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Das Buch

Christine Lindner kann nicht mehr. Monatelang hat sie ihre beste Freundin Alexandra gepflegt, bis diese den Kampf gegen den Krebs schließlich verlor. Nun fühlt sie sich erschöpft und leer. Dazu kommt, dass sie in der Firma zwischenzeitlich von einer Kollegin ausgebootet wurde. Doch Alex­andras Testament hält eine Überraschung für sie bereit: Sie erbt einen Hof in den Bergen. Kurz entschlossen verlässt Christine ihre Familie für einen Sommer und zieht auf die Alm. Sie hofft auf Ruhe und will ein bisschen zu sich kommen. Doch bald entdeckt sie, dass man erst die Vergangenheit verstehen muss, um die Gegenwart richtig zu genießen …

Die Autorin

Heike Wanner arbeitet als Angestellte bei einer Fluggesellschaft und lebt in der Nähe von Frankfurt. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn.

Weitere Informationen unter www.heike-wanner.de

In unserem Hause sind von Heike Wanner erschienen:

Der Tod des Traumprinzen
Frauenzimmer frei
Für immer und eh nicht
Rosen, Tulpen, Nelken
Weibersommer

Heike Wanner

Eine Handvoll
Sommerglück

Roman

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage März 2015

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © Picture Press/Maryam Schindler

 

ISBN 978-3-8437-0994-1

 

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

 

E-Book: LVD GmbH, Berlin

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Es regnete am Tag von Lexis Beerdigung.

Natürlich tat es das.

Denn etwas anderes als das fahle Grau der Wolkenschleier hätte gar nicht gepasst. Der trübe Nebel, der von außen an die Fensterscheiben der Friedhofskapelle drückte, ergänzte das Bild im Innern der Kirche um die letzte Nuance, die noch gefehlt hatte – ebenjenes unaufdringliche, langweilige Grau.

Alle anderen Farben waren bereits vorhanden, wenn auch in unterschiedlichen Mengenverhältnissen.

Schwarz war zweifellos dominant an diesem regnerischen Morgen Anfang April. Alle Gäste, die in der Kapelle Platz genommen hatten, waren in dunkler Trauerkleidung erschienen. Und natürlich hatte auch der Pfarrer, der in diesem Moment mit seiner Ansprache begann, den schwarzen Talar übergezogen.

Als Gegenpol zu so viel Düsterkeit glänzten die Steinmauern der kleinen Kirche in kaltem Weiß. Sarg und Bänke waren aus blankpoliertem braunen Holz gefertigt, und die unzähligen Blumensträuße und Kränze leuchteten in sattem Gelb, Grün, Blau und Rot.

Somit ergab sich ein perfektes Bild voller Kontraste. Lexi wäre begeistert gewesen.

Sie, die leidenschaftliche und erfolgreiche Malerin, hatte immer streng darauf geachtet, dass ihre Werke die gesamte Farbpalette enthielten. Jeder noch so kleine, unscheinbare Ton war ihr wichtig gewesen, und sei es auch nur als Tüpfelchen am Bildrand.

»Das Leben ist wie ein Zeichenblock und jeder neue Abschnitt wie ein leeres Blatt Papier. Es liegt ganz allein an uns, es bunt und leuchtend zu gestalten«, war ihr Leitspruch gewesen, den sie oft und gern zitiert hatte.

Ach, Lexi!

An ihrem eigenen Zeichenblock war jetzt kein Blatt mehr übrig. Sie würde nie wieder eine neue Seite aufschlagen können. Nie wieder Farbtupfer setzen, zuerst noch zögerlich, dann aber immer bestimmter. Nie wieder wie eine Besessene malen. Und auch nie wieder ein Werk mit zufriedenem Lächeln beenden.

Christine Lindners Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Blick wanderte langsam vom Kirchenfenster zurück zum Altar, wo der blumengeschmückte Sarg ihrer besten Freundin stand. Durch die Tränen wirkte der Anblick verschwommen und unscharf. Trotzdem: Ein Sarg blieb ein Sarg, daran änderte auch ein verheulter Blickwinkel nichts. Zum wiederholten Mal versuchte Christine, sich vorzustellen, dass Lexi jetzt tatsächlich in dieser Holzkiste lag.

