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Wie immer für meine Leser. Ohne euch könntet ihr diese Geschichte gerade nicht in den Händen halten.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

ISBN 978-3-492-96718-1

April 2015

© 2014 Jennifer L. Armentrout

Titel der Amerikanischen Originalausgabe:

»Stay with Me«, William Morrow Paperbacks/HarperCollins

Publishers, New York 2014

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: Felix Wirth/Corbis

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Kapitel 1   Das Heiße-Kerle-Kommando hatte mich umzingelt.

Viele Leute hielten das Heiße-Kerle-Kommando für einen Mythos. Für eine Unilegende, wie die Geschichte über die Ballkönigin, die sich im LSD- oder Crackrausch aus dem Fenster gestürzt hatte oder in der Dusche gestürzt war und sich dabei den Schädel gesprengt hatte. Wer wusste schon genau, was passiert war? Jedes Mal, wenn ich die Geschichte hörte, klang sie ein wenig anders. Doch im Gegensatz zu der toten Tussi, die angeblich in Gardiner Hall spukte, war das Heiße-Kerle-Kommando real: Es bestand aus mehreren Kerlen.

Mehreren heißen Kerlen, um genau zu sein.

Inzwischen tauchten die Jungs nur noch selten gemeinsam auf, weswegen sie ins Reich der Campuslegenden eingegangen waren. Aber wow, wenn sie sich mal an einem Ort versammelten, dann waren sie wirklich eine Augenweide.

Und solche Perfektion gab es in meinem Leben nur selten – außer in Form des wunderbaren Make-ups namens Dermablend, wodurch es fast gelang, die Narbe in meinem Gesicht abzudecken.

Wir drängten uns alle in Avery Morganstens Wohnung. Dem riesigen Ring an ihrem Finger nach zu urteilen, stand Avery kurz davor, ihren Nachnamen zu ändern. Und auch wenn ich sie nicht gut kannte – eigentlich kannte ich außer Teresa niemanden hier wirklich gut –, freute ich mich für sie. Wann immer ich Avery begegnet war, wirkte sie sehr nett. Manchmal war sie ein wenig still und schien sich irgendwie in sich selbst zurückzuziehen. Aber an der Art, wie sie und ihr Verlobter, Cameron Hamilton, sich ansahen, konnte man deutlich erkennen, dass die beiden absolut verliebt waren.

Auch im Moment beobachtete er sie auf diese Art: Als gäbe es auf der ganzen Welt keine andere Frau als sie. Obwohl Cam auf der Couch saß und Avery auf seinem Schoß, blieben diese strahlend blauen Augen unverwandt auf sie gerichtet, während sie über etwas lachte, was seine Schwester Teresa gesagt hatte.

Hätte ich das Heiße-Kerle-Kommando in Dienstgrade einordnen müssen, wäre Cam der Präsident gewesen. Das lag nicht nur an seinem Aussehen, sondern auch an seiner Persönlichkeit. In seiner Nähe fühlte sich niemand je gehemmt oder ausgeschlossen. Er strahlte diese … Herzlichkeit aus, die total ansteckend war.

Im Geheimen – und diese Info würde ich mit ins Grab nehmen – beneidete ich Avery. Ich kannte sie kaum, doch sehnte ich mich nach dem, was sie hatte – einen heißen Kerl, der außerdem echt lieb war und dafür sorgte, dass man sich in seiner Nähe wohlfühlte. Das war selten.

»Willst du noch einen Drink?«

Ich drehte den Kopf erst nach links und legte ihn dann leicht in den Nacken, um zu Jase Winstead aufzuschauen. Mein Atem stockte leicht. Jase war das Gegenteil von Cam. Er war extrem gut aussehend, aber in seiner Nähe fühlte ich mich nicht behaglich, besonders nicht, wenn seine grauen Augen auf mich gerichtet waren. Mit seiner dunklen Haut, den etwas längeren braunen Haaren, und seinem fast unwirklich guten Modelaussehen wäre er der Leutnant des Heiße-Kerle-Kommandos. Er war bei Weitem der heißeste Kerl von allen, und er konnte wie jetzt gerade supernett sein. Doch er war bei Weitem nicht so locker oder charmant wie Cam, weswegen ich Cam auch an die Spitze gesetzt hatte.

