eindeutig nachzuweisen. Allerdings kommt auch kein anderer Täter in Frage, es gibt außer für den Ehemann für niemand anderen ein Motiv. Ruth Holländer ermittelt …

Die Autorin

Judith Arendt ist das Pseudonym einer erfolgreichen Krimi-Autorin. Sie schreibt gelegentlich Drehbücher für deutsche Fernsehserien und sieht umso lieber amerikanische. Ihre Leidenschaft gilt dem Kriminalroman, insbesondere dem skandinavischen und britischen. Judith Arendt lebt mit ihrer Familie seit einigen Jahren in der Nähe von München. Sündenbock ist der zweite Krimi mit der Schöffin Ruth Holländer.


Von Judith Arendt ist in unserem Hause bereits erschienen:

Unschuldslamm

JUDITH ARENDT

SÜNDENBOCH

EIN FALL FÜR

SCHÖFFIN RUTH HOLLÄNDER

Kriminalroman

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage März 2015

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: Landschaft mit Tor: © Radius Images/getty images; Haus: © Sam Chrysanthou/getty images


ISBN 978-3-8437-0966-8


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Für Papi

Ich bin so dankbar, dass Du dieses Buch noch lesen konntest

Berlin-Reinickendorf, Emmentaler Strasse,
ein Donnerstagabend im August

Sie wünschte sich inständig, weinen zu können. Dass sie jetzt, wo sie hier lag und im Dunkeln an die Decke starrte, die sanfte Berührung der Tränen würde spüren können, die ihr langsam über die Wangen liefen. Nicht heulen, nicht ­Bäche von Wasser wollte sie vergießen. Aber ein tröstliches Rinnsal auf ihrer Haut, das war es, was sie sich herbeisehnte. Sie war ja bescheiden geworden. Aber so viele Jahre schon waren ihre Tränen versiegt, dass es kaum Hoffnung auf Erfüllung ihres Wunsches gab. Vielleicht war das die späte Strafe, weil sie den Fluss der Tränen stets als Schwäche begriffen hatte, weil sie sich verachtet hatte, wenn ihr das Wasser in den Augen stand. Aber nun sehnte sich Margit Dombroschke danach, dass die Tränen flossen. Ein bisschen, ein kleines bisschen nur. Damit sie sich beweinen konnte. Sie war es so leid. Ihr Schicksal, ihren Körper, ihr Leben, das längst keines mehr war.

Vor allem aber ihn.

Sie hasste ihn, weil sie ihm ausgeliefert war. Weil sie aneinandergekettet waren, ohne dass sie jemals imstande sein würde, diese Schicksalsgemeinschaft aufzulösen. Nicht so er. Er konnte gehen, wann und wohin er wollte. Er konnte sie hier liegenlassen; sie würde verhungern, verdursten, sie würde sich wundliegen, die Wunden würden schwären, nässen, sich entzünden. Schließlich würde ihr Herz vor Erschöpfung und Verdruss aufhören zu schlagen. Aber was dann folgen würde, war noch widerlicher, als einfach nur zu sterben. Fliegen. Kleine Insekten, die ihre Eier ablegen würden. In ihrem Körper! Maden würden schlüpfen, Tausende. Und sich wimmelnd ihres Körpers bemächtigen. Würden an ihrem schimmligen Fleisch fressen, neue Fliegen hervorbringen, ganze Schwärme, bis das Zimmer schwarz wäre von ihnen. Und da würde sie liegen, ein abgenagtes Skelett, mit Fetzen verfaulten Fleisches inmitten von Millionen Insekten. Niemand würde es bemerken.

Aber er würde tanzen.

Bei dem Gedanken spürte sie ihre Beine. Das Kribbeln begann, und Margit wusste, dass dann das Dunkel kam. So begann es meistens, zumindest nachts, wenn sie in dem Bett lag, fast unbeweglich, und auf den Schlaf wartete. Vielleicht war es aber auch der Gedanke an die Insekten gewesen, der nun das Kribbeln hervorrief. Und die Zuckungen. Diese furchtbaren unkontrollierten Zuckungen, die ihre mageren Beine schüttelten. Die Bettdecke verrutschte, sie spürte den kalten Luftzug an den Zehen. Panisch versuchte sie, sich irgendwo festzukrallen, sie spreizte mühsam den rechten Arm ab. Mehrere Zentimeter nur bewegte er sich von ihrem Körper weg in Richtung des metallenen Geländers, das ihr Krankenbett umgab. Dort irgendwo war auch der Knopf. Der rote Knopf an der Schnur, den sie drücken sollte, wenn sie Hilfe brauchte. Aber sie wollte keine Hilfe, nicht von ihm, und so vermied sie es, dem Knopf auch nur zu nahe zu kommen. Ihre Finger, steif und gekrümmt wie Krallen, spürten das Metall des Gitters, und Margit versuchte, all ihre Willenskraft aufzubringen, um die Muskeln ihrer Hand dazu zu bewegen, sich um das Gitter zu schließen, sich daran festzuhalten. Ihre Beine wurden so geschüttelt von den Zuckungen, dass sie fast in die Luft flogen, die Decke war zur Seite gerutscht. Margit presste ihre Zähne aufeinander, bis ihr Kiefer krampfte, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr der Speichel rechts und links aus den Mundwinkeln rann. Die Zunge spürte sie wie einen dicken Teigklumpen im Mund, der immer größer zu werden schien und sie zu ersticken drohte.

