Umschlag

Matthias Fischer, geboren 1964 in Hanau, wuchs in Bruchköbel auf. Er studierte evangelische Theologie in Oberursel und Mainz und absolvierte sein Vikariat in Wächtersbach. Seit 1994 ist er evangelischer Pfarrer in einer Gemeinde im Kinzigtal sowie in der Notfallseelsorge, seit 1986 studiert er außerdem Kampfkunst. Matthias Fischer ist Vater dreier Kinder.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
 
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Medienagentur Gerald Drews, Augsburg.

© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.com/maspi
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-766-6
Originalausgabe

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Für Paula, Damian und Sarah

Prolog

Sie war mit dieser Art der Verabredung vertraut. In gewisser Weise mochte sie diese Blind Dates. Oft hatte ihr Gegenüber sogar der Beschreibung entsprochen, die sie zuvor von ihm erhalten hatte. Diesmal wusste sie nichts über den Mann. Der Treffpunkt, den er angegeben hatte, lag irgendwo in der Provinz zwischen Frankfurt am Main und Fulda. Der Ort hatte ihr nichts gesagt. Das Navigationsgerät hatte sie zu diesem Café gelotst.

Nun saß sie an einem Tisch und gönnte sich ein Stück Sachertorte zum Kaffee. Nach der anstrengenden Autofahrt aß sie in fast meditativer Ruhe. Ab und zu blickte sie durch das Fenster auf den kleinen Platz, auf dem ein Brunnen an die Geschichte des Städtchens erinnerte.

Ihr war gesagt worden, er wollte sich nicht in der Öffentlichkeit zusammen mit ihr zeigen. So erwartete sie seinen Anruf, während die Gabel den Schokoladenguss aufbrach und ein weiteres Stück von der Torte schälte. Bevor sie das Stück zerkaute, hielt sie es einen Augenblick lang im unbewegten Mund, gerade so lange, dass die Schokolade flüssig zu werden begann und ihre Zunge mit Kaskaden von süßen Aromen überflutete.

Das Mobiltelefon in ihrer Handtasche meldete sich. Eilig bemühte sie sich, wieder aus der Versenkung im Reich der Gaumenfreuden heraufzusteigen. Noch kauend holte sie das Handy aus der Schutzhülle. Doch er hatte nicht angerufen. Der Eingang einer neuen SMS wurde angezeigt. Er bestellte sie in ein Landhotel, irgendwo im Nirgendwo. Langsam begann sie dieses Versteckspiel zu nerven. Betrachtete er das etwa als eine Art Vorspiel, bevor sie endlich zur Sache kamen?

Sie traf die Männer, die mit ihr ins Bett gingen, meistens nur einmal. Vorher waren sie Fremde für sie, und nachher verblassten die Gesichter in ihrer Erinnerung fast ebenso schnell wie der Geruch von teurem Aftershave auf ihrer Haut.

Sie überlegte einen Augenblick lang, ob sie das Ganze abblasen sollte. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit und verdarb ihr den Genuss des restlichen Tortenstücks. Es war wie ein gelbes Ampellicht. »Sei vorsichtig! Bleib lieber stehen und fahr nicht weiter!«, war die Botschaft, die sauer in ihr aufstieg. Sie schob ihre Bedenken beiseite und spülte den sauren Geschmack mit einem großen Schluck Mineralwasser weg.

Sie machte das schon eine ganze Weile, und es war immer gut gegangen. Warum sollte es diesmal anders sein? Gut, der Typ hatte eigenartige Marotten. Aber vielleicht hatte ihm eine eifersüchtige Ehefrau einen Privatdetektiv auf den Hals gehetzt, um jeden Fehltritt zu dokumentieren. »Es ist nicht leicht, einen guten Schnüffler hinters Licht zu führen«, sagte sie zu sich selbst, als sie das Café verließ.

Im Wagen gab sie die neue Adresse in das Navigationsgerät ein, schnallte sich an und fuhr los. Die Landschaft, die sie kaum wahrnahm, war mit einer dünnen, harten Frostschicht überzogen. Die Sonne schaffte es nur, den Nachmittag in ein mildes Licht zu tauchen. Ihre Wärme ließ der trockene, bitterkalte Ostwind nicht zu, der seit Wochen die Welt mit seiner eisernen Hand umklammerte.

Sie sah nur wenig Menschen auf ihrer Strecke. Alle waren in dicke Winterkleider eingepackt. Besonders die Kinder sahen darin lustig aus, fand sie. Sie selbst hatte als Kind weniger gehabt; weniger Kleidung, weniger Spielsachen und weniger Temperatur in der nur mäßig beheizten Wohnung. Bis die Wolke kam. Danach hatte sie gar nichts mehr. Nur Leid und Elend.

Sie konzentrierte sich wieder auf die Straße, die kurvenreich durch die Täler und über die Hügel verlief. Als sie später durch einen Ort fuhr, zeigte ihr das Navigationsgerät, dass sie in fünfhundert Metern nach links abbiegen musste. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und sie wäre trotz des Bordcomputers an der Abzweigung vorbeigefahren, hätte sie nicht die Hinweisschilder gesehen, die die Richtung zum Landhotel zeigten.

Nur langsam fuhr sie den asphaltierten Weg entlang, der im Schatten des Waldes lag. Als sie den Wagen vor dem Anwesen parkte, hätte ihr eigentlich auffallen müssen, dass nirgendwo drinnen ein Licht brannte. Aber sie war viel zu müde von den langen Autofahrten an diesem Tag und viel zu bedacht darauf, ein freundliches Lächeln und eine gute Portion positiver Ausstrahlung zur Schau zu stellen, sodass sie es zunächst nicht bemerkte.

Vom Fenster ihrer Fahrertür aus sah sie, wie einige Meter weiter ein Paar Scheinwerfer zweimal aufblendete. Sie stieg aus und ging auf den Wagen zu. Da war es wieder, das gelbe Ampellicht in ihrem Bewusstsein. Sie sah sich hastig um. Nirgendwo stand ein weiterer Wagen. Es schien keine Gäste zu geben, keinen Hotelbetrieb. Sie war an einem gottverlassenen Ort ganz allein und verkürzte mit jedem ihrer Schritte die schützende Distanz zu einem Kerl, den sie nicht kannte, von dem sie nicht einmal wusste, wie er hieß oder wie er aussah. Er hatte ihr eine Falle gestellt, und sie war wie ein dummes Schaf hineingetappt. Aber noch war es nicht zu spät. Noch konnte sie fliehen. Sie hörte kein Motorengeräusch. Bis der Fremde seinen Wagen gestartet hatte, konnte sie bei ihrem Toyota sein. Mit etwas Glück kam sie hier mit dem Schrecken davon.

