Buchinfo

London 1851: Schwarze Schatten jagen Christopher durch die düsteren Gassen. Doch er muss das Amulett in Thurgoods Buchladen bringen! Im letzten Moment schafft er es, das Schmuckstück dort zu verstecken und zu fliehen.

London 2014: Christine findet das Amulett in einem Antiquariat. Sie steckt es heimlich ein, hinterlässt aber eine Nachricht. Diese erhält Christopher im Jahr 1851. Er schreibt ihr, sie solle es vor dunklen Gestalten beschützen. Über versteckte Botschaften halten die beiden Kontakt und verlieben sich ineinander. Erst spät merken sie, dass mehr als ein Jahrhundert sie trennt. Sie finden heraus, dass das Amulett es vermag, eine Brücke in der Zeit zu schlagen. Doch da sind sie längst die Marionetten in einem Spiel, das die Welt in die Verdammnis führen könnte: Asmodeas Auferstehung. Und alles, was die Dämonin braucht, ist ein Kuss der Verliebten ...

Autorenvita

Susanne (Sue), Björn Springorum

© Alexander Wunsch

Susanne (Sue) Glanzner wurde in Unterfranken geboren. Als Tochter eines Künstlers und einer Goldschmiedin war gleich klar, dass sie keinen spießigen, sondern lieber einen spaßigen Beruf wählen würde. In der Schule war sie, wie zu erwarten, super in Kunst und Musik, hat aber – bis heute – nie Zugang zu Mathe oder Chemie gefunden. Nach erfolgreichem Modedesignstudium und vielen Irrwegen durch ihr ulkiges Leben, lebt sie heute in Stuttgart als Inhaberin des Kindermodelabels punKiz, schreibt Kinderbücher und lustige Bücher für Erwachsene, isst am liebsten Pizza und Kinderschokolade und regt sich jedes Jahr fürchterlich auf, wenn ihr mal wieder niemand einen Adventskalender geschenkt hat.

Björn Springorum, geboren 1982 in Calw, würde am liebsten am zweiten Stern rechts abbiegen, im Kleiderschrank eine neue Welt entdecken, durch einen Kaninchenbau ins Wunderland fallen, mit einem Ring unsichtbar werden, nur durch das Lesen eines Buches nach Phantásien reisen oder eine recht wagemutige Partie Quidditch spielen. Weil sich das alles als schwieriger herausstellt als gedacht, schreibt er eben solange seine eigenen Geschichten. Björn Springorum studierte Englisch und Geschichte, lebt, schreibt und liest in Stuttgart und wird von zwei Katzen gehörig auf Trab gehalten.

Titelseite

Für Janni.

Das hellste von Millionen Lichtern in unseren Herzen.

Bis bald.

(Susanne Glanzner)

Für Naseweis.

Du weißt schon, am zweiten Stern rechts.

(Björn Springorum)

Prolog

Dunkelheit. Dunkelheit und der Geruch von vermodertem Holz. Sie umfingen ihn, hüllten ihn ein. Und da war noch etwas. Etwas Fauliges. Wie der Hauch aus einer lange verschlossenen Gruft.

Ihm war das einerlei. Er war nicht hier, um sich eine gemütliche Tasse Tee zu gönnen. Er war hier, um sie zu treffen. Und wenn man, wie er, wusste, was sie war, dann erwartete man keine Vorhänge, keine Polstermöbel und keine dampfenden Teetassen, neben denen diese kleinen Kekse lagen.

Wenn man Asmodea traf, erwartete man das Schlimmste.

Der Weg in die Unterwelt ist kein Spaziergang.

Langsam bewegte er sich vorwärts, setzte einen bedachten Schritt vor den anderen. Etwas raschelte. Angst verspürte er nicht. Man empfand keine Angst vor etwas, das man länger kannte, als man sich erinnern konnte. Es war eher eine Art Ehrfurcht, durchmischt mit Unbehagen, Neid und langsam, aber stetig gärendem Hass. Doch er musste sich fügen. Noch.

»Hast du es endlich?«

Wieder einmal hatte er ihr Auftauchen nicht bemerkt. Wo war sie? Vor ihm? Hinter ihm? Über ihm? Er konnte es unmöglich sagen. Genau das war es, was ihn ehrfürchtig, neidisch und hasserfüllt machte. Sie war besser als er, stärker als er, entsetzlicher als er.

»Nein, Herrin.« Er zwang sich zur Ruhe. »Doch ich habe endlich eine Spur. Ich habe Aufzeichnungen gefunden, in denen …«

»Papierkram!«, zerschnitt sie zischelnd die modrige Schwärze. Für einen Moment konnte er glimmende Augen in der Dunkelheit vor ihm erkennen. Etwas Schuppiges blitzte kurzzeitig auf, erzitterte in den Schatten. Er rührte sich nicht. »Was haben dir Aufzeichnungen, Bücher, Pläne und wertlose Blätter jemals gebracht? Ich werde ungeduldig. Und du weißt, was passiert, wenn ich ungeduldig werde.«

Er schluckte. »Ja, Herrin.«

Die Stimme war jetzt ganz nah. »Und was passiert, wenn ich ungeduldig werde?«, fragte sie gefährlich leise.

»Du gehst zu jemand anderem.«

»Und möchtest du, dass ich zu jemand anderem gehe?«

Er schüttelte hastig den Kopf. »Nein!«

»Nein, natürlich nicht. Wir wissen doch beide, was für dich auf dem Spiel steht. Es wäre doch wirklich zu schade, wenn du weiterhin dieses mickrige Dasein in meinem Schatten führen müsstest, oder nicht?«

Er schwieg.

»Besorge mir endlich dieses verdammte Amulett und finde diese Menschen! Finde sie und ich werde dich reich belohnen!«

»Und dann? Was geschieht dann … mit der Welt?«

Ein grässliches Lachen erfüllte die Dunkelheit. »Dann werde ich über sie herfallen wie eine Spinne über eine Fliege!«

Ihr Lachen klang noch in seinen Ohren nach, als er diesen schrecklichen Ort längst verlassen hatte. Es gab viel zu tun!

Christopher

Der Schatten kam näher.

Christophers Schritte hallten über das Kopfsteinpflaster.

Er rannte, so schnell er konnte, doch der Verfolger ließ sich nicht abschütteln.

Es war merkwürdig. Es gab eigentlich niemanden, der sich in London so gut auskannte wie Christopher. Er wusste alles über die Straßen, Gassen, unterirdischen Passagen und versteckten Schleichwege dieser Stadt. Und doch holte der Schatten auf.

Schritt für Schritt für Schritt.

Christopher blieb ruhig. Es war nicht das erste Mal, dass er verfolgt wurde, und er war noch längst nicht am Ende seiner Kräfte. Er schlug Haken, durchquerte Innenhöfe, kletterte eine Leiter hinauf, rannte einen kurzen Weg über ein Dach. Hier gönnte er sich eine kurze Atempause und blickte über die größte Stadt der Welt. In der Ferne sah er den halb fertigen Glockenturm der Houses of Parliament, dahinter konnte er schemenhaft den bulligen Tower of London ausmachen.