Sie wusste, was nun kam, sie konnte es nicht aufhalten, aber sie stemmte sich mit all der ihr verbliebenen Kraft dagegen. Die Augen verdrehten sich unter den Lidern, ihr Kopf wurde schwer, ihr Denken dumpf.

Plötzlich öffnete sich die Tür. Er war da, kein Zweifel. Sie nahm den hellen Lichtschein noch wahr, den die offene Tür aus dem Flur in ihr Zimmer ließ.

»Margit?«

Seine Stimme. Sie wollte schreien, aber sie verlor die Kontrolle. Das Metallgitter glitt ihr aus der rechten Hand, sie hatte keinen Halt mehr.

Das Dunkel kam und griff nach ihr, bis es sie verschlungen hatte.

Berlin-Neukölln, Weserstrasse,
am selben Abend etwas später

Die Beats rüttelten sie völlig durch, Ruth spürte die Bässe auf der Kopfhaut ebenso wie in den Zehen. Gar nicht so unangenehm eigentlich, aber sie wusste gleichzeitig, dass sie morgen so gut wie taub sein würde, und das war eine weniger schöne Vorstellung. Aber heute war heute, und es war ihr gerade ganz egal, wie sie sich morgen fühlen würde.

Ruth Holländer nahm noch einen weiteren Schluck von dem Bier aus der Flasche und schob ihre linke Hand in die hintere Hosentasche von Hannes’ Jeans. Der hochgewachsene Staatsanwalt versuchte, im Takt der Musik, die die Jungs vorn auf der Bühne machten, zu wippen, aber es wollte ihm nicht so richtig gelingen. Was ihn für Ruth noch unwiderstehlicher machte.

Hannes Eisenrauch – ihr Freund? Lover? Partner? Ja, was eigentlich? – war auf den ersten Blick ein Traum von einem Mann. Groß, schlank, Anfang fünfzig, eisgraues volles Haar, von ausgesuchtem guten, da lässigen Kleidergeschmack, ein formvollendeter Gentleman. Ein Mann also, den Ruth, bevor sie ihn kennengelernt hatte, als aalglattes Arschloch bezeichnet hätte. Eigentlich. Aber seit über einem halben Jahr waren sie sich so nahe gekommen, dass Ruth seine kleinen und großen Macken aufgedeckt und lieben gelernt hatte. Da war zum einen dieser leichte musikalische Autismus. Eisenrauch liebte Musik – vielleicht, weil ihm jegliche musikalische Ader fehlte. Er sang gern laut und inbrünstig bei jedem schlechten Song mit, den sein Autoradio dudelte. Leider traf er keinen Ton, fand den Rhythmus nicht und kannte kaum eine Textzeile. Wenn er mit seinen langgliedrigen und kräftigen Fingern den Rhythmus eines Songs auf dem Lederlenkrad seines SUVs mittrommelte, beobachtete Ruth amüsiert, dass die Finger zwar spastisch zuckten, aber nichts mit der Melodie gemein hatten.

Sie kniff ihn durch die Tasche in sein exzellentes Hinterteil, während Eisenrauch irgendwie entrückt auf die Bühne blickte, mit dem Kopf dezentes Headbanging andeutete und ungeschickt in den Knien wippte. Asynchron versteht sich.

Ruth lehnte sich glücklich an ihn und sah sich um. Dass er heute Abend hierhergekommen war, war ein kleines Wunder. Sie befanden sich mit ungefähr dreißig Leuten in einem dunklen Kellerraum, den Lukas, Ruths Sohn, euphemistisch als »dezent beleuchtet« bezeichnet hatte. Die Wände waren unverputzt, vereinzelt klebten auf den rohen Backsteinwänden noch Plakate oder Fetzen davon. Der Akustik war das nicht förderlich und verleitete den Tontechniker hinter dem Mischpult dazu, gnadenlos zu übersteuern. Er schien das nicht zu bemerken, seine gehäkelte überdimensionierte Rastamütze in den Farben Jamaikas wippte lässig auf und ab, die Finger glitten flink über die Regler, und überhaupt machte der junge Mann den Eindruck, sehr zufrieden mit sich zu sein.

Leider wusste Ruth auch, warum das so war: Der Mann am Mischpult war zugekifft bis unter die Hutschnur. Und dessen war sie sich so sicher, weil es sich um den besten Kumpel ihres Sohnes handelte. Dieser wiederum ging in diesem Moment vorn auf der Bühne theatralisch in die Knie, beide Hände um das Mikrofon geklammert, den Kopf in den Nacken geworfen, die Augen geschlossen, und machte einen Ton, als hauchte der Werwolf, der während des Auftritts von ihm Besitz ergriffen hatte, endlich sein Leben aus. Schließlich ließ sich Lukas rückwärts auf den hölzernen Boden der improvisierten Bühne fallen, den Mikrofonständer zwischen den Beinen. Das Bühnenlicht wurde für einen Moment ganz ausgeschaltet, und die Zuschauer klatschten mehr oder weniger motiviert.

Hannes Eisenrauch hob seine Bierflasche in die Höhe und rief laut: »Uhhuuu!«

Dann sah er zu Ruth hinunter, grinste und küsste sie.

»Eine super Nummer!«, sagte er mit bebender Begeisterung.