Es gelang ihr nicht.

Eine derart temperamentvolle, lebhafte und zuweilen auch schrille Persönlichkeit ließ sich nicht auf so engem Raum einzwängen.

Das war undenkbar.

Unmöglich.

Grausam.

Nein, es konnte nicht ihre Freundin sein, die da im Sarg lag. Das war lediglich eine leere Körperhülle. Der Rest von ihr war längst weitergezogen, ganz so, wie es ihrer rastlosen Art entsprach.

Nur – wohin?

»Alexandra Meyer weilt nicht mehr unter uns«, sagte der Pfarrer, so als ob er ihre Gedanken lesen konnte. »Sie ist jetzt an einem besseren Ort …«

Ein besserer Ort – ob das der Wahrheit entsprach?

Christine war nicht besonders religiös, doch in diesem Moment war sie geneigt, den Worten des Pfarrers zu glauben. Ihr gefiel die Vorstellung, dass Lexi jetzt im Himmel war und dort das tat, was sie schon immer am besten gekonnt hatte – nämlich die Umgebung um sie herum bunt gestalten. Mit ihrer tatkräftigen Unterstützung würde der Himmel bald ein bisschen blauer strahlen und die Sonne noch leuchtender untergehen.

Dieser Gedanke hatte überraschenderweise etwas Tröstliches an sich. Christine atmete tief durch und schluckte ihre Tränen hinunter. Das Bild einer himmlischen Alexandra Meyer mit Pinsel und Leinwand milderte ihren Schmerz viel wirkungsvoller als die zahlreichen, sicherlich gutgemeinten, aber völlig überflüssigen Bemerkungen darüber, dass Lexi »endlich erlöst worden war«.

Sie wusste selbst, dass ihre Freundin gelitten hatte, schließlich hatte sie ihre Krankengeschichte von Anfang an hautnah miterlebt. Doch zu keinem Zeitpunkt hatte Lexi den Eindruck vermittelt, dass sie »erlöst« werden wollte. Im Gegenteil, sie hatte bis zuletzt an ihrem Leben gehangen und es ausgekostet. Sie mochte zwar körperlich immer schwächer geworden sein, doch ihre ungeheure Willensstärke und ihr Temperament waren ihr bis zum Schluss erhalten geblieben.

»Sie war nicht nur eine Person, sie war eine Persönlichkeit«, bemerkte der Pfarrer, und Christine konnte ihm nur aus vollem Herzen zustimmen. »Eine Persönlichkeit voller Leben und voller Zuversicht.«

Vielleicht war die Lücke, die sie hinterlassen hatte, deshalb so groß. Vielleicht war das auch der Grund, warum ihr Tod solch ein schlimmer Schock gewesen war. Vielleicht hatten alle trotz der eindeutigen Prognose noch auf ein Wunder gehofft.

Doch das Wunder war ausgeblieben.

Lexi war gestorben.

Diese einfache Feststellung ließ den Schmerz und die Verzweiflung zurückkehren, und jetzt half auch der Gedanke an eine himmlische Lexi nicht mehr weiter. Erneut liefen Tränen über Christines Gesicht.

»Hier …«

Von links wurde ihr eine Packung Papiertaschentücher gereicht, und ein besorgter Blick aus warmen braunen Augen traf sie. Jule, Christines neunzehnjährige Tochter, legte tröstend den Arm um ihre Schultern. Dankbar und ein wenig überrascht schmiegte sich Christine in die Umarmung und genoss das seltene Gefühl der Geborgenheit. Es kam nicht oft vor, dass ihre Tochter sie so nahe an sich heranließ.

Jule war erst vor wenigen Wochen von einem längeren Auslandspraktikum aus Amerika zurückgekehrt. Gerade rechtzeitig genug, um sich von Lexi verabschieden zu können. Die junge Frau hatte ihre Patentante abgöttisch geliebt und trauerte fast ebenso stark um sie wie Christine. Doch sie machte das auf ihre eigene, persönliche Art.

Ruhig, sachlich und beherrscht.