»Nö, alles okay.« Ich hob die halb volle Bierflasche, an der ich nippte, seitdem ich angekommen war. »Aber danke.«

Er lächelte kurz, dann ging er und schlang die Arme um Teresas Hüfte. Sie ließ ihren Kopf gegen seine Brust fallen und legte die Hände auf seine Arme. Er machte einen zufriedenen Gesichtsausdruck.

Okay, ich war auch ein bisschen neidisch auf Teresa.

Ich hatte noch nie eine echte Beziehung gehabt. Ich war in der Highschool nicht ausgegangen. Die Narbe auf meinem Gesicht war damals noch viel auffälliger gewesen. Selbst mit dem wunderbarsten Make-up hatte ich sie nicht abdecken können. Und Highschoolschüler, nun, sie konnten wirklich grausam sein, wenn es um deutlich sichtbare Schönheitsfehler ging. Und selbst wenn jemand darüber hätte hinwegsehen können, so, wie mein Leben damals lief, hatte ich einfach keine Zeit für Verabredungen gehabt und noch weniger für eine Beziehung.

Dann hatte es da Jonathan King gegeben. Er hatte im ersten Collegejahr zusammen mit mir den Geschichtskurs besucht, ein wirklich süßer Kerl, und wir hatten uns sofort verstanden. Natürlich hatte ich gezögert, als er mich um eine Verabredung bat. Aber verdammt, er war hartnäckig geblieben, und schließlich hatte ich zugesagt. Wir waren ein paarmal miteinander ausgegangen, und die Beziehung hatte sich entwickelt. Wie jeder normale Kerl hatte er eines Abends, als wir allein in meinem Wohnheimzimmer gewesen waren, versucht, bei mir zu landen. Er hatte schließlich über die Narbe in meinem Gesicht hinwegsehen können, also hatte ich dämlicherweise geglaubt, er könnte auch über alles andere hinwegsehen.

In diesem Punkt hatte ich mich geirrt.

Wir hatten uns nicht mal geküsst und waren auch nicht mehr miteinander ausgegangen. Ich hatte niemanden von ihm und dieser schrecklichen Nacht erzählt. Ich dachte nie wieder an ihn.

Na ja, außer jetzt im Moment natürlich. Verdammt.

Während ich die heißen Typen vom Heiße-Kerle-Kommando beobachtete, war ich mir durchaus bewusst, dass ich ziemlich mannstoll war, aufgrund des Mangels an … na ja, Männern in meinem Leben.

»Ich hab’s!«

Ich riss den Kopf herum, als Ollie um die Couch tigerte. Seine Freundin Brittany folgte ihm, die Augen so weit verdreht, dass ich das Gefühl hatte, sie müsste gleich in Ohnmacht fallen.

Ollie trat an den Couchtisch und lehnte sich vor. Er hielt eine Schildkröte in den Händen. Ich zog die Augenbrauen hoch, als der kleine grüne Kerl mit den Beinen wedelte. Was zur …?

»Es ist keine echte Party, bevor Ollie nicht die Schildkröte rausholt«, sagte Jase, und meine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.

Cam seufzte und beugte sich neben Avery vor. »Was zur Hölle treibst du da mit Raphael?«

»Nur damit das klar ist.« Ollie setzte die Schildkröte auf den Tisch. Dann schob er sich mit einer Hand die schulterlangen blonden Haare hinters Ohr. »Das ist Michelangelo. Ich finde es ziemlich jämmerlich, dass du die beiden nicht mal mehr auseinanderhalten kannst. Wahrscheinlich ist Raphael schon depressiv.«

»Ich habe versucht, ihn aufzuhalten«, erklärte Brit mit verschränkten Armen. Die beiden sahen aus, als ständen sie in der Endrunde des Castings bei Das perfekte blonde Pärchen. »Aber ihr wisst ja, wie er ist …«

Jeder wusste, wie Ollie war.

Ollie studierte inzwischen – überraschenderweise – Medizin, doch seine Mätzchen waren mindestens so legendär wie das Heiße-Kerle-Kommando an sich. Ollies Rang wäre Unteroffizier des Leutnants. Er strich eine Menge Extrapunkte dafür ein, dass er fast jedes Wochenende nach Shepherdstown kam, um seine Freundin zu besuchen und dafür, dass er einfach ein unverbesserlicher Doofkopf war.

»Wie ihr sehen könnt, habe ich eine neue Leine entworfen.« Er deutete auf ein Konstrukt um den Panzer der Schildkröte, das aussah wie ein winziger Gürtel.