»Heb dir die Euphorie für Lukas auf«, erwiderte Ruth lachend, die die musikalische Leistung ihres Sohnes eher durchschnittlich fand. Aber es war sein erstes Konzert, und als Lukas ihr zehn Tage zuvor davon erzählt und sie sogar eingeladen hatte, war sie äußerst skeptisch gewesen, ob es dazu überhaupt kommen würde. Denn natürlich war Lukas nur bei ihr aufgeschlagen, um ihr zweihundert Euro aus der Tasche zu ziehen – Raummiete. Ruth hatte ihrer Verwunderung Ausdruck verliehen, dass man als auftretender Künstler finanziell in Vorleistung gehen sollte, ihrer naiven Auffassung nach trat man auf, um Einnahmen zu generieren, aber sie hatte sich dafür von Lukas als total oldfashioned abkanzeln lassen müssen. Laut ihrem Sohn war es heutzutage ein Geschenk, eine einmalige Chance, ein Sechser im Lotto, wenn man als unbekannte Band in Berlin überhaupt eine Auftrittsmöglichkeit bekam. Auch, wenn es sich um einen Raum mit nichts drin im Souterrain eines leerstehenden Mietshauses in Neukölln handelte.

Sie hatte also die zweihundert Euro als Darlehen rübergerückt und sich dafür die halbgare Einladung zum Konzert eingehandelt. Lukas war wohl davon ausgegangen, dass sie sowieso nicht erscheinen würde. Ebenso wie Ruth selbst, die niemals mit Hannes’ Zusage gerechnet hatte, als sie ihn einlud, sie zu begleiten. Ihre gemeinsamen Abende waren allzu rar, manchmal trafen sie sich wochenlang nicht. Das lag zum einen an Eisenrauchs Arbeitspensum – er hatte doppelt so viele Fälle auf dem Tisch, als er eigentlich sollte – und zum anderen an dem großen Makel, den er in ihre Beziehung mitgebracht hatte. Er war nämlich, im Gegensatz zu Ruth, noch verheiratet.

Nun erklangen aus einer Ecke des Raumes, in der Nähe der Bühne, die ersten »Zugabe«-Rufe. Ruth glaubte, die Clique ihrer Tochter Annika dort zu erkennen, sie war mit etwa zehn Leuten zum Konzert ihres Bruders erschienen. Mit Hannes und mir zusammen sind wir fast schon die Hälfte des Publikums, dachte Ruth, und in Anbetracht der Tatsache, dass sie alle auf der Gästeliste gestanden hatten, sah sie ihre Chancen, dass Lukas seine Schulden bei ihr mit den Einnahmen des heutigen Abends beglich, als verschwindend gering an.

Lukas und seine Band ließen sich nicht lange bitten, sie kamen auf die Bühne, noch bevor die wenigen »Zugabe«-Rufe endgültig verhallt waren.

»Studiert er eigentlich noch?«, erkundigte sich Hannes Eisenrauch bei Ruth und brüllte damit gegen das Fiepen von Lukas’ Mikrofon an.

Ruth zuckte mit den Achseln. Lukas war im dritten ­Semester an der Uni eingeschrieben, aber ob und mit welchem Erfolg er überhaupt seinem Studium nachging, blieb ihr ein Rätsel. Sie fragte ab und zu, bekam ausweichende Antworten und gab sich damit um des lieben Friedens willen zufrieden. Von ihr aus musste Lukas nicht studieren. Hauptsache, er wurschtelte sich durch und war glücklich dabei. Diese Auffassung teilte ihr Exmann Johannes aber in keiner Weise. Er unterstützte die Kinder finanziell (allerdings nicht mehr als Ruth) und wollte dafür auch eine Gegenleistung sehen. Eine gute Abiturnote, ein schnelles Studium, einen ordentlichen Abschluss. Ruth unterstellte, dass Johannes seine Kinder deshalb einem Leistungsdiktat unterwarf, weil er, nicht zu Unrecht, hoffte, dass sie so rasch auf eigenen Füßen stehen und ihm nicht länger auf der Tasche liegen würden. Seltsamerweise ließen sich Lukas und Annika diese Forderungen von ihrem Vater eher gefallen als von ihr. Nur die leiseste Andeutung Ruths, Annika könne vielleicht mal in ihre Bücher schauen und sich, immerhin war sie nun in der Kollegstufe, auf ihre Seminare vorbereiten, rief bei ihrer Siebzehnjährigen wilde Proteste hervor.

Während Lukas jetzt auf der Bühne zur Akustikgitarre gegriffen hatte und eine Ballade im Stil von Johnny Cash (ausgerechnet!) zum Besten gab, bemerkte Ruth, dass Hannes verstohlen auf seine Uhr guckte. Sie konnte es ihm nicht übelnehmen, sie war selbst hundemüde. Keiner von ihnen war es gewohnt, sich unter der Woche zu später Stunde in verräucherten Kellern bei zu lauter Musik herumzutreiben. Ruth hatte ihr kleines französisches Bistro um neunzehn Uhr verlassen, ihre Freundin und Kollegin Jamila hatte für sie das Aufräumen und Zusperren übernommen. Dann war sie rasch nach Hause geeilt, um sich aufzubrezeln, und um acht Uhr war Hannes vorgefahren, um sie abzuholen.