Sie hatte die Nerven behalten, während Christine nach Lexis Tod völlig zusammengebrochen war und sich um nichts mehr kümmern konnte. Und so war es Jule gewesen, die zuerst auf die Idee gekommen war, den Bestatter anzurufen. Jule, die Kontakt zu Lexis Kunstagenten in Paris aufgenommen hatte. Und auch Jule, die es übernommen hatte, Lexis Freunde und Kollegen zu informieren. Die zahlreichen Telefonate, E-Mails und Besprechungen hatten ein wenig vom Schmerz abgelenkt. Es gab so viel zu erledigen, dass kaum Zeit für Traurigkeit blieb. Selbst der unvermeidliche Einkauf von passender Trauerkleidung war dank Jule undramatisch und effektiv verlaufen.

Jetzt besaß Christine einen eleganten schwarzen Hosenanzug, den sie später auch im Büro tragen konnte. Jule hatte sich für ein schlichtes dunkelgraues Kleid entschieden. Dem traurigen Anlass entsprechend hatten beide auf Schmuck und Make-up verzichtet. Jule trug ihre langen braunen Haare zu einem einfachen Zopf geflochten, was ihr zusätzliche Ernsthaftigkeit verlieh. Aufmerksam lauschte sie der Rede des Pfarrers.

Ganz im Gegensatz zu Christines Mutter Helga, die rechts neben Christine saß und die Trauerfeier mit hemmungslosem Schluchzen begleitete. Jedes Mal, wenn sie sich mit der Hand über die Augen wischte, klimperten ihre goldenen Armreifen. Inzwischen waren Wimperntusche und Lidschatten auf ihrem Gesicht zu einer schmutzigen Masse zerlaufen. Der Regen hatte ihre Kurzhaarfrisur zerstört, und die karottenrot gefärbten Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. Zwischen den übrigen Trauergästen, die mit ernsten Mienen in ihren Bänken saßen, wirkte sie fehl am Platz – wie ein tief betrübter pummeliger Clown.

»Hier.«

Christine reichte die Packung mit den Taschentüchern weiter an ihre Mutter. Dankbar zupfte Helga zwei Tücher heraus und putzte sich geräuschvoll die Nase. Dann warf sie einen fragenden Blick auf die letzte Person, die noch mit ihnen in der ersten Bank saß.

Doch Lexis Großtante, von allen immer nur liebevoll Tante Mieze genannt, winkte ab. Die zarte alte Dame deutete auf ein weißes Spitzentaschentuch, das unbenutzt vor ihr auf dem Gebetbuch lag.

Tante Mieze trauerte würdevoll und still.

Sie musste mittlerweile über achtzig Jahre alt sein, wirkte aber immer noch erstaunlich rüstig und sah kaum anders aus als vor vierzig Jahren, als Christine sie bei einer Familienfeier kennengelernt hatte.

Natürlich, im Laufe der Zeit war Miezes Gesicht faltiger und ihre Figur zierlicher geworden, doch noch immer trug sie die schlohweißen Haare sorgfältig zu winzig kleinen Löckchen gedreht. Diese wurden jetzt durch einen stummen Weinkrampf geschüttelt, und dann rollten doch dicke Tränen über die Wangen der alten Dame. Mit einer Ecke ihres Spitzentaschentuchs tupfte Mieze ihr Gesicht trocken. Danach drehte sie den Kopf in Christines Richtung und lächelte traurig.

Christine erwiderte das Lächeln, auch wenn sie beim Anblick der weinenden Tante einen riesigen Kloß im Hals verspürte. Ob sich Mieze bewusstmachte, dass sie das letzte überlebende Familienmitglied war? Dass sie jetzt völlig allein war? Wie musste es sich für die alte Dame anfühlen, eine Verwandte zu beerdigen, die nur halb so alt geworden war wie sie selbst? Noch schlimmer, als Christine den Verlust ihrer Freundin empfand?

Aber konnte man Trauer überhaupt messen?

Später, als sie im Bett lag, beantwortete sich Christine ihre Frage selbst.

Nein, man konnte Trauer nicht messen.

Es gab weder Zahlen noch Maßeinheiten, die groß genug gewesen wären, die Stärke ihres Kummers auszudrücken. Sie fühlte sich leer und ausgelaugt, aber auch seltsam erleichtert darüber, dass der schwere Tag überstanden war. Zum ersten Mal seit Lexis Tod verspürte sie wieder so etwas wie Müdigkeit. In den vorausgegangenen Nächten hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt, viel zu aufgewühlt und geschockt, um Ruhe finden zu können. Jetzt machte sich der fehlende Schlaf bemerkbar.