Cam starrte zu ihm auf. »Meinst du das ernst?«

»Jetzt könnt ihr mit den beiden spazieren gehen.« Und dann führte er uns seine Erfindung vor, indem er Michelangelo über den Tisch wandern ließ. Ich fragte mich, ob Avery und Cam eigentlich von diesem Tisch aßen. »Auf jeden Fall ist es besser als Bindfaden.«

Mit einer Schildkröte spazieren gehen? Das … das musste schlimmer sein, als eine Katze spazieren zu führen. Ich fing an zu kichern. »Das sieht aus wie ein Barbiegürtel.«

»Es ist eine Designerleine«, korrigierte Ollie mich mit zuckenden Lippen. »Aber ich gebe zu, die Idee kam mir im Wal-Mart in der Spielzeugabteilung.«

Teresa runzelte die Stirn. »Wieso warst du in der Spielzeugabteilung?«

»Genau. Gibt es da etwas, was ihr beide uns verheimlicht?«, fragte Jase.

Brit riss die Augen auf.

Ollie dagegen zuckte nur mit den Achseln. »Ich schaue mir gerne Spielzeug an. Es ist inzwischen alles so viel cooler als in unserer Kindheit.«

Dieser Kommentar entzündete eine generelle Diskussion darüber, wie schlecht es unsere Generation doch gehabt hatte, wenn man die Coolness und Raffinesse des heutigen Spielzeugs betrachtete. Ich musste schwer nachdenken, um mich an das Spielzeug meiner Kindheit zu erinnern. Barbies – natürlich hatte ich Barbies gehabt –, doch statt Modellautos oder Gesellschaftsspielen gab es bei mir Satinschärpen und glitzernde Krönchen.

Und dann hatte ich gar nichts mehr besessen.

Als die Gruppe anfing, sich über ihre Pläne für den Sommer zu unterhalten, versuchte ich mitzubekommen, was die einzelnen Leute vorhatten. Cam und Avery wollten den Sommer in D.C. verbringen, weil Cam es ins Uniteam geschafft hatte. Ich war noch nie in Washington gewesen, obwohl Shepherdstown gar nicht so weit von unserer Hauptstadt entfernt lag. Brits und Ollies Pläne waren erstaunlich verrückt. Sie wollten eine Woche nach Ferienbeginn aufbrechen, um nach Paris zu fliegen und von dort aus quer durch Europa zu reisen. Ich hatte noch nie in einem Flugzeug gesessen, und noch weniger war ich in Europa gewesen. Zur Hölle, ich hatte ja noch nicht mal New York City gesehen. Teresa und Jase waren eifrig damit beschäftigt, einen tollen Strandurlaub mit Jase’ Eltern und seinem kleinen Bruder in South Carolina zu planen. Sie wollten sich ein Haus am Meer mieten. Teresa redete nur noch darüber, ihre Füße ins Meerwasser zu halten. Ich war natürlich auch noch nie am Strand gewesen, demnach hatte ich keine Ahnung, wie sich Sand unter den Zehen anfühlte.

Ich musste wirklich dringend mal rausgehen und etwas erleben. So viel stand fest.

Aber das war okay, denn diese Dinge, inklusive mit einem heißen Kerl einen Kontinent zu bereisen, standen nicht auf der Liste meiner drei großen Ziele:

Einen Collegeabschluss machen.

Einen Job im Krankenpflegebereich finden.

Endlich einmal sehen, wie es sich anfühlt, wenn man etwas zu Ende gebracht hat.

Es war gut, Ziele im Leben zu haben. Langweilig, aber gut.

»Du bist heute sehr still, Calla.«

Ich versteifte mich. Ich konnte einfach nichts dagegen machen. Dann fühlte ich, wie mir beim Klang von Brandon Shrivers Stimme ganz heiß wurde. Ich steckte meine Bierflasche zwischen die Knie und versuchte krampfhaft, meine Schultermuskeln zu entspannen. Es war nicht so, als hätte ich vergessen, dass Brandon neben mir saß, links von mir saß. Wie könnte ich das vergessen? Im Moment tat ich einfach nur so, als gäbe es ihn nicht.

Ich leckte mir über die Lippen und drehte den Kopf so, dass mehrere lange blonde Strähnen meines Haares über meine linke Schulter fielen und meine Narbe verbargen. »Ich höre einfach nur zu.«

Brandon lachte leise. Er hatte ein tolles Lachen. Und ein attraktives Gesicht. Und einen phantastischen Körper. Und einen wirklich knackigen Hintern.