Eine Bewegung hinter ihm ließ ihn herumfahren. Der Schatten stand am Ende einer Balustrade. Obwohl sie nur ein paar Meter trennten, konnte Christopher weder Gesicht noch Formen erkennen. Außerdem hatte sein Verfolger beim Erklimmen der Metallleiter nicht das geringste Geräusch verursacht. Derart leise war nicht einmal er selbst! So albern der Gedanke auch war: Es schien, als würde er tatsächlich von einem Schatten verfolgt. Sicher, es gab jede Menge dunkle Gestalten auf Londons Straßen. Mörder, Grabräuber, Körperdiebe … doch das hier war anders.

Keine Zeit, dich zu wundern. Denk nach!

Er rutschte eine Regenrinne hinunter und eilte eine dunkle Gasse hinab. Wie immer bereute er das ein wenig. Von oben gefiel Christopher die Stadt stets am besten.

Los, schneller!

Er drückte das Paket fester an sich. Er wusste nicht, was es enthielt. Er wusste nur, dass man es ihm anvertraut hatte. Und dass es offensichtlich ziemlich begehrt sein musste. Sicher, es konnte durchaus vorkommen, dass man schon für ein schönes Stück Schweineschinken durch die Straßen dieser Stadt gejagt wurde. Aber das hier war anders. Das hatte ihm schon der Antiquar Thurgood gesagt. Und er hatte es einmal mehr gemerkt, als sich dieser Schatten kurz hinter der Liverpool Street Station von einer Hauswand gelöst und sich ihm an die Fersen geheftet hatte.

Christopher wusste also weder, von wem er verfolgt wurde, noch, wofür er gerade durch die Straßen gejagt wurde. Er wusste nur, dass er einen Auftrag auszuführen hatte. Und er führte jeden Auftrag aus!

Er hatte das Päckchen bei einem mürrischen alten Goldschmied abgeholt, der seine Werkstatt im Hinterhof des Britannia-Pubs eingerichtet hatte. Er hatte vorher noch nie von diesem Mann gehört, doch allein die Lage des Pubs verriet ihm, dass es sich nur um einen äußerst dubiosen Geschäftemacher handeln konnte. Oder um einen ziemlich dummen. Niemand von gutem Ruf würde sich freiwillig in Spitalfields niederlassen. Und wenn doch, so würde er es meist nicht lange überleben.

Christophers Auftrag lautete, das Paket ohne Umwege zurück in Thurgoods Antiquariat auf der Piccadilly Road zu bringen. Es war nicht der erste brisante Auftrag, den Christopher in letzter Zeit für den liebenswerten alten Büchernarren ausgeführt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass er dabei von schlimmem Gesindel aus den Slums der Stadt verfolgt worden war.

Neugierig war Christopher nicht, dennoch fragte er sich jetzt, warum er unbedingt jeden Auftrag annehmen musste. Natürlich, ein guter Bote führte seine Arbeit aus, ohne Fragen zu stellen. Und Christopher war der Beste. Dennoch: Selbst er hätte wenigstens dieses eine Mal Nein sagen können.

Letzten Endes hatte die versprochene Entlohnung nachgeholfen. Wie immer. Das Honorar löste die Bilder von den dunklen Gestalten, Dieben und Mördern aus Spitalfields auf wie die Sonne den Nebel auf der Themse.

Christopher brauchte das Geld, wenn es mit seiner Theaterkarriere jemals vorangehen sollte. Er war schon 17, es musste also endlich mal etwas passieren! Und jetzt, da der große John Ryder sich bereit erklärt hatte, ihm gegen ein gewisses Entgelt Schauspielunterricht zu erteilen, durfte er nicht länger warten.

Doch jetzt verfluchte Christopher seine Gier. Es war zum Verrücktwerden: Sein Verfolger schien immer schon vor ihm zu wissen, welche Richtung er als Nächstes einschlagen würde. Und so ungern es Christopher zugab: Langsam aber sicher gingen ihm die Ideen aus. Die kalte Londoner Nachtluft brannte ihm in der Kehle, und er war mittlerweile ein ganzes Stück vom direkten Weg abgekommen. Leise fluchte er vor sich hin.

Vom Britannia-Pub zu Thurgoods Antiquariat war es bei seinem normalen Tempo kaum eine Stunde. Jetzt hastete er seit bestimmt zwei Stunden durch die verlassenen Gassen der schlafenden Stadt.

Die Bettler hatten sich längst in ihren Verstecken verkrochen, für die Straßenverkäufer war es noch zu früh. Es waren die wenigen Nachtstunden, in denen tatsächlich Ruhe auf Londons Straßen einkehrte. Und gerade jetzt hätte sich Christopher nicht über ein wenig Gesellschaft beschwert.

Immerhin regnete es. Das machte den Gestank ein wenig erträglicher. An heißen Tagen hielt man es in gewissen Vierteln der Stadt kaum noch aus. Vor allem in Flussnähe roch es in einem Sommer wie diesem erbärmlich.

Christopher orientierte sich kurz. Gut, er war in der Nähe von St. Pauls und damit direkt an der Themse. Das erklärte auch den Geruch. So weit war er also doch nicht vom Weg abgekommen. Da vorne war die Fleet Street, die musste er einfach in westliche Richtung nehmen und dann …

Der Schatten tauchte vor ihm auf. Mit weit aufgerissenen Augen schlitterte Christopher ein Stück und kam zum Stehen.

Wie war das möglich?

Zur Abwechslung könnte ein wirklich guter Plan jetzt nicht schaden.

Er könnte natürlich – nein, das war zu gefährlich! Er wusste nicht, wer sich zu dieser nachtschlafenden Zeit in den Tunneln unter der Stadt herumtrieb. Womöglich gab es dort auch noch mehr von diesen Schatten. So langsam wurde ihm die Sache unheimlich

Reiß dich zusammen! Ein Christopher Blackpool schreckte vor nichts zurück! Auch nicht vor gespenstischen Verfolgern. Er atmete tief durch und rannte weiter. An dem Schatten vorbei, nach rechts in eine kleine Seitenstraße.

Er sprintete am brandneuen British Museum vorbei, sprang über einen Zaun, legte einen kurzen Spurt über den fein säuberlich geschnittenen Rasen hin, verließ den schützenden Schatten des imposanten Gebäudes, tauchte in einer Seitengasse unter – und stellte nach einem kurzen Blick über die Schulter befriedigt fest, dass er den Schatten zumindest vorübergehend abgehängt hatte. Doch wie jeder Bewohner dieser Stadt traute er dem Frieden nicht.

Er näherte sich dem Antiquariat nicht von der großen und selbst um diese Uhrzeit belebten Piccadilly Road. Lieber verschaffte er sich von der Rückseite Zutritt – dort, wo die Kutsche mit dem Thurgood-Emblem auf ihren nächsten Liefereinsatz in den königlichen Palast oder zu den betuchten Bürgern der Stadt wartete. Ein geübter Sprung, und Christopher konnte sich an den kleinen Fenstern des Obergeschosses hochziehen. Bevor er das stets unverschlossene linke Fenster nach oben schob, lauschte er angestrengt in die Nacht.