Langsam nippte sie an der Tasse Kräutertee, die Helga ihr vorhin noch gebracht hatte. Ihre Mutter hatte sogar daran gedacht, einen Löffel Honig in das Getränk zu geben. Die heiße, süße Flüssigkeit tat Christine gut und wärmte sie ein wenig auf.

Hoffentlich hatte sie sich auf dem Friedhof nicht erkältet! Die Schlange der Trauergäste, die kondolieren wollten, war endlos lang gewesen, und die ganze Zeit über hatte es leicht genieselt. Fürsorglich hatte Christine ihren Schirm Tante Mieze überlassen und im Regen ausgeharrt. Weder Jule noch Helga hatten an einen Regenschutz gedacht. Aber wenigstens konnten sich die beiden direkt nach Ende der Beerdigung ins Trockene zurückziehen. Christine und Tante Mieze jedoch waren am Grab stehen geblieben und hatten die Beileidsbekundungen entgegengenommen.

Den meisten Gästen war Christine zuvor noch nie begegnet. Freunde aus Paris, Künstler, Atelierbetreiber, Sammler und sogar ein paar Journalisten waren angereist, um Lexi die letzte Ehre zu erweisen. Viele hatten ein paar Worte auf Französisch gemurmelt, ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht und waren danach weiter zu Tante Mieze gegangen. Ungerührt hatte sich Christine nass regnen lassen und jeden Beileidsgruß mit einem leisen »Merci« erwidert, dem einzigen französischen Wort, das sie kannte. Tante Mieze hatte sich für ein ungeduldiges »ja, ja« entschieden und die Kussversuche unmissverständlich abgewehrt.

Für die Trauergäste hatten sie sicherlich ein seltsames Bild abgegeben: eine kleine durchnässte Mittvierzigerin und eine Achtzigjährige, die ihren Oberkörper erstaunlich gelenkig immer dann samt Schirm nach hinten bog, wenn ein weiterer Kuss drohte.

Unwillkürlich verzogen sich Christines Lippen nach oben.

Doch gleich darauf erstarrte sie in der Bewegung. Durfte man sich an einem Tag wie heute überhaupt amüsieren? Sie nahm erneut einen Schluck Tee und starrte nachdenklich ins Leere.

Lexi hätte nichts gegen ein bisschen Fröhlichkeit gehabt, da war sich Christine sicher. Ihre Freundin hätte die Belustigung verstanden. Mehr noch, sie hätte schallend mitgelacht. Christine glaubte förmlich, die tiefe, laute Stimme zu hören. Die Erinnerung an Lexi war immer noch allgegenwärtig.

Daran würde sich so schnell auch nichts ändern, obwohl die Tür zu Lexis Zimmer seit ein paar Tagen verschlossen war. Doch ständig stieß man im Haus auf Dinge, die ihrer Freundin gehört hatten: das bunte Seidentuch im Flur zum Beispiel, oder die Hustenpastillen mit Lavendelgeschmack im Badezimmer. Und im Kühlschrank lag nach wie vor ein kleiner Vorrat an Champagner, den man nach Lexis Meinung stets im Haus haben sollte.

»Champagner kann keine Probleme lösen, aber er hilft dir, sie zu ertragen«, hatte sie ihren Mitbewohnerinnen beim Einzug erklärt und damit von Anfang an klargestellt, dass sie keinesfalls gewillt war, sich still und traurig aus dem Leben zu verabschieden. Und so waren die letzten sieben Monate in diesem Haus nicht etwa trostlos und düster verlaufen, sondern vielmehr optimistisch und lebensbejahend, beinahe sogar fröhlich.

Doch jetzt würde Lexi nie wieder lachen können.

Christine schluckte. Der kleine Anflug von Erheiterung verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war.

Und die Tränen kehrten zurück.