Ja, Brandon gab es natürlich auch noch. Seufz. Tiefer Seufzer von epischer Länge. Er stand mit seinen braunen Haaren und den breiten Schultern nur knapp unter dem Leutnant des Heiße-Kerle-Kommandos.

»Wenn Ollie da ist, gibt es immer eine Menge zu verarbeiten«, meinte er, während er mich über den Rand seiner Bierflasche hinweg beäugte. »Warte, bis er seine Idee präsentiert, Rollschuhe für Schildkröten zu basteln.«

Ich lachte und entspannte mich noch ein bisschen mehr. Brandon war heiß, aber er war außerdem auch nett, auf der Freundlichkeitsskala irgendwo angesiedelt zwischen Cam und Jase. »Mir fällt es schwer, mir Schildkröten auf Rollschuhen auch nur vorzustellen.«

»Ollie ist entweder vollkommen verrückt oder ein Genie.« Brandon rutschte auf dem Polsterhocker ein wenig nach vorne. »Die Jury berät noch.«

»Ich halte ihn für ein Genie.« Ich beobachtete, wie Ollie die Schildkröte wieder einfing und sie zu dem ziemlich aufwendigen Terrarium trug, in dem der kleine grüne Kerl lebte. »Laut Brit hat er Bestnoten in all seinen Kursen. Und ein Medizinstudium kann nicht einfach sein.«

»Stimmt schon, aber die meisten klugen Leute sind vollkommen wahnsinnig.« Brandon kommentierte mein leises Lachen mit einem Grinsen. »Und, hat der riesige Kampf um die Kurse des nächsten Semesters ein gutes Ende genommen?«

Ich nickte grinsend und lehnte mich in meinem Sessel zurück. Ich hatte nur noch eineinhalb Semester bis zu meinem Abschluss als Krankenschwester, und zu den notwendigen Kursen zugelassen zu werden war so schwierig wie ein Armdrückwettbewerb gegen Hulk Hogan. Jeder, der mich kannte – oder sich in letzter Zeit auch nur in meiner Nähe aufgehalten hatte –, wusste, dass ich seit einer gefühlten Ewigkeit mit meinem Stundenplan kämpfte. Im Moment war das Semesterende noch eine Woche entfernt, und es war fast einen Monat her, dass die Einschreibfrist für die Kurse des nächsten Semesters zu Ende gegangen war.

»Ja, endlich. Ich glaube, es fühlt sich so an, als musste ich mein rechtes Bein opfern, um die richtigen Kurse zu belegen, aber jetzt habe ich alle zusammen. Am Montag muss ich mich noch mit jemandem in der Studentenbeihilfe treffen, aber das sollte eigentlich laufen.«

Als ich Brandon ansah, wirkte er leicht besorgt. »Ist finanziell alles in Ordnung?«

»Ich denke schon.« Mir fiel zumindest kein guter Grund ein, warum es anders sein sollte. »Hast du schon Pläne für den Sommer?«

Er hob eine seiner breiten Schultern. »Ich habe nicht groß darüber nachgedacht, weil ich Sommerkurse belege.«

»Das klingt spaßig.«

Er schnaubte nur.

Ich wollte gerade noch etwas lächerlich Uncleveres sagen, weil ich fand, dass dieses Eins-zu-eins-Gespräch mit Brandon gar nicht schlecht lief, doch dann lenkte mich ein Klopfen an der Tür ab. Mein Blick folgte Ollie zur Tür. Er öffnete sie, als sei es seine Wohnung.

»Was geht, hübsche Lady?«, fragte er. Ich setzte mich aufrecht und packte meine Bierflasche fester.

Eine hübsche, zierliche Brünette stiefelte in die Wohnung. Von ihren Fingern baumelte eine rote Sheetz-Tüte. Sie lächelte Ollie an und winkte Brit kurz zu.

Ich kannte ihren Namen nicht.

In gewisser Weise weigerte ich mich, mir ihren Namen zu merken. Ich kannte Brandon inzwischen seit einem Jahr, und ich gab mir keine Mühe, mir irgendwelche der Mädchen zu merken, mit denen er »abhing«, weil es so viele waren und sie nie lange aktuell blieben.