Sollte er diesen Schatten wirklich losgeworden sein? Leise, ganz leise öffnete er das störrische Fenster – nur so weit, dass er sich hindurchzwängen konnte. Christopher wusste, dass es immer dann erbärmlich zu knarren begann, wenn es ganz geöffnet wurde. Fast so, als würde es sich dagegen wehren. Doch er war schmal und wendig, das spielte ihm nicht das erste Mal in die Karten.

Einmal mehr staunte er über die unglaubliche Menge alter Bücher, die sich im Antiquariat zu allen Seiten auftürmte. Es roch nach vergilbtem Papier, alter Tinte und noch älterem Wissen. Kein Wunder, dass dieses Obergeschoss geheim war. Diese Bücher mussten ein Vermögen wert sein.

Auf Zehenspitzen schlich er über den Dielenboden. Er spürte die lockere Stelle sofort. Vorsichtig löste er die verwitterte Holzdiele. Darunter kam eine kleine Vertiefung zum Vorschein. Auch Christopher hatte erst vor wenigen Tagen von diesem Versteck erfahren: Feierlich hatte ihn der Antiquar vor diesem Auftrag mit ins Obergeschoss genommen.

»Dies ist meine bislang wichtigste Lieferung. Vielleicht wirst du wieder verfolgt werden … sehr wahrscheinlich wirst du wieder verfolgt werden. Halte nicht an, setze dich nicht zur Wehr und lass dich auf gar keinen Fall auf irgendetwas ein. Bringe das Paket in das Antiquariat und verstecke es genau hier. Es geht um Leben und Tod, Christopher«, hatte der Antiquar ihm im Widerschein großer Kerzen eingeschärft.

Was trage ich da nur bei mir?, fragte sich Christopher zum wiederholten Mal.

Ganz gleich, was es auch war: Auch diesen Auftrag würde er zu Ende bringen! Mit Ausnahme des zu spät zugestellten Liebesbriefs eines Dandys aus Carnaby und eines zerbrochenen Krugs Wein für eines der leichten Mädchen in Whitechapel hatte er immer alles pünktlich und unversehrt übermittelt.

»Hast du es bei dir, Junge?«

Die Stimme aus der Dunkelheit erschreckte Christopher zu Tode. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Aufschrei, dann erst erkannte er den Antiquar. Er hatte sich hinter einem hohen Bücherregal versteckt und lugte argwöhnisch hinter den alten Büchern hervor.

Christopher streckte ihm das Päckchen entgegen »Ja, hier ist es.«

»Nein, nein, nimm es weg«, zischte Aelfred C. Thurgood, als würde ihm Christopher eine giftige Schlange ins Gesicht halten. »Ist dir jemand gefolgt?«

»Ja.« Christopher nickte. »Es war merkwürdig. Es war ein …«

»Pssst, sprich es nicht aus!«, unterbrach ihn der Antiquar. So aufgelöst hatte Christopher den höflichen alten Mann mit der runden Brille noch nie erlebt. »Ich hatte es befürchtet. Wenn sie mich hier finden, ist alles verloren! Ich versuche, sie abzulenken. Bring das Amulett in Sicherheit«, flüsterte er aufgeregt und packte ihn an der Schulter. »Und dann«, sagte er ernst und beugte sich ganz nah an Christopher heran. In seinen Augen blitzte die nackte Panik auf. »Dann bringst du dich in Sicherheit!«

So schnell es sein Alter zuließ, hastete der Antiquar die Treppe hinunter. Christopher hörte ein Knarzen, dann war es totenstill. Er sah aus dem Fenster. Thurgood humpelte davon. Auf einmal schälte sich ein Schatten aus dem Nichts und nahm die Verfolgung des Alten auf. Christopher wollte schreien, mit den Fäusten gegen das Fenster hämmern, seinen väterlichen Freund warnen. Doch damit würde er sich verraten und die ganze Mission aufs Spiel setzen.

Was war das nur für ein Himmelfahrtskommando? Schatten, die einfach auftauchten und verschwanden, mysteriöse Lieferungen, zwielichtige Schmiede; was sollte das alles?

Konzentrier dich, Christopher!

Er hatte keine Zeit zu verlieren. Er konnte nichts für Thurgood tun, außer seinen Auftrag auszuführen. Und im Gegensatz zu Christopher hatte Thurgood anscheinend gewusst, worauf er sich einließ.

Er legte das Paket vorsichtig in das Versteck und verschloss die Diele sorgfältig. Am Fenster horchte er in die Dunkelheit.

Alles ruhig.

Christopher atmete tief durch. Jetzt nur noch nach Hause! Lautlos ließ er sich aus dem Fenster fallen und verschmolz mit Londons Nacht.

Christine

Das Gewitter trieb Christine durch die engen Gassen Londons. Sie boten kaum Schutz vor den wasserfallartigen Regenschauern, die von einem beinahe unheimlich anmutenden, düsteren, grau-gelben Himmel fielen. Sie hielt ihren Parka wie einen Schirm über den Kopf, während sie ihrem Ziel entgegeneilte, doch als sie das Antiquariat erreichte, war sie bereits durchnässt bis auf die Haut.

Christine riss die Tür auf. Das helle Bimmeln der Glöckchen darüber schenkte jedem, der den verstaubten Buchladen betrat, ein wunderlich sonderbares Gefühl von Wärme und Heimeligkeit, das in beinahe groteskem Gegensatz zu dem stand, was einen erwartete: ein dunkler Raum voller Bücherstapel, so hoch, dass man sie umrunden musste, um dahinterzusehen, verstaubte Lampen und schmutzige Fenster. Doch Christine liebte diesen Laden und seinen manchmal etwas griesgrämigen Besitzer, Alfred C. Thurgood.

»Weißt du, kleine Miss …«, pflegte er zu sagen, »... dieser Laden ist seit so vielen Jahrzehnten … ach, was rede ich … seit Jahrhunderten im Besitz meiner Familie, dass mich der Gedanke schmerzt, der Letzte zu sein, der all das gesammelte Wissen dieser Bücher, all diese Schätze und all die damit verbundenen Geheimnisse kennt und an geeigneter Stelle weitergibt oder bewahrt.«

Meistens seufzte er dann tief, setzte sich in seinen zerschlissenen Ohrensessel, zog eins der alten Bücher aus einem der Stapel und öffnete es so behutsam und liebevoll, wie es nur jemand konnte, der sein ganzes Leben mit Büchern verbracht hatte und wusste, welchen Schatz er in Händen hielt. Christine liebte diese Momente, obwohl sie sie ein wenig traurig stimmten. Meist waren sie jedoch die Einleitung für spannende Geschichten, die der Alte zu erzählen begann. Geschichten aus früheren Zeiten, Überlieferungen, Sagen, Märchen, Fantastisches und Reales.