»Sie weint schon wieder«, stellte Jule ein Stockwerk tiefer fest und ließ sich neben ihre Großmutter aufs Sofa fallen. Mit kraftlosen Bewegungen streifte sie sich die Schuhe ab, löste ihre Zopfspange und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Der Tag war anstrengend gewesen, und so wie es schien, war ihre Aufgabe als Trostspenderin noch nicht beendet.

»Lass sie ruhig!« Oma Helga lächelte nachsichtig. »Ich war vorhin bei ihr oben, ihr geht es gut. Außerdem helfen Tränen, denn sie spülen die Traurigkeit hinaus.«

»Sie weint viel zu viel.«

»Man kann nicht zu viel weinen.«

»Klar kann man das!«

Erst jetzt bemerkte Jule, dass ihre Großmutter eine Zeitung auf dem Tisch ausgebreitet hatte und dabei war, den Verschluss einer Flasche Nagellack aufzuschrauben.

Sie seufzte resigniert.

Sich die Nägel zu lackieren war eine eigenartige Beschäftigung für den Abend dieses traurigen Tages – andererseits machte Helga oft merkwürdige Sachen, und Jule hatte es aufgegeben, sich darüber zu wundern.

»Hast du heute überhaupt schon geweint, mein Liebling?«, erkundigte sich ihre Großmutter jetzt. »Ich kann mich nicht erinnern, bei dir eine einzige Träne gesehen zu haben.«

»Nicht jeder kann seine Gefühle offen zeigen.«

»Ach, papperlapapp!« Helga winkte ab, vergaß dabei aber leider, dass sie den Nagellack in der Hand hielt. Ein Tropfen knallpinker Flüssigkeit flog aus der Flasche und landete mitten auf dem Wohnzimmertisch.

»Also wirklich, Oma!«, schimpfte Jule. »Kannst du nicht aufpassen?«

»Entschuldigung!« Betroffen starrte Helga auf den Fleck, doch dann entspannte sich ihr Blick wieder. »Das kann man abwischen.«

»Aber nur, weil die Tischplatte aus Glas ist«, brummelte Jule und verschwand Richtung Küche. Als sie mit dem Putzlappen zurückkam, legte ihre Großmutter gerade die linke Hand auf die Fernsehzeitung und begann, sich in aller Ruhe und mit großer Sorgfalt die Nägel zu lackieren.

»Hast du noch was vor?«, fragte Jule, während sie über den Tisch wischte. Zum Glück löste sich der Fleck sofort.

Helga schaute kurz von ihrer Hand auf. »Ja, ich gehe noch aus.«

»Mit wem?«

»Die korrekte Frage müsste lauten ›zu wem?‹.«

»Also gut.« Jule faltete den Lappen zusammen und legte ihn auf das Zeitungspapier. »Zu wem gehst du?«, erkundigte sie sich halbherzig.

»Ich gehe zu Jan.«

»Jan?«, wiederholte Jule zerstreut. »Welcher Jan?«

»Ach, Julchen!« Helga schüttelte den Kopf. »Wo bist du nur immer mit deinen Gedanken? Natürlich unser Jan! Hast du vergessen, dass er uns neulich alle zu seiner Abitur-Party eingeladen hat?«

»Wie bitte?« Jule glaubte, sich verhört zu haben. »Der zieht das tatsächlich durch?«

Missmutig spähte sie durch das Wohnzimmerfenster Richtung Nachbargrundstück. Dort waren ein paar junge Männer gerade dabei, Bierkästen und Einkaufskörbe vom Auto ins Haus zu tragen.

Helga folgte ihrem Blick. »Die Vorbereitungen laufen schon, wie du siehst.«

»Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass unser Herr Nachbar trotz der Beerdigung nicht auf seine blöde Feier verzichten kann?« Jule vermochte es immer noch nicht zu fassen.

»Warum sollte er alles absagen?«

»Vielleicht, weil heute ein sehr trauriger Tag ist?«

»Wenn du mal so alt bist wie ich, wirst du feststellen, dass Kummer und Freude eng beieinanderliegen. Das kann man nicht verhindern. Man muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Carpe diem, sage ich immer!«

Jule hasste es, wenn ihre Großmutter während eines Streitgesprächs plötzlich philosophische Töne anschlug. Diesen altersweisen Argumenten hatte sie als junger Mensch in der Regel wenig entgegenzusetzen.