Das Konzert hatte um halb neun beginnen sollen, aber als sie kurz danach eintrafen, war die Band noch mit dem Soundcheck beschäftigt gewesen. Mit über einer Stunde Verspätung war es endlich losgegangen. Jetzt war es kurz nach elf, und Ruth spürte den Arbeitstag in den müden Knochen. Morgen klingelte der Wecker wieder um halb sechs, der Besuch des Großmarkts in der Beusselstraße stand auf dem Programm.

»Wir müssen nicht bis zum Schluss bleiben«, schrie sie Hannes ins Ohr. »Lukas ist bestimmt froh, wenn die Groupies nicht mitkriegen, dass seine Mami hier ist …!«

Hannes nickte, nicht im Takt versteht sich, nahm ihr die leere Bierflasche aus der Hand und brachte sie, zusammen mit seiner, zum Tresen, der aus vier aufeinandergestapelten Bierkästen bestand, bewacht von einer fingernägelknabbernden Minderjährigen im Gruftilook.

Ruth nahm dies zum Anlass, ihrer Tochter eine Mitfahrgelegenheit anzubieten. Aber wie erwartet wurde das An­ge­bot ausgeschlagen. Ruth erinnerte Annika überflüssigerweise daran, dass am morgigen Tag Schule war und Neukölln mit dem öffentlichen Nahverkehr einigermaßen weit weg von Moabit, erntete dafür aber nur genervtes Augenverdrehen. Zu ihrer großen Erleichterung versicherte ihr Annikas derzeitiger Freund (wie hieß der eigentlich?), dass er seine Flamme wohlbehalten zu Hause abliefern würde.

Ruth Holländer und Hannes Eisenrauch machten sich auf den Weg. Sie mussten nicht allzu weit laufen, hier in der Gegend bekam man ab und zu noch Parkplätze, ohne stundenlang um den Block kurven zu müssen. Doch das Glück über die günstige Parkgelegenheit wurde beim Anblick von Hannes’ Luxusschlitten getrübt. »Kack« war in großen Lettern mit schwarzer Farbe auf die eine Seite des silbernen BMWs gesprüht. »Arsch« zierte die andere. Fassungslos um­rundete Hannes seinen Wagen. Einmal, zweimal. Dreimal. Er stöhnte und schüttelte den Kopf.

»Wir hätten lieber die U-Bahn nehmen sollen«, war der geistreiche Kommentar, der Ruth dazu einfiel und den ihr Freund dann auch lieber kommentarlos stehen ließ. Dafür kam der Wutausbruch.

»Scheiße, verdammte!«, schrie der smarte Staatsanwalt und trat mit seinen rahmengenähten Budapesterschuhen wütend an die Reifen seines Wagens.

»Ihr habt sie doch nicht mehr alle! Blöde Antikapitalisten!«, hallte seine Stimme zwischen den Mietshäusern empor. Auch wenn er nicht hoffen konnte, die Täter mit seiner Wutattacke leibhaftig zu erreichen, so regte sich auch sonst nichts und niemand. Die Straße war menschenleer, hinter den erleuchteten Fenstern zeigte sich nicht einmal das Gesicht eines besorgten Mitbürgers, der gucken wollte, wer auf der Straße so herumschrie. Eisenrauchs Gebrüll verhallte ungehört und prallte an der Berliner Bräsigkeit einfach ab.

Mit einer schwarzen Wolke über der Stirn öffnete der Staatsanwalt die Türen des Wagens und bat Ruth stumm einzusteigen. Er startete den Motor, rangierte aus der Parklücke und raste mit hochtourigem Motor aus der Weserstraße.

In Höhe des Hermannplatzes ermannte Ruth sich und erkundigte sich zaghaft, ob Hannes nicht die Polizei rufen wolle.

Eisenrauch schnaubte. »Wozu? Dass wir uns die Nacht auf dem Neuköllner Polizeirevier die Beine in den Bauch stehen und die Jungs dort von ihrer Arbeit abhalten?! Hör doch auf!«

»Ich meine ja nur … wegen der Versicherung«, gab Ruth zurück.

Eisenrauch warf ihr einen flüchtigen Blick zu.

»Ich hab keine Zeit für den Schreibkram. Und nachher ersetzen sie mir den Schaden ja doch nicht.«

Sie schwiegen. Eisenrauch ärgerte sich über den verunzierten Wagen, Ruth über den verpatzten Abend. Sie hatte mal wieder gehofft … Aber auch heute Abend war die Hoffnung, dass er in dieser Nacht bei ihr bleiben würde, vergeblich. Sie und der Staatsanwalt waren seit Monaten ein Paar, aber sie hatten erst wenige Nächte miteinander verbracht. Immer kam etwas anderes dazwischen, stets fand Hannes Eisenrauch einen Grund, warum er nicht mit zu ihr kam. Er lebte in Trennung von seiner Frau, wollte eigentlich längst ausgezogen sein, aber verschob es immer wieder. Der Kinder wegen. Ruth wusste nicht, ob Hannes seine Beziehung mit ihr geheim hielt oder ob seine Frau davon wusste. Jedenfalls wollte er nie mit zu Ruth kommen, bei ihr bleiben, in ihrem Bett schlafen. Die schönsten Nächte, die sie miteinander verbracht hatten, waren einem »Weiterbildungsseminar« geschuldet gewesen, das Eisenrauch vorgeschoben hatte, um seiner Frau seine Abwesenheit an einem Wochenende zu erklären. Es war ein himmlisches Wochenende gewesen. Aber es war eben auch nur eines gewesen, und das war jetzt auch schon verdammt lange her.