Christine konnte das eine nicht immer vom anderen unterscheiden: Mister Thurgood erzählte so lebhaft, schmückte jedes Detail so aus, dass es schien, er sei mitten in der Geschichte, die er gerade erzählte.

An solchen Nachmittagen tauchte Christine in andere Welten ein, verlor sich in den Erzählungen des Alten und vergaß für einen Moment ihr reales Leben, diese graue Stadt vor der Tür, ihre Sorgen, die Schule, ihre Eltern oder die üblichen Themen, die ihre Freundin Alexa und die anderen Mädchen der Schule interessierten. Sie tauschte ihr Leben gegen jene Welt ein, die der Antiquar ihr bot.

Auch heute schlüpfte sie durch die Eingangstür des schummrigen Ladens, in der Hoffnung, dem Trubel ihres Alltags für einige Stunden entfliehen zu können. Christine hörte die schlurfenden Schritte des weißhaarigen, alten Mannes, der, während er die hohen Bücherstapel umrundete, ein altmodisches Monokel aus der Brusttasche seiner ausgebeulten Weste zog und in sein linkes Auge kniff.

»Aaah, Christine, kleine Miss. Das ist ja eine schöne Überraschung. Beinahe zwei Wochen habe ich dich nicht gesehen. Ich dachte schon, sie haben dich in der Schule eingesperrt, weil du ungezogen warst.« Der Antiquar strahlte über das ganze, faltige Gesicht und steckte das Monokel zurück in die Brusttasche seiner Weste.

Christine lachte. Sie mochte es, wenn er sie »kleine Miss« nannte. Irgendwie hatte das etwas von der Romantik des Wilden Westens, als es noch Cowboys und Gentlemen gab.

»Hallo, Mister Thurgood«, antwortete sie. »Keine Sorge. Heutzutage wird niemand mehr eingesperrt, weil er ungezogen ist. Aber in der Schule war so viel los und dann hatten wir diesen Wettkampf mit Sondertrainingseinheiten … ich kam zu Hause nicht mal zum Lesen.« Sie seufzte.

»Jetzt bist du ja hier, kleine Miss.« Der weißhaarige Antiquar lächelte. »Und du bist pitschnass, um Himmels willen. Komm, zieh die Jacke aus. Meine Güte, sogar deine Schuhe sind durchtränkt. Was machen wir da nur, was machen wir da nur …?«

Er murmelte vor sich hin, wie immer, wenn er überlegte und dabei mit sich selbst sprach.

Christine lächelte. Sie mochte den kauzigen Alten, der ihr anfangs ein wenig Angst gemacht hatte mit seiner schrulligen Art. Doch sie hatte schnell gelernt, ihn so zu nehmen, wie er war, und damit offensichtlich sein Herz erobert.

»Ist schon in Ordnung. So nass bin ich auch nicht geworden. Wenn ich darf, hole ich mir im Hinterzimmer ein Handtuch für die Haare und hänge meine Jacke zum Trocknen über die Heizung.«

»Natürlich, natürlich. Ein Handtuch …« Thurgood nickte, während er noch immer auf Christines Schuhe starrte, als überlegte er, ihr seine eigenen, abgetretenen Hausschuhe anzubieten. Sie ließ ihn stehen, holte sich ein Handtuch aus dem Schrank im Hinterzimmer, begrüßte Lancelot, den alten, grauen Papagei in seinem Käfig auf dem Tisch und rubbelte sich die Haare trocken, während sie wieder nach vorne in den Laden lief.

»Mister Thurgood?«, rief sie. »Wo sind Sie?«

»Ich bin hier oben, Christine«, hörte sie die Stimme des Alten aus dem ersten Stock.

»Okay, dann warte ich hier unten«, antwortete sie.

»Nein, nein, komm nur herauf. Ich denke, es ist an der Zeit, dir etwas zu zeigen.«

Christine traute ihren Ohren kaum. Zwar wusste sie, dass der Antiquar sie ganz besonders ins Herz geschlossen hatte, doch ins Obergeschoss durfte bisher nicht einmal sie. Dort bewahrte er seine ältesten, wertvollsten Bücher auf und der Einzige, dem er Zutritt in seine Schatzkammer gewährte, war er selbst.

»Sind Sie sicher?« Christine war verunsichert, während sie vorsichtig die ersten beiden Stufen der knarzenden Treppe nahm.

»Natürlich«, bellte der Alte. »Ich bin nicht senil, kleine Miss. Wenn ich sage, komm herauf, dann meine ich auch, dass du heraufkommen sollst.«

Christine schmunzelte und nahm vorsichtig Stufe für Stufe. Sie achtete sorgsam darauf, an keinen der Bücherstapel zu stoßen, die sich auf jeder einzelnen davon befanden.

Oben angekommen sah sie neugierig um die Ecke. Was sich ihr bot, war ein Anblick, der für Menschen wie Christine nur eins bedeuten konnte: ein Paradies, eine Oase in der grauen, tristen Welt der Realität. Hohe Regale erstreckten sich über den ganzen, riesigen Raum und waren bis unter die Decke gefüllt mit Büchern. Im Gegensatz zum unordentlichen Laden ein Stockwerk tiefer schien hier alles fein säuberlich geordnet und katalogisiert zu sein. Überall hingen kleine Lampen an den Wänden zwischen den Regalen, kein Staubkörnchen war zu sehen. In der Mitte des Raumes standen zwei riesige Ohrensessel und zwischen ihnen ein Tischchen, auf dem sich Teegeschirr befand.

Christine stand sprachlos in der offenen Tür, als Thurgood sich umdrehte und sie angrinste: »Da staunst du, was? Das hier ist meine Schatzkammer. Sie kostet so viel Mühe und Zeit, dass ich keine mehr habe, um sie damit zu vertrödeln, unten aufzuräumen. Unten, wo es ohnehin nur Bücher gibt, die gänzlich ohne den Zauber der alten, magischen Zeiten auskommen müssen.« Der Antiquar murmelte vor sich hin, als er ein wunderschönes, in dunkelgrünes Leder eingebundenes Buch, bestückt mit aufwendigen Ornamenten, zurück ins Regal stellte.

In diesem Moment klingelten unten die Türglöckchen und der Alte sah Christine eindringlich an, als er sich anschickte, die Treppe nach unten zu steigen. »Nichts anfassen, kleine Miss. Ich bin gleich zurück und zeige dir das eine oder andere meiner Schätzchen.«

»Alles klar, Mister Thurgood. Ich werde meine Hände bei mir behalten. Auch wenn es mir schwerfällt.« Christine hob ihre Schwurfinger und lachte den alten Mann an, der zufrieden nickte und die Treppe hinabstieg, um die Kundin zu bedienen, die bereits im Laden auf ihn wartete.