»Trotzdem«, beharrte sie und bemühte sich, auf das eigentliche Thema zurückzukommen. »Jan hat lediglich seine schriftlichen Abiturprüfungen geschrieben. Das Schuljahr geht aber noch weiter. Was gibt es also schon Großartiges zu feiern?«

»Immerhin hat er den schwierigsten Teil erfolgreich hinter sich gebracht und damit fast schon bestanden.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass er im Laufe seines Schullebens zweimal sitzengeblieben ist?«

»Na und? Der Junge hatte es weiß Gott nicht immer leicht. Zuerst brennt seine Mutter mit seinem Lehrer durch, dann die Scheidung der Eltern …«

»Ich bin auch ein Scheidungskind!«

»Das kann man nicht vergleichen. Du warst schon immer viel vernünftiger und stärker, mein Liebling.«

»Ach ja?«, schnaubte Jule. Hatte ihre Großmutter sich mal überlegt, woran das lag? »Ich bin aber nicht so auf die Welt gekommen.«

»Manchmal befürchte ich, doch.« Helga warf ihrer Enkelin einen bekümmerten Blick zu. »So wie deine Mutter leider auch. Ein bisschen mehr Leichtigkeit würde euch beiden nicht schaden. Schau dir doch mal Jan an, von dem kannst du in dieser Beziehung noch einiges lernen!«

»Den Teufel werde ich!«, entgegnete Jule gereizt. Es wurmte sie, dass ihre Oma den Nachbarssohn in Schutz nahm und zudem auch noch die Frechheit besaß, ihn als Vorbild für sie hinzustellen.

Das war wieder einmal typisch!

Ihre Großmutter akzeptierte alle Menschen vorbehaltlos so, wie sie waren. Nur bei ihrer eigenen Tochter und ihrer Enkelin sah sie nicht ähnlich großzügig über Fehler hinweg, sondern mischte sich in alles ein.

Doch Jule verkniff sich eine entsprechende Antwort. Jetzt war nicht der richtige Moment, dieses Thema zur Sprache zu bringen. Heute, am Tag von Lexis Beerdigung, wollte sie eine lautstarke Auseinandersetzung aus Rücksicht auf ihre Mutter unbedingt vermeiden.

»Ich finde Jan ziemlich schräg«, bemerkte sie stattdessen. »Der hat etwas Dämonisches an sich, so blass und dünn. Hast du schon die Ränder unter seinen Augen bemerkt?«

»Natürlich, die sind ja nicht zu übersehen. Ich denke, der Junge ist einfach zu schnell gewachsen.«

»Und ich denke, er sollte öfter mal an die frische Luft gehen. Was macht er eigentlich den ganzen Tag? Ich wette, er hockt nur im Keller vor seinem PC

»Immerhin ist er mit seinem Vater zur Beerdigung gekommen.«

»Das war ja auch kein großer Aufwand für ihn. Erstens hatte er garantiert nichts Besseres vor, und zweitens musste er sich ja nicht mal die Mühe machen, sich umziehen.« Jan lief meistens in schwarzen Klamotten herum.

»Irrtum, meine Liebe! Lexis Tod hat ihn sicherlich auch getroffen. Er ist oft mitgekommen, wenn Olli hier war, um sie zu besuchen.«

»Wirklich? Davon habe ich nichts bemerkt.«

»Wie denn auch?«

Helga legte den Lackpinsel zur Seite und wedelte mit den Fingern ihrer linken Hand, um die Nägel zu trocknen. Ein intensiver Geruch nach Klebstoff und Lösungsmittel wehte durch den Raum. »Du warst ja gar nicht da, sondern in Amerika. Und du darfst nicht von den vergangenen drei Wochen auf die letzten Monate schließen.«

Empört schnappte Jule nach Luft. Schon wieder so ein ungerechter Vorwurf! Das ging jetzt aber wirklich zu weit. »Entschuldige, dass ich nicht schon früher gewusst habe, dass Lexi erkrankt und zum Sterben zu uns nach Hause kommt.«