Als Hannes in der Oldenburger Straße vor ihrem Haus in zweiter Reihe hielt, wusste Ruth natürlich, dass sie sich einen weiteren Vorstoß in Richtung gemeinsam verbrachter Nacht sparen konnte, aber der Teufel ritt sie, und sie tat es trotzdem.

»Willst du nicht mit hochkommen?«, fragte sie ihn und ließ die Hand über seine Wange gleiten.

Sie sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, ihr schon wieder eine Absage zu erteilen. Aber warum sagte er dann nicht einfach ja?

»Es ist schon so spät«, wand er sich, »ich muss morgen früh raus.«

Ruth schloss die Augen und lehnte sich an ihn. Sie hatte einen Kloß im Hals und musste sich sehr überwinden, ihm die Frage zu stellen.

»Warum, Hannes? Warum kommst du nie zu mir? Ich meine …« Ihre Stimme wurde brüchig, und sie schwieg. Ruth wollte nicht klammern. Sie wollte nicht bitten und betteln, aber so, wie ihre Beziehung sich entwickelt hatte, war sie nicht glücklich.

Eisenrauch legte ihr den rechten Arm um die Schultern und zog sie noch enger an sich. Er streichelte mit der Linken ihre Wange, ihren Hals und küsste sie schließlich auf den Scheitel. Aber er antwortete nicht.

Ruth schloss die Augen. Sie roch ihn so gern. Die Mischung aus der Wolle seines Jacketts, einer ganz leichten herben Schweißnote und seinem Aftershave. Der Geruch stimmte sie traurig. Sollte ihre Liebesgeschichte schon zu Ende sein, bevor sie überhaupt begonnen hatte?

»Deine Frau?«, rang sie sich schließlich durch zu fragen. Die Scheiben des SUVs waren schon beschlagen, und Hannes unternahm zum Glück keinen Versuch, die Lüftung oder Heizung anzustellen. Die Welt verschwand um sie her­um, und sie hatte ihn ganz für sich, dachte Ruth. Was so selten war.

»Nicht nur«, kam es zögerlich von ihm. »Es ist … ich bin einfach durch den Wind. Vielleicht kann ich dir im Moment nicht das geben, was du willst.«

Was für ein Scheißsatz! Mit einem Ruck löste sich Ruth aus der Umarmung und nahm den größtmöglichen Abstand zu Eisenrauch ein, der sie erst erschrocken und dann wie ein begossener Pudel ansah.

»Hör doch auf, mich vorzuschieben!«, ging sie ihn an. »Du weißt doch gar nicht, was ich will! Du gibst dir nicht mal die Mühe, es herauszufinden!«

Sie öffnete wütend die Autotür, aber Hannes hielt sie am linken Arm fest.

»Entschuldige, Ruth. Das war blöd.«

Eigentlich wollte Ruth sich am liebsten losreißen und die Autotür mit Wucht zuknallen, aber sie war auch kein Teenager mehr. Also blieb sie sitzen und sah ihn an.

»Ich will mit dir zusammen sein«, sagte er. Fast flehentlich. »Ich will, ich will, ich will. Bitte glaub mir das.«

Sie sah in seine Augen. Jetzt nicht weich werden, Ruthie.

»Aber?«, krächzte sie mit belegter Stimme.

»Aber es ist nicht leicht. Nicht nur wegen meiner Frau. Und der Kinder. Es ist auch der Job …«

»Ich hab auch viel zu tun, Hannes«, fiel sie ihm ins Wort. »Aber man kann sich die Zeit schon nehmen.«

»Das ist es nicht«, unterbrach er sie seinerseits. »Aber du und ich … Staatsanwalt und Schöffin …«

Er brauchte nicht weiterzusprechen. Sie wusste nur zu gut, was er meinte. Es war eine ungute Paarung. Beide am selben Gericht. Jeder Fall, dem sie als Schöffin zugelost werden konnte, konnte sie beruflich zusammenführen. Und das war absolut verboten. Die ehrenamtlichen Richter durften sich mit anderen am Fall beteiligten Personen, also auch den Staatsanwälten, nicht über den Fall unterhalten. Am besten gar nicht unterhalten, um nicht in Verdacht der Befangenheit zu geraten. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, dass sie gemeinsam einem Fall zugeteilt wurden, gering angesichts der großen Zahl an Staatsanwälten und noch mehr Schöffen am Berliner Landgericht, aber dennoch. Sie hielten ihre Beziehung auch am Gericht geheim.

»Aber für dieses Jahr haben wir keinen gemeinsamen Fall, und wer weiß schon jetzt, was im nächsten Jahr wird?«, entgegnete Ruth, und sie war sich bewusst, wie kläglich ihr Einwand klang.

»Ich weiß, es ist idiotisch. Aber es kommt so viel zusammen.« Eisenrauch sah total zerknirscht aus.

»Aber worauf willst du warten? Ich bin noch über vier Jahre bei euch am Gericht. Willst du mich so lange hinhalten? Dich so lange quälen? Oder noch besser: bis deine Kinder volljährig und aus dem Haus sind?« Ihre Stimme klang schrill, und Ruth legte eine Pause ein. Dann stieg sie aus dem Wagen und blieb auf dem Trottoir stehen.