»Ah, Miss Carter, Ihre Bestellung ist eingetroffen«, hörte Christine seine gedämpfte Stimme, als sie staunend die endlos scheinenden Bücherreihen entlangschlenderte. Hier gab es Bücher, die weit älter waren als sie selbst, wenn nicht sogar älter als Mister Thurgood und das wollte etwas heißen. Sie sah Bücher, die offenbar ganze Jahrhunderte überstanden hatten, Bücher, die so aufwendig verziert, geschmückt und gebunden waren, dass Christine vor Ehrfurcht der Atem stockte. Sie traute sich, ganz sanft und sehr vorsichtig über den ein oder anderen Buchrücken zu streichen, und war fasziniert von der Vielzahl unterschiedlichster Materialien, in die die Bücher gebunden zu sein schienen. Leder, Leinen, Papier, einige waren mit Metall beschlagen, andere mit Edelsteinen verziert. Es gab kaum etwas, das es nicht gab.

Sie wanderte ehrfürchtig an den Regalen vorbei und sog die Eindrücke auf wie ein Schwamm das Wasser.

»Autsch … Scheiße.« Christine stolperte über ein lockeres Dielenbrett, das einen guten Zentimeter über seinen Nachbarbrettern aus dem Boden ragte. »Was ist das denn für ein Mist? Hier kann man sich ja den Hals brechen.«

Christine versuchte, das Brett mit ihrem Eigengewicht zurück nach unten zu drücken, damit der Boden wieder eben würde, aber es war, als würde sie auf einen Widerstand treffen.

»Du blödes Ding.« Sie bückte sich, um nachzusehen, wo die Diele klemmte, hob das Brett ein klein wenig an und sog den Atem ein, als dieses sich wie von selbst aus dem Boden löste und den Blick auf einen Spalt freigab, in dem ein kleines Päckchen lag.

»Was zum Teufel …« Christine verstummte und griff automatisch nach dem Päckchen. Es sah aus, als hätte es einiges hinter sich, war an zwei Stellen eingerissen und wirkte irgendwie – alt.

Sie öffnete den Knoten der Schnur, die das kleine Paket umschlang, und löste das Papier.

Eine kleine Schatulle kam zum Vorschein, wunderschön verziert und beinahe so prunkvoll gearbeitet wie die alten Bücher in den Regalen hier oben. Christine öffnete das Kästchen vorsichtig und ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. In dem kleinen Etui lag ein Amulett.

Es war prachtvoll gearbeitet, mit filigranen Details, die erst auf den zweiten und dritten Blick erkennbar waren. Geschwärztes Silber unterstützte das Strahlen des rosa schimmernden, erstklassig gefassten Edelsteines in der Mitte und schmale Silberstege schlangen sich wie Rosenranken rechts und links davon ineinander und ergaben die Außenform des Amuletts. Zwischen den Stegen erkannte Christine verschiedene, erhabene Symbole, von denen sie jedoch nicht allen eine Bedeutung zuordnen konnte: Eines sah aus wie eine Uhr und war merkwürdig verschlungen mit einem Herz und etwas, das aussah wie eine Brücke oder ein Torbogen.

Christine nahm das Amulett aus der Schatulle, um es bei dem diffusen Licht, das hier oben herrschte, genauer betrachten zu können. Sie bemerkte, dass es auf der Rückseite merkwürdige Aussparungen hatte, an den Rändern gezackt, als würde es auf Zahnräder passen.

Zuerst dachte sie, sie bildete es sich ein, doch plötzlich ließ sie das Amulett zurück in die Schachtel fallen: Es war heiß geworden in ihrer Hand. So heiß, dass sie es loslassen musste.

»Aaaaah … verdammt, was ist das?«, murmelte sie. »Das hab ich mir doch jetzt eingebildet, oder? Das Ding kann doch nicht allen Ernstes heiß geworden sein. Christine, reiß dich zusammen. Du bist auch schon plemplem.«

Sie schloss gerade den Deckel des kleinen Kästchens, als sie hörte, wie Mister Thurgood seine Kundin verabschiedete. Christine wollte die Schatulle zurück in den Spalt unter der Diele legen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Es war, als würde ihr jemand ins Ohr flüstern: Bring es morgen wieder her, auf einen Tag kommt es nicht an.

Sie war hin und her gerissen. Sie hatte das Gefühl, den alten Mann zu bestehlen, jedoch war sie sich gleichzeitig nicht sicher, ob er überhaupt von dem Amulett unter dem Dielenboden wusste.

Sie sah sich um und ihr Blick blieb an dem Tischchen zwischen den beiden Ohrensesseln hängen: Neben dem Teegeschirr lagen ein kleiner Block und ein Bleistift. Als wäre sie ferngesteuert, sprang Christine auf, ließ sich auf einen der beiden Sessel fallen und schrieb mit eiligen Fingern:

Sorry. Konnte nicht anders. Will es nicht stehlen. Bringe es morgen zurück.

Versprochen.

Christine.

Sie riss den Zettel von dem kleinen Block und stopfte ihn in den Spalt im Boden. Dann setzte sie das Dielenbrett wieder ein und richtete sich gerade auf, als sie Mister Thurgoods langsame Schritte auf der knarzenden Treppe hörte. Mit zitternden Händen stopfte sie das Kästchen in die Beintasche ihrer weiten Baggyjeans.

Der Antiquar bog um die Ecke. »Nun? Hast du dich ein bisschen umgesehen in meiner Schatzkammer?«, fragte er sie augenzwinkernd.

»Ja … ich … oh ja … die Bücher sind … Wahnsinn.« Christine stotterte und hatte das Gefühl, am ganzen Leib zu zittern. »Ich muss jetzt aber dringend los.«

»Was?« Mister Thurgood schien enttäuscht. »Du bist doch gerade erst gekommen.«

»Ich weiß.« Christine wand sich unter seinem Blick. »Ich hab total vergessen, dass ich bis morgen noch ein Referat vorbereiten muss. Ist mir gerade eingefallen. Aber wenn ich darf, komme ich morgen Nachmittag wieder und dann zeigen Sie mir die Bücher hier oben, okay?«

»Nun gut«, antwortete der alte Mann. »Wenn die Pflicht ruft, geht das natürlich vor. Obwohl ich ja nach wie vor finde, man bürdet euch jungen Leuten zu viel auf. Referate, Schularbeiten, Trainingsstunden … Wo bleibt denn da Zeit für das Studium des Lebens? Du bist sechzehn Jahre alt … früher, als ich so alt war wie du …«

»Mister Thurgood, ich muss wirklich los«, unterbrach Christine den Antiquar.

»Ja. Natürlich, natürlich, Kind. Da komme ich immer ins Plaudern, ich alter Kauz.« Er schien verwirrt.

»Ich komme morgen wieder, ja?« Christine war bereits auf dem Weg zur Treppe.

»Ja, natürlich, Kind. Morgen. Komm morgen wieder. Ich bin hier, wie immer.« Der Alte winkte.

Christine lief die knarzende Treppe hinab, übersprang die letzten beiden Stufen bis zum Boden, schnappte sich ihre Jacke, die noch immer über der Heizung hing und zwar noch nicht ganz trocken, aber zumindest warm war. Dann verließ sie beinahe fluchtartig den Laden, denn sie hatte einerseits ein schlechtes Gewissen und war andererseits schrecklich neugierig darauf, das Amulett genauer zu untersuchen.