Doch dieses Mädchen mit ihren kurzen braunen Haaren und dem Körper einer Ballerina war anders. Die beiden hatten in diesem Semester einen Kurs zusammen besucht und hingen seit März miteinander rum. Doch heute sah ich sie zum ersten Mal außerhalb des Campus mit Brandon.

Eigentlich hatte ich sie nie wirklich kennengelernt. Ich hatte keine seiner üblichen Verdächtigen wirklich kennengelernt, sondern sie nur auf dem Campus und manchmal auf Partys gesehen. Doch Brandon war auf keiner Party mehr aufgetaucht, seit … na ja, seit März.

»Da ist sie ja.« Seine grünen Augen leuchteten auf.

O Scheiße.

Ich war vielleicht schwer von Begriff.

Ich atmete durch die Nase und lächelte angestrengt, als das Mädchen sich ihren Weg durch die Pärchen bahnte, um Brandon zu erreichen. Er richtete sich auf seinem Hocker auf und öffnete die Arme. Sie schmiss sich sofort an ihn ran, setzte sich auf seine Knie und schlang die Arme um seinen Hals. Die Sheetz-Tüte baumelte auf seinem Rücken, und ihr Mund war wie eine Fernleitrakete, die auf Brandons Lippen programmiert war. Und das konnte ich ihr nicht mal übel nehmen.

Sie küssten sich.

Es war ein tiefer, langer, feuchter Kuss – ein echter Kuss. Nicht die Art Kuss, die meint »Wir lernen uns gerade kennen« oder die Art, die sagt »wir stehen aufeinander«. Das hier bedeutete »Wir haben schon eine Menge Körperflüssigkeiten ausgetauscht«.

Und, lieber Gott, ich beobachtete sie dabei, wie sie versuchten, sich gegenseitig aufzufressen, bis mir klar wurde, dass ich mich gerade wirklich peinlich benahm. Ich zwang mich dazu, den Kopf abzuwenden, und sah Teresa an.

Ein mitfühlender Ausdruck huschte über ihr hübsches Gesicht. Sie hatte sich aus Jase’ Umarmung zu mir umgedreht, denn sie wusste, dass ich total verzweifelt für Brandon schwärmte.

»Ich habe dir eine Käsebrezel mitgebracht«, verkündete das Mädchen, als die beiden endlich wieder Luft holen mussten.

Brandon liebte mit Käse gefüllte Brezeln wie ich Schokoladenbrownies.

»Sie hat dir eine Brezel mitgebracht?«, fragte Ollie. »Mann, steck der Frau einen Ring an den Finger.«

Brit verdrehte die Augen und legte einen Arm um Ollies Hüfte. »Du bist ja wirklich leicht zu beeindrucken.«

Ollie drehte sich in ihrer Umarmung und senkte sein Gesicht zu ihrem. »Du weißt genau, womit man mich beeindrucken kann, Baby.«

Ich wartete weiter darauf, dass Brandon aus dem Stuhl aufsprang und vor der Vorstellung weglief, einem Mädchen, das er gerade mal seit ein paar Monaten kannte, einen Ring an den Finger zu stecken. Doch da mir der Anblick auf seinen knackigen Hintern auf dem Weg zur Tür verwehrt blieb, sah ich zu ihm, obwohl ich wusste, dass es dumm war. Ich hatte einfach eine masochistische Ader.

Brandon starrte das Mädchen an und grinste auf eine Weise, die mir und der ganzen Welt verriet, dass er absolut glücklich war.

Ich unterdrückte ein Seufzen.

Und dann sah er mich an, und bevor ich in Panik verfallen konnte, weil er mich dabei erwischt hatte, wie ich ihn anstarrte wie ein Stalker, wurde sein Lächeln noch strahlender. »Du hattest noch gar nicht die Gelegenheit, Tatiana kennenzulernen.«

Verdammt. Ich wollte ihren Namen nicht erfahren. Aber Tatiana war so ein cooler Name.

Tatiana schüttelte den Kopf und sah mich mit ihren braunen Augen an. »Nein, wir kennen uns noch nicht.«

»Das ist eine Freundin, Calla Fritz«, sagte er, während er dem Mädchen mit einer Hand über den Rücken strich. »Wir hatten letztes Semester einen Musikkurs zusammen.«

Das war ich – Calla Fritz, für immer und ewig die gute Freundin des Heiße-Kerle-Kommandos. Nicht mehr. Nicht weniger.