Blitzschnell drehte sie sich um und rannte auf ihr Auto zu. Doch nachdem sie nur wenige Meter zurückgelegt hatte, gefroren ihre Bewegungen zu einer eisigen Starre. Im Licht des Scheinwerfers sah sie etwas, das aus der Richtung ihres Wagens auf sie zukam.

Es hatte nichts Menschliches an sich. Seine Bewegungen wirkten irgendwie steif und ungelenk. Und doch war es schnell. Nadelzweige hingen an dem unförmigen Körper herunter. Das Wesen schien ansonsten nur aus Eis und Schnee zu bestehen. Wo ein Gesicht hätte sein sollen, sah sie nur ein unförmiges Gebilde mit zwei dunklen Höhlen.

Sie schreckte zurück, unfähig, die Flucht in eine andere Richtung fortzusetzen. Dann war das Wesen bei ihr. Sie hörte sein Schnaufen, konnte aber keinen Mund sehen. Sie taumelte zurück und öffnete ihren Mund zu einem Schrei. Doch bevor der aus ihrer Kehle dringen konnte, spürte sie einen stumpfen Schlag in die Magengrube, gefolgt von einem stechenden Schmerz. Sie bekam keine Luft mehr. Nicht genug Luft zum Atmen und schon gar nicht genug Luft für einen lauten Schrei.

Bevor ihre Lungen wieder bereit für einen tiefen Atemzug waren, fühlte sie eine Hand des Wesens auf ihrem Hinterkopf, die andere seitlich am Kinn. Der Ruck zur Seite kam schnell, zu schnell, als dass ihr Zeit geblieben wäre, mit ihrer Hals- und Nackenmuskulatur dagegenzuhalten.

Das knackende Geräusch, das ihre Halswirbel von sich gaben, als sie brachen, hörte sie schon nicht mehr. Sie war in die Falle getappt, nach so vielen Jahren hatte jemand sie drangekriegt und ihr den Hals herumgedreht – irgendwo im Nirgendwo.

Liebe und andere Schwierigkeiten

»Wie fandest du es?«

Christoph Caspari blickte kurz von der Straße hinüber zu Clara, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß.

»Eindrucksvoll. Bewegend.«

»Das ist alles? Nicht mehr?«

Caspari tat sich schwer, sein Erstaunen zu verbergen.

»Es irritiert dich, dass ich keine euphorische Nachlese halte?« Über Claras Gesicht huschte der Hauch eines Lächelns.

»Na ja, ein bisschen mehr Begeisterung habe ich, ehrlich gesagt, schon erwartet«, gab Caspari zu.

»Das war eine wundervolle und wirklich liebe Idee, glaub mir«, versicherte sie. »Im Grunde bin ich ja auch eine Opernliebhaberin. Aber die Geschichte von Tatjana und Eugen hat mich doch sehr an unser vorweihnachtliches Spektakel erinnert.«

Caspari riskierte noch einmal einen Blick weg von der Straße in ihre Augen. Da war sie wieder, diese ungezügelte Energie, die von ihnen ausging.

»Guck mich nicht so an, konzentriere dich lieber auf die Straße«, sagte sie amüsiert.

Caspari konnte sich keinen Reim auf ihr Verhalten machen. Er hatte schon vor Wochen zwei Karten für die Tschaikowski-Oper »Eugen Onegin« besorgt. Ein Kino in Hanau bot seit einiger Zeit Liveübertragungen von Aufführungen der »Metropolitan Opera« in New York in einem angenehmen Ambiente an.

Nachdem Caspari davon erfahren hatte, hatte er Clara so lange damit genervt, bis sie ihn bat, doch endlich Karten zu besorgen, damit sie sich nicht länger seine Vorträge über diese Form der modernen Teilhabe an Kultur anhören musste.

So hatte es Clara zumindest anderen in seinem Beisein immer wieder erzählt, um ihn damit aufzuziehen. Im Grunde war sie eine große Opernliebhaberin, das wusste er. Doch wie sie auf die Idee kam, Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Leben als Paar und der Geschichte um Liebe zur falschen Zeit zu sehen, war ihm völlig schleierhaft.

»Hilf mir mal auf die Sprünge.«

»Tatjana verliebt sich in Eugen, als sie eine schwärmerische Sechzehnjährige ist«, erklärte Clara. »Doch Eugen weist sie ab, weil er sich als junger Mann noch nicht festlegen, sondern das Leben in vollen Zügen genießen will. Sechs Jahre später treffen sich die beiden wieder. Sie hat einen älteren, reichen Fürsten geheiratet, der sie abgöttisch liebt. Er ist ruhelos um die Welt gereist und erkennt nun bei dem Wiedersehen, dass er eigentlich immer nur Tatjana gesucht hat, die er doch abgewiesen hatte. Tatjana steht auch förmlich in Flammen, als sie ihn wiedersieht. Doch sie entscheidet sich dafür, bei ihrem Mann zu bleiben.«

»Gute Zusammenfassung. Doch was hat das mit Maria und mir zu tun?«, brummte Caspari, der langsam ungehalten über den Verlauf des Gespräches wurde.

»Also, nun sei mal nicht so begriffsstutzig«, forderte ihn Clara heraus. »Maria und du, das war doch auch eine Jugendliebe, gegen die du dich entschieden hast. Oder ging es von ihr aus? Nach etlichen Jahren taucht sie plötzlich wieder auf und macht dich total wuschig. Glaub mir, ich hätte nie gedacht, dass ich mal so um den Fortbestand unseres Verhältnisses bangen müsste. Und das, wo wir doch schon mit unseren Hochzeitsplanungen begonnen hatten.«

Caspari hatte seit den vergangenen eineinhalb Monaten schon öfter Claras Eifersucht zu spüren bekommen. Am Anfang gefiel es ihm sogar. Die Erfahrung, dass eine Frau meinte, ihre Ansprüche an ihn gegen eine andere verteidigen zu müssen, war neu für ihn.

Er selbst fand sich unattraktiv. Als zu wuchtig gebaut fühlte er sich schon sein ganzes Leben. Nur ungern betrachtete er sich in einem großen Spiegel. Dort blieb sein Blick immer an seinen Schwachstellen hängen. Für einen durchtrainierten Athleten war er um die Hüften zu breit, für den klassischen Intellektuellen strahlte er wiederum zu viel Körperkraft aus. Dabei war er beides, promovierter Akademiker und eifriger Anhänger der alten Kampfkünste Japans.