Sie fühlte sich wie in einem Abenteuerroman, während sie durch den Regen, der mittlerweile nur noch nieselnd vom feuerroten, mit grauen Wolken durchzogenen Abendhimmel fiel, nach Hause lief. Ja, sie war sogar so aufgeregt, dass sie sich schon wieder einbildete, das Kästchen in der Tasche an ihrem Bein würde sich erwärmen.

Christopher

Von den Schatten fehlte jede Spur, als sich Christopher auf den Heimweg machte. Alles blieb ruhig, sogar der Regen hatte nachgelassen. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, aus der Dunkelheit heraus beobachtet zu werden. Immer wieder schnellte er herum, sicher, einen Schemen in einem Hauseingang oder eine Bewegung auf einem Dach wahrgenommen zu haben. Doch da war nichts. London schlief wie ein unschuldiges Kind.

So gerne er es auch wollte: Er konnte die Geschehnisse nicht aus seinem Kopf verbannen. Und das war überaus lästig. In der Regel dachte Christopher nie über einen Auftrag nach, nachdem er ihn ausgeführt hatte. Doch das hier war etwas anderes. Das spürte er.

Er ließ die prächtige Kuppel der St. Pauls Cathedral hinter sich und überquerte die Themse auf der Blackfriars Bridge. Das war jedes Mal wie eine kleine Mutprobe. Längst zirkulierten Wetten unter Londons erfahrenen Boten, wann das alte Ding einstürzen würde.

Heute trug sie ihn sicher über den Fluss, seine Gedanken blieben jedoch auf der anderen Seite. Bei Thurgood. Ob es dem alten Mann gut ging? So aufgelöst hatte Christopher ihn noch nie erlebt. Sonst war Thurgood durch absolut nichts aus der Ruhe zu bringen. Solange sich niemand an seinen Büchern vergriff, natürlich.

Er schob die beunruhigenden Gedanken beiseite. Gleich morgen würde er bei ihm im Laden vorbeischauen und den Alten sicherlich wie immer über seine Bücher gebeugt vorfinden. Er würde die andere Hälfte seines Lohns abholen und dann auf direktem Weg ins Theater gehen. Es würde schon alles gut werden. Wie zur Absicherung griff er in seine Hosentasche. Das Pfundstück lag schwer und beruhigend in seiner Hand. Damit waren die ersten Wochen Unterricht gesichert.

Die Dämmerung kroch fahl über den Himmel, als er Lambeth erreichte. Hier, nicht weit von der Bethlehem-Nervenheilanstalt, bewohnte er das Dachgeschoss im Haus einer gebrechlichen alten Dame. Auch diese Wohnung hatte ihm Thurgood verschafft. Wie so oft seit Christophers Ankunft in dieser Stadt hatte ihm der kauzige Buchhändler aus der Patsche geholfen, ihm Aufträge verschafft und ihn sehr bald ganz offiziell unter seine Fittiche genommen.

Christopher war heilfroh, aus seinem Kellerloch herausgekommen zu sein, das er sich im Old Nichol mit Müh und Not geleistet hatte. Eine wirklich miese Gegend, deren schlechter Ruf ihr nicht mal ansatzweise gerecht wurde.

Jetzt mietete er das Dachgeschoss eines Hauses, das Miss Barnacle gemeinsam mit einer kolossalen Menge alter Bücher über Magie und die Geisterwelt, ihrem Aberglauben und ihrer Haushälterin bewohnte. Thurgoods beste Kundin war zwar mehr als nur ein wenig merkwürdig und schien sich von nichts zu ernähren außer Büchern und Tee, dafür bekam Christopher das Zimmer aber zum Spottpreis.

Gut, er musste Miss Barnacle hin und wieder zu einer Séance oder zu einem der vielen Magier im West End begleiten. Aber immerhin war das derzeit der letzte Schrei. Und das hieß, dass in Hinterzimmern und Theatern immer einiges geboten wurde. Christopher hielt nichts von diesen Geisterbeschwörungen und den Scharlatanen dahinter, die Magier boten aber immerhin eine gute Vorstellung voller Rauch und wundersamer Dinge.

Im Gegenzug für das preisgünstige Zimmer erledigte er kleinere Arbeiten im Haushalt und sorgte dafür, dass der konstante Bücherstrom von Thurgoods Antiquariat direkt hinein in Miss Barnacles Bibliothek nicht versiegte. Eine faire Abmachung. Wenn der Wind ungünstig stand, hörte er zwar hin und wieder Schreie aus der Anstalt, doch gegen das, was jeden Tag auf den Straßen von Old Nichol passierte, war Lambeth das reinste Paradies.

Ein letztes Mal sah er sich um, dann betrat er das Haus. Niemand war ihm gefolgt.

»Wer sollte mir auch folgen? Einem Boten ohne Ware?«, sprach er mit sich selbst.

Der Hausflur war dunkel wie immer. Christopher verzichtete auf das mühevolle Entzünden der Öllampen und tastete sich im Dunkeln vor. Er erreichte den Treppenabsatz, stieg nach oben …

»Grundgütiger!«, rief er aus und wäre fast rückwärts die Treppe hinuntergestürzt. Am oberen Absatz war urplötzlich eine geisterhafte Erscheinung aufgetaucht. Wallendes Weiß, ein Kerzenleuchter ausgestreckt wie eine Waffe … Miss Barnacle!

»Miss Barnacle, Sie haben mich zu Tode erschreckt!«, entfuhr es Christopher. Wieso erschreckte ihn in dieser Nacht eigentlich dauernd irgendwer?

»Du bist es, Junge«, drang ein brüchiges Stimmchen aus der greisen Dame. Der schwere Kerzenhalter zitterte in ihrer Hand. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«

»Ja, das war wohl ich«, grummelte er, obwohl er wusste, so gut wie kein Geräusch verursacht zu haben. Doch er konnte Miss Barnacle ohnehin nie lange böse sein.

Sie lugte argwöhnisch hinter ihm die Treppe hinunter. »Und da bist du dir sicher?«

»Ja, sehr sicher sogar.«

Einmal hatte sich ein Flüchtiger aus der Anstalt im Garten versteckt. Miss Barnacle hatte erst die Tarot-Karten befragt und dann tagelang nur bei Licht geschlafen.

»Gute Nacht!«, rief er über seine Schulter, dann erklomm er die übrigen Treppen bis zum Dachgeschoss. In seinem vertrauten Chaos aus alten Theaterplakaten, Büchern und detaillierten Landkarten Londons beruhigte er sich schnell. Er wollte nur noch schlafen. Aber irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Nach einiger Überlegung schloss er das Fenster, das eigentlich immer offen stand. Man musste das Schicksal ja schließlich nicht herausfordern. Und da war noch etwas. Etwas, das Miss Barnacle gesagt hatte.

»Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«

Das Porridge zum Frühstück am nächsten Morgen war nicht nur versalzen wie immer, es war auch längst kalt. Christopher schlang es trotzdem artig hinunter und spülte großzügig mit ebenfalls kaltem Schwarztee nach. Er würde sich hüten, es sich mit der Haushälterin zu verscherzen. Mrs Draught hatte mehr Macht über Miss Barnacle, als ihm geheuer war, und am Ende würde sie ihn noch auf die Straße setzen.

Das durfte nicht passieren! Hier draußen vor den Toren der Stadt konnte er nachts manchmal sogar die Sterne sehen.

Ein kurzer Blick in die Illustrated London News verriet ihm, dass schon wieder irgendein König aus irgendeinem fernen Land bei der Weltausstellung zu Gast war. Die ganze Stadt sprach von nichts anderem, so viele fremde Menschen hatte Christopher noch nie in London gesehen. Ob seine Aufträge auch etwas damit zu tun hatten? Er musste Thurgood danach fragen.

Dichter Nebel begrüßte ihn, als er sich wieder auf den Weg machte. Konnte es sein, dass er Londons tückische Nebel gestern Nacht für Schatten gehalten hatte, die ihn verfolgten? Bei Tageslicht erschien ihm das gar nicht mal so abwegig.

Diesmal nahm er die London Bridge in die Stadt hinein. Man musste sein Glück schließlich nicht überstrapazieren. Ein roter Haarschopf stach aus dem Nebel hervor. Pip! Typisch Ire: Ihn würde man auch sehen, wenn der Nebel ganz London verschlucken würde.

»Tag, Christopher, wieder unterwegs?«, begrüßte ihn der Junge mit den feuerroten Haaren. Wie immer grinste er breit.

Christopher nahm an, Pip würde selbst bei einer Beerdigung grinsen. Er nickte. »Wie laufen die Geschäfte?«

Pip schnalzte mit der Zunge. »Super. Wenn man davon absieht, dass niemand in dieser Stadt mehr Streichhölzer braucht. Blöde Gaslichter überall. Was ist denn aus den guten alten Kerzen geworden?«

Christopher zuckte mit den Schultern. »Die Zeiten ändern sich eben«, meinte er und blickte in den vollen Bauchladen, den sein Freund mit sich herumtrug. Das sah nicht gerade nach einem erfolgreichen Tag aus!

»Du brauchst nicht zufällig welche?«, meinte Pip und sah Christopher hoffnungsvoll an. »Sind auch fast trocken.«

»Nein dan...«, begann Christopher, überlegte es sich bei dem Gedanken an das Pfundstück in seiner Tasche jedoch anders. Verflixte Gutmütigkeit! »Na gut, ich nehme ein Päckchen!«

Pips Miene hellte sich auf. Er beugte sich über die Brücke. »He, Peggy, ich hab was verkauft«, brüllte er stolz in den Nebel.

»Spitze«, drang es kurz danach aus dem Nebel zu ihnen herauf. »Ich hab hier auch schon was zum Abendessen gefunden.«

Pip verzog das Gesicht. »Aber ich geh doch noch ins Theater später, mit den Jungs.«

»Ach, stimmt ja. Ess ich den Fisch eben alleine!«

»War das deine … deine Freundin?«, begann Christopher unsicher. Er konnte in der trüben Suppe nichts erkennen.

Pip nickte stolz. »Sie sucht mit den anderen das Ufer nach Brauchbarem ab.« Er blickte auf seinen gefüllten Bauchladen. »Scheint besser zu laufen als bei mir.«

Einmal mehr war Christopher froh, als Bote unterwegs zu sein. Die unzähligen Straßenverkäufer hatten es deutlich schwerer als er. Ein Wunder, dass es Pip nie die Laune verhagelte.

»Ich muss dann auch mal weiter.«

»Klar, versteh schon. Kommst du heute Abend mit? Im Haymarket soll es ein Stück mit ordentlich Mord und Totschlag geben.«

»Von wem ist es?«

»Woher soll ich das wissen? Ich geh nur wegen der Kämpfe hin.«

Kopfschüttelnd eilte Christopher weiter. Er war von Banausen umgeben. Aber gut, immerhin gingen sie überhaupt ins Theater.

Mit jedem weiteren Schritt in Richtung Londons Zentrum wurden die Straßen voller, das Gedränge anstrengender. In der Newgate Street reihte sich eine Kutsche an die andere, die Bürgersteige waren völlig verstopft. Hier ging es nur im Schneckentempo voran. Die Richtung war klar: Hyde Park, alle wollten zum Hyde Park. Christopher beneidete all die Menschen, die die Weltausstellung besuchten oder bereits besucht hatten. Vielleicht würde er es ja morgen schaffen. In einem Pub hatte er aufgeschnappt, dass die Schau morgen keinen Eintritt kosten würde.

Eins nach dem anderen. Erst mal nach Thurgood sehen.

In der Piccadilly Street war es etwas ruhiger, aber keinesfalls das, was man entspannt nennen konnte. Immerhin kamen die Kutschen auf der breiten Straße deutlich schneller voran. In der Ferne sah Christopher schon das alte Haus, in dem das Antiquariat untergebracht war. Die kleine Menschenmenge, die sich davor angesammelt hatte, hatte bestimmt nichts zu bedeuten. Das war sicher nur …

»Wo bleibt er nur?«, hörte Christopher schon von Weitem eine ungeduldige Frauenstimme. Also doch!

Ein bärtiger Herr mit Zylinder und Backenbart schüttelte den Kopf. »Das ist gar nicht Thurgoods Art«, meinte er ernst.

»Alles schön und gut, die Herren und Damen Kunden«, schaltete sich ein hochgewachsener junger Mann ein. »Aber ich warte schon seit über zwei Stunden, dass er meine Lieferung entgegennimmt. Als hätte ich nichts Besseres zu tun, als auf einer Straße voller Pferdemist zu warten, dass der gnädige Herr sein Antiquariat öffnet.«

Das klang alles andere als gut! Wenn Thurgood nun doch etwas zugestoßen war? Christopher verscheuchte den Gedanken wie eine lästige Fliege, umrundete die Wartenden und verschaffte sich abermals durch das Fenster im Obergeschoss Zutritt zu Thurgoods Bücherschatz. Es war normalerweise nicht seine Art, einfach in den Laden einzusteigen. Es war aber eben auch nicht Thurgoods Art, einfach nicht aufzutauchen.

Im Antiquariat war alles still. Christopher stellte sich oft vor, dass die Bücher miteinander flüsterten, wenn niemand sonst anwesend war. So viel Wissen, dachte er, blieb doch gewiss nicht unbemerkt zwischen zwei Buchrücken eingeklemmt. Er spähte vorsichtig ins Untergeschoss, achtete aber darauf, nicht von den Menschen vor der Tür gesehen zu werden. Auch im Verkaufsraum war alles still.

Wo steckte der alte Mann nur? Christopher kam eine Idee. Er sollte sich wohl am besten versichern, ob das Päckchen noch immer gut versteckt war. Und wenn er schon dabei war, konnte er vielleicht einen kleinen Blick in sein Inneres riskieren. Schnell fand er die lose Diele, drückte sie hoch, schob sie möglichst leise beiseite und schaute in die Vertiefung.