Ich blinzelte gegen die plötzlich aufsteigenden, dämlichen Tränen an und wedelte kurz in Tatianas Richtung mit den Fingern. »Nett, dich kennenzulernen.«

Und das war keine Lüge. Oder zumindest nur eine halbe.

Am Montag brach ich früh aus meinem Wohnheim auf, um mich in Richtung Ikenberry Hall zu begeben, die am Fuße eines riesigen Hügels lag, dessen Schönheit ich gerade nicht zu schätzen wusste. Es war Anfang Mai, aber die Temperatur erreichte bereits fast dreißig Grad. Auch wenn ich meine Haare in einen unordentlichen Dutt zurückgebunden hatte, fühlte ich doch, wie die Schwüle meine Haut umspielte und langsam über meine Kopfhaut kroch.

Bald, noch bevor ich heute meine letzte Prüfung geschrieben hatte, würde ich aussehen, als seien meine Haare um meinen Kopf explodiert.

Ich wanderte um Ikenberry Hall herum und verzog das Gesicht, als mir klar wurde, dass ich die Tür schnell öffnen und ins Innere des Gebäudes eintauchen musste, bevor mir das riesige Spinnennetz von dem kleinen Vordach auf den Kopf fallen konnte.

Im Gebäude war es kühl. Ich schob meine Sonnenbrille auf den Kopf und lief den Flur entlang, bis ich das Büro der Studentenbeihilfe erreichte. Ich nannte meinen Namen, dann bedeutete mir die überarbeitete, erschöpft wirkende Sekretärin, mich auf einen der Wartestühle zu setzen.

Ich musste nur fünf Minuten warten, bevor mich eine schlanke, ältere Frau mit silbernen, modisch gestylten Haaren abholte. Wir gingen nicht in eine der kleinen Nischen, in denen die meisten Berater arbeiteten. O nein, sie führte mich in eines der echten Büros am Ende des Ganges.

Dann schloss sie die Tür hinter sich und trat hinter ihren Schreibtisch. »Bitte, setzen Sie sich, Miss Fritz.«

Mein Magen verkrampfte sich, als ich ihrer Aufforderung folgte.

So etwas war mir noch nie passiert. Gewöhnlich fehlte, wenn ich hierher gerufen wurde, einfach nur ein Dokument oder ich musste noch ein Formular unterschreiben. Es konnte schließlich nichts Schlimmes sein. Ich hatte die Beihilfe nur beantragt, um die Kosten zu bestreiten, die ich nicht mithilfe meines schlechtbezahlten Kellnerinnenjobs bezahlen konnte. Und da ich meinen Job zum Anfang des nächsten Semesters gekündigt hatte, um mich voll und ganz auf meine Ausbildung konzentrieren zu können, würde sich die Studienbeihilfe noch als nützlich erweisen.

Die Ausbildung zur Krankenschwester war kein Zuckerschlecken.

Langsam stellte ich meine Tasche neben den Stuhl, während ich meinen Blick über den Schreibtisch gleiten ließ. Auf dem Namensschild stand Elaine Booth, also hieß die Frau wohl so, wenn sie sich nicht als jemand anders ausgab. Außerdem standen eine Menge Fotos auf dem Schreibtisch. Familienfotos – schwarz-weiß und bunt, Fotos von Babys über Kleinkinder bis hin zu Leuten in meinem Alter, wenn nicht sogar ein wenig älter.

Ich wandte schnell den Blick ab, weil ich einen vertrauten Stich in der Brust fühlte. »Also … was ist los?«

Mrs Booth verschränkte die Hände über einer Akte. »Uns wurde letzte Woche von der Zulassungsstelle mitgeteilt, dass der Scheck für die Unterrichtsgebühren des nächsten Semesters nicht gedeckt ist.«

Ich blinzelte einmal, dann noch einmal. »Was?«

»Der Scheck ist geplatzt«, erklärte sie, hob den Blick von der Akte und sah mich an. Ihre Augen glitten über mein Gesicht, dann senkte sie den Blick eilig wieder. »Das Konto ist nicht gedeckt.«

Sie musste sich irren. Auf keinen Fall war dieser Scheck geplatzt. Dieser Scheck ging von einem Sparkonto ab, das ich nur für meine Ausbildung benutzte. Auf diesem Konto befand sich das gesamte Geld für meine Ausbildung. »Da muss ein Irrtum vorliegen. Auf diesem Konto sollte sich genug Geld für die nächsten eineinhalb Semester befinden.«