Clara hatte ihn aus seinen Selbstzweifeln und seiner Schüchternheit herausgeholt. Sie hatte in ihm den Mann gesehen, der er gern sein wollte. Doch nachdem Maria, seine Jugendliebe, mit einer gemeinsamen Tochter in der Adventszeit plötzlich aufgetaucht war, hatte sich Claras Temperament, das sie von ihrer irischen Mutter geerbt hatte, Bahn gebrochen. Selbst bei den kleinsten Meinungsverschiedenheiten musste sich Caspari anhören, dass er zu seiner »Hollywood-Liebe« gehen könne, wenn Clara ihm nicht passte. Immer wieder hatte er ihr versichert, dass er bei ihr bleiben wolle, weil er sie wirklich liebe. Eigentlich wusste sie das auch. Doch hin und wieder schien sie einfach noch einmal hören zu müssen, dass er es ernst meinte.

»Nun mach aber mal einen Punkt«, wehrte er sich. »Wann haben wir dieses Thema endlich durch? Muss ich demnächst vor jedem Theater- oder Opernbesuch genau prüfen, ob du vielleicht eine Parallele finden könntest?«

»Tut mir leid«, lenkte sie ein. »Ich bin wohl ein hoffnungsloser Fall in Sachen Eifersucht.«

Caspari hörte sie tief einatmen.

»Es war ein wirklich toller Abend. Anna Netrebko und alle anderen Künstler haben Unglaubliches geleistet. Wie man anspruchsvolle Arien ausdrucksstark und technisch perfekt singen kann, ohne sich die Seele aus dem Leib zu schwitzen, ist mir unbegreiflich.«

»Das sagst du nur, um mir die Laune nicht zu verderben«, hielt Caspari dagegen.

»Nein, das meine ich ganz ehrlich«, protestierte sie. Dann neigte sie ihren Kopf zu ihm, gab ihm einen warmen Kuss auf die Wange und hauchte ihm ins Ohr.

»Danke, mein Großer. Das war wirklich ein Erlebnis.«

***

Seine Träume quälten ihn. In jeder Nacht kamen sie und machten sich über ihn her. Selten konnte er sich an den Inhalt erinnern. Der Arzt hatte ihm empfohlen, sie aufzuschreiben, um den Dämonen der Nacht ihren Schrecken zu nehmen. Aber selbst die Träume, deren Schatten noch in seinem Gedächtnis geblieben waren, waren viel zu diffus, zu wirr.

Die Tabletten halfen auch nichts. Die machten nur müde und bildeten eine Brücke in den Schlaf. Doch in Morpheus’ Armen warteten schon die Alpträume auf ihn und ließen erst wieder von ihm ab, wenn ihn der Wecker aus dem Schlaf holte.

Wenn er doch nur ein Bild, eine Sequenz oder gar eines der Gesichter mit in den Tag nehmen könnte, wo er die Kontrolle über seine Gedanken hatte.

Er saß ratlos und erschöpft in seinem Bett, auf dem sich die ersten Strahlen des Tageslichtes ausbreiteten.

Die schöne Tote

Caspari stieß sich auf dem Weg zum Telefon den Fuß am Türrahmen. Humpelnd ging er weiter und riss fluchend den Apparat aus der Station.

»Ich höre«, polterte er übellaunig.

»Christoph? Morgen. Hier ist Heinz.«

»Das höre ich. Was willst du am heiligen Sonntagmorgen auf der privaten Leitung?«

»Junge, Junge. Was regst du dich so auf? Es ist immerhin acht Uhr. Hast gestern wohl ein bisschen gefeiert? Dein Diensthandy ist ausgeschaltet.«

»So in der Art. Ich habe dieses Wochenende frei. Keine Bereitschaft oder so etwas. Lukas ist bei Elke, Clara muss keinen Gottesdienst halten, und ich will meine Ruhe.«

»Darauf nehmen die Verbrecher leider keine Rücksicht, mein Junge. Wir haben eine Leiche, die zu einer Mordserie passt. Ein Spaziergänger, der mit seinem Hund unterwegs war, hat sie gefunden. Ich habe Freitagabend erst mit der Polizeidirektion in Offenbach vereinbart, dass wir beim BKA um die Hilfe deiner Abteilung bitten.«

»Und bevor es grünes Licht aus Wiesbaden gibt, taucht die nächste Leiche auf«, führte Caspari den Gedanken seines früheren Mentors fort.

»So in etwa«, brummte der. »Hör mal, ich störe dich wirklich nur ungern an einem Wochenende ohne Bereitschaft, aber du solltest dir den Fundort wirklich ansehen, solange die Tote noch hier ist.«

Caspari gab resigniert seinen Widerstand auf.

»Wo seid ihr?«

»Mitten im Steinbruch.«

»Doch nicht in dem Basaltwerk zwischen Waldensberg und Breitenborn?«, fragte er, während ihm ein Schauer über den Rücken lief.

»Doch, nur ein paar Kilometer von dir entfernt.«

Caspari räusperte sich.

»Da hat man ständig mit Grausamkeit, Tod und Elend zu tun. Aber wenn es so nah vor der eigenen Haustür passiert …«

»… verschlägt es einem die Sprache«, führte Heinz Bertram den Gedankengang zu Ende.

Caspari blickte auf die Uhr.

»Meinst du, ihr könnt die Leiche bis halb neun liegen lassen?«

»Musst du dich erst noch aufhübschen?«

»Wenigstens für ein paar Minuten will ich ins Bad. Wie ich mich kenne, komme ich sonst den ganzen Tag nicht mehr dazu.«

»Mach nur. Wir sind noch eine Weile hier. Der Gerichtsmediziner ist ohnehin noch nicht da.«

Caspari beendete das Gespräch. Vorsichtig bewegte er seinen Zeh. Es tat zwar immer noch ein wenig weh, aber gebrochen schien er nicht zu sein.

Camillo kam schwanzwedelnd zu ihm und rieb seinen Kopf an Casparis nackten Beinen. Er kraulte den jungen Berner Sennenhund eine Weile hinter den Ohren, dann ging er gähnend ins Schlafzimmer. Clara hatte sich im Bett aufgesetzt und fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste lange Haar. Caspari sah ihr dabei mit Wehmut zu. Nur allzu gern hätte er sich wieder zu ihr ins Bett gelegt und ihren nackten Körper auf seiner Haut gespürt.

»Ich dachte, als Kriminaldirektor bleibst du an den Wochenenden von Einsätzen verschont?«

Caspari konnte ihre Enttäuschung verstehen.

»Ja, Sommer und Bauer haben an diesem Wochenende Bereitschaftsdienst. Aber die wohnen in Mainz, und die Leiche liegt hier im Steinbruch.«

»Hier um die Ecke?«

Auf ihrem Gesicht machte sich Entsetzen breit.

»Ja. Bertram hat mich um Hilfe gebeten. Er meinte, es könnte ein Zusammenhang mit einer Mordserie bestehen.«

»Die vier jungen Frauen, die in den letzten drei Wochen tot an verschiedenen Stellen im Kinzigtal aufgefunden wurden?«

»Du weißt davon?« Caspari war überrascht.

»Klar. Sag mal, liest du keine Zeitung?«

»In der letzten Zeit eher nicht. Das ist bei dem beruflichen und privaten Trubel vor und nach Weihnachten völlig auf der Strecke geblieben.«

»Wie einige andere Dinge auch«, beschwerte sich Clara. »Ich war eigentlich noch nicht fertig mit dem Schmusen.«

Caspari setzte sich neben sie auf das Bett, umarmte sie und sog den Duft ihrer Haare ein.

»Ich auch noch nicht. Da gibt es noch dies und das, was wir noch nicht genug … betrachtet haben.«

Sanft fuhr er ihr über ihre Brüste, die die Bettdecke freigegeben hatte.

»Hör auf, sonst lasse ich dich hier nicht weg«, hauchte sie ihm ins Ohr.

Schwerfällig löste er sich von ihr.

»Bist du wieder zurück, wenn Elke Lukas bringt?«, fragte sie mit einem herausfordernden Blick. »Oder bleibt es wieder an mir allein hängen, das Empfangskomitee zu mimen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Drückeberger!«, rief sie mit gespielt wütendem Gesicht, bei dem der Mund viele Facetten eines unterdrückten Lächelns zeigte.

Casparis geschiedene Frau Elke hatte alles andere als begeistert reagiert, als sie erfahren hatte, dass er mit Maria, seiner amerikanischen Austauschpartnerin aus der Schulzeit, eine gemeinsame Tochter hatte. Seither fanden die Begegnungen mit ihr in einer angespannten Atmosphäre statt.

Caspari konnte seine Exfrau sogar ein bisschen verstehen. Als sie ihn in der Ehe mit seinem damals besten Freund Jürgen Jungmann betrogen hatte und mit ihrem gemeinsamen Sohn Lukas zu ihm gezogen war, war es Caspari gewesen, der ihr gegenüber sehr abweisend reagiert hatte.

Auch als Lukas nach kurzer Zeit wieder zu ihm zurückgekehrt war, hatte Caspari Elke und Jürgen nicht verzeihen können. Erst mit Claras Hilfe hatte sich das Verhältnis deutlich entspannt.

»Weißt du was? Du hast recht. Ich habe keine Lust auf Elkes vorwurfsvollen Gesichtsausdruck und ihre spitzen Bemerkungen«, konterte er. »Andererseits würde ich das alles liebend gern ertragen, wenn ich dafür einen Vormittag nur mit dir bekommen könnte.«

»Tja, man kann halt nicht alles haben, mein Großer«, entgegnete sie ironisch. Damit, so glaubte er, sei er entlassen. Doch sie drückte sich an ihn, fuhr ihm mit den Fingern durch den Bart und küsste ihn.

»Und nun geh Verbrecher jagen«, sagte sie keck und legte sich wieder hin.

»Deine Schlafenszeit ist wahrscheinlich auch schnell beendet«, revanchierte er sich mit einem Augenzwinkern.

»Warum?«

»Dein Hund wird dich in absehbarer Zeit um einen Spaziergang ersuchen.«

Leichenblässe

Caspari fröstelte, als er zu seinem Wagen lief. Die Morgensonne hüllte den eisigen Wintermorgen in ein fahles Licht. Die ganze Natur lag in lebloser Starre unter einer harten Schicht aus Eis und Frost. Leichenblässe, dachte Caspari.

Er passierte mit seinem Volvo die geöffnete Schranke, neben der Schilder vor Sprengungen warnten und den Zutritt zum Steinbruch verboten. Nach einer Kurve sah er vier Streifenwagen und einige Zivilfahrzeuge. Daneben patrouillierten uniformierte Polizeibeamte, die mit den Füßen stampften und die Hände aneinanderschlugen. Viel schien das nicht zu helfen.

Caspari zog sich seine Polizeimütze auf und die Handschuhe an, ehe er zu ihnen ging.

»Guten Morgen!«, rief er den Kollegen zu, die seinen Gruß erwiderten. »Wie lange seid ihr schon hier?«

»Viel zu lang«, beschwerte sich einer der beiden, den Caspari von seinem letzten »Kinzigtal-Fall« kannte, bei dem sie einer gefährlichen Psycho-Sekte auf die Spur gekommen waren.

»Wo liegt sie?«

Der Uniformierte zeigte auf eine Stelle rechts neben der Straße. »Die Kriminaltechniker sind schwer am Rödeln. Der Gerichtsmediziner ist vor einer Viertelstunde auch gekommen.«

»Und Bertram, euer Oberindianer?«, fragte Caspari.

»Der hat seinen heißen Tee schon längst ausgetrunken und dürfte mittlerweile festgefroren sein«, feixte sein Kollege.

Caspari ging auf die Stelle zu. Birken ragten neben der Transportstraße wie dürre, bleiche Finger in den milchig-blauen Himmel. Ungefähr dreißig Meter abseits herrschte emsiges Treiben, das an einen Bienenschwarm erinnerte. Frauen und Männer in weißen Overalls untersuchten die Büsche und den Boden in einem großen Radius.

Inmitten dieser Geschäftigkeit sah Caspari zwei nackte Füße und Unterschenkel, die in seine Richtung lagen. Neben dem Körper kniete der Gerichtsmediziner, der gewissenhaft jeden leblosen Zentimeter untersuchte. Auf der anderen Seite stand Bertram, der leicht vornübergebeugt in ein Gespräch mit ihm vertieft war.

Caspari ging auf die fast unwirklich anmutende Szene zu. Das gefrorene Laub knirschte bei jedem Schritt unter seinen Füßen. Bertram sah zu ihm auf.

»Ah, der Herr Doktor kommt auch schon. Ist schon komisch: Die am nächsten dran sind, brauchen immer am längsten«, maulte er.

»Entspann dich«, konterte Caspari. »Zeig mir lieber, was ihr bisher gefunden habt.«

»Da wäre zunächst mal die Leiche«, antwortete Bertram, wobei sein Atem bei jedem Wort in der klirrend kalten Luft in kleinen Dampfwölkchen aus Mund und Nase kam. Caspari entging die Resignation in der Stimme seines früheren Mentors nicht.

»Oder sollte ich sagen: wieder mal eine Leiche? Mittlerweile ist es die fünfte.«

Caspari blickte auf den nackten, toten Körper. Vor ihm lag der Leichnam einer schönen jungen dunkelblonden Frau. Ihre Haut hatte eine frostgraue Farbe angenommen. An den Oberarmen und den Oberschenkeln entdeckte Caspari Bisswunden. Füchse oder Waschbären hatten die schöne Tote wohl für eine willkommene Nahrungsquelle gehalten. Die Augen hatte ihr niemand geschlossen. Leer war der zum Himmel gerichtete Blick.

Ein dunkler Schatten zog sich über die Bauchdecke, fast wie ein Tropfen schwarzer Tinte, den man in ein Glas Wasser fallen lässt. Was Casparis Aufmerksamkeit aber am meisten auf sich zog, war das schwarze Tuch, das um ihren Hals drapiert war.

»Ist es derselbe Modus Operandi wie bei den anderen?«, tastete er sich vor.

»Wieder dieselbe Vorgehensweise«, bestätigte Bertram. »Den Frauen wurde mit einem stumpfen Gegenstand so fest in die Magengegend geschlagen, dass die Bauchdecke gerissen ist. Dann wurde jeder von ihnen das Genick gebrochen. Dr. Völker ist sich sicher, dass dazu eine schnelle und ruckartige Linksrotation des Kopfes durchgeführt wurde.«

»Das heißt, der Täter stand wahrscheinlich vor seinem Opfer. Er hat seine linke Hand auf den Hinterkopf der Frau gelegt. Mit der rechten Handfläche hat er gegen ihr Kinn gedrückt und ihr dann den Kopf mit einer blitzschnellen Bewegung von sich aus nach rechts gerissen. Das spricht für einen Rechtshänder, der den Genickhebel beherrscht.«

»Und wenn er von hinten kam?«, warf Bertram ein. »Dann wäre das Genick von einem Linkshänder gebrochen worden.«

»Dann hätte er einen Komplizen gebraucht, der der armen Frau mit was auch immer in den Bauch schlug. Nein, der Angriff kam gänzlich von vorn. Erst muss sie etwas in die Eingeweide bekommen haben, wodurch ihr Oberkörper sich leicht nach vorn beugte. Das ist die normale reflexartige Reaktion bei einem Schlag in den Magen. Da der Kopf schon nach vorn geneigt war, konnte der Täter gleich zupacken und sein Werk zu Ende bringen.«

»Das arme Mädchen«, stöhnte Bertram und blickte auf die Tote. »Je länger ich diesen Beruf mache, umso schwerer fällt es mir, die professionelle Distanz zu den Opfern von Gewaltverbrechen zu wahren.«

»Lass uns weitermachen. Wir tun den Toten keinen Dienst, wenn wir mit ihnen mitleiden«, sagte Caspari so leise und einfühlsam, wie es ihm nur möglich war. Er wusste, wie schwer es war, das Leid der Opfer von der eigenen Psyche fernzuhalten. Die Mauer, die er bei jedem neuen Fall um sich zog, kostete ihn viel Kraft. Doch ohne diesen Schutz hätte er seine Arbeit schon lange an den Nagel hängen können.

Er war ein Spezialist für Fälle, bei denen es um Serienmorde ging. Als Polizist und Kriminalpsychologe hatte er es mit grausigen Leichenfunden, kranken Täterhirnen und schwer gestörten Persönlichkeiten der Mörder zu tun. Mittlerweile leitete er als Kriminaldirektor eine eigene Abteilung beim Bundeskriminalamt, die auf derartige Fälle spezialisiert war und bundesweit von den Behörden angefordert werden konnte.

»Du jagst seit Wochen eine Bestie. Das zehrt. Wenn das rum ist, nimmst du dir mal eine Auszeit«, sagte Caspari.

Er legte eine kurze Pause ein, bevor er weiterfragte.

»Was kannst du mir sonst noch über die Mordserie erzählen?«

»Der Fundort ist nie der Tatort. Wie auch an den anderen Fundorten, so ist auch hier keinerlei Spur eines Kampfes zu finden. Die Frau wurde hier einfach abgelegt wie ein Müllsack, den man in den Wald schmeißt.«

»Gibt es Reifen- oder Fußspuren?«

»Nichts. Der Wagen wurde wahrscheinlich immer auf den asphaltierten Wegen geparkt. Von dort aus hat der Täter seine Opfer an die Stellen getragen, an denen er sie schließlich zurückgelassen hat.«

»Habt ihr die Kleidungsstücke der Frauen gefunden?«, fragte Caspari.

»Fehlanzeige. Nicht eine Faser. Deshalb gehen wir davon aus, dass sie bereits nackt waren, als er sie zu den Fundorten gebracht hat. Auch müsste der Untergrund Spuren aufweisen, wenn der Mörder seinen Opfern dort die letzte Würde geraubt hätte.«

»Und ihr habt keine Ahnung, wo der Täter seine Opfer ermordet hat?«, hakte Caspari nach.

»Wir stehen vor einem Rätsel«, gab Bertram unumwunden zu.

»Das Einzige, das wir haben, sind feine Spuren von Sand auf der Haut aller Ermordeten«, schaltete sich Dr. Völker ein.

»Der kann von jeder x-beliebigen Baustelle in ganz Deutschland kommen, von irgendeiner Baggergrube und von jedem Spielplatz im gesamten Main-Kinzig-Kreis«, stellte Bertram klar. »Unser Problem ist, dass wir nichts über diese Frauen wissen. Wären wir in Amerika, müssten wir sie alle Jane Doe nennen, oder so. Wir haben alle Vermisstenanzeigen durchgesehen, alle Datenbanken durchstöbert, wir haben sogar schon über die Medien die Bürger befragt, ob jemand diese toten Frauen kennt. Es ist, als seien sie schon tot vom Himmel gefallen.«

»Wurden sie vergewaltigt?« Dieses emotionsgeladene Thema sprach Caspari ungern an. Sich mit dem qualvollen Weg der Opfer bis zu deren Tod auseinandersetzen zu müssen, war eine Herausforderung für jeden Polizisten.

»Nein. Das ist allen erspart geblieben«, meinte Dr. Völker.

»Was hat es mit dem Schaltuch auf sich?«, wollte Caspari wissen.

»Das trägt erst recht zur Verwirrung bei«, brummte Bertram. »Drei der fünf Toten hat der Täter ein schwarzes Tuch umgelegt. Die anderen zwei fanden wir mit weißen Schaltüchern. Das ist ja das Verwirrende: Bei allen ist es derselbe Modus Operandi, abgesehen von den Tüchern. Wir wissen nicht, ob wir es mit nur einem Täter zu tun haben, der sich einen makabren Scherz mit seinen Opfern und uns erlaubt, oder ob es zwei Mörder sind, die eine Art Wettstreit miteinander austragen. Nach wem suchen wir hier, verdammt noch mal?«

Caspari dachte nach.

»Nach jemandem, der körperlich sehr stark ist. Man braucht viel Kraft, um einen toten Menschen aus dem Kofferraum zu hieven und in den Wald zu tragen. Zum anderen verfügt derjenige über genug Erfahrung und beherrscht die Technik, jemand schnell, leise und effektiv zu töten. Was mich irritiert, ist die Tatsache, dass das nicht nach einer Tat im Affekt oder im Blutrausch aussieht, sondern nach eiskalten, präzise ausgeführten Eliminierungen. Das passt so gar nicht in das Bild eines Täters, der aufgrund eines ödipalen Komplexes oder einer anderen extremen Persönlichkeitsstörung enorm viel psychischen Druck aufbaut, den er nur in der brutalen Tötung eines Menschen loswerden kann. Das hier ist viel zu klar und nüchtern, fast sachlich durchgezogen.«

»Also suchen wir keinen deiner üblichen Verrückten?«, schnaufte Bertram unwillig.

»Ich weiß es nicht. Um eine Beurteilung abzugeben, brauche ich mehr Fakten, mehr Puzzleteilchen – und vor allem meine Truppe.«

»Wollt ihr schon wieder in mein Revier eindringen?« Bertram schien nur mäßig begeistert von der Aussicht, nach vier Ermittlungen des BKA in den vergangenen Monaten in Gelnhausen Casparis Abteilung auf ein Neues mehrere Büroräume und ein Besprechungszimmer zur Verfügung zu stellen.

»Du willst doch, dass der Spuk aufhört, oder?«, fragte Caspari zurück.

Heimatgefühle

»Wenn das so weitergeht, können wir bald komplett hier einziehen«, warf Erich Fuchs, einer der beiden älteren Mitarbeiter Casparis, mit einem Augenzwinkern in die Runde. »Im Kinzigtal häufen sich die Leichen wie bei einem Drogenkrieg in Mexiko.«

Gelächter brach aus, dem selbst Caspari sich nicht entziehen konnte. Der Vergleich hinkte natürlich gewaltig. Allerdings hatte der Kollege nicht ganz unrecht. Seit gut eineinhalb Jahren hatte seine Abteilung mehrere Fälle im Kinzigtal, im angrenzenden Vogelsberg und im Spessart aufklären müssen. Was war nur mit diesem idyllischen Fleck Erde, der seine Heimat war, los, dass er eine solche Anziehungskraft auf Verbrecher zu haben schien?

Caspari zwang sich, seine abschweifenden Gedanken wieder auf die Besprechung zu richten. Er hatte die Kollegen seiner Abteilung bereits am vorherigen Nachmittag über die Mordserie an den unbekannten Toten informiert und den Umzug von der BKA-Zentrale in Wiesbaden zum Gelnhäuser Polizeirevier veranlasst.

Nach dem Bezug der Büros saßen nun alle im Gemeinschaftsraum, der ihnen zugleich als Sitzungsraum diente. Mario, sein Freund und engster Mitarbeiter, hatte ein Whiteboard organisiert, das zugleich als Bildschirm für die Computer diente.

»Ich genieße es, in diesem Revier zu arbeiten«, entgegnete Mario. »Hier ist es familiärer als in dem riesigen Kasten in Wiesbaden, wo man kaum die Leute der anderen Abteilungen kennt. Außerdem«, fügte er mit ironischem Unterton hinzu, »haben wir im Büro vom Chef einen Waffenschrank. Diesen Luxus gibt es in Wiesbaden nicht.«

Caspari ließ einen Moment lang schweigend seinen Blick auf seinen Leuten ruhen.

Eine Gruppe Individualisten, dachte er, während er einen nach dem anderen ansah, und doch die beste und schlagkräftigste Mannschaft, die ich mir nur wünschen kann.

Erich Fuchs und Wolfgang Jung, die beiden alten Hasen, waren mit ihrer Erfahrung nicht zu ersetzen.

Andreas Sommer, ihr »Greenhorn«, hatte eine feine Nase bei der Recherche und gewann in den Außeneinsätzen immer mehr an Selbstsicherheit.

Svenja Bauer, die burschikos auftretende junge Polizistin, entpuppte sich zunehmend als Universaltalent.

Gernot Schneider, ein ehemaliger Angehöriger der GSG 9, war ihr Verhör- und Zugriffsspezialist. Caspari hatte ihn trotz seines zweifelhaften Rufs als das Enfant terrible des BKA in seiner Abteilung aufgenommen und diese Entscheidung nie bereut.

Schneider war in den letzten Monaten ausgeglichener geworden und hatte seine Aggressivität gegenüber Verdächtigen und Tätern zufriedenstellend im Griff. Das Verdienst dafür teilte sich Caspari mit Jin Jang, einer Polizistin aus Hongkong, die mit Hilfe der guten internationalen Kontakte des BKA-Präsidenten in Casparis Abteilung bleiben konnte, nachdem sie bei der Aufklärung einer chinesisch-deutschen Mordserie mitgewirkt hatte.

Die junge Chinesin hatte sich in Schneider verliebt und ihm geholfen, sich von seinem emotionalen Autismus zu befreien, in dem er sich seit dem Tod seiner Frau verkrochen hatte. Caspari schätzte Jin Jangs Qualitäten als ausgezeichnete Fallanalytikerin und Nahkampfexpertin.

Schließlich verweilte sein Blick bei Tina und Mario, seinen langjährigen Mitarbeitern und Freunden. Niemand außer seiner Familie kannte ihn so gut wie diese beiden. Privat ein Paar, waren sie auch als Polizisten hervorragend aufeinander eingestellt.

Mario, der den Charme und die Lebensfreude eines Italieners kultivierte, war der kreative Spürhund in seiner Abteilung. Er entdeckte und sammelte Details, die sonst keiner sah.

Tina hingegen war die strukturierte Denkerin, die Marios Gedanken-Mosaik sortieren und zu einem Gesamtbild zusammenfügen konnte. Caspari mochte die dynamische Art seiner Kollegin. Wer sich von der attraktiven Erscheinung mit der roten Löwenmähne zu sehr einnehmen ließ, erlebte ein böses Erwachen, wenn sie die Seite der knallharten Polizistin herauskehrte.

»Was ist?«, fragte Tina verunsichert. »Warum starrst du uns denn so an?«

»Mir ging gerade durch den Kopf, dass diese Truppe die beste ist, die ich mir nur wünschen kann«, entgegnete Caspari mit belegter Stimme und wechselte schnell das Thema.

»Wir sind wieder einmal in diesem Polizeirevier zusammengekommen, weil es seit einigen Wochen eine Mordserie gibt, an deren Aufklärung sich die Kollegen die Zähne ausbeißen.«

Mit Hilfe der Tatortfotografien, die er auf der Tafel zeigte, erklärte er ausführlich, mit welchen Taten sie es zu tun hatten.

»Die erste Leiche wurde in Gelnhausen-Roth gefunden, am Herzberg. Da das in der Nähe eines Wohngebietes liegt, muss der Täter wohl die Möglichkeit in Kauf genommen haben, beobachtet zu werden. Doch darauf, dass er gesehen wurde, deutet bisher nichts hin. Deswegen gehen die Gelnhäuser Kollegen davon aus, dass die Platzierung der Leiche so gegen zwei bis drei Uhr morgens stattgefunden haben muss.

In dieser Zeitspanne fährt noch niemand zur Frühschicht, und es kommt auch noch niemand aus der Nachtschicht heim. Die zweite Leiche lag schätzungsweise drei Tage da, bis man sie entdeckte. Der Täter hat sie neben einem Wanderweg zwischen Gelnhausen-Höchst und Biebergemünd-Wirtheim abgelegt.«

Caspari deutete mit dem Mauspfeil auf die Stelle der digitalen Karte.

»Die dritte tote Frau wurde nach noch längerer Liegezeit in der Nähe eines Wanderwegs zwischen Biebergemünd-Kassel und Bad Orb gefunden. Der Wanderweg führt an einer früheren Keltensiedlung vorbei, der Alteburg. Das vierte Opfer entdeckte ein Landwirt in der Nähe seines Aussiedlerhofes am Löwelsberg. Der liegt an der Landstraße 3199, der sogenannten Eisernen Hand, die man fährt, wenn man von der Autobahn kommend nach Bad Orb möchte. Zu guter Letzt haben wir die Leiche von gestern, die auf dem Gelände des Steinbruchs zwischen Waldensberg und Breitenborn gefunden wurde.«

»Zum einen«, konstatierte Mario, »kommt unserem Mann der strenge Frost zugute. Der Boden ist so hart, dass Autoreifen oder Schuhe keine brauchbaren Abdrücke hinterlassen. Zum anderen wählt er die Ablageorte nach keinem erkennbaren Muster aus. Fundort eins bis drei liegen auf einer Linie, wenn ich das richtig sehe, die beiden anderen Fundorte haben aber keine erkennbare Verbindung zu ihnen. Auch irritiert mich, dass unser Täter bei den Leichen eins und vier riskiert, beobachtet zu werden, so nah, wie er an bewohnten Gegenden agiert. Für die anderen Toten wählte er dagegen deutlich abgelegenere Gebiete, in denen er sich keine Sorgen machen musste, aufzufallen.«

»Warum die schwarzen und weißen Tücher um den Hals der Toten? Was will uns der Mörder damit sagen? Oder sind es vielleicht sogar zwei, die hier am Werk sind? Dagegen spricht aber der vollkommen identische Modus Operandi«, fügte Fuchs hinzu.

»Und es gibt wirklich keinen Hinweis, wer diese jungen Frauen sein könnten?«, warf Jung eine neue Frage auf.

»Nicht den geringsten. Das Ganze ist ein großes, grausames Rätsel. Und nun kommen wir ins Spiel. Wir müssen wie das berühmte Schweizer Uhrwerk arbeiten. Jeder muss wissen, was der andere tut. Der Informationsaustausch läuft immer über mich. Nach Bedarf rufe ich zu zusätzlichen Besprechungen außer der Morgen- und der Abendrunde zusammen. Das ist euch allen ja nichts Neues mehr. Von unserer Effektivität hängt es ab, ob oder wie viele Frauen noch sterben müssen.«

Caspari verteilte die einzelnen Aufgabengebiete an seine Leute. Jin Jang bedeutete er, ihn in die Gerichtsmedizin zu begleiten.

»Ach, und Mario, koche doch bitte einen Kaffee, bis ich wieder zurück bin«, rief er im Gehen.

»Porca miseria! Warum muss immer ich das machen, wenn unsere Sekretärin nicht da ist?«, maulte der.

»Weil du von uns allen halt den besten Kaffee machst.«

Alpträume

Im gerichtsmedizinischen Institut angekommen, wandte sich Jin Jang, die auf der gesamten Autofahrt recht schweigsam gewesen war, Caspari zu. Das asiatische Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihr Blick wirkte ruhelos, ängstlich, wütend. Was beunruhigte sie nur?

»Ich hasse es, mir die Leichen nach der Sektion anzusehen«, stieß Jin Jang plötzlich hervor. »Mit den langen, genähten Schnitten sehen die aus wie gestopfte Weihnachts…« Sie brach ab.

Caspari hatte die chinesische Kollegin bisher nur ein einziges Mal so erregt erlebt, als sie einen Mordverdächtigen mit einem Familienmitglied verwechselt hatte. Jin Jang blickte zu Boden.

»Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen«, entschuldigte sie sich mit brüchiger Stimme. »Es war respektlos dir gegenüber – und gegenüber den Toten auch. Es ist nur so, dass ich nach diesen Besuchen in den Sektionssälen Alpträume habe. Eine oder auch zwei Nächte. Ein ausgeweideter Körper, sezierte Organe – die Vorstellung, dass das alles ist, was von einem Leben übrig bleibt, ist deprimierend.«

Caspari sah sie ruhig an.

»Das ist nicht alles, was vom Leben übrig bleibt. Da ist die Erinnerung, durch die die Toten in den Herzen ihrer Angehörigen weiterleben. Und dann ist da die Seele, von der ich glaube, dass sie existiert. Dieser Kern unseres Selbst ist unsterblich und nach dem Tod irgendwo gut aufgehoben, außerhalb unserer Wahrnehmung.« Er machte eine kurze Pause. »Ich nehme am liebsten dich mit an diesen Ort, weil du Dinge an den Toten siehst, die nicht mal mir auffallen. Es ist eine Gabe, die du hast. Ach – und: Es war nicht respektlos, mir gegenüber nicht. Und den Toten ist es egal.«

»Ehrlich?«

»Ja, ehrlich.«

Jin Jang wirkte erleichtert.

»Geht es wieder?«, fragte Caspari mit beruhigender Stimme.

»Und du meinst wirklich, ich habe diese Gabe?« Ihre Stimme war wieder gefasster.

»Sonst hätte ich es nicht gesagt.«

»In Ordnung. Wir können reingehen.« Sie hielt den Türgriff in der Hand und verharrte. Mit ihren dunklen Mandelaugen blickte sie Caspari noch einmal an, bevor sie die Tür öffnete.

Ȇber das alles muss ich in Ruhe nachdenken, Sifu

Caspari war überrascht und bewegt zugleich. Jin Jang hatte ihn in ihrer Muttersprache »Meister« genannt – ein Ehrentitel, das war ihm bewusst.

Dr. Völker erwartete sie bereits im Sektionssaal. Ein Mitarbeiter schob die Leiche auf einer Edelstahlbahre vom Kühlraum zu ihnen herein. Der Gerichtsmediziner zog in einer fast ehrfürchtigen Bewegung das grüne Laken weg, das die schöne Tote bedeckte. Caspari ließ die Stille zu, die sich bleiern auf sie legte.

Wie tief in einer Meditation versunken, tasteten Jin Jangs Augen den Körper ab. Schließlich blickte sie wieder auf und sah Völker und ihn an, als ob sie gerade erst ihre Gegenwart bemerkt hätte.

»Das war kein dumpfer Gegenstand, der den Riss im Zwerchfell verursachte«, stellte sie fest. »Das war ein extrem harter Schlag in die Magengrube, mit äußerster Kraft und sehr präzise ausgeführt.«

»Suchen wir einen Schwergewichtsboxer?«, fragte Caspari.

»Möglich. Aber das glaube ich nicht. Ich gehe vielmehr von einem Nahkampfspezialisten aus. Und damit meine ich nicht einen, der ein paar Monate lang in einem Armee-Camp geschliffen wurde. Das hier ist die Arbeit von einem richtigen, gut und lange ausgebildeten Profi, der ohne Waffen schnell, leise und sehr effektiv töten kann. Das zeigt auch die Technik, die er beim Genickbruch angewandt hat. In dieser Frage teile ich deine Meinung.«

»Dann sind wir ein Problem schon einmal los«, konstatierte Caspari. »Den dumpfen Gegenstand müssen wir nun nicht mehr suchen. Was meinen Sie dazu, Dr. Völker?«

»Ich gebe Ihrer Kollegin vollkommen recht.«

»Nun fehlt uns noch ein Ansatz bei der Ermittlung der Identität der Frauen«, schnitt Jin Jang das Hauptproblem an.

Dr. Völker wedelte mit einer Mappe. »Ich denke, da kann ich Ihnen weiterhelfen.«

Dunkle Spuren

Gesamtkonferenzen waren ein notwendiges Übel. Nach sechs Stunden Unterricht sehnte sie sich nach frischer Luft und einer kleinen Weile Ruhe. Ihre Aufgabe war es ja nicht nur, mit den Schülern thematisch zu arbeiten, sondern auch, die Erziehung nachzuholen, die viele Jugendliche in ihren Elternhäusern entweder gar nicht oder nur sehr ungenügend erfuhren.

Daneben musste sie einen endlosen Kampf gegen die Whatsapp- oder Facebook-Sucht führen. Kaum ein Schüler war noch in der Lage, dem Unterricht zu folgen, weil der unaufhörliche Strudel aus Kommunikationsmüll ihre Aufmerksamkeit fast vollständig aufsog. Beim Einsammeln der Mobiltelefone fühlte Clara sich zumeist wie Don Quichotte in seinem Kampf gegen die Windmühlen. Erst vor zwei Stunden hatte sie wieder drei dieser kleinen Quälgeister in der Verwaltung abgegeben, wo ihre Besitzer sie nach Unterrichtsende abgeholt und dabei auch gleich eine Verwarnung kassiert hatten.

Clara nahm einen tiefen Schluck Kaffee aus ihrem Thermobecher. Mit einer Prise arabischem Kaffeegewürz schmeckte das Gebräu sogar, das einer der Kollegen aus dem Fachbereich Chemie aufgesetzt hatte. Bevor der Rektor die Tagesordnung abzuarbeiten begann, stellte er eine neue Kollegin vor.

»Für Frau Rose, die sich, wie viele von Ihnen wissen, gerade im Mutterschutz und anschließend in Elternzeit befindet, konnten wir außergewöhnlich schnell eine Vertretung finden. Ich begrüße die neue Kollegin für die Fachbereiche Physik und Mathematik, Frau Milena Schwab.«

Eine junge Frau Mitte zwanzig erhob sich und nickte in die Runde. Clara fiel auf, wie schön sie war. Das lange dunkelblonde Haar umgab das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen wie ein Schleier aus weicher Seide.

»Meinen Namen hat der Direktor Ihnen gerade genannt. Ich bin sechsundzwanzig Jahre und stamme aus Bad König im Taunus. Studiert habe ich in Frankfurt und …«

Claras Aufmerksamkeit war so sehr auf den Ausdruck auf dem Gesicht der neuen Kollegin gerichtet, dass sie nicht mehr mitbekam, was sie noch erzählte. In Milena Schwabs Augen lag tiefe Traurigkeit wie ein grauer Schatten. Die junge Frau bemühte sich, ihn mit einem strahlenden Lächeln zu überspielen. Bei den anderen schien sie damit Erfolg zu haben. Doch Clara hatte als Seelsorgerin schon zu viel gesehen und erlebt, als dass ihr die Spur, die irgendein Schmerz im Gesicht der neuen Lehrerin hinterlassen hatte, entgehen konnte.

»… sodass ich sehr dankbar bin, direkt im Anschluss an mein Referendariat an einer so renommierten Schule wie dem Grimmelhausen-Gymnasium eine Anstellung gefunden zu haben«, beendete die Kollegin ihre Rede und setzte sich wieder.

Was quält dich?, dachte Clara, als sie noch einmal zu der neuen Kollegin hinüberblickte. Dann ergriff der Rektor wieder das Wort.

Fast zwei Stunden später fuhr sie zum Weiherhof. Sie freute sich auf einen ausgedehnten Spaziergang mit Camillo und einen gemütlichen Abend mit Caspari und Lukas. Vielleicht würden auch noch Tina und Mario zum Abendessen zu ihnen kommen. Caspari hatte für die beiden wieder das Gästeapartment seiner Eltern auf dem Weiherhof reserviert.

Kaum war sie auf den Innenhof des alten Anwesens gefahren, kam Lukas mit einem Klassenkameraden angerannt. Casparis Sohn begrüßte sie mit einer stürmischen Umarmung.

»Hallo Clara!«, rief er atemlos. »Tim und ich spielen Verstecken.«

Clara drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und rückte seine Pudelmütze wieder zurecht.

»Wer von euch beiden hat sich denn versteckt? Oder habt ihr gerade Spielpause?«

»Nee, ich habe Camillo versteckt, und Tim muss ihn finden.«

Clara rollte die Augen.

»Ah ja. Aber nur innerhalb des Hofes. Draußen könnt ihr das nicht spielen.«