»Leb dein Leben jetzt, Hannes. Ehrlich. Ich weiß, wovon ich rede.« Dann schlug sie die Autotür zu. Hannes Eisenrauch startete den Motor, und Ruth sah mit tränenverschleierten Augen, wie der silberne »Kack«-Wagen die Oldenburger Straße hinunterschoss.

Berlin-Reinickendorf, Marktstrasse,
zwei Wochen später, Montagvormittag

Erst als die Verkäuferin die Packung mit den Keksen scannte, fiel ihm auf, dass er sie gar nicht hätte kaufen müssen. Aber Jürgen Dombroschke traute sich dann nicht mehr, den Kauf rückgängig zu machen. Er mochte die Kekse nicht, er kaufte sie für Margit. Sie hatte schon immer ein Faible dafür gehabt, für diese kleinen runden Biskuitkekse, gefüllt mit Orangenglibber, überzogen mit dunkler Schokolade. Er ekelte sich vor dem Glibber. Aber vielleicht würde er die Kekse verschenken. Sicherlich gab es jemanden, der sich darüber freuen würde.

Dombroschke öffnete den Einkaufsbeutel und ließ die zwei Dosen Bier, den eingepackten Schinken, Käse, Silberzwiebeln und die Tafel Nussschokolade hineingleiten. Er zahlte, wünschte der Kassiererin einen schönen Tag, was diese aber gar nicht mehr hörte, weil sie bereits die Waren des nächsten Kunden übers Band zog, und verließ den Discounter.

Vor dem Eingang saß ein junges Mädchen, eine Punkerin. Sie hatte geringelte Strumpfhosen an, kaputt und schmutzig, einen kurzen schwarzen Cordrock und schwere Stiefel. Sie saß immer vor dem Geschäft, jeden Morgen, wenn Dombroschke kam, um seine Einkäufe zu machen, saß sie dort auf der Decke mit ihrem schlafenden Hund und starrte teilnahmslos geradeaus. Anfangs hatte er sich über sie geärgert, sie war schmuddelig und irgendwie aggressiv, obwohl sie nichts tat, als dort zu sitzen. Aber für Jürgen Dombroschke, der stets auf sein tadelloses Äußeres bedacht war, war die Bettlerin eines von vielen Zeichen dafür, dass sich sein Kiez verändert hatte. Seit dem Krieg wohnte er in Reinickendorf, zuerst in der Aroser Allee, dann, als er Margit geheiratet hatte, waren sie in die schöne Wohnung in der Weißen Stadt gezogen. Die Weiße Stadt. Inbegriff der Moderne. Zentralheizung, fließend heißes Wasser. Geflieste Bäder und Küchen. Der Schäfersee ein idyllisches Fleckchen zum Flanieren. Die Residenzstraße ein Einkaufsparadies. Blumenläden, Möbelgeschäfte, Uhrmachermeister, Parfümerien – alles hatte es hier gegeben. Gepflegt und anspruchsvoll. Der Bezirk der kleinen und mittleren Angestellten. Nicht so ein Proletenbezirk wie der angrenzende Wedding.

Aber nun: Ausländer, Bettler und Drogensüchtige. Aus den Möbelgeschäften waren Matratzen-Outlets geworden, aus den Parfümerien Handyshops.

Aber es half nicht zu jammern, hatte Dombroschke gedacht. Er würde hier nicht weggehen und Margit sowieso nicht, also arrangierte er sich, so gut es ging, mit der veränderten Umgebung. Er hatte festgestellt, dass der Gemüsehändler an der Ecke Thaterstraße wunderbares Obst und Gemüse hatte, nicht teurer als im Supermarkt. Als Margit ihn nicht mehr zu den Einkäufen begleiten konnte, hatte er sich in das Geschäft gewagt und war so freundlich und aufmerksam bedient worden, dass er immer wiedergekommen war. Nun war er seit ein paar Jahren Stammkunde. Herr und Frau Görgülü, die Besitzer, oder auch Sohn und Tochter, die im Laden mitarbeiteten, steckten ihm jedes Mal eine kleine Aufmerksamkeit in die Tüte. Ein Stückchen Schafskäse, eine kleine Tüte Oliven, etwas türkischen Honig. Und er kaufte wahrlich nicht viel. Zwei, drei Äpfel, Margits Bananen, eine Gurke. Selten gab er mehr als fünf Euro aus. Aber es war ihm stets eine Freude, den Laden der Görgülüs zu betreten.

Und sogar die Punkerin vor dem Lidl hatte für ihn den Schrecken verloren. Mit der Zeit hatte er sie mit Respekt betrachtet. Wie sie stoisch aushielt, zuverlässig an ihrem Platz war, bei egal welchem Wetter. Weder stechende Hitze noch Dauerregen, noch Temperaturen unter null konnten sie davon abhalten, ihren Stammplatz aufzugeben.

Einmal nur hatte Dombroschke sie woanders gesehen. Eines Sonntags, er drehte mit Margit eine Runde im Rollstuhl um den Schäfersee, hatte er sie beobachtet, wie sie am Ufer des winzigen Sees, der eigentlich ein größerer Tümpel war, stand und die Enten fütterte.

»Magst du die Kekse?« Jürgen Dombroschke hielt jetzt der Punkerin die Schachtel hin und lächelte freundlich. Gleichzeitig ärgerte er sich. Vielleicht hätte er das Mädchen siezen sollen, wäre das nicht respektvoller gewesen? Wie alt mochte sie sein? Sie blickte nun auf und sah ihn erstaunt an. Sechzehn, aber vielleicht auch schon achtzehn, neunzehn, schwer zu sagen, dachte Dombroschke und nickte ihr lächelnd zu.