Der Schrecken fuhr ihm in die Glieder: Sie war leer.

Nein, das stimmte nicht ganz. Zwar war das geheimnisvolle Päckchen verschwunden. Leer war das Versteck jedoch nicht. Kalter Schweiß stand Christopher auf der Stirn, als er den kleinen gefalteten Zettel herausangelte, der statt seiner Lieferung in der Vertiefung lag. Seine Hände zitterten, als er ihn entfaltete und die kurze Botschaft darauf las.

Sorry. Konnte nicht anders. Will es nicht stehlen. Bringe es morgen zurück.

Versprochen.

Christine.

Sein Herz pochte so laut in seiner Brust, dass er es für einen kurzen Moment für energisches Klopfen an der Tür hielt.

Wieder und wieder flogen seine Augen über die Zeilen. Sie waren hastig geschrieben, ohne Eleganz und Schnörkel. Diese Christine hatte es offenbar eilig gehabt.

Aber Zeit genug, um das Päckchen zu stehlen, dachte Christopher grimmig.

Er steckte den Zettel in die Tasche seiner Weste. Ratlos blieb er auf dem Boden sitzen. Was sollte er jetzt nur tun? In Panik zu verfallen schien ihm eine ausgezeichnete Idee zu sein, doch er zwang sich mühsam, sein Dilemma in Ruhe zu überdenken. Wenn jemand das Päckchen stehlen wollte, hätte er – oder sie – sich wohl kaum die Mühe gemacht, diesen Zettel zu hinterlassen.

Das Klirren schwerer Schlüssel riss ihn aus seinen Spekulationen. Thurgood! Schnell brachte Christopher die Diele wieder an Ort und Stelle und eilte die Treppe hinunter. Wie er das dem Antiquar erklären sollte, wusste er noch nicht. Er würde wohl improvisieren müssen.

»Ja doch, so geben Sie mir einige Minuten Zeit«, brummte der gerade an der Tür und versuchte, die ungeduldigen Kunden abzuhalten. Entschlossen warf er die Tür ins Schloss.

»Mister Thurgood, ist alles in Ordnung?«

»Was? Wie?«, entfuhr es dem Antiquar gehetzt. Er schnellte herum, Angst und Zorn flammten in seinen Augen auf. »Ach, du bist es, Junge«, brachte er mühsam hervor. »Ich dachte schon …«

»Was? Was dachten Sie?«

Thurgood winkte ab. Er wirkte müde. »Ach, nicht so wichtig. Ich hatte jemand anderen erwartet. Eine alte Bekannte, wenn du so willst.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Was auch immer. Du weißt ja, wie die Gedanken von alten Männern abschweifen.«

Er schlurfte hinter die Theke, hängte seinen Mantel an den Haken und rieb sich die Augen.

»Wo waren Sie denn nur?«, fragte Christopher. »Ich hab mir Sorgen gemacht.«

Thurgood zog seine buschigen Brauen in die Höhe. »Sorgen? Um mich?« Er lachte. »Das ist wohl kaum nötig. Nein, mein Junge, im Gegenteil: Ich war deinetwegen in Sorge. Mir tut es leid, dass ich dich in diese Lage gebracht habe.« Er blickte ihn ernst an und senkte die Stimme. »Aber sag mir: Ist es sicher? Ist es gut versteckt?«

Christopher schluckte. »Äh, ja, natürlich«, brachte er heiser hervor, ehe er wusste, was er da gerade von sich gab.

Na wunderbar!

Der Antiquar atmete hörbar auf. Erleichterung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Mit einem schrillen Klang öffnete er die Registrierkasse. »Hier«, sagte er und warf Christopher etwas Goldenes entgegen. »Die andere Hälfte deines Lohns.«

Christopher fing die Münze auf und sah sie erstaunt an. »Aber Mister Thurgood, das ist immer noch zu viel, wie ich bereits ...«

»Nein. Du hast sie dir redlich verdient. Ich frage nicht gerne, aber ich würde dich außerdem noch um eine Kleinigkeit bitten.« Mister Thurgood senkte die Stimme zu einem Flüstern.

»Alles was Sie wollen.« Christopher nickte.

»Gut. Würdest du das Päckchen bitte an einen anderen Ort bringen? Verstecke es gut und sage niemandem, wo du es gelassen hast. Nicht einmal mir. Wenn ich es nicht weiß, kann mir nicht einmal das Angesicht des Todes sein Versteck entlocken.«

Christopher erschrak. Was faselte der Alte da nur vom Angesicht des Todes? »Aber, Mister Thurgood …«

Der Antiquar unterbrach ihn: »Also versteckst du es, oder nicht? Ich würde das nicht von dir verlangen, wenn es nicht so immens wichtig wäre, Christopher.«

Christophers Gedanken überschlugen sich. Vielleicht konnte er das Päckchen zurückbekommen, bevor Thurgood merkte, dass es verschwunden war.

»Gut.« Christopher hielt den Atem an und nickte. »Ich verstecke es.«

»Wunderbar. Ich danke dir.« Der Antiquar schien erleichtert. »Ich bin außerordentlich stolz auf dich. Du machst deine Sache sehr gut.«

»Ach«, winkte Christopher ab. Mit Lob konnte er schon unter normalen Umständen nicht umgehen. Mit unangebrachtem Lob noch viel weniger. Er scharrte verlegen mit dem Fuß. »Es war … mal etwas anderes.«

»Oh ja, das kannst du mir glauben«, murmelte Thurgood. »Das kannst du mir glauben.«

»Ich hole es.« Christopher stolperte die Treppe nach oben und lehnte sich dort gegen das schwere Eichenregal. Er wusste nicht im Geringsten, was er jetzt tun sollte, doch seine Notlüge hatte ihm zumindest etwas Zeit verschafft.

Er kritzelte eine eilige Notiz an diese Christine auf einen Zettel, der auf einem kleinen Tischchen lag, und stopfte ihn übereilt in das Loch unter dem Dielenbrett. Dann rannte er die Treppe nach unten und verließ mit einem hastigen »Bis bald, Mister Thurgood, ich kümmere mich darum« den alten Buchladen.

Das »Pass gut darauf auf!« hätte er am liebsten überhört.

Auf der Straße atmete Christopher auf. Er hätte es keine Sekunde länger mit dieser Lüge in Thurgoods Anwesenheit ausgehalten. Es fühlte sich falsch an, seinem alten Freund nicht die Wahrheit zu sagen. Christopher redete sich ein, dass es vielleicht gar keine richtige Lüge war. Doch das half nur bedingt.

Er dachte nach. Vielleicht war das Päckchen bei dieser Christine im Moment sogar besser aufgehoben als im Buchladen? Er jedenfalls war nach einiger Überlegung gar nicht böse darüber, dass er sich fürs Erste nicht mehr mit diesem Paket und irgendwelchen Schatten herumschlagen musste.

Macbeth-