Und nicht nur das, auf diesem Konto sollte auch genügend Geld für eventuelle Notsituationen liegen und genug, um mich die ersten paar Monate nach meinem Abschluss über Wasser zu halten, während ich einen Job suchte und mich entschied, wo ich leben wollte; ob ich hierbleiben wollte oder …

»Wir haben bei der Bank nachgefragt, Calla.« Sie sprach mich nicht mehr mit meinem Nachnamen an, und aus irgendeinem Grund machte das alles nur noch schlimmer. »Manchmal gibt es Probleme mit Schecks, weil die Summe nicht lesbar ist oder es bei der Kontonummer einen Zahlendreher gegeben hat. Aber die Bank hat bestätigt, dass das Problem die fehlende Kontodeckung ist.«

Ich konnte es einfach nicht glauben. »Haben sie Ihnen gesagt, wie viel Geld sich noch auf dem Konto befindet?«

Mrs Booth schüttelte den Kopf. »Das sind vertrauliche Informationen, also werden Sie darüber direkt mit Ihrer Bank sprechen müssen. Soweit es uns betrifft, lautet die gute Nachricht, dass Sie Ihre Gebühren bisher immer überpünktlich bezahlt haben. Das bedeutet, dass uns noch Zeit bleibt, um eine Lösung zu finden. Wir werden dieses Problem lösen, Calla.« Sie öffnete meine Akte, während ich sie anstarrte, als wäre ich am Stuhl festgewachsen. »Sie haben bereits Beihilfe beantragt, und auf jeden Fall könnten wir die Anforderungssumme für nächstes Semester erhöhen, um sicherzustellen, dass die Kursgebühren abgedeckt sind.«

Irgendwann während dieses Gesprächs war mir das Herz in die Hose gerutscht. Jetzt fiel es gleich weiter auf den Boden, während sie über die Erhöhung von Kreditsummen, staatliche Unterstützung und die Bewerbung für unzählige Stipendien redete.

Im Moment war mir das alles vollkommen egal.

Das konnte einfach nicht wahr sein.

Auf keinen Fall war dieses Konto leer. Ich achtete sorgfältig darauf, welche Rechnung ich von welchem Konto bezahlte, und das Geld auf diesem speziellen Konto war ausschließlich für meine Ausbildung reserviert. Ich hatte mir nicht einmal die Kreditkarte geben lassen, die eigentlich zum Konto gehörte.

Während ich Mrs Booth dabei beobachtete, wie sie systematisch ein Formular nach dem anderen aus einem Schrank neben ihrem Schreibtisch zog, als sei nichts weiter vorgefallen, ging mir ein Licht auf. Dieses Grauen konnte sehr wohl wahr sein.

O mein Gott.

Denn es gab noch jemanden, der auf dieses Konto zugreifen konnte – eine Person, die für mich so gut wie tot war. Eine Person, die ich so gründlich abgeschrieben hatte, dass ich mich tatsächlich benahm, als sei sie tot. Aber ich konnte einfach nicht glauben, dass sie so etwas tun würde. Auf keinen Fall.

Der Rest des Treffens mit Mrs Booth verging wie im Traum. Wie betäubt nahm ich die Formulare für die erhöhte Studentenbeihilfe entgegen und wanderte beladen mit Anträgen aus dem kühlen Büro in das helle Licht eines Maimorgens.

Ich hatte vor meiner Abschlussprüfung noch ein wenig Zeit, also hielt ich direkt auf die nächste Bank zu, setzte mich und schob die Formulare in meine Tasche. Sofort danach zog ich mit zitternden Händen mein Handy heraus, suchte die Nummer der Bank in meiner Heimatstadt heraus und rief an.

Fünf Minuten später saß ich immer noch auf der Bank und starrte ins Leere. Ich war wie betäubt. Das war gut – dieses leere Gefühl war vollkommen in Ordnung, weil ich genau wusste, dass die Alternative glühend heiße, mörderische, allumfassende Wut war. Und das durfte nicht sein. Ich musste ruhig bleiben. Meine Gefühle unter Kontrolle halten, denn sonst …

Mein gesamtes Geld war weg.

Und ich wusste – ich wusste mit jeder Faser meines Körpers –, dass das nur der Anfang sein konnte. Sozusagen die Spitze des Eisberges.