Das Mädchen nahm die Schachtel, ohne sichtbare Regung. Oder hatte sie genickt? Mit den Augen gezwinkert? Ein Lächeln in den Mundwinkeln gehabt? Er war unsicher, hatte nur den Schmutz auf ihrem Gesicht gesehen.

Sie legte die Kekse neben sich und starrte wieder geradeaus. Er ging zurück in Richtung Residenzstraße, bog links in die Holländerstraße ein und kurz darauf wieder rechts, in Richtung See.

Er dachte an Margit. Was tun mit ihr? Sie konnte nicht immer dort liegen. Er hatte sie gut zugedeckt, lüftete regelmäßig im Schlafzimmer, und doch … Er hatte sein Lager im Ess­zimmer aufgeschlagen, neben der Bücherwand. Dort lag er dann und dachte nach, während sie im Schlafzimmer lag. Unter der Decke. Wie immer. Fast wie immer. Schon in der ersten Nacht, als er dort allein auf der unbequemen Liege lag und um Schlaf rang, war ihm klar gewesen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Und er nahm sich vor, den Fehler am nächsten Tag zu korrigieren. Und am nächsten und wieder am nächsten. Und so war eine Woche ins Land gegangen. Eine Woche! Und es würde nicht besser werden, das wusste Jürgen Dombroschke. Er war ja nicht dumm. Auch wenn Margit das immer behauptet hatte. »Du bist ja nicht gerade der Hellste, Dommi« oder »Du bist nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen, mein Lieber«. Oder aber auch »Dumm, dümmer, Dommi«. Dommi, so hatte sie ihn genannt. Gleich bei ihrem ersten Treffen. Im Gloria-Palast waren sie gewesen. Jürgen wusste noch heute, welchen Film sie gesehen hatten. »Wer die Nachtigall stört«, als wäre es gestern gewesen. Und nun …

»Herr Dombroschke!«

Jürgen Dombroschke schreckte hoch. Er war so in Gedanken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass er schon vor seiner Haustür stand. Und direkt vor Dieter Hartlaub, drittes OG über Hochparterre links. Der schwergewichtige Hartlaub wohnte beinahe ebenso lange wie Dombroschke in der Genfer Straße. Er war fett, ledig und von abstoßender Distanzlosigkeit.

»Sagen Se ma, riechen Se dit ooch?«, schnaufte Hartlaub und schob seinen Wanst an Jürgen Dombroschke, so dass dieser etwas zurückweichen musste, um dem süßlichen Schweißgeruch des anderen zu entkommen.

»Ja«, gestand er ein, es blieb ihm nichts anderes übrig, der Geruch hatte sich in den letzten zwei Tagen überall verbreitet, »ja, es riecht unangenehm.«

»Riecht?« Hartlaub verzog angewidert die dicken Lippen. »Dit stinkt zum Himmel! Wat kann denn dit sein?«

Jürgen Dombroschke zuckte mit den Schultern und versuchte, sich an dem anderen Mieter vorbei zur Eingangstür zu schieben.

»Der Müll is dit nich.« Hartlaub hielt ihn an der Jacke fest. »Da bin ick schon jewesen. Der duftet nach Veilchen und Rosen dagegen.«

Sanft entwand sich Jürgen Dombroschke dem Griff seines Nachbarn und steckte demonstrativ den Schlüssel in die Eingangstür zum Zeichen, dass er das Gespräch an dieser Stelle gern beenden würde.

»Ick ruf ma bei die Hausverwaltung an«, stellte sein Nachbar klar.

»Vielleicht ist es ein totes Tier, das irgendwo verwest. Unter der Kellertreppe«, machte Dombroschke einen zaghaften Versuch, den Nachbarn zu beruhigen.

»Een totet Tier?«, echote dieser blöd.

»Eine Ratte vielleicht«, gab Dombroschke zurück, öffnete die Tür und verschwand erleichtert im Treppenhaus.

Berlin-Moabit, Bochumer Strasse,
einige Tage danach, Samstagabend

Zwei Tische waren noch besetzt, aber die Gäste hatten bereits Kaffee geordert beziehungsweise alle Getränke bis zur Neige geleert, deshalb hatte Ruth entschieden, dass sie sich die leckeren Reste des Mittagsmenüs am Tresen gönnen durfte. Sie war allein im Laden, es war kurz vor neunzehn Uhr, bald würde sie kassieren, aufräumen und auf Kabir, den Putzmann, warten. Jamila hatte natürlich frei, wie immer an drei von vier Samstagen im Monat.

Ruth ging in die Küche, rüttelte noch einmal an der Sauteuse, in der die Lammmedaillons lagen, nahm diese dann heraus, plazierte sie auf dem vorgewärmten Teller, goss kunstvoll die nach Sherry duftende Sauce zu einem Spiegel darum herum und setzte die kandierten Feigen obendrauf. Dann nahm sie die glacierten Karotten ebenfalls vom Herd und drapierte sie neben dem Fleisch, die frische gehackte Minze streute sie darüber. Ruth wischte sich die Hände an der Schürze ab und begutachtete ihr Werk. Die Medaillons waren ihr heute außerordentlich gut gelungen, was nicht zuletzt am frischen Lamm lag, das ihr der türkische Metzger morgens geliefert hatte. Lamm bezog sie nicht mehr vom Großmarkt, seit sie bei einem Spaziergang zufällig auf den Laden in der Perleberger Straße gestoßen war: ein hell­blau gekachelter Raum mit einem blitzsauberen Tresen, aber ohne Auslage. Die Fleischhälften hingen an Haken von der Decke, und der Fleischer schnitt die gewünschten Teile auf Wunsch zu. Nirgendwo hatte Ruth bisher besseres Lamm bekommen. Ihre Tochter Annika hatte sich nur angewidert abgewendet, als sie vor dem Laden standen, sie war Vegetarierin aus Überzeugung. Ruth bewunderte die Haltung ihrer Tochter, aber sie konnte ihr nicht nachfolgen – zu sehr wurde sie vom Duft von in Zwiebel oder Knoblauch angeschmortem oder gebratenem Fleisch verführt.

Nun ließ sie die Schürze in der Küche, stellte den Teller auf den Tresen, goss sich ein Glas Merlot dazu ein und wollte gerade mit dem Essen beginnen, als die Türglocke ging.

Ruth drehte sich um. »Wir schließen gleich …«, schaffte sie gerade noch zu sagen, da hatte sie den Strauß dunkelroter Rosen schon vor der Nase. Eisgraue Haare ragten dahinter empor.

Ruth schob die Blumen zur Seite. Hannes Eisenrauch schaute sie mit einem Hundeblick an.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Manchmal bin ich echt doof.«

»Meistens«, gab Ruth zurück, aber ihr Herz machte einen Sprung. Dann schob sie ihm den Teller zu, während sie den Strauß mit den Rosen entgegennahm.

»Iss, sonst wird’s kalt. Ich mach mir einen frischen Teller«, überspielte sie ihre Rührung. Sie war so glücklich, ihn zu sehen, am liebsten wäre sie ihm vor den Gästen um den Hals gefallen, andererseits war sie stinksauer, dass er sich so lange Zeit gelassen hatte mit seinem Erscheinen. Sie stellte die Rosen in eine Vase und diese dann auf den Tresen.

»Die Rosen sind wunderschön«, kommentierte sie. Insgeheim dachte sie: … und superspießig. Dunkelrote Rosen, wer schenkt so was heute noch? Hat er nicht mehr Fantasie?

Bevor Eisenrauch so etwas Blödes sagen konnte wie »So schön wie du«, verschwand sie rasch in die Küche, um sich erneut einen Teller Lammmedaillons anzurichten.

Schließlich und endlich saßen sie gemeinsam am Tresen, aßen und tranken. Die letzten Gäste waren gegangen, Kabir war bereits gekommen und begann dezent damit, die Küche sauberzumachen, um die Chefin und ihren Gast nicht zu stören. Dennoch mahnte Ruth gegen acht zum Aufbruch. Der Staatsanwalt half gehorsam, die Stühle auf die Tische zu stellen.

»Wollen wir noch was unternehmen?«, erkundigte sich Ruth betont harmlos. Bloß nicht klammern, dachte sie, dann läuft er wieder panisch davon.

»Ich dachte, wir gehen zu dir«, kam es von Eisenrauch ganz beiläufig.

Ruth stockte der Atem. Sie hielt einen Bistrostuhl in der Hand und sah Eisenrauch ungläubig an. Er grinste.

»Und morgen früh lade ich dich zu einem Frühstück ein«, setzte er noch einen drauf.

Ruths Herz raste vor Freude. Sie zog ihn an sich, legte den Kopf in seine Halsbeuge und küsste ihn zärtlich.

»Vielleicht holst du auch nur Croissants, und wir bleiben im Bett«, flüsterte sie.

Eisenrauch lächelte verschmitzt, und sie beeilten sich, die restlichen Stühle hochzustellen. Ruth räumte eine Zeitung von einem der Tische, die ein Gast hatte liegenlassen.

»Rentner vergiftet Ehefrau« schrie die Schlagzeile in großen Lettern. »Er lässt die Leiche in der Wohnung verwesen«, hieß es in der Unterzeile.

»Igitt«, sagte Ruth angewidert und entsorgte das Boulevardblatt im Müll.



Rentner vergiftet Ehefrau!

Er lässt die Leiche in der Wohnung verwesen.

Berliner Kurier im September

Der Gestank belästigte die Mieter in der Genfer Straße schon seit Tagen, Bewohner Dieter H. sagte unserem Reporter: »Ich wusste, hier war etwas oberfaul.« Die Polizei war von Sanitätern zu der Wohnung eines Rentnerehepaares gerufen worden und machte einen schockierenden Fund: Im Schlafzimmer lag die Leiche der Ehefrau Margit D.! Das war die Ursache des durchdringenden Verwesungsgeruchs.

Auf den ersten Blick wirkte es, als sei die 73-jährige Rentnerin eines natürlichen Todes gestorben. Sie war schon lange schwer krank und musste von ihrem Mann gepflegt werden. Da ihr Mann die Polizei nach dem Ableben seiner Frau nicht verständigt hatte, legt dies den Verdacht nahe, dass sich hinter dem Geschehen möglicherweise eine Straftat verbirgt.

Jürgen D. wurde noch am Fundort der Leiche wegen dringenden Tatverdachts verhaftet, hat aber noch nicht gestanden. Nachbar Dieter H. ist sich sicher: »Das ist der Täter!«