Jule war direkt nach dem Schulabschluss im Sommer letzten Jahres nach San Diego geflogen, um sich dort im Rahmen eines Praktikums auf ihr Anglistikstudium vorzubereiten, das sie im Herbst beginnen würde. »Dafür musst du dich nicht entschuldigen.« Gemächlich begann Helga mit dem Lackieren der Nägel ihrer rechten Hand. Sie schien die Verärgerung ihrer Enkelin gar nicht zu bemerken. »Das konnte schließlich keiner vorausahnen. Aber ich war ja zur Stelle und bin gern eingesprungen. Was für ein Glück für uns alle!«

Jule presste ihre Lippen aufeinander und fixierte ihre Großmutter misstrauisch. Hatte Helga sie mit der letzten Bemerkung provozieren oder besänftigen wollen? So friedlich, wie sie jetzt am Tisch saß und den Nagellack auftrug, konnte sie es eigentlich nicht böse gemeint haben.

»Du hast recht«, begann sie deshalb und bemühte sich um einen ruhigen, versöhnlichen Tonfall. »Du hast die letzten Monate im Gegensatz zu mir hautnah miterlebt, und das war mit Sicherheit sehr anstrengend. Gerade deshalb kann ich aber nicht verstehen, wieso du ausgerechnet heute feiern gehst. Willst du nicht lieber erst mal zur Ruhe kommen?«

»Die letzten Tage waren still genug. Um nicht zu sagen totenstill …«

»Aber Lexi ist gerade mal ein paar Stunden unter der Erde!«

»Sie hätte es verstanden und hätte bestimmt auch nichts dagegen gehabt.«

»Sie vielleicht nicht. Aber was ist mit Mama?«

»Was sollte deine Mutter dagegen haben? Sie liegt doch längst im Bett und ist gut versorgt.«

»Aber vielleicht genießt sie das Gefühl, dass wir hier bei ihr sind.«

»Wozu? Um ihr beim Weinen zuzuhören?«

»Nein! Um da zu sein, wenn sie uns braucht.«

»Ich bin doch nur ein Haus weiter.« Vorsichtig pustete Helga sich über ihre rechte Hand. »Wenn sie nicht allein sein will, kann sie auf die Party kommen. Jeder dort weiß, was passiert ist, und wird sie mit offenen Armen empfangen.«

»Also wirklich, Oma!«, rief Jule entgeistert. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Wieso nicht?«

»Es ist schon mehr als pietätlos, dass du auf diese Party gehst. Aber dass du jetzt auch noch Mama mitschleppen willst, das ist …«

»Ich will sie ja gar nicht mitnehmen, ich sage doch nur, dass sie willkommen wäre. Verstehst du das?«

Jule schüttelte den Kopf.

»Dann hör mir mal gut zu, mein liebes Kind«, fuhr Helga fort, genau in dem geduldigen Tonfall, den sie ausschließlich für ihre Enkeltochter reserviert zu haben schien. »Du hast recht, heute war ein schlimmer, trauriger Tag. Doch wir dürfen uns nicht von unserem Kummer unterkriegen lassen. Jeder muss für sich selbst entscheiden, wie er damit fertig wird.«

»Du scheinst ja kein Problem damit zu haben, gleich auf ›Party‹ umzuschalten.«

»Du willst mich einfach nicht verstehen«, seufzte Helga resigniert. »Dabei ist es so einfach.«

»Dann erkläre es mir!«

»Ich habe heute Abend die Wahl, entweder traurig auf dem Sofa zu sitzen und den Tod zu bejammern, oder ich gehe rüber zu Jan und feiere das Leben. Was, glaubst du, ist wohl besser?«

»Ich entscheide mich für das Sofa.« Demonstrativ streckte Jule ihre Beine aus.

»Und ich mich für die Party. Warte nicht auf mich, es könnte spät werden.« Mit diesen Worten knüllte Helga die Zeitung zusammen, ergriff die Flasche Nagellack und rauschte zur Tür hinaus.

Wütend starrte Jule ihrer Großmutter hinterher.

Seit ihrer Heimkehr aus Amerika waren Streitigkeiten wie diese leider an der Tagesordnung. Bislang jedoch hatte sie sich mit Rücksicht auf die schwierige Situation zusammengerissen. Doch damit war nun Schluss – sie musste sich schließlich nicht alles gefallen lassen.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Jule jetzt, wie es nach Lexis Tod in diesem Haus weitergehen